Tag Frieden

  • „Rohstoffe in Deutschland“ im Karlsruher Naturkundemuseum

    Ein ziemlich großer Eimer mit Bruchsteinen drin, auf einem orangen Podest mit der Aufforderung, seinen täglichen Rohstoffverbrauch anzuheben.

    Überzeugende Museumspädagogik in der Rohstoff-Ausstellung im Naturkundemuseum Karlsruhe: für unseren Konsum[1] wird jeden Tag pro Nase insgesamt 32 kg Zeug aus der Erde geholt. Bei diesem Exponat kann mensch auf eigene Gefahr versuchen, das anzuheben.

    Zu den Museen, die ich mehr oder minder dank meines Museumspasses im vergangenen Jahr des Öfteren besucht habe, gehört das Naturundemuseum Karlsruhe. Wenn ich zwei Highlights nennen müsste: der Erdbebensimulator ist immer wieder ein Erlebnis, und die Dioramen, in denen ausgestopfte Tiere in idealisierten Ökosystemen arrangiert sind, sind gleichzeitig was fürs Auge und gerade richtig angestaubt für ruhige Kontemplation in Zeiten, in denen ohne Knöpfe und Beamer gar nichts mehr zu gehen scheint.

    Derzeit finden obendrein zwei ziemlich lohnende Sonderausstellungen statt. Da ist erstens „Von Sinnen“ über die Wahrnehmungen von allerlei Organismen. Diese Ausstellung ist allerdings demnächst vorbei. Sollte sie nochmal woanders gezeigt werden, lasst sie euch nicht entgehen, schon allein, weil sie zeigt, wie gut ein Design funktionieren kann, das wahrnehungseingeschränkte Menschen mitnehmen will (und wahrscheinlich auch mitnimmt).

    Noch bis April läuft dagegen „Deutschlands Bodenschätze“, eine kleine Ausstellung, in der ich erschreckend viel Zeit verbracht habe, etwa in Betrachtung einer der Manganknollen, die schon seit meiner Kindheit regelmäßig als Versprechen für hunderte weitere Jahre munteren Extraktivismus' gehandelt werden:

    Eine Art Stein mit vielen Gnubbeln drauf.

    Manganknolle aus der Ausstellung „Deutschlands Rohstoffe“ mit der Beschriftung: „aus dem deutschen Lizenzgebiet bei 117° West/11° 50' Nord aus 4.100 m Wassertiefe.“

    Da Manganknollen ja typischerweise vom Boden des Roten Meers oder (wie hier) der Clarion-Clipperton-Zone[2] gekratzt werden, erschließt sich auch gleich, dass das „Deutschland“ im Ausstellungstitel eher bedeutet „was wir für unsere Wachstumsorgie verschleudern“ als das durch den Genitiv vielleicht naheliegendere „was unter dem von unserer Regierung kontrollierten Gebiet liegt“.

    Die Verheerungen von Einfamilienhaus-, Neu- und Straßenbau

    Genau in diesem Sinn ist auch das ganz oben illustrierte Exponat zu verstehen: Ein Eimer mit einigen Steinen drin, den mensch anheben kann (oder vielleicht auch nicht). Die 32 kg, die der Eimer wiegt, sind eine plausible Quantifizierung des Anteils jedes/r BundesbürgerIn an dem, was die Menschheit in ihrem Produktionsrausch so aus der Erde rauswühlt. Und zwar Tag für Tag für Tag.

    Das mal für einen Moment tatsächlich zu tragen ist durchaus beeindruckend und vor allem instruktiv. Die Alltagserfahrung, also sagen wir, der Kram, den wir in die Mülltonne kippen, ist tatsächlich nur ein kleiner Teil dieser 32 kg. So mag das Heben dieses überraschend schweren Eimers ein Bewusstsein dafür wecken, welche Verheerungen gerade auch unsere Einfamilienhaus-, Neu- und Straßenbauwirtschaft anrichtet.

    Weit weniger konsumkritisch wirkte bei mir der ebenfalls durch hebbare Exponate illustrierte Dichteunterschied zwischen Magnesium, Alu und Stahl. Ich muss mich leider öffentlich zum wenig nachhaltigen Gedanken bekennen: „Mein nächster Computer sollte aber wirklich ein Magnesiumgehäuse haben“.

    Das wiederum führt relativ zwanglos in die Rubrik „warum schießen denn all die Leute im globalen Süden auf uns und unsere Freunde, die sie doch nur befreien wollen?“[3] In diese passt eine per Touchscreen entdeckbare Infografik der Rohstoff-Ausstellung:

    Infografik mit sichtbaren LCD-Pixeln: 69.2 Autos pro Mensch in der BRD, 0.3 in Guinea, dazu der Text: „Das in der deutschen Autoindustrie eingesetzte Bauxit kommt hauptsächlich aus Guinea“.

    Diese Grafik findet sich auch in der wirklich gut gemachten Broschüre „Argumente für eine Rohstoffwende“ des AK Rohstoffe etlicher deutscher NGOs wieder. Guckt euch das mal an, auch wenn ihr nicht in die Karlsruher Ausstellung kommt. Wer danach immer noch meint, wir sollten mal ordentlich grünes Wachstum machen, hat nicht nur ein stark aus der Balance geratenes Hirn-Hintern-Gleichgewicht, sondern dazu noch kein ohne aufwändige Bildgebung feststellbares Herz.

    Mein Herz (zu dem Autofeindschaft allzeit leicht Zugang findet) jedenfalls hat die Broschüre spätestens auf Seite 9 erobert:

    Mehr als 46 Milliarden Liter Benzin und Diesel verbrauchten Pkw in Deutschland im Jahr 2017. Eine reine Antriebswende würde diesen Verbrauch zwar reduzieren, aber auf Kosten eines Mehrverbrauchs von Metallen und Mineralen. Stattdessen wäre es wichtig, die Gesamtzahl der 47 Millionen zugelassenen Pkw in Deutschland deutlich zu reduzieren. Statt einer Antriebswende brauchen wir eine Mobilitätswende.

    [also gut: nur die „Mobilität“ zu wenden wird jetzt das Meadows-Szenario auch nicht bannen – aber trotzdem ist das schön gesagt].

    [1]Jaja, ich weiß, das passiert nicht in erster Linie „für den Konsum“, sondern um „Geld zu verdienen“. Der Unterschied ist tatsächlich ziemlich relevant, denn das hier ist bestimmt keine Verzichtspredigt. Wenn ich schon predige, dann Befreiung: Besser leben mit weniger Dreck.
    [2]Ich sage mutig voraus, dass, wenn die Dinge weitergehen, wie sie bisher verlaufen sind, ihr in den nächsten Jahrzehnten regelmäßig von der CCZ in den Nachrichten hören werdet; insofern lohnt es sich wahrscheinlich, sich die Bezeichnung schon mal zu merken.
    [3]

    Ah, „haben geschossen“ sollte ich hier zutreffender schreiben. Jetzt gerade zählt die einschlägige Wikipedia-Seite nur noch rund 1000 schießbereite BundeswehrlerInnen im globalen Süden, wozu ich großzügig auch die quasikolonial verwalteten (vgl) Länder Kosovo und Bosnien-Herzegowina sowie die Fluchtkontrolle im Mittelmeer zähle.

    Ich vermute sehr stark, dass wir nach der Metrik „deutsche Soldaten im Krieg“ gegenwärtig in der friedlichsten Zeit seit 1996 leben. Damals nämlich ist die Bundeswehr mit 2600 SoldatInnen zur IFOR-Operation nach Bosnien-Herzegowina gezogen, und seitdem war zwischen Mali und Hindukusch durchweg irgendwas, bei dem die verschiedenen Regierungen mit Tarnfleck, Gewehr und der gelegentlichen Bombe in größerem Stil mitmischen wollten.

  • 75 Jahre ohne Militär: Costa Rica

    Rechts im Bild ein Bahnsteig, links ein endloser Güterzug.  Auf jedem Wagen stehen zwei Panzer.

    Was ist der Unterschied zwischen der badischen Stadt Bruchsal und San José, der Hauptstadt von Costa Rica? Nun: Im Bahnhof von San José würde nicht plötzlich – wie hier im Juni 2013 – ein Güterzug voller Panzer stehen.

    Bevor deren 75. Jubiläumsjahr vorbei ist, möchte ich an eine der ganz großen zivilisatorischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts erinnern: 1948 löste der damalige Präsident José Figueres Ferrer das Militär in Costa Rica auf, und es hat kein Rezidiv gegeben, obwohl die Nachbarstaaten diesen, ach ja, Fort-Schritt nicht hinbekommen haben – vom Rest der Welt ganz zu schweigen.

    Ich brauchte auch erst eine Erinnerung daran und bekam die im Deutschlandfunk-Kalenderblatt am 1.12.2023. Der 1. Dezember ist der Jahrestag von Ferrers Inititative und ist seit 2020 in Costa Rica ein Feiertag („abolió el ejército“ – take that, „Volkstrauertag“). Peter B. Schumann erwähnte in seinem kleinen Beitrag gute Gründe zum Feiern:

    Die Kaserne wurde zum Nationalmuseum und der Wehretat zum Entwicklungsbudget. Damit konnten das Bildungssystem, das Gesundheitswesen und die Infrastruktur ausgebaut […] werden. […] Costa Rica hat es auch nie bereut. Während die hochgerüsteten Nachbarländer von einem autoritären Regime ins andere und von einer Krise in die nächste taumelten, konnte das kleine Land sich jahrzehntelang zu einer stabilen, prosperierenden Demokratie entwickeln.

    Sehr bemerkenswert fand ich auch die Analyse des Autors zu den Bedingungen für den Erfolg der Abrüstung in Mittelamerika:

    [Costa Rica] war viel kleiner [als seine Nachbarn], weniger kapitalkräftig, die Elite relativ arm […] Die Regierungen hatten [die Armee] allerdings oft vernachlässigt, so dass sie schlecht ausgebildet und schlecht bewaffnet war, eine schwache Institution.

    Also: geringe soziale Stratifikation, wenig physische Basis der Regierung, anderen Regierungen etwas aufzwingen zu können und eine schlecht finanzierte Armee haben in dieser (m.E. glaubwürdigen) Erzählung geholfen, das Militär loszuwerden. Praktischerweise sind das Politiklinien, die wenigstens mir auch unabhängig von Friedenspolitik im engeren Sinn attraktiv erscheinen – angefangen vom Ende der Kriegskredite (Verzeihung, „Sondervermögen“; soll keineR sagen, es habe sich gar nichts getan in Berlin über die letzten 110 Jahre hinweg).

    Kopfportrait eines etwa 60-jährigen Mannes im Anzug mit hoher Stirn, dunklen Haaren und einem ernsten Blick.

    Der Held der Auflösung des Militärs in Costa Rica: José Figueres Ferrer, hier im September 1973 (Bildquelle).

    Nun will ich gerne eingestehen, dass mein traditionell zuversichtlicher Blick in eine militärfreie Zukunft ohne Strammstehen, Tschingdarassabum, bunte Kappen und Orden in nur wenigen Momenten meines Lebens nicht bei vielen ZeitgenossInnenen auf ungläubige bis schnappatmende Einwände gestoßen wäre: anfangs „aber… die Russen?!“, dann rasch „aber… die Moslems?!“ und jetzt wieder (meist) „aber… die Russen?!“

    Ganz unabhängig davon, ob Tschingdarassabum und Menschentotschießen geeignet, notwendig und angemessen sind, um Konflikte zwischen den Entietäten zu lösen, denen sich die verschiedenen ZeitgenossInnen zugehörig fühlten: Costa Rica ist tatsächlich gut ohne ausgekommen, und das, obwohl sich recht schnell ein deutliches Wohlstandsgefälle zu den militärbesetzten Nachbarstaaten einstellte[1].

    Zu den qualitativen Effekten der Auflösung des Militärs lohnt ein Blick in die (vermutlich für Mittelamerika stark unvollständige) Liste der Putschversuche in der englischen Wikipedia[2]. Wie der DLF-Autor Schumann schon andeutet, fanden in den Nachbarstaaten – wenn nicht wie in Nicaragua ohnehin über Jahrzehnte das Militär faktisch an der Macht war – alle paar Jahre mal Militärputsche statt (für Honduras verzeichnet: 1956, 1963, 1972, 1975, 1978 und 2009).

