Schon im Juli hat Forschung aktuell im Deutschlandfunk kurz ein Paper
erwähnt, das mein Amateurinteresse an Zoologie geweckt hat: In den
Wissenschaftsmeldungen vom 6.7. hieß es ungefähr 2 Minuten in das Segment
rein, die oft wilden Muster auf den Unterseiten von Vogelflügeln könnten
der Vermeidung von Kollisionen zwischen den fliegenden Tieren dienen.
Die zugrundliegende Arbeit ist „Contrasting coloured ventral wings are a
visual collision avoidance signal in birds“ von Kaidan Zheng und
KollegInnen von der Sun Yat-sen-Uni in Guangzhou und der Uni
Konstanz, erschienen in den Proceedings B der Royal Society, Vol. 289,
doi:10.1098/rspb.2022.0678. Forschungsziel dieser Leute war,
Risikofaktoren für Kollisionen – also etwa große Schwärme, Bedarf an
hektischen Manövern (sagen wir: Paviane überfallen Flamingos),
eingeschränkte Manövierfähigkeiten (z.B. bei großen, schweren Vögeln) –
mit auffällig gemusterteten Flügelunterseiten zu korrelieren.
Mich hat das wahrscheinlich vor allem deshalb angesprochen, weil im
Garten von meinem Institut regelmäßig kleine Schwärme der oben
abgebildeten Halsbandsittiche waghalsige Flugmanöver vollziehen, und
dabei zwar viel Krach machen, aber erstaunlicherweise nie ineinander
oder gar in die Äste der Bäume fliegen. Und ich bin jederzeit dafür,
dass Wissenschaft sich solcher Alltagsrätsel annimmt.
Die Studie hat auch meine Sympathie, weil sie ein Beispiel ist für
Archive Science, also Wissenschaft, die auf der geschickten Nachnutzung
bereits bestehender Daten basiert. Das macht fast immer weniger Dreck
als neu erhobene Daten, spart besonders im Bereich der Biologie der
Ethikkommission Arbeit, und, davon bin ich jedenfalls fest überzeugt,
sie hat das Zeug dazu, unerwartete Zusammenhänge aufzudecken, die im
üblichen Beantragen-Messen-Publizieren-Zyklus schwer zu finden sind.
Hunderttausend Blicke
Wobei: Ganz ohne Leid ging auch diese Studie nicht ab. Die AutorInnen
haben Bilder von 3500 Unterseiten von Vogelflügeln aus
drei verschiedenen Archiven im Netz gezogen und dabei 1780 Spezies
abgedeckt. Um den gesuchten Zusammenhang zu finden, mussten sie
zunächst bestimmen, wie konstrastreich oder markant die jeweiligen
Flügel eigentlich sind. Dazu haben sie vor allem 30 Studis der Sun
Yat-Sen-Uni rekrutiert, die jeweils alle diese Bilder als „starker
Kontrast“ oder „eher nicht“ klassifizierten. 3500 Bilder sind viel,
wenn mensch sie beurteilen soll. Ich frage mich, wie sich wer nach so
einer Sitzung fühlt.
Um mal eine grobe Abschätzung einzuwerfen: Wenn die Leute schnell waren
und alle 10 Sekunden so eine Klassifizierung hinbekamen, reden wir
über 30 × 3500 × 10 s ≈ 106 Sekunden oder knapp
zwei Wochen (nämlich: 1/30 Jahr) konzentrierter Bildbeurteilung, die in
die Arbeit geflossen sind. Whoa.
Daraus jedenfalls kommt der Score, mit dem das Paper vor allem arbeitet:
Wie viele der KlassifiziererInnen haben den Flügel als kontrastreich
klassifiziert? Der Score ist auch mal nicht-ganzzahlig, wie etwa beim
Sperber in Abbildung 1, der auf 0.4 kommt; das passiert, wenn mehrere
Bilder einer Spezies gemittelt werden.
Für kontrolliert aufgenommene Bilder aus Museumssammlungen berechnet das
Paper weiter als eine Art „objektiver“ Größe Standardabweichungen über
die Grauwerte der Pixel der Schwingen. Zu dem Teil der Arbeit hätte ich
einiges Rumgemäkel. Ganz vornedran gefällt mir nicht, dass dieses Maß
kleinräumiges Rauschen, das plausiblerweise nicht gut als
mittelreichweitiges Signal taugt (und das sie in ihren Anweisungen für
ihre Studis auch wegfiltern wollten), genauso behandelt wie großräumige
Strukturen. Mit etwas Glättung und Segmentierung wäre das sicher viel
besser gegangen, und da sie eh schon opencv verwenden, hätten es dazu
auch nicht schrecklich viel Aufwand gebraucht.
Eigenartig finde ich auch, dass sie die Bilder in Grauwerte umgerechnet
haben, während sie im Paper öfter über Farben reden. In der Tat muss
mensch Vögel nur ansehen, um stark zu vermuten, dass sie (und ganz
besonders die Vogelfrauen) sehr wohl Farben wahrnehmen. In der Tat
sehen manche sogar UV und dürften in jedem Fall eher besser
Farbwahrnehmung haben als wir.
Ich hätte also die „objektiven“ Kontrastscores doch zumindest mal
separat nach Farbkanälen ausgewertet – das wäre nicht viel Arbeit
gewesen und hätte das Hedging in der Artikelzusammenfassung überflüssig
gemacht. Aber dann: es spielt für den Rest des Papers nur eine eher
untergeordnete Rolle, weil sie diese Standardabweichungen eigentlich nur
dazu verwenden, ihre „manuellen“ Scores zu validieren, indem nämlich
(für mich offen gestanden etwas überraschend) die beiden Typen von
Scores recht stark korrelieren.
