Wieder mal bin ich erstaunt über die Relation von Corona- zu sonstiger Berichterstattung. Während die Deutschlandfunk-Nachrichten um 7:30 aufmachten mit 800 Austritten aus der Linkspartei, gab es kein Wort dazu, dass derzeit hier im Land recht wahrscheinlich mehr SARS-2-Viren umgehen als je zuvor.
Das ist aus den robusten Schätzern (Lang lebe small data!) zu schließen, die das RKI in seinen Wochenberichten veröffentlicht – die Inzidenzzahlen aus der Vollerfassung reflektieren ja inzwischen eher reales Verhalten als reale Verhältnisse, weil kaum mehr jemand PCR-testet. Bessere Zahlen sind zu schätzen aus dem, was ganz normale Leute über das GrippeWeb des RKI (Danke an alle, die mitmachen!) zu Erkältungen und Co berichten und aus den Diagnosen bei ÄrztInnen, wie viele Leute derzeit mit Symptonen Covid haben:
(Quelle). Sehen wir uns an, wie das zum Höhepunkt der Omikron-Welle im Frühling aussah; die höchste Schätzung war für Kalenderwoche 11 im Bericht vom 24.3.:
Nun gebe ich euch, dass das Mittel der damaligen Schätzung noch eine Ecke über der von heute liegt und inzwischen die Fehlerbalken größer sind. Aber wirklich signifikant verschieden sind die geschätzten Inzidenzen nicht.
Und das sind nur Leute mit Symptomen. Weil inzwischen viel mehr Menschen SARS-2 schon einmal überstanden haben als im März, ist anzunehmen, dass auch viel mehr Menschen asymptomatisch erkrankt (aber vielleicht noch infektiös) sein werden als in Kalenderwoche 11. Wenn sich die entsprechende Dunkelziffer auch nur um ein Drittel erhöht hat, laufen jetzt fast sicher mehr SARS-2-infektiöse Menschen herum als damals.
Dass „Infektionsraten wieder zurück auf Märzniveau“ gar keine Nachricht ist, finde ich zumindest in der Schrödinger-Interpretation des derzeitigen Pandemie-Umgangs interessant. Im Pandemie-vorbei-Zustand – und Abschnitt 1.6.3 im aktuellen RKI-Wochenbericht scheint in anzuzeigen –, wäre die Nachricht nämlich im Effekt „alle haben Schnupfen“, was eingestandenermaßen eher auf dem Niveau von „Hund beißt Mann“ ist und vielleicht wirklich nicht in die DLF-Nachrichten gehört. Stellt sich allerdings heraus, dass die Pandemie nicht vorbei ist, ist das, was da in der Schrödinger-Kiste ist, keine Katze mehr, sondern ein Tiger.
Ich selbst – der gerade das erste Rhinoviren-Elend der Saison durchläuft – neige mittlerweile deutlich zur Einschätzung, dass wir mit „ist vorbei“ durchkommen werden, ohne noch unser Normal-Moralniveau im Bereich öffentlicher Gesundheit verlassen zu müssen.
Aber wie es so ist mit den Kisten vom Schrödinger-Typ: Beim Öffnen kann es Überraschungen geben. Und so fände ich es schon ganz korrekt, wenigstens ein Mal die Woche, also nach dem Wochenbericht, kurz durchzusagen, dass, wer sich einschlägig Sorgen macht, derzeit die Ohren auf Märzniveau anlegen sollte.