    Für Costa Rica hingegen ist nach dem 1.12.1948 nur ein Putschversuch notiert, und der ist gescheitert. De facto war das sieben Jahre nach der Auflösung der Armee ein Versuch der alten Garde, sich wieder die Lizenz zum Schießen und Töten sowie die Alimentierung für dieses Treiben zu verschaffen. Es handelte sich nämlich um eine vom Somoza-Regime in Nicaragua gestützte Rebellion, in der „Calderonistas“, Ex-Soldaten aus der Zeit des vorherigen Potentaten Rafael Calderón, versuchten, wieder einen „normalen“ Staat zu bekommen. Das ist durchaus auch eine Erinnerung daran, dass, wer jetzt Militär macht, eben auch ein schweres Erbe für später schafft.

    Los gings Anfang Januar 1955, als diese Truppen mit Ölgeld aus dem damals ebenfalls erzreaktionär regierten Venezuela vom Herrschaftsgebiet des später in der sandinistischen Revolution untergegangenen Somoza-Clans aus in die costaricanische Kleinstadt Ciudad Quesada einfielen; venezuelanische Militärflugzeuge beschossen derweil verschiedene Städte in Costa Rica. SpielerInnen des Klassikers Junta kennen das Szenario.

    Die Regierung in San José rief daraufhin die OAS an, die (eingestandenermaßen überraschenderweise) Druck auf Nicaragua ausübte; dazu mobilisierte die Regierung in San José ihre Polizei, stellte Milizen auf und widmete vorübergehend Zivilflugzeuge um, was angesichts hinreichender Popularität der Regierung genug war, um die Invasion zusammenbrechen zu lassen.

    Klar wärs schöner gewesen, wenn der versuchte Putsch etwa durch einen zünftigen Generalstreik beendet worden wäre statt durch doch ziemlich paramilitärisches Gedöns. Klar ist aber auch, dass erstens Militärquatsch deutlich weniger Schaden anrichtet, wenn es insgesamt weniger davon gibt, und zweitens, dass auch ohne Militär Grobiane von außen nicht einfach tun und lassen können, was sie wollen.

    Es wird nur für die Grobiane von innen schwieriger, sich richtig grob zu benehmen und bei ihren Streitigkeiten mit den Grobianen von außen halbe Regionen zu verwüsten. Und vielleicht ist entsprechend radikale Abrüstung ja auch mal von unten statt wie in Costa Rica von oben zu bewerkstelligen? Das wäre besser, denn auf eine Figur wie Ferrer werden wir im Land von Clausewitz wahrscheinlich noch lang warten müssen.

    [1]Wie immer ist es schwierig, „Wohlstand” zu definieren und noch mehr zu quantifizieren. Wer an Metriken wie den HDI glaubt, wird Costa Rica 2018 bei 0.78 finden, gegenüber Nachbarstaaten wie El Salvador bei 0.68 oder Honduras bei 0.62 (zum Vergleich sieht das UNDP die BRD bei 0.94); aber dass der Billigflaggen-Staat Panama bei 0.79 und damit gleichauf mit Costa Rica steht, sagt wohl mehr über die Metrik als über reale Verhältnisse im Hinblick auf gutes Leben aus.
    [2]In der Liste der Putsche in der deutschen Wikipedia hat sich noch niemand den beängstigend großen Schuh angezogen, solche Aktivitäten in Mittelamerika zu sammeln.
  • War Gavrilo Princip ein radikaler Tierschützer?

    Ein treuer Leser dieser Seiten hat mich neulich auf ein paar der bizarreren Faktoide aus der Wikipdia hingewiesen. Zunächst: Im Artikel zu Franz Ferdinand von Österreich-Este – dessen Tod unmittelbarer Auslöser des ersten Weltkriegs war –, heißt es:

    Wie aus den vollständig erhaltenen Schusslisten hervorgeht, erlegte Franz Ferdinand im Laufe seines Lebens 274.889 Stück Wild. Darunter bei Großwildjagden auf seinen langen Weltreisen viele exotische Tiere wie Tiger, Löwen und Elefanten. Allein im Jahr 1911 erlegte er 18.799 Stück Wild, „Tagesrekord“ waren an einem Junitag 1908 2763 Lachmöwen.
    Ausschnitt eines gemalten Bildes: Hirsche fliehen einen Berg runter und springen in Panik in ein abgesperrtes Becken.  Dort schwimmen sie dann.  An der Seite stehen Menschen in einem Pavillion und schießen die Hirsche ab.

    Wer sich fragt, wie wer wie Franz Ferdinand 25 Tiere am Tag abknallen konnte: Nun, es hängt davon ab, wie viel Mühe sich andere geben. Hier ist ein Ausschnitt aus einem Bild eines unbekannten Künstlers von 1758, das illustriert, wie es auch ein eher unbeweglicher Mann wie Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz hinbekam, bei Dilsberg (das Wasser ist der Neckar) in großer Zahl Hirsche zu erschießen. Das ganze Bild könnt ihr im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg sehen.

    Blutrünstige Blaublüter vs. moderne Wirtschaft 0:1

    Um solche Zahlen in Perspektive zu bringen: Franz Ferdinand soll 1872 zum ersten Mal Tiere umgebracht haben und hatte bis 1914 Zeit dafür, also gut 40 Jahre. Zwecks rundem Ergebnis nehmen wir an, dass er sonntags nicht schoss; dann hat er im Schnitt an jedem Tag seines Jägerlebens 300'000/40/300 = 25 Tiere niedergemäht oder etwas wie zwei pro Stunde, wenn wir annehmen, dass auch er schlafen und essen musste.

    Das ist ein kleiner Schlachthof. Beim Versuch, eine Ahnung zu bekommen, wie sich das wohl mit einem professionellen Schlächter der Moderne vergleicht, habe ich über diesen Thread auf fleischbranche.de den Begriff „Kopfschlachter“ kennengelernt (Bedeutung: Schlächter im Akkord) und dann das hier gelesen:

    bei den schweinen haut ihr ja ganz gut rein mit 1000 stück. bei uns läuft schweineschlachtung nur nebenher 2x die woche, da haben wir dann um die 250 stück, in 2,5 std. sind wir damit durch. Bei rinderschlachtung haben wir meist so zwischen 200 bis 350 stück, jetzt zur kälteren jahreszeit wirds wieder mehr, momentan um die 300 an dem einen schlachthof. an dem kleinen schlachthof wo ich auch arbeite sind es nur um die 70 stück, meist große bullen, in etwa 6 std. da hier das band langsamer läuft muss jeder einzelne hier mehr machen. ich muss hier die tiere reintreiben, schießen, aufhängen, abstechen, kopf abschneiden, vorderfüße abschneiden und brust und vorderoberschenkel vorenthäuten. ich benutze den Dick Stahl mit dem grauen griff und arbeite meist mit swibo messern. ausrüstung und klamotten muss bei uns jeder selbst kaufen, sogar das dreckszeug waschen muss jeder in eigen regie machen.

    In einem modernen Schlachthof töten die ArbeiterInnen (aber klarerweise auch im Team) also etwas wie 100 Schweine pro Stunde; bei Rindern geht es etwas langsamer. Damit wirkt Franz Ferdinands Mittel von zwei Tieren pro Stunde nicht mehr so sensationell.

    Dennoch muss mensch sich fragen: Was macht einen Menschen so blutrünstig? In diesem Fall kann mensch den Standardmechanismus der Selektion von SchurkInnen im Wettbewerb schon mal ausschließen, der Erzherzog war ja bereits in seine „hohe“ Position reingeboren.

    Eine Fayence-Gruppe: Grün gekleidete Menschen mit Dreispitz fummeln die eingeweide eines erschlagenen Hirsches aus ihm raus.

    Auch das Original dieser Fayence ist im Kurpfälzischen Museum zu sehen, und auch das kommt aus der Zeit von Karl Theodor – nur für den Fall, dass wer Zweifel hatte, dass diese Leute die blutigen Aspekte ihrer Ballerei nicht im Auge hatten.

    Ein Attentat als Posse

    Es ist vielleicht nicht wichtig, ihn zu kennen, aber der Gavrilo Princip aus der Überschrift war der Mensch, der Franz Ferdindand (und versehentlich auch seine Frau) am Veitstag 1914 in Sarajevo erschossen hat. Es wäre ein schöner Twist in der Weltgeschichte, wenn er das in Wirklichkeit getan hätte, um dem Franz Ferdinand'schen Gemetzel eine Ende zu setzen.

    Aber nein, die Wikipedia-Seite zum Sarajevo-Anschlag lässt leider keinen Hauch von Zweifel zu: Princip war doch nur einer von all den anderen Patrioten, die aus objektiv unerfindlichen Gründen ständig aufeinander schießen müssen. Immerhin war sein Club (im Gegensatz zu Genscher und Co) noch hinter einem Gesamt-Jugoslawien her und hatte zusätzlich einen Namen, wie ihn der kleine Nick nicht besser hätte wählen können: „Die Schwarze Hand“.

    Überhaupt sind es zunächst Namen und Titel, die die Lektüre des Wikipedia-Artikels lohnend machen. Ich wähle mal ein paar aus:

    • Marschall Oberst Graf Rumerskirch
    • Kriegsminister Alexander Ritter von Krobatin
    • Oberst Dragutin Dimitrijević als Chef der Verschöwrung, der, logisch, bestimmt mit dem russischen Militärattaché in Belgrad, General Wiktor Artamonow, unter einer Decke steckte (Eat the Rich!)
    • Ottokar Graf Czernin
    • Franz Conrad von Hötzendorf als „Vertreter der Kriegspartei“ („seit 1907“)

    Auch der Verlauf der Verschwörung wirkt absolut wie eine Groteske aus Wiener Vorstadttheatern:

    Gegen zehn Uhr fuhr die Kolonne an Mehmedbašić vorbei, der eine Bombe werfen sollte, aber nichts unternahm. Er erklärte seine Untätigkeit später damit, dass er von Ilić die Anweisung bekommen habe, die Bombe nur dann zu werfen, wenn er den Wagen des Thronfolgers erkenne. Dies sei ihm aber nicht gelungen.

    Die Identifikation des Ziels scheint für die Verschwörer tatsächlich ziemlich schwierig gewesen zu sein, denn wenig später „erkundigte sich [ein weiterer Attentäter] bei einem Polizisten, in welchem Fahrzeug der Erzherzog säße“. Der Polizist gab eine zutreffende Antwort, und so traf die Bombe, die der Attentäter daraufhin warf, Franz Ferdindand sogar. Sie prallte aber ab und explodierte woanders. Der Attentäter versuchte nach dem Wurf, sich heldenhaft-romantisch mit Zyankali umzubringen, aber das Zeug war zu alt, und außerdem hat er jede Menge davon vor Aufregung verschüttet.

    Mit Stil gescheitert

    Angesichts dieser Szene ging Princip – er hätte weiter hinten auf Franz Ferdinand schießen sollen – erstmal ins Kaffeehaus. Wie kann jemand mit solchen Reflexen eigentlich aus dem k.u.k.-Reich austreten wollen? In der Stil-Wertung ist das jedenfalls ganz oben dabei, gleich zusammen mit „Let's go bowling“[1].

    Franz Ferdindand machte derweil auf dicke Hose und ließ im Wesentlichen einfach weiterfahren, obwohl es dieses eine Mal wirklich weitere Attentäter gab:

    Vaso Čubrilović sagte später aus, dass er nicht geschossen habe, weil ihm die Herzogin leid getan hätte, Cvetko Popović sagte aus, dass er Angst gehabt habe und in diesem Augenblick nicht gewusst habe, was mit ihm geschehe.

    Sagt, was ihr wollt: Wenn alle PatriotInnen den ethischen Kompass hätten, nichts zu machen, wenn (mehr oder minder) Unbeteiligte darunter leiden würden – oder ersatzweise hinreichend viel Angst –, dann wäre das hier eine viel bessere Welt. Der mit dem Mitleid ist übrigens in der späteren Volksrepublik Jugoslawien Minister für Forstwirtschaft geworden. Mein erster Gedanke, als ich das gelesen habe: In dieser Position wird er vermutlich mit den deutsch-jugoslawischen Karl May-Verfilmungen der 1960er beschäftigt gewesen sein. Trotzdem ist er in dieser ganzen Geschichte klar mein Lieblingscharakter.

    Princip schließlich – und auch das wusste ich nicht – kam zu seinem tödlichen Schuss nicht etwa in einer Kennedy-fährt-durch-Dallas-Situation mit großem Aufzug, sondern weil sich der erzherzögliche Chauffeur verfahren hatte und ausgerechnet vor dem Starbucks^W Delikatessengeschäft Moritz Schiller anhielt, in dem Princip sich mit einem Käffchen über die fehlexplodierte Bombe hinwegtröstete.

    Übrigens waren wohl nicht nur die Waldtiere wenigstens teilweise ganz zufrieden mit Princips Schuss. EinE Wikipedia-AutorIn verrät:

    Der Tod des Thronfolgers löste in Österreich-Ungarn keine allgemeine Trauer aus. Der Gesandte in Bukarest und spätere Außenminister Ottokar Graf Czernin erinnerte sich später, in Wien und Budapest habe es mehr Erfreute als Trauernde gegeben.

    Irre Twists Galore

    Die ganze Franz Ferdinand-Geschichte ist voll von irren Twists. So wusste ich zum Beispiel bis zu meinem jüngsten Wikipedia-Binge auch nicht, dass Princip im Jahr 1918 in Theresienstadt sein Leben verloren hat.

    Theresienstadt? Ja. Es stellt sich heraus, dass das Konzentrationslager in der deutsch besetzten Tschechoslowakei entfernte Vorgänger in k.u.k.-Zeiten hatte, nämlich ein Gefängnis für verschärfte Haftbedingungen in der „Kleinen Festung“. Es war später tatsächlich der Keim, aus dem die deutsche Besatzungsmacht und ihre Gestapo Anfang der 1940 ihr „Vorzeige-KZ“ schuf.

    Mein „sein Leben verloren“ von oben ist sicher die freundlichste mit der Wirklichkeit verträgliche Formulierung. Der k.u.k.-Apparat – der Princip nur dehalb nicht direkt justiziell umbrachte, weil er zum Tatzeitpunkt nach damaligem Recht minderjährig gewesen war – hielt Princip bis 1916 durchweg in Ketten, und auch danach noch in feuchtkalten, dunklen Zellen vollständig isoliert. Irgendein Wärter muss ihn dennoch mit Tuberkulose infiziert haben, denn daran ist er am 28. April 1918 mit nicht mal 25 Jahren gestorben, ein paar Monate, bevor die Donaumonarchie ebenfalls das Zeitliche segnete.

    Wie üblich bei PatriotInnen ist Princip eine zutiefst tragische Figur, denn die Staaten, die Österreich-Ungarn folgten, waren ziemlich durchweg nochmal fürchterlicher als dieses (was sicherlich auf Dollfus-Österreich zutrifft; über das Zwischenkriegs-Jugoslawien weiß ich zu wenig).

    Princips geritzte letzten Worte allerdings machen schon etwas her, zumal er da offenbar eingesehen hatte, dass die Mängel der Donaumonarchie bestimmt nicht ein auf einen Mangel an Grenzen zwischen den „Völkern“ zurückgingen, sondern dass es eigentlich auch damals schon um oben und unten hätte gehen sollen:

    Unsere Geister schleichen durch Wien und raunen durch die Paläste und lassen die Herren erzittern.
    [1]Wer dieses Zitat nicht kennt, sollte ganz schnell das Coen-Meisterwerk Big Lebowski angucken. Der Film ist im vorliegenden Zusammenhang auch befriedigend, weil …
  • Antimonarchistische Aktion: In Zukunft „Baiern“ sagen

    Nach Maßstäben eines entschiedenen Antimonarchisten konnte ich bisher relativ viel anfangen mit König Ludwig I von Bayern – immerhin hat er dem Land eine (wenn auch ziemlich lausige) Verfassung gegeben.

    Vor allem jedoch hat er in meiner bisherigen Erzählung im Jahr 1848 für eine leidenschaftliche Affäre mit einer recht resoluten Tänzerin („Lola Montez“, die „Ohrfeigen verteilte und eine Pistole zog“) seine Krone weggeworfen. Das hat selbstverständlich der Freiheit seiner Untertanen nicht viel geholfen – keine Überraschung: „Es rettet uns kein höhres Wesen, kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun“ –, aber in diesem Film war es eine wirklich große und stilvolle Geste.

    Ernüchterung in der Ausstellung

    Meine Ludwig-Toleranz hat etwas abgenommen, seit ich vorgestern mit meinem Museumspass die Ausstellung über Ludwig I im historischen Museum der Pfalz[1] in Speier angesehen habe. Ein Minuspunkt dabei war die Kiste, nach der Baiern (und auch Speier) mit y zu schreiben sei. In den Worten Ludwigs:

    Faksimile einer in einer etwas krakeligen und unleserlichen Schrift verfassten Note.

    Der Grund fürs y in Baiern: „Ich will ferner, daß wo der Name Bayern vorzukommen hat, er wie es eben von mir geschah geschrieben werde, nämlich mit einem y statt i – 20. Oktober 1825 Ludwig.”

    Nicht, dass ich etwas gegen kreativen Umgang mit Sprache hätte oder gegen radikale Eingriffe in die Orthografie, im Gegenteil: Würde Ludwig das heute schreiben, wäre ich der erste, der ihn wegen seines „daß“ reaktionärer Tendenzen verdächtigen würde.

    Politische Rechtschreibung

    Die Konfusionierung der Orthografie durch willkürliche Abweichungen vom Lautprinzip jedoch ist schon für sich blöd. So richtig blöd wird sie dann, wenn sie aus kreuzdummen Gründen passiert. Und das ist nicht nur beim „Thron“ der Fall, sondern unzweifelhaft auch hier: Ludwig I begeisterte sich damals nämlich für das sinnlose Gemetzel des griechischen „Freiheitskriegs“, den ich am Ende meines Chios-Posts wie folgt eingeordnet habe:

    Aus heutiger Sicht wird wahrscheinlich niemand bestreiten, dass das alles Quatsch war. Für die Griechen bestand ihre „Freiheit“ aus einem bayrischen König, der „Griechenland“ zwar exzessiv „liebte“, 1862 aber von einem britischen Schiff evakuiert werden musste, weil seine Machtbasis komplett erodiert war und schon wieder Aufstand herrschte. Sein letzter Nachfolger schließlich ging 1968 unter, als er selbst einen Militärputsch plante, ihm andere Militärs aber zuvorkamen.

    Die sinnlosen Ypsilons des ersten Ludwig Wittelsbach nun sollten eine Art „stand with Greece“ ausdrücken, ein wenig wie Lord Byrons Märtyrertod in gleicher Sache, nur etwas weniger tödlich und vielleicht einen Hauch weniger albern. Letzteres ist einzuräumen, war doch des Königs Begeisterung für diese Sorte Freiheit aus seiner Sicht sogar verständlich. Dies jedenfalls in der Rückschau, denn Ludwig konnte im Endspiel um die Macht in Griechenland einen seiner Söhne als griechischen König installieren (wenn auch vor allem, weil sich die Großmächte erster Klasse beim Aufteilen des osmanischen Kadavers gegenseitig blockiert haben).

    Um welche Sorte Freiheit es dabei ging, mag auch hervorgehen aus der Tatsache, dass Ludwig wenige Jahre nach seinem y-Stunt die 1832 in Hambach (sein Territorium, und er hat seinen Altersruhesitz auch gleich in der Nachbarschaft errichten lassen) feiernden NationalistInnen mit Feuer und Schwert verfolgen ließ und bei der daraufhin etablierten Zentralbehörde für politische Untersuchungen fleißig mitspielte.

    Klar: in Zeiten des zweiten Krimkriegs können wir kaum mit Steinen werfen, wenn Freiheitsgetöse aus HerrrscherInnenmund zusammengeht mit Waffenhandel, Patriotismus, Heldenkult, unfähigen Statthaltern, und natürlich Aufrüstung sowie Grundrechtsabbau im eigenen Land. Aber deswegen müssen wir noch lange nicht patriotisch-pathetischen, romantisch-verlogenen Unfug in alle Ewigkeit weitermachen.

    Lasst uns deshalb einen kleinen Teil der nächsten Rechtschreibreform vorwegnehmen und „Speier“ und „Baiern“ schreiben. Zwei Fallen weniger in der verrückten deutschen Orthografie!

    Ludwig liebt Lyrik

    Was habe ich noch gelernt über den ersten Ludwig Wittelsbach? Nun, vor allem, dass sich seine Lyrik zumindest von der der Vogonen positiv abhebt. Die Ausstellung illustriert das nicht ohne etwas feine Ironie so:

    Spot-erleuchtete Buchstaben an der Wand: „Die Nonne in Himmelsforten“ von Ludwig I: „Ach! Die Zelle/Wird zu Hölle/Wenn das Herz erglüht/Wer in Mauern muss vertrauern/Wenn die Liebe blüht“

    Heinrich Heine, treffsicher wie immer, konterte das mit:

    Herr Ludwig ist ein großer Poet,
    Und singt er, so stürzt Apollo
    Vor ihm auf die Kniee und bittet und fleht:
    Halt ein, ich werde sonst toll, o!

    Außerdem verliert meine Version des Mit-Lola-Montez-Durchbrennens etwas an Überzeugungskraft, wenn die Ausstellung seinen Rücktritt eher darstellt als beleidigten Rückzug, weil ihm der revolutionäre Pöbel von 1848 schlicht immer mehr konstitutionelle Fesseln anlegen wollte. Ich muss den KuratorInnen zugestehen, dass ihre Version glaubhafter ist als meine, die irgendwo zwischen Roman Holiday und Robin Hood zu liegen kommt. Aber natürlich ist sie wirklich nicht dazu angetan, mein antiautoritäres Herz zu bewegen.

    Nicht ganz erwartet hatte ich die Dichte von Bezügen auf Heidelberg im Leben von Ludwig I; so verbrachte er Teile seiner Jugend im heutigen Heidelberger Stadtteil Rohrbach. Wie viele biographische Details führt die Ausstellung das durch recht nett zusammenfingierte königliche Tagebücher zum Selbstblättern ein. Der Band zu Kindheit und Jugend Ludwigs legt ihm neben Träumen von Rohrbach auch revanchistische Gefühle im Hinblick auf die rechtsrheinische Pfalz – ein ehemals bairisches Territorium, mit dem Napoleon in Ludwigs Jugend den Markgraf von Baden entlohnt hatte – in den Mund („an Baden verloren“). Irgendwann muss ich mal mehr recherchieren über alte Feindschaften zwischen (den Herrschern von) Altbayern und Baden.

    Auch kaufte Ludwig W. 1827 die Kunstsammlung der Gebrüder Boisserée, die diese in der späteren Heidelberger Gestapo-Zentrale (und dem heutigen germanistischen Seminar) zusammengetragen hatten, und schuf so den Grundstock der alten Pinakothek in München.

    In einem Schritt ins 20. Jahrhundert

    Weiter hat er das „Ludwig“ zum Namen „Ludwigshafen“ von Heidelbergs schmutziger – größtes Chemiewerk Europas – Schwester im Rhein-Neckar-Raum beigesteuert; vorher hieß der Ort „Rheinschanze“ und war eine Art Mannheimer Brückenkopf am Westufer des Rheins. Allerdings gehörten zu der Zeit beide Ufer auch noch dem gleichen Herrn, eben dem Pfalzgraf bei Rhein, als dessen Erbe Ludwig sich verstand.

    Und, etwas entfernter von sowohl von Ludwig I als auch von Heidelberg: Das historische Museum der Pfalz in Speier selbst verdankt seine Existenz einem Sohn Ludwigs, nämlich dem „Prinzregenten“ Luitpold, der regierte, weil nach dem spektakulären Abgang von Ludwigs Enkel Ludwig II (der mit Neuschwanstein und dem fatalen Bad im Chiemsee) in der Thronfolge ein weiterer Otto Wittelsbach (nicht der, den die Royal Navy aus Griechenland evakuiert hat) dran gewesen wäre. Otto W. allerdings war aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1871 geistig ziemlich derangiert zurückgekommen (was ihn ehrt) und konnte daher zwar König sein, aber dennoch nicht regieren.

    Tatsächlich wird der Initiative des Ludwig-Sohns seit jeher auf dem Haus gedacht; es ist mir nur vorgestern zum ersten Mal richtig aufgefallen:

    Teil-Außenansicht des historischen Museums; auf einer Sandsteinmauer hängt eine Werbefahne für die Ludwig-Ausstellung, links daneben in Gold in die Wand eingelegt: „Regnante Luitpoldo Princ Reg Bav Exstructum AºMDCDVIII”

    Die Jahreszahl 1908 auf der Bauinschrift ist übrigens kein Scherz. Ludwigs Gattin Therese von Sachsen-Hildburghausen (die von der Oktoberfestwiese) hat Luitpold zwar schon 1821 zur Welt gebracht, dieser konnte aber tatsächlich 1908 noch Richtfest in Speier feiern. Er starb erst 1912 – eigentlich erstaunlich für ein Kind des Königs, der gerade so nicht mit Lola Montez durchgebrannt ist.

  • Zum Antikriegstag: Von Aretha Franklin zu antipatriotischen Gedanken

    Ein Gazebo mit einem Transparent dran: „Internationaler Antikriegstag 1. September 2001.  Wir bleiben dabei: Nein zum Krieg“, dahinter eine Fußgängerzonenszene.

    Als PazifistIn kommt mensch aus dem Told-you-so-Sagen gar nicht mehr raus: Kaum zwei Wochen nach der überschaubaren Heidelberger Kundgebung zum Antikriegstag 2001 – heute vor 22 Jahren – erklärten weltweit viele Herrschende den „Krieg gegen den Terror“. Ich denke, niemand wird bestreiten, dass die Welt jetzt viel besser wäre, wenn sie das gelassen hätten.

    Im Deutschlandfunk-Kalenderblatt vom 16. August 2023 erinnerte Andrea Klasen an den zehnten Todestag von Aretha Franklin. Im Beitrag heißt es:

    Aretha Franklins Weg zum Ruhm ist steinig. Sie wird im März 1942 in Memphis, Tennessee, geboren, hinein in ein Elternhaus voller Musik.

    Als Klasen gegen Ende sagte:

    Am sechzehnten August 2018 stirbt die Soul-Diva mit 76 Jahren in ihrer Heimatstadt Detroit.

    habe ich zuerst gedacht: „Holla, aber es hieß doch am Anfang, Franklin sei in Memphis geboren worden? Hat Klasen nicht aufgepasst?“

    Dann aber kam mir, dass der Text vielleicht eine fortschrittlichere Interpretation des ja wahrlich bestenfalls grenzwertigen Begriffs „Heimat“ anwenden wollte, namentlich weniger Blut und Boden, Eltern und Geburtsort, stattdessen mehr „Wo gefällt es dir eigentlich und wo wohnst du?“

    Das wäre ein sehr erheblicher Fortschritt gegenüber der Sorte von Heimat, die beispielsweise im Namen der (zum Glück stark sklerotischen) Verbände der „Heimatvertriebenen“ lauert. Die dort gewählte Interpretation führt(e) zum Glauben, der Geburtsort lege fest, wo allein auf der Welt ein Mensch glücklich werden könnte, weshalb er oder sie auch dringend Anspruch darauf hat, dort Grund besitzen zu können. Für die „Heimatvertriebenen“ kam dazu, dass die Leute, die seit den jeweiligen Befreiungen der diversen „Heimaten“ von der deutschen Herrschaft dort wohnten, ihnen, also den Rückkehrenden, gefälligst hätten weichen sollen.

    Tja: Leider habe ich Klasens Intention wohl überinterpretiert. Auf meine Frage nämlich, was Franklin wohl in die post-autoindustrielle Wüste Detroit gezogen haben könnte, antwortet die Wikipedia, dass bereits ihre Eltern dorthin gezogen waren, und zwar als es noch eine autoindustrielle Wüste war. So lässt sich aus dem Beitrag eher kein entspannteres Konzept von Heimat belegen.

    Aber natürlich auch nicht sein Gegenteil, zumal ein identitätsreduzierter Heimatbegriff keineswegs neu ist: „Ubi bene ibi patria“, meine Heimat ist, wo immer es mir gut geht, war schon im republikanischen Rom eine Parole gegen auch damals grassierendes Blu-Bo-Säbelrasseln. 1848 drehten Marx und Engels die heimatfeindliche Aufklärung etwas weiter, als sie im Kommunistischen Manifest schrieben: „Die Arbeiter haben kein Vaterland“.

    Nach weiteren 170 Jahren, in denen sich Menschen abgemetzelt haben, weil irgendwelche Grobiane ihnen erzählt haben, sie müssten irgendwelche Heimaten oder Vaterländer „verteidigen” (realistisch: in Schutt und Asche legen), möchte ich zum heutigen Antikriegstag eine Fusion vorschlagen. In Küchenlatein wäre das „ubi patria ibi stupor“, in zeitgenössischem Deutsch Vaterland ist für Deppen.

    Ich habe versucht, diesen entschlossenen FriedensdemonstrantInnen bei der Heidelberger Antikriegstag-Kundgebung 2023 meinen neuen Spruch nahezubringen:

    Ein gutes Dutzend Playmobil-Figuren mit Pace-Fahnen in den Händen.

    Ich hatte keinen Erfolg. Was sind eigentlich die aktuellen PISA-Ergebnisse für Latein? Bestimmt ganz schlimm!

  • Musée Historique de Strasbourg: „Von der Pfaffen Grittigkeit“

    Sandsteintafel mit Frakturschrift vor schwarzem Hintergrund; Text: Gottes Barmherzigkeit ⋅ Der Pfaffen Grittigkeit ⋅ Und der Bauern Bosheit ⋅ Durchgründt niemand bei meinem Eid

    Aus dem Musée Historique de Strasbourg: Diese Tafel war seit 1418 am Weißturmtor von Straßburg angebracht. Je nun: was wollte uns der Autor damit sagen?

    Dank meines Museumspasses hat es mich neulich in das Musée Historique de Strasbourg verschlagen, und neben vielem anderen mehr oder minder wildem Kram ist dort die oben gezeigte Steinplatte ausgestellt. Mit etwas Mühe lässt sich die Frakturschrift auch von modernen Menschen entziffern als:

    Gottes Barmherzigkeit ⋅
    Der Pfaffen Grittigkeit ⋅
    Und der Bauern Bosheit ⋅
    Durchgründt niemand bei meinem Eid

    Ich habe kein Wort verstanden, und leider erklärt auch die Beschreibung des Exponats nicht, was dieser Spruch den durch das Tor tretenden Menschen wohl hat mitteilen wollen. Bei mir fing es ja schon bei „Grittigkeit“ an. Was ist das wohl?

    Duckduckgo führt (neben – leider! – haufenweise falsch Positiven wie Wörterbucheinträgen zu „Griffigkeit“) immerhin auf das Lemma „grittig“ im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm. Dort werden als Bedeutungen „zänkisch“ und „habgierig“ angeboten, letzteres mit einem Beleg „das die pfaffen ungerecht werent mit hoffart, mit grittikeit und unkúscheit“. Das wirds also sein: die Habgier der Pfaffen.

    Aber was ist jetzt das „durchgründt“? Auch hier helfen die Grimms, die das zu „völlig ergründen […] bis auf den grund durchdringen“ auflösen. Damit wäre die letzte Zeile in modernem Deutsch etwas wie „Wallah, das versteht keine Sau“; ein unmittelbarer Zusammenhang mit irgendwelchen konkreten Bürgereiden (sowas gab es natürlich auch in Straßburg, und auch dort war zeitweise heftig umkämpft, ob „Pfaffen“ oder auch Adlige ihn leisten müssten) scheint mir nicht plausibel.

    Nicht nur Lexik

    Nach Beilegung der lexikalischen Schwierigkeiten verstand ich aber immer noch nicht, warum wer so einen Spruch über dem Stadttor angebracht haben könnte. Ich hatte jedoch zwischendurch auch Google nach der Grittigkeit befragt, und dort kamen einige Matches in deren gescannten Büchern. Oh, was für eine Schande, dass all unsere öffentlichen Bibliotheken nicht ein vergleichbares Scan-Programm haben auflegen können, dessen Früchte ordentlich public domain wären und nicht hinter der Verwertungsmaschinerie von Google lägen!

    Aber noch leben wir in einer anderen Welt, und so habe ich die Zähne gefletscht und meine DNS-Blockade für googleusercontent.com überschrieben[1]. So kam ich an ein PDF der „Neuen Vaterländischen Geschichte der Stadt Straßburg“ von Johannes Friese[2] aus dem Jahr 1792 – sie erschien also, da Straßburg damals schon zu Frankreich gehörte, mitten in der Revolution oder „im vierten Jahr der Freiheit“, wie es auf dem Titelblatt heißt.

    In dem Werk findet sich das Grittigkeits-Verslein auf PDF-Seite 374[3], interessanterweise aber gleich mit „ergründet“ statt „durchgründet”. Da die Platte damals wohl noch am Tor gehangen haben wird: Hat Frieses Erinnerung auf dem Weg vom Turm zur Schreibstube schon eine Modernisierung der Sprache vorgenommen? Oder war die Änderung Absicht? Hing gar eine andere Tafel am Turm?

    Wie auch immer – das Buch stellt die Platte in folgenden Kontext:

    Die Stiftsherren bey St. Thomas hatten den Zehnten im Königshofer Bann. Nun war es zwar kein Recht, aber doch eine alte Gewohnheit, daß man den Bauern in der Aerndte eine gemeine Zeche von Brod und Wein reichte; dieses wollten aber die gestitlichen Herren diesmal nicht thun, obgleich die Aerndte sehr ergiebig war. Die Bosheit der Bauern, durch den Geiz der Priester gereizt, verursachte darauf, daß der Zehnte, der noch auf dem Felde lag, durch böse Buben verbrannt wurde. Diese Geschichte soll Anlaß gegeben haben, daß der Stein am Weissenthurnthor [sic!] mit der bekannten Inschrift gesetzt wurde.

    Dann wäre „Bosheit“ also wohl eher als „Wut“ zu aktualisieren, und das Ganze wäre ein Kopfschütteln über die Sinnlosigkeit sowohl des klerikalen Übergriffs wie auch der vielleicht etwas sehr schlechtgelaunten bäuerlichen Reaktion auf ihn.

    Vaterland?

    Das „Vaterland“ im Titel des des Friese-Buchs ist übrigens auch nicht ganz leicht zu interpretieren, denn wie gesagt: „Vaterland“ war in Straßburg 1792 bereits seit rund hundert Jahren – wenn überhaupt etwas – Frankreich, nachdem Louis XIV 1681 die türkische Belagerung von Wien zur eigenen („l'état c'est moi”) Arrondierung genutzt hatte. Was Friese tatsächlich unter „Vaterland“ verstanden hat, habe ich nicht zu „durchgründen“ versucht. Dass er auf Deutsch veröffentlicht hat, ist jedenfalls kein klares Signal, denn das wurde zu seiner Zeit erst langsam unüblich im französischen Straßburg. Davon kann mensch sich im Musée Historique verschiedentlich überzeugen. So wird beispielsweise eine Polizeiverordnung von 1708 ausgestellt, die – sehr passend! – auf Deutsch überflüssiges Essen und Trinken verbot.

    Aus Frieses Zeit kommt dieses Exponat, das das gewaltsame Ende von Robespierre am 28. Juli 1794 den BürgerInnen von Straßburg bekannt machte:

    Papier mit einer Guillotine-Zeichnung in der Mitte und darum in an Fraktur angelehnter Handschrift: „Roberts Piere ist nun tod/schönck den frieden uns O Gott/dieses winscht die ganze welt [...]

    Spätestens zu diesem Zeitpunkt jedoch war Deutsch massiv auf dem Rückzug aus Straßburg, und zwar – gewiss neben Aufwallungen von Nationalismus und Zorn über von deutschsprachigen Potentaten nach Frankreich getragenem Krieg – wohl aus einem recht nachvollziehbaren Grund: Das Regierungssystem in Frankreich war trotz Durchknallereien wie im Fall Robespierre einfach viel überzeugender als irgendwas, das aus Wien, Berlin oder meinethalben auch Baden-Baden, Durlach oder Mannheim hätte kommen können, und so orientierten sich immer weitere Teile der Bevölkerung eben an Paris.

    Insbesondere gehörte dazu auch das metrische System, das aus meiner Sicht alleine hinreichend Grund gewesen wäre, mit Haut und Haaren Richtung Paris zu blicken. Im Musée Historique sind dazu zeitgenössische Maße für Volumen zu bewundern:

    Drei Kannen aus Blech in einer Vitrine arrangiert.

    Die auch darüber hinaus deutlich erkennbar zunehmende Gallisierung der Straßburger Bevölkerung in dieser Zeit illustriert, finde ich, ganz gut, wie patriotisch-verdreht (oder, wie ich neulich fand, bizarr) die Rede von „Befreiungskriegen“ für die Feldzüge der deutschen Reaktion von 1812 bis 1815 war und ist.

    Die Katastrophe von 1870

    Dementsprechend wenig angetan dürfte die lokale Bevölkerung auch über den Einfall deutscher Truppen 1870 gewesen sein, selbst wenn dieser keine so furchtbar schlimme Katastrophe für Straßburg gewesen wäre wie er es in Wirklichkeit war.

    Hier muss ich wieder meinen Geschichtsunterricht anklagen. Die Geschichte, die dort vom 1870/71-Krieg erzählt wurde, war in etwa: Bismarck, der alte Fuchs, hat mit der Emser Depesche die Franzosen dazu gebracht, „uns“ anzugreifen, so dass sich alle hinter Preußen versammelten und es tolle Einheit gab – ach, wie sich irrationale Reflexe doch bis heute gehalten haben –, und dann gab es ein wenig Geballer, das „wir“ grandios gewonnen haben, weil „unsere“ Gewehre beim Schießen keinen Qualm mehr gemacht haben, und dann war Reichsgründung im Spiegelsaal von Versailles, hurra.

    Das war natürlich Quatsch, und zwar schon lange, bevor die unrühmliche Rolle der Deutschen beim Dahinmetzeln der KommunardInnen nicht erwähnt wurde. Der Krieg damals war mies und blutig, ganz vornedran in Straßburg. Im Musée Historique ist dazu das hier zu sehen:

    Ein Bild, auf dem ein Mann durch eine zerstörte Stadt geht, vor einem großen Foto-Hintergrund mit einer zerstörten Stadt.

    Das Bild zeigt den Straßburger Bürgermeister Küss bei der Besichtigung der Schäden durch deutsche Artillerie (gemalt 1873 von Jules-Theophile Schuler nach seiner Erinnerung; Küss floh nach der Machtübernahme durch die Deutschen). Dahinter ist ein Foto der Zerstörungen in Straßburg nach der deutschen Belagerung von 1870 gelegt. Das Museum ordnet diese Belagerung als das „blutigste und opferreichste Ereignis der Stadtgeschichte“ ein, nach dem „ein Drittel der Stadt in Schutt und Asche“ gelegen sei.

    Das Bild des Gentleman-Krieges, das in bayrischen Gymnasien der 1980er Jahre gezeichnet wurde, passt da jedenfalls mal gar nicht. Was sagt eigentlich der moderne deutsche Geschichtsunterricht?

    Zu allem entschlossene Wissenschftler

    Was es 1871 noch nicht gab: empfindliche Seismographen. Das war bei den alliierten Bomben im zweiten Weltkrieg anders. Eine Aufzeichnung eines solchen Angriffs findet sich (zum Glück, denn das Seismologische Muesum in Straßburg ist leider auf unbestimmte Zeit geschlossen) im Musée Historique:

    Viele weiße hoizontale Striche auf schwarzem Grund mit gelegentlichen größeren Wellen.  Ungefähr in der Mitte des Bildes ein Gekrakel als Kreissegment, an dem die weißen Striche aufhören, um im unteren Drittel wieder anzufangen.

    Auf dem Seismogramm verläuft die Zeit schnell von links nach rechts und langsam von oben nach unten. Als größere Zitterer zu erkennen sind einige Bombeneinschläge in größerer Entfernung. Schließlich explodiert etwas in ziemlicher Nachbarschaft: Das ist der große Krakel links der Mitte, nach dem das Seismogramm erstmal aufhört, vermutlich, weil die Kratzspitze abgefallen oder abgebrochen ist. Ich habe keinen sicheren Zeitmaßstab und kann daher nicht sicher sagen, wie lang der Ausfall gedauert haben wird. Angesichts der Länge der Erschütterungen durch die Bomben (Größenordnung Sekunden) sind das aber allenfalls Stunden. Irgendein entschlossener Wissenschaftler hat demnach das Gerät vermutlich recht unmittelbar nach dem Ende des Luftalarms in Ordnung gebracht.

    Schade, dass dieser Held der Wissenschaft einer von der „Reichsuniversität“ Straßburg war. Denn der Laden war speziell während der deutschen Besatzung in den 1940ern eine fürchterliche Hochburg schlimmer Reaktionäre und Faschisten, wovon im Musée Historique nur ein wenig berichtet wird. Das Übrige erzählt das (aus den Zeiten der ersten deutschen Besatzung stammende) Hauptgebäude der Uni –

    Panorama eines hässlichen Gründerzeit-Klotzes

    – und die Ausstellung im Konzentrationslager Natzweiler-Struthof, wo die Herren Wissenschaftler aus Straßburg (und auch aus Heidelberg; es war ja das Stammlager für das Lagersystem hier in der Region) eifrig experimentierten.

    Aber davon ein andermal mehr.

    [1]

    Wenn ihr meine dnsmasq-Zeilen verwendet: Zumindest zur Zeit könnt ihr gezielt die Bücher freigeben durch:

    address=/books.googleusercontent.com/172.217.16.193
    

    – dnsmasq merkt, dass die Adresse spezieller ist als das allgemeine:

    address=/googleusercontent.com/127.0.0.1
    
    [2]Soweit ich erkennen kann, verbietet Google nicht die Weiterverbreitung; aber ich nehme das PDF dennoch aus dem allgemeinen CC0 auf diesen Seiten heraus.
    [3]Das ist S. 33 von Band Zwei des Werkes. Ich vermute mal, dass das ursprünglich wirklich zwei Bücher waren, die aber die Bibliothek der University of Wisconsin – von der Google hat das Original bekommen – oder …
  • Friedensforschung als Beruf

    Zu den verheerenderen Publikationen des 20. Jahrhunderts gehört Max Webers Politik als Beruf. Das Werk inspriert bis jetzt all die Rädchen vor allem deutscher Machtapparate – und nochmal ganz besonders die, die am Anfang ihrer Karriere mal menschenfreundlichere Positionen eingenommen haben –, allen möglichen fiesen Quatsch zu rechtfertigen durch „Verantwortungsethik“, während sie Kritik ihrer ehemaligen MitstreiterInnen als (sc. verantwortungslose) „Gesinnungsethik“ abschmettern können, ohne sich mit Argumenten herummühen zu müssen.

    Vor diesem Hintergrund scheinen die laut taz-Autor Pascal Beuker „führenden deutschen Friedensforschungsinstitute“[1] auch eher auf Beruf und weniger auf Forschung setzen. Beuker berichtete nämlich im Artikel Langer Abnutzungskrieg (taz vom 12.6.; in der Papierausgabe war glaube ich keine Helden-Illustration dabei):

    Zum einen müsse die Ukraine militärisch, ökonomisch und politisch weiter nach Kräften unterstützt werden. Das werde wohl „auf sehr lange Zeit“ notwendig sein, „vermutlich sogar über Jahrzehnte“, sagte [die Leiterin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung] Deitelhoff. […]

    „Die sich [aus einer einseitigen Einstellung des Gemetzels] ergebende militärische Niederlage der Ukraine würde voraussichtlich deren Zerschlagung nach sich ziehen, einhergehend mit einer Besatzungspraxis von Folter, Verschleppung, sexueller Gewalt und gezielten Tötungen, die wir bereits jetzt in den von Russland besetzten Gebieten beobachten“, sagte Deitelhoff.

    Gut: „Friedens- und Konfliktforschung“ ist im Profibereich („als Beruf“) eher ein Chiffre für „geopolitische Beratung von Außen- und Militärministerium“ (oder, mit etwas mehr Klartext: „Tipps fürs Fertigmachen der Feinde“), so dass ich mich über diese friedenspolitische Bankrotterklärung nicht wirklich gewundert habe. Vielleicht ist der LeserInnenbriefredaktion der taz diese kleine Unehrlichkeit aufgefallen, denn sie hat den folgenden Leserbrief nicht publiziert.

    Aber weil ich nicht oft genug auf die offensichtlichen Parallelen zwischen der derzeitigen Öffentlichkeit und der im ersten Weltkrieg hinweisen kann, kommt er dann hier:

    Liebe Redaktion,

    Wenn einem Forschungsinstitut zur Konfliktbewältigung nur Krieg „über Jahrzehnte“ einfällt, wird es wohl kein Friedensforschungsinstitut sein, schon gar kein „führendes“, wie Pascal Beuker meint. Und tatsächlich: Selbst wer (soweit es mich betrifft irrigerweise) meint, ein guter Krieg sei einem schlechten Frieden vorzuziehen, sollte jedenfalls nicht mit den Durchhalteparolen von Verdun kommen. Auch damals hieß es unter großzügiger Nutzung rassistischer Stereotype (die Kolonialtruppen!), „die Franzosen“ würden, wenn „wir“ nicht mehr schießen würden, vergewaltigend und mordend durch die Lande ziehen. Faktencheck bei der Ruhrbesetzung 1923-1925: Nichts davon. Die französische Besatzung war besser als das Wüten der deutschen Wehrmacht im Ruhrgebiet im Gefolge des Kapp-Putsches 1920, und besser als die Heimatfront während des ersten Weltkriegs sowieso.

    -- Anselm Flügel

    Nachtrag (2023-07-01)

    Zum Thema Phantasmen im Hinblick auf Kolonialtruppen bin ich jüngst bei einer Museumspass-Tour nach Mainz im dortigen Naturkundemuseum auf folgendes Zitat des immer noch von vielen als Lichtfigur der Weimarer Republik verehrten ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert (SPD) gestoßen:

    Foto eines weißen Textes auf schwarzem Grund: „Die Verwendung farbiger Truppen niederster Kultur als Aufseher über eine Bevölkerung von der hohen geistigen und wirtschaftlichen Bedeutung der Rheinländer [ist] eine herausfordernde Verletzung der Gesetze europäischer Zivilisation“ (Friedrich Ebert, 13.2.1923)

    Aber nun gut: Das ist der Ebert, der sich mit den protofaschistischen Freikorps verbündete gegen SpartakistInnen, die Müncher Räterepublik oder die im Leserbrief erwähnten ArbeiterInnen an der Ruhr. Ein weiteres Beispiel dafür, dass es wirklich keine Inflation braucht, um das Ende der Weimarer Republik zu erklären.

    Und wo ich schon in die Geschichte blicke: In gewisser Weise noch mehr Parallelen bestehen zum Krimkrieg der 1850er Jahre, und zwar nicht nur im Hinblick auf den Ort des Gemetzels oder die erstmalige breite Anwendung jeweils neuer Techniken in der Berichterstattung. Das ist mir neulich aufgefallen, als ich im schönen Geschichtswerk „The Age of Capital 1848-1875“ des 2012 verstorbenen britischen Großhistorikers Eric Hobsbawm folgende Passagen las:

    Im Zeitalter der Revolutionen [laut Hobsbawm 1789-1848; das ist auch der Titel des Vorgängerbuchs], oder jedenfalls nach der Niederwerfung Napoleons […] waren die Regierungen der Großmächte extrem darauf bedacht, größere Konflikte untereinander zu vermeiden. Ihre Erfahrungen schienen nahezulegen, dass größere Kriege und Revolutionen gerne miteinander einhergehen. […] Nach der Niederwerfung Napolons 1815 hatten die Großmächte für über dreißig Jahre ihre Waffen nicht gegeneinander eingesetzt und ihre Militäroperationen [sic!] beschränkt auf die Unterdrückung von nationalem oder internationalem Umstürzlertum, auf diverse lokale Unruheherde und auf die Expansion in zurückgebliebene Teile der Welt.

    [Hobsbawm erzählt im Folgenden von weniger besorgten europäischen Regierungen, die, nach dem harmlosen Ausfizzeln der 1848er-Revolutionen entspannter im Hinblick auf aufmüpfige Untertanen, sich wieder mehr ums gegenseitige Abjagen von Filetstückchen kümmerten.]