Zu diesen Scores kamen schließlich aus anderen Archiven – vor allem wohl
dem trotz Javascript- und local storage-Zwang bezaubernden Birds of
the World – Merkmale wie Masse, Schwarmgröße oder „Koloniebrüterei“
für 1780 Spezies, wobei letzteres einfach wahr oder falsch sein konnte.
Monte Carlo Markov Chain
Und jetzt mussten die AutorInnen nur noch sehen, welche dieser Merkmale
mit ihren Kontrast-Scores korrelierten. Dazu fuhren sie recht schweres
Geschütz auf, nämlich über MCMC-Verfahren geschätzte Verteilungen –
erfreulicherweise unter Verwendung der Freien Software R und MCMCglmm.
Ich kann nicht sagen, dass ich verstehen würde, warum sie da nicht
schlichtere Tests machen. Vermutlich würde es helfen, wenn ich wüsste,
was „the phylogenetic relatedness among species was included as a random
effect in these models“ praktisch bedeutet und warum sie das überhaupt
wollen.
Aber solche Fragen sind es, wozu mensch FachwissenschaftlerInnen
braucht, und ich bin, was dieses Fach angeht, kompletter Laie
(erschwerend: ich habe noch nicht mal in meinem Fach wirklich was mit
MCMC gemacht). So will ich gerne glauben, dass das methodisch schon in
Ordnung geht.
Vielleicht ist das aber auch wurst, denn die nach den Modellen richtig
überzeugende Korrelation ist auch in Abbildung 3 des Papers mit einer
großzügigen Portion Augenzusammenkneifen zu erkennen:
In klaren Worten: Bei Vögeln, die in Kolonien brüten, geht die
Strukturierung der Flügelunterseiten deutlich stärker mit der Masse des
einzelnen Vogels nach oben als bei Vögeln, die das nicht tun. Wer etwa
die Pelikane von Penguin Island vor Augen hat:
oder, viel näher und mit kleineren Vögeln, die Insel der Möwen in der
Wagbach-Niederung:
mag schon ein Bild entwickeln von einem gewissen evolutionären Druck
auf, sagen wir, Pelikane, Mechanismen zu entwickeln, die es leichter
machen, nicht ineinander zu fliegen.
Aber ganz ehrlich: so richtig schlagend finde ich das Paper nicht. Ein
wenig mehr Betrachtung, warum zum Beispiel die Vögel, die den blauen
Punkte rechts unten in der oben reproduzierten Abbildung 3 entsprechen,
offensichtlich auch ohne wohlmarkierte Flügel relativ kollisionsfrei
gemeinsam brüten können, hätte mir schon geholfen, etwas mehr Vertrauen
zu den Schlüssen zu fassen.
Oder umgekehrt: Koloniebrüter haben plausiblerweise auch andere
zusätzliche Kommunikationsbedürfnisse als andere Vögel, z.B. beim
auskaspern, wer wo brüten darf (cf. Kopffüßer in Octopolis).
Vielleicht kommt der Extra-Aufwand bei der Gestaltung der Schwingen ja
auch daher? Und die Korrelation mit der Größe hat vielleicht mehr was
mit Beschränkungen bei der Strukturbildung zu tun? Hm.
Referees, gebt euch etwas mehr Mühe
Beim Lesen des Textes habe ich mir übrigens an ein paar Stellen gedacht,
dass die GutachterInnen des Papers schon noch ein paar gute Ratschläge mehr
hätten geben können. So schreiben die AutorInnen allen Ernstes „Birds
are well known for their ability to fly, besides a few flightless
lineages such as ratites and penguins“ – das kann mensch in einem
Kinderbuch machen oder in GPT-3-generierten Textoiden, die die
Aufmerksamkeit von Google gewinnen sollen; in einem Fachartikel in einer
biologischen Fachzeitschrift wirkt es jedenfalls für einen Physiker
ziemlich verschroben.
Hätte ich das begutachtet, hätte ich weiter angemerkt, dass, wer Rocket
Science wie verallgemeinerte lineare Modelle mit MCMC aufruft, besser
nicht den Schätzer für die Standardabweichung (Gleichung 2.1) breit
ausstellen sollte – und dann noch als einzige Gleichung im ganzen Paper.
Das ist ein wenig wie bei dem Monty-Python-Sketch zur
Kilimandscharo-Expedition: Wir fahren über die Gneisenaustraße zur B37,
wechseln am Heidelberger Kreuz auf die A5 und dann fahren dann weiter
zum Kilimandscharo.
Natürlich ist Begutachtung von Fachveröffentlichung ein brotloser Job
(auch wenn ich vermute, dass es fast jedeR macht wie ich und dafür
jedenfalls mal eine gute Ecke Arbeitszeit verwendet; dann ist es eine
weitere öffentliche Subvention für die Verlage). Aber trotzdem,
Referees: Ratet zu weniger Text! Nicht zuletzt gibt es ja bei vielen
Blättern noch (und im Zusammenhang mit Open Access gerade) Page Charges
– Leute müssen also dafür bezahlen, dass ihre Artikel gedruckt werden,
und um so mehr, je länger der Artikel ist. Weniger Text schadet also
den Verlags-Geiern und ist mithin ein Gewinn für alle anderen! Ref:
„Academic publishers make Murdoch look like a socialist“.