    Das erste größere Ergebnis dieser Störung war der Krimkrieg (1854–1856). Von allen Kriegen der Zeit zwischen 1815 und 1914 kam dieser einem allgemeinen europäischen Krieg am nächsten. Die Ausgangssituation war in keiner Weise neu oder unerwartet. Dennoch entwickelte sich eine große, bemerkenswert inkomptetent geführte, internationale Schlächterei zwischen Russland auf der einen und Großbritannien, Frankreich und der Türkei auf der anderen Seite. Es wird geschätzt, dass dieser Krieg über 600'000 Männern das Leben kostete, fast eine halbe Million davon durch Krankheit. Dabei handelte es sich um 22% der britischen, 30% der französischen und ungefähr die Hälfte der russischen Truppen.

    Leider kann ich nicht sagen: „Ein Glück, dass wir heute kompetente Friedensforschung haben, die herausgefunden hat, wie weise StaatslenkerInnen so einen Unsinn verhindern können“.

    [1]Wobei ich persönlich finde, dass sich schon disqualifiziert hat, wer in der BRD über Friedensforschung redet und das nicht relativ zur Tübinger Informationsstelle Militarisierung einordnet.
  • Bruchsal zwischen Mandolinen und Soldaten

    Foto von ca. 20 Lederbändern mit aufgepressten Metallplättchen über Klaviersaiten mit einem Holzbügel mit der Aufschrift „Mandoline auf die Zapfen Z setzen”.

    Ein Detail eines automatischen Klaviers („Pianova“ von den Leipziger Musikwerken Paul Lochmann GmbH), ca. 1910. Was es mit diesen Lederstreifen auf sich hat, erzähle ich ziemlich gegen Ende dieses Posts.

    Unter den Einrichtungen, die beim Oberrhein-Musesumpass mitmachen, finden sich einige Burgen (z.B.) und Schlösser (nochmal z.B.). An Fronleichnam verschlug es mich in dieser Angelegenheit in die Residenz der Fürstbischöfe von Speyer in Bruchsal.

    Dafür, dass das Bistum Speyer eine recht überschaubare Herrschaft war, ist der Palast, den der Potentat Damian von Schönborn-Buchheim seinen Untertanen in den 1720er Jahren abgepresst hat, beeindruckend groß und großzügig. Noch überraschender angesichts des Duodezbauherren ist, dass beim Bau die Stars der damaligen Prunkbauten-Szene – etwa Balthasar Neuman oder Cosmas und Damian Asam – am Start waren.

    Der Fairness halber will ich einräumen, dass sich Schönborn-Buchheim ein Schloss ersetzen ließ, das Soldaten in einem Krieg kaputtgehauen hatten, mit dem er nichts zu tun hatte, und dass er selbst sich mit Kriegen und anderem Gemetzel vorbildlich zurückgehalten hat.

    Insofern darf mensch das völlig übertrieben große Treppenhaus und die Prunkhallen mit ihren nicht immer ganz geschmackssicheren und schon wegen ganzer Bände heidnischer Mythen entschieden unfrommen Deckenmalereien ohne viel schlechtes Gewissen goutieren, um so mehr, als die aktuellen Decken ohnehin aus der Nachkriegszeit stammen. Alliierte Bomber haben das Schloss nämlich bei Angriffen auf die in Bruchsal stationierten deutschen Zweite-Weltkrieger noch im März 1945 getroffen, woraufhin es ausgebrannt ist.

    Foto einer großen runden Mauer mit Durchblick auf ein hohes Deckenfresko

    Das Treppenhaus im Schloss von Bruchsal ist eigentlich klar überdimensioniert für das kleine Reich seiner Besitzer.

    Soldaten gehen und kommen

    Das mutmaßliche Ziel der Alliierten gehört zur bösen Geschichte Bruchsals: Seit den Zeiten des Fürstbischofs hatte das Städtchen eine Kaserne. 1922 befreiten die Demilitarisierungsregeln des Versailler Vertrags die BürgerInnen von den Soldaten, 1945 nochmal der Zusammenbruch der faschistischen Herrschaft. In beiden Fällen kamen die Soldaten leider bald wieder.

    Da die Bundeswehr Anfang der 1990er Jahre ein vorerst letztes Mal verschwunden ist („Friedensdividende“), ist Bruchsal zur Zeit wieder militärisch unbelastet. Die zurückbleibende Kaserne – ich kann der Abschweifung nicht widerstehen – nutzte die Landesregierung von Baden-Württemberg für ein besonders verdrehtes Experiment im Rahmen ihrer Privatisierungsstrategie für Hochschulen (vgl. neulich zu Bologna): Die International University in Germany, in die die öffentliche Hand mehrfach ein paar Millionen Euro versenkte, bevor der Laden erwartungsgemäß Pleite ging. Ich weiß nicht, was jetzt in der Kaserne ist; hoffentlich kommen die Soldaten nicht schon wieder zurück. Ganz sicher wäre selbst ein weiteres Experiment mit einer Privatuniversität weniger grässlich – und erheblich billiger sowieso.

    Die Guillotine von Plötzensee

    Aber zurück zum Schloss: Neben den Prunkräumen befindet sich dort heute das Stadtmuseum, das etwa die recht interessante Geschichte des Bruchsaler Knastes beleuchtet (bemerkenswerterweise ohne Erwähnung des dort bis vor 15 Jahren einsitzenden Promis Christian Klar). Insbesondere war mir ganz neu, dass der Scharfrichter des NS-Volksgerichtshofs im Strafgefängnis Plötzensee seinen Opfern mit der badischen Guillotine von Bruchsal die Köpfe abschlug – angesichts der eigentlich liberalen Tradition des Landes Baden hat diese Geschichte, finde ich, eine gewisse Ironie.

    Liberale Tradition? Ja, eine weitere Geschichte aus dem Stadtmuseum handelt vom Revolutionsjahr 1848, als Bruchsal schon einmal ohne langfristigen Erfolg die Soldaten abgeschüttelt hatte: Damals nämlich waren die Dragoner ausgerückt, um den Hecker-Aufstand niederzuschlagen. Als sie damit fertig und also zurück in Bruchsal waren, nahmen viele der für eine Weile freiheitlich gesinnten BürgerInnen gegen sie eine „drohende Haltung ein“. Der Museumstext weiter: „Schließlich musste das Militär nach Mannheim verlegt werden, um die Ruhe in Bruchsal nicht weiter zu gefährden.”

    Aber wie gesagt: Trotz dieses vorübergehend vorbildlichen BürgerInnensinns waren waren die Dragoner wenig später wieder da. In der Realität gewinnen halt doch meistens die Bösen.

    Musikautomaten

    Aber ich will die Realität nicht schelten, denn es gibt auch immer wieder bezaubernde Wunderdinge. Besonders viele davon sind im Musikautomaten-Museum versammelt, das ebenfalls mit dem Schloss-Ticket besichtigt werden kann (ihr solltet mindestens zwei Stunden dafür einplanen). Dort hatte ich die Einsicht, dass es neben der Analog-Schallplatte („Schellack“) rund um 1900 herum eine ernstzunehmende digitale Konkurrenz durch Lochplatten gab:

    Eine Metallplatte mit eingestanzen Löchern entlang von konzentrischen Spuren in einem Abspielmechanismus mit hölzernem Kasten.

    In diesen Platten sind Impulse kodiert, die Stimmzungen oder Pfeifen ansteuerten; jede Spur entsprach einem Ton, so dass der Zauber schon nach einer Umdrehung etwas repititiv wurde – aber sie drehten natürlich auch viel langsamer als die 45 Umdrehungen pro Minute zeitgenössischer Schallplatten, und ihre Klangqualität war um Längen besser. Das Bruchsaler Muserum hat zahlreiche Mechanismen, die Platten dieser Art mit verschiedenen Techniken abspielten.

    Mir ist beim Blick auf die Dinger durch den Kopf gegangen, dass ein wesentliches Problem der Technologie gegenüber der Schellackplatte neben der eher kurzen Spieldauer fehlende Standards gewesen sein dürften, also etwa: Wie groß soll die Platte sein? Wie schnell soll sie gedreht werden? Welche Zähnung hat die Antriebsspur? Welche Spur macht welchen Ton? Beim Schellack konnte recht bald jede Platte auf jedem Gerät gespielt werden, hier ziemlich sicher nicht.

    Putziges Implementationsdetail zur letzten Frage: Weil Basslinien in normalen Stücken deutlich langsamer sind als Läufe im Sopran, entsprechen innere (also kürzere) Spuren bei den Geräten fast immer tieferen Tönen.

    Was mich allerdings am meisten hingerissen hat: Der Hack vom Aufmacherfoto, nämlich auf Lederbänder gepresste Blechlein. Diese Teile haben einem mechanischen Klavier wirklich so eine Art Mandolinenklang (also: etwas schnarrend) beigebracht, und zwar indem der Holzbügel, der im oberen Teil des Fotos erkennbar ist, die Lederbänder auf die Saiten gedrückt hat, vielleicht ein wenig wie bei einem Dämpfer. Erstaunlicherweise haben dann die mitschwingenden Blechlein wirklich den Toncharakter erheblich verändert. Ob ich den neuen Klang ohne Vorsagen „Mandoline“ genannt hätte, lasse ich mal offen.

    Ein Rat noch: Nehmt euch Gehörschutz mit. Etliche der Maschinen waren für Jahrmärkte und laute Kneipen gedacht und von der Lautstärke her entsprechend ausgelegt.

  • Planspiele in Meerengen

    In den Deutschlandfunk-Nachrichten läuft derzeit Folgendes:

    Der EU-Außenbeauftragte, Borrell, hat Patrouillenfahrten europäischer Kriegsschiffe in der Straße von Taiwan gefordert.

    Europa müsse beim Thema Taiwan sehr präsent sein, schrieb Borrell in einem Gastbeitrag der französischen Sonntagszeitung „Journal du Dimanche“. Die Europäische Union sei sowohl wirtschaftlich als auch technologisch eng mit Taiwan verbunden. Es gehe um die Freiheit der Schifffahrt.

    Buchtitel in rot und schwarz: Weiß "2034" ein paar chinesische Schriftzeichen

    Grusel-Schocker: Ein Roman über den nächsten Weltkrieg. Rechte bei Penguin.

    Ich könnte jetzt grummeln, dass das schon sehr klare imperiale Ansagen sind („wir werden unseren wirtschaftlichen Interessen gemäß töten, und sei es auch am anderen Ende der Welt“), aber das wäre trotz der Empörung über konkurrierende imperiale Interessen, die Borrell dann und wann äußert, langweilig.

    Im Vergleich hinreichend spannend ist das Buch, an das mich diese Nachricht sofort erinnert hat, nämlich „2034 – A novel of the next world war“ von Elliot Ackerman, einem ehemaligen Marineinfanteristen, und James Stavridis, der von 2009 bis 2013 alliierter Oberbefehlshaber in Europa war (ist bei libgen entleihbar; ansonsten: Penguin Books 2021, ISBN 9780593298688). Die beiden haben in dem Buch erkennbar viel Spaß, sich Geschichten (durchaus im intersektionalen Sinn) diverser HeldInnen in einem allmählich eskalierenden Weltkrieg auszumalen. Wenn das diese Geschichten umgebende Szenario militärischen Planspielen nicht ohnehin schon so eng folgt wie das die Geheimnistuerei in dem Geschäft halt zulässt, wird es bestimmt demnächst jede Menge entsprechende Simulationen geben (siehe unten).

    Das Buch kam mir in den Sinn, weil sich in der Geschichte – ja, ich spoilere in diesem Absatz das ganze Buch – der Krieg entzündet an sozusagen Borrellschen Patroullienfahrten im fraglichen Seegebiet – nur natürlich der US-Marine, deren existierende Operationen Borrells Forderungen noch mehr als Wir-auch-Imperialismus markieren. Ein paar US-Zerstörer (oder was immer) schippern durch die Spratleys, und China kann die mit überwältigenden „Cyber Capabilities“ – sie sitzen ja in jedem Router! – ohne Gegenwehr versenken.[1] Nachdem die Iraner weiter einen tapferen Fighter Pilot foltern, die Chinesen eine See- und Cyberblockade über Taiwan verhängen und die Russen das Internet durch Kappen eines Tiefseekabels am Nordpol kaputtmachen, zünden die USA eine Atombombe über einer chinesischen Militärstadt (wie sie das angesichts der erdrückenden „Cyber Capability“ der Chinesen machen, bleibt offen), China zündet zwei über US-Städten, und dann darf der gefolterte Fighter Pilot, der inzwischen aus dem Iran freigekommen ist, mit seinen überlegenen uncyberigen Flugkünsten noch Shanghai einäschern, bevor Indien einen Friedensschluss erzwingt.

    Jaja, die Handlung ist stulle, aber dass sich alles um das dreht, was Militärs heute gerne „Indopazifik“ nennen, ist besonders bemerkenswert, weil Stavridis, soweit ich die deutsche Wikipedia richtig verstehe, eigentlich immer im erweiterten Atlantikraum unterwegs war (Irak, Bosnien, Haiti, Guantanamo inklusive Internierungslager, vielleicht sogar Heidelberg). In dem Buch streicht er das Erbe der Ballereien seiner eigenen Leute praktisch vollständig, was mir den Eindruck einer alarmierenden Fixierung auf China innerhalb der Leitungsbene des US-Militärs aufdrängt. Diese mag aktuell zwar etwas gemildert sein, aber vermutlich ist die Einschätzung Jörg Kronauers (in seiner Veranstaltung am 9. März bin ich auf das 2034-Buch aufmerksam geworden) nicht ganz abseitig, das große transatlantische Interesse am Krieg in der Ukraine könnte viel mit Rücken-Freihalten (oder -kriegen?) für Konflikte mit China zu tun haben.

    Daher: So unwohl ich mich in China gefühlt habe – die himmelschreiende Ungleichheit, die blinde Nutzung von allem, was blinkt und piept, der wilde Wettbewerbswille, der schockierend verbreitete glühende Patriotismus –, so sehr ist klar, dass Aufrüstung und Säbelrasseln bei uns nichts davon verbessern werden; wie üblich gilt es, der autoritären Versuchung nicht nachzugeben, denn sehr wahrscheinlich würde das nicht nur hier, sondern auch dort alles schlimmer machen.

    Wer den Menschen unter chinesischer Herrschaft helfen will, möge hier gegen Militarisierung und Patriotismus kämpfen, vermutlich würde auch Aktivismus gegen Freihandel helfen, und ganz gewiss Klima-Aktivismus, denn China hat in der Hinsicht viel zu verlieren und wenig zu gewinnen. Gute Vorbilder bei uns helfen den Menschen dort, mehr Partizipation und (damit notwendig) weniger Militär sowie weniger Arbeit und Wettbewerb zu erreichen. Ganz offenbar imperiale Gesten wie die Borrells machen den Menschen guten Willens dort ihre Arbeit zumindest mal viel schwerer.

    Unten

    Buchtitel "The third world war" fett weiß auf schwarzem Grund, darunter eine Erdkugel mit mehreren Großfeuern.

    Der Vorgänger von 1979. Rechte bei Sphere Books

    Der große Präzedenzfall für einen Nächster-Weltkrieg-Schocker ist übrigens „The Third World War“ (Sphere Books 1979), ein Lieblingsprojekt des Zweite-Weltkrieg-Haudegens „General Sir“ John Hackett, der beispielsweise in den 1960ern die britische Rheinarmee kommandiert hat und damit dann die „Northern Army Group“ der NATO – was immer das gewesen sein mag. In dem Buch – ich spoilere wieder – entzündet sich der Konflikt im Jahr 1985 erwartungsgemäß an West-Berlin, dann nuken die Russen Birmingham, dann die NATO Minsk, und dann zerfällt die Sowjetunion ganz ähnlich wie sie das in der Realität ein halbes Jahrzehnt später auch ohne Atombombe getan hat.

    Der Vergleich des aktuellen Ackerman/Stavridis-Buchs mit dem männerschweißigen Reißer aus den 1970ern samt dessen Waffen-Porn in Sprache und auf eingehefteten Bild-Tafeln schlägt übrigens vor, dass es vielleicht sogar im Militär irgendwas wie einen Prozess der Zivilisation gibt. Solange das das Militär immer noch nicht am Rumballern und Bombenwerfen hindert, tröstet das zwar wenig, aber immerhin sind die Akteure von 2034 nicht mehr die Terminatoren ohne Sozialleben oder erwähnenswerte Sprachfähigkeiten, die Hackett auftreten ließ.

    In den frühen 80ern war das Hackett-Buch gerade im Militär ein Bestseller (ich bin z.B. überzeugt, dass meine Ausgabe von einem Mitarbeiter der damals noch zahlreich in Heidelberg vorhandenen NATO-Stäbe ins Antiquariat gegeben wurde), und wer im Netz mal nach "Fulda Gap 1985" sucht, wird feststellen, dass Hacketts Szenario immer noch viele Kriegsspiele inspiriert.

    Mal sehen, wie die Leute in dreißig Jahren über Ackerman und Stavridis reden werden. Mit etwas Engagement sollte es doch hinzukriegen sein, das Wort „hellsichtig“ aus künftigen Besprechungen ihrer Geschichte rauszuhalten…

    [1]Die chinesischen „Cyber Capabilities“ sind natürlich völlig fantastisch und zeugen von einem eher religösen Verhältnis der Autoren zu Technologie, aber das ist beim Auftauchen der Buchstabenfolge „C-y-b-e-r“ (Standard-Bedeutung: Alles im Umkreis von 30 Tokens ist Bullshit) ja zu erwarten.
  • Glückwünsche zu Schritt 1

    "Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons" in verschiedenen Sprachen

    Schritt 2 zur Zivilisierung und Denuklearisierung der Republik wäre die Unterzeichnung des TPNW.

    Heute endet die kommerzielle Nutzung der Kernspaltung in der BRD[1] . Das ist aus vielen Gründen klasse, über die heute viele andere reden. Für mich ist der wichtigste Grund einer, der nicht oft erwähnt wird: Eine möglichst große Reaktorflotte ist praktische Voraussetzung für eine glaubhafte Option auf die Bombe – genauer, auf Bomben in kriegswichtiger Zahl, also jetzt nicht nur so eine Handvoll. Je weniger es so eine Option gibt, desto besser. Rundrum.

    Diese Option ist erstens Folge davon, dass mit kommerziellen Kernreaktoren Anreicherungskapazitäten im Überfluss bereitstehen, zweitens daran, dass hinreichend viele Menschen mit den zur Bombenproduktion nötigen Techniken vertraut sind oder sie sich jedenfalls schnell aneignen können, und drittens, dass auch jederzeit haufenweise Plutonium anfällt, quasi sachzwänglich – so verfügte auch die BRD jahrzehntelang über etwa fünf Tonnen im Prinzip waffentaugliches Plutonium (vgl. Plutoniumwerk ALKEM).

    Solche Erwägungen waren der Hintergrund der riesigen staatlichen Investitionen in die Nukleartechnologie in den 50er und 60er Jahren. Die zentrale Figur dabei war Franz Josef Strauß, der mit seiner Bomben-Motivation auch immer offen umgegangen ist. 1957, sein Kernforschungszentrum Karlsruhe bastelte gerade an den ersten Reaktoren dort, mit seiner Kernforschungsanlage Jülich ging es gerade los, die Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiffahrt in Geesthacht war ein Jahr alt, die Inbetriebnahme des Atom-Eis in Strauß' Garchinger Vorgarten im September 1957 war absehbar, ließ er als fürs Militär zuständiger Minister[2] am 10.4.1957 regierungsamtlich verkünden:

    Ein Verzicht auf Kernwaffen unter den gegebenen Umständen und im Augenblick würde militärische Preisgabe Europas an die Sowjetunion bedeuten.

    Natürlich würden sich „Umstände“ und „Augenblicke“ nie ändern. Noch in den 1970ern – der Plan B für großmaßstäbigen Zugriff auf die Bombe, die WAA Wackersdorf, war längst in Planung[3] – schrieb er:

    Zur Souveränität gehört die Atomwaffe.

    —Welt vom 5.9.1975

    Das ist die Geschichte hinter den beeindruckenden Geldmengen, die in die damalige Großforschung flossen.

    Ein Fahrradständer mit einem Regenschutz aus gebogenem Wellblech

    Im ehemaligen Kernforschungszentrum Karlsruhe 2022: Auch wenn es inzwischen KIT heißt, sehen sogar die Fahrradständer immer noch irgendwie nach Los Alamos aus.

    Und diese Geschichte geht heute leider bei weitem nicht zu Ende. Auch die BRD droht ihren Feinden weiterhin mit der Auslöschung ihrer Städte, und leider denkt niemand, der/die auch nur den Hauch einer Chance auf die Macht im Land hat, über einen Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag TPNW nach – was nun wirklich moralischer Mindeststandard wäre.

    Heute wäre also ein guter Tag, einen kleinen Beitrag zur Besserung dieser Situation zu leisten. Vor vierzig Jahren schien eine breite Koalition für den „Atomausstieg“ – wie sie zumindest bis zur derzeitigen patriotischen Besoffenheit seit 2011 bestanden hat – so undenkbar wie heute ein Ausstieg aus den monströsen Drohungen mit nuklearem Massenmord. Es ist an uns, das Sentiment zu Atombomben jetzt ähnlich zu drehen.

    Ich zum Beispiel habe immer noch ein paar einschlägige Postkarten, die ich euch, wenn ihr auch welche schicken wollt, gerne vorbringe (wenn ihr in Heidelberg und Umgebung wohnt) oder auch schicke (sonst). Das Feedback-Formular gehört euch…

    [1]Jaja: nur zur Energieerzeugung, und selbst dabei: die Brennelementefabrik Lingen gibts leider auch weiter. Aber dass es keine laufenden großen Reaktoren mehr gibt, ist jedenfalls ein Grund zum Feiern.
    [2]Das blieb er übrigens noch bis 1962, und es waren erschütternderweise nicht seine Atombombenträume, die ihm das Amt kosteten.
    [3]Für deren Ende hat dankenswerterweise neben jeder Menge Widerstand vor Ort auch der französische Staat gesorgt, der nach Strauß' Tod 1988 die Gelegenheit sah, die (jedenfalls auch aus ihrer Sicht) Bombenfabrik des Nachbarn abzuschießen, indem sie anbot, die bei allen Menschen auch nur halbwegs guten Willens extrem unbeliebte Wiederaufbereitung in La Hague zu erledigen. Win-win: aus französischer Sicht hatten die Deutschen nicht ständig fast fertige Atombomben, aus deutscher Sicht war das hässliche Problem WAA abgeräumt. Ganz nebenbei wurde dadurch auch die große Bühne bereitet für den nächsten Akt des Kampfes gegen den Atomtod: die Castortransporte nach Gorleben (ja: deren erster ging direkt aus Phillipsburg ins Wendland, aber die größten Schlachten gingen jeweils um Züge aus La Hague).
  • Postkarten schreiben gegen monströse Drohungen

    Foto: Leicht aufgefächerte Postkarten der Kampagne „Raus aus dem nuklearen Wahnsinn“

    Wer dann und wann mal dieses Blog liest, wird wahrscheinlich schon gestolpert sein über einen der (bisher sechs) Links auf meine zornige Schrift wider die moströse Drohung, die Städte des Feindes einzuäschern, besser bekannt unter dem weit harmloser klingenden Titel „nukleare Teilhabe”.

    Tatsächlich: der einzige militärisch plausible Zweck von Atombomben ist das millionenfache Töten der gegnerischen Stadtbevölkerung[1]. Daher bin ich so empört, dass unsere Regierungen wild an der Mitverfügung über diese Waffen festhielten und -halten. Nach dem Inkrafttreten des Atomwaffenverbotsvertrag vor etwas mehr als zwei Jahren könnte mensch übrigens an dieser Stelle durchaus die derzeit so populäre Vokabel „völkerrechtswidrig“ anbringen (auch wenn ich „monströs“ eigentlich angemessener finde).

    Nichts, schon gar nicht die nukleare Massenvernichtung der eigenen Bevölkerung – an der die Vernichtung der gegnerischen Bevölkerung überdies auch nichts mehr ändern würde –, kann diese Sorte ultimativer Gewalt rechtfertigen. Selbst die Drohung damit verlässt jedes hinnehmbare Ausmaß von Schurkigkeit, von den praktischen Gefahren solcher Drohungen ganz abgesehen. Das ist noch einmal eine ganz andere Liga gegenüber der selbst schon nicht so ganz harmlosen Logik des „wenn die Russen schießen, dürfen wir das auch“.

    Deshalb bin ich den Leuten von Ohne Rüstung Leben so dankbar für die Kampagne Raus aus dem nuklaren Wahnsinn. Teil davon ist insbesondere, Postkarten an Olaf Scholz zu schicken, die ihm nahelegen, doch bitte endlich diesen Teil von basaler Ethik und Völkerrecht anzuerkennen und das Beitrittsverfahren zum Atomwaffenverbotsvertrag einzuleiten. Eine so zentrale Frage ist kein Spielball für Bündniserwägungen und Realpolitik, und sie ist Grund genug für mich, meine fundamentale Skepsis gegenüber petitionsähnlichen Aktionsformen zu überwinden.

    Ich habe gestern meine Karte losgeschickt, und ich habe auch noch ein paar weitere davon. Wenn ihr eine abschicken wollt und irgendwo in Heidelberg, Schriesheim oder Ladenburg wohnt, bringe ich euch gerne eine vorbei – schreibt mir einfach geschwind eine Mail oder nehmt das Feedback-Formular.

    Keine Angst, solches Feedback veröffentliche ich nicht…

    [1]Das sage nicht nur ich, das sagt insbesondere auch Daniel Ellsberg, der es als ehemaliger Nuklearplaner bei der RAND Corporation aus erster Hand weiß. Wenn ihr in der Hinsicht irgendwelche Zweifel habt, schuldet ihr es den Menschen der Zukunft, jetzt gleich Ellsbergs The Doomsday Machine zu lesen.
  • Deutsch- und Abendland: Vaterlandslosigkeit leider nicht in der taz

    Foto: Jemand hält ein handgeschriebenes Pappschild „Töten fürs Vaterland?  Scheiße.  Immer.  Überall.“

    Mit diesem Pappschild stehe ich derzeit öfters bei den Kundgebungen von „Heizung, Brot und Frieden“ (z.B. nächster Montag). Tatsächlich bin ich überzeugt, dass der Kampf gegen Patriotismus oberhalb der Ebene von Blockseiten durch 2%-Ziele und Haubitzendiskussionen nochmal einen Schwung Priorität gewonnen hat.

    Am letzten Montag erschien in der taz ein Kommentar von Jan Feddersen zum Schwarzer-Wagenknecht'schen „Manifest für den Frieden“ mit dem pompösen Titel „Ruiniertes Lebenswerk“. Auf die Gefahr hin, wie ein zorniger Zeitungsleser zu wirken: Ich fühlte mich aufgerufen, dazu einen Leserbrief unter dem Titel „Ruinierter Kommentar“ zu schreiben. Jedoch…

    …nicht, weil Feddersen ohne erkennbare Skrupel voraussetzt, es sei in Ordnung, Menschen zu erschießen, solange nur „die anderen angefangen haben“. Wenn ich jeweils sowas kommentieren wollte, müsste ich auch jetzt noch in eine dickere Internetverbindung investieren.

    …nicht, weil Feddersen unterstellt, Waffenlieferungen – und gar aus Deutschland – könnten irgendwo „helfen“. Dabei jeweils eine Perspektive zu geben von dem, was Bomben, Gewehre, Streubomben und Haubitzen in Wirklichkeit anrichten, und wie sehr ihr „Einsatz” in den realen Kriegen der letzten 500 Jahre jeweils geschadet statt geholfen hat (zumal im Vergleich zu späterem politischen und noch besser sozialem Umgang), wäre zwar auch jetzt gerade verdienstvoll, doch nicht unterhalb eines Vollzeitjobs hinzubekommen.

    …nicht, weil Feddersen die schlichte Wahrheit, dass Staaten auch dann wiederauferstehen werden können, wenn sie mal überrannt wurden, erschossene Menschen aber nicht[1], als obszön, trist oder Folge von „nicht mehr alles beisammen“ bezeichnet. Es hilft ja nichts, wenn sich Leute die Vorwürfe, obszönes, trauriges oder wirres Zeug zu reden, gegenseitig um die Ohren hauen. Das sind größtenteils Geschmacksfragen und mithin argumentativ nicht zu entscheiden[2].

    …nicht, weil er einem Staat oder „Volk“ so viel Identität zuspricht, dass er oder es ein Selbst habe, dem es zu helfen gelte (und zwar durch Intensivierung des Tötens realer Menschen). Dagegen hat schon Brecht gepredigt, und der Erziehungauftrag, statt „Volk“ einfach mal „Bevölkerung“ zu sagen und zu denken, wird auf unpatriotischere Tage warten müssen.

    …noch nicht mal, weil er eine Parallele zwischen dem heutigen Russland und dem Deutschland unter der Regierung der NSDAP zieht. Das ist zwar speziell von einem Deutschen, der vermutlich nicht viel mehr als 25 Jahre nach der Befreiung von dieser Regierung geboren wurde, schon sehr schlechter Geschmack, aber, ach ja, wenn ich Willy Brandt seinen schönen Ausbruch „Er ist ein Hetzer, der schlimmste seit Goebbels”[3] nicht verübele, hätte ich irgendein „seit dem 24.2.2022 wird zurückgeschossen“ schon noch weggelächelt.

    Nein, was auch nach den eingestandenermaßen schon heruntergekommeneren Maßstäben der Zeitenwende immer noch nicht geht, ist, die Höhepunkte der deutschen Kriegs- und Massenmordzüge unter der NS-Regierung irgendwie in Relation zu setzen zu heutigen Handlungen, schon gar von den RechtsnachfolgerInnen derer, die diesem Treiben damals wesentlich ein Ende gesetzt haben.

    Tatsächlich hat die taz am vergangenen Mittwoch (nach „Meinungsfreiheit“ suchen) auch einen Platz für den antifaschistischen Teil meines Leserbriefs gefunden. Da sich aber für den vaterlandslosen Teil kein Platz fand und ich auch diesen für wichtig und, wenn ich das selbst sagen darf, gelungen halte, will ich euch die Vollversion nicht vorenthalten:

    Ruinierter Kommentar

    Jan Feddersens Kommentar über einen Aufruf zu Verhandlungen im Ukrainekrieg wäre „selbstverständlich durch das hohe Gut der Meinungsfreiheit“ gedeckt, wie er sagt, wäre da nicht der letzte Satz, der Russlands Agieren in der Ukraine mit dem Nazi-Wüten gegen das Warschauer Ghetto gleichsetzt. Warum das grundsätzlich nicht geht und für Deutsche schon zwei Mal nicht, haben Nolte, Habermas und Stürmer 1986/87 abschließend geklärt (Wikipedia: Historikerstreit).

    Anstandsfragen beiseite: auch rein praktisch würde ein durchaus zulässiger Vergleich zum ersten Weltkrieg einiges an Verwirrung aufklären können. Es lohnt sich, die damaligen Attacken der Verfechter eines Siegfriedens nachzulesen[4], die vaterlandslosen Gesell_innen vorhielten, sie wollten, je nach Geschmack, das idealistische Deutsch- oder gleich das Abendland an, je nach Geschmack, das materialistische Albion oder die barbarischen Horden aus der asiatischen Steppe verfüttern. Welche Seite scheint aus heutiger Sicht attraktiver?

    —Anselm Flügel (Heidelberg)

    Geständnis: In der Einsendung hatte ich die antipatriotische Vorlage „Deutsch- oder […] Abendland“ übersehen und nur „Deutschland oder […] Abendland“ geschrieben, was eingestandenermaßen die literarische Qualität erheblich beeinträchtigt. Bestimmt hätte die taz das ganz abgedruckt, wenn ich da nur rechtzeitig dran gedacht hätte…

    Nachtrag (2023-02-27)

    Ein paar Tage später kam die taz übrigens mit einer Art Kundenbindungs-Massenmail rüber, in der Sie wörtlich schrieben:

    Sie muten sich mit der Zeitungslektüre jeden Tag Nachrichten und Meinungen außerhalb Ihrer so genannten Komfortzone zu. Wie halten Sie das nur aus? Wir wissen es nicht.

    Ach – wenn es nur um die Komfortzone ginge… Derzeit allerdings sind die Fragen: Beschleunigte Remilitarisierung der deutschen Gesellschaft? Oder können wir das der Welt doch noch eine Weile ersparen? Dass die Antworten für unsere Nachbarn weit mehr als Komfortverluste bedeuten, das zumindest sollten wir aus dem 20. Jahrhundert mitgenommen haben.

    [1]Es sei denn, Jesus käme vorbei und schöbe massiv Überstunden. Aber soweit ich das übersehe, ist das zumindest innerhalb der letzten 10'000 Jahre nicht passiert.
    [2]Na gut, das mit dem „wirr“ lässt sich im Prinzip schon entscheiden, aber nur, wenn mensch sich darüber einigt, ob die in der Fußnote eben erwähnte Jesus-Option irgendwie realistisch ist. Und das lassen wir mal lieber, denn nur der Patriotismus hat zu noch mehr blutiger Uneinigkeit geführt als die Jesus-Frage.
    [3]Ca. 1985 in einer Nachwahl-„Elefantenrunde“ über den späteren Stuttgart 21-Vermittler Heiner Geißler.
    [4]Ergänzung fürs Blog: Ich denke da insbesondere an Lenard vs. Einstein.
  • „Seit bald acht Jahrzehnten nicht mehr“?

    Plot einer Badewannenkurve; die Ränder sind Mai 2022 und Februar 2022

    Der Olivindex mal als Linie geplottet (oh: das ist mit einem Acht-Tage-Gauß geglättet).

    Ich lese immer noch flächendeckend die Presseschau im Deutschlandfunk, um meinen Olivindex fortzuführen. Gedacht als grobes Maß für die bedenkliche Mischung aus Kriegsbegeisterung und Patriotismus ist der Olivindex in Wirklichkeit der Anteil der in der Presseschau vertretenen Kommentare, die ersichtlich voraussetzen, dass an deutschem Militär und deutschen Waffen die Welt genesen könnte oder gar müsste.

    Seit dem letzten Mai habe ich am Fuß jeder Blog-Seite unter „Kriegsfieber aktuell“ jeweils eine Visualisierung dieser Scores als olive Farbbalken. Oben hingegen zeige ich das Ganze mal als klassischeren Plot, unter Wiederverwendung der Gauß-Glättung aus der Untersuchung der CO₂-Zeitreihe[1].

    Es wäre wahrscheinlich interessant, das allmähliche Absinken des journalistischen Kriegsfiebers zwischen Mai und Juli mit den Ereignissen zu korrelieren, das kurzfristige Wiederaufflackern im Laufe des Septembers – ich glaube, im Wesentlichen im Gefolge der russischen Teilmobilmachung –, die kühleren Herzen im November und Dezember und das Wiederanschwellen des Bocksgesangs hin zu den weiter wachsenden Waffenlieferungen der letzten Zeit. Aber das ist wahrscheinlich eine Arbeit, die mit mehr historischer Distanz besser von der Hand gehen wird.

    Ich erzähle das jetzt gerade alles nur, um zu motivieren, wie ich auf den Preisträgertext gekommen bin für den

    Horst-Köhler-Preis für beunruhigend ernst gemeinte Worte.

    Der aktuelle Preisträger ist die Pforzheimer Zeitung, die ausweislich der gestrigen DLF-Presseschau (wenn der Link kaputt ist: sorry, der DLF depubliziert den Kram immer noch rasend schnell) ausgerechnet die doch eher zahme Frage der Faeser-Kandidatur mit folgendem ziemlich unprovozierten Ausfall kommentiert:

    Bundesinnenministerin will die 52-Jährige bis zur Hessen-Wahl bleiben – also ‚nebenher‘ auch noch Wahlkampf machen. In einer Phase, in der die nationale Sicherheit Deutschlands so wichtig ist wie seit bald acht Jahrzehnten nicht mehr.

    Ummmm. Acht Jahrzehnte sind achtzig Jahre, 2023-80 gibt 1943. Damals war nach Ansicht des Pforzheimer Kommentators die „nationale Sicherheit“, zumal von „Deutschland“ ganz besonders „wichtig“? Uiuiuiui… Nun. Pforzheim. Die Stadt, in der bei den Landtagswahlen 2016 24.2% der Abstimmenden die AfD gewählt haben – damit waren die damals stärkste Kraft im Wahlkreis.

    Eine gewisse Logik liegt da schon drin. Unterdessen herzlichen Glückwünsch an den/die PreisträgerIn.

    [1]Nun: weil mir hier die Ränder wichtig waren, habe ich etwas mehr „Sorgfalt“ (mensch könnte auch von „Großzügigkeit” reden) auf das Padding am Anfang und Ende der Zeitreihe verwendet, also die Stellen, an denen der Glättungskern über die Daten rausreicht. Ich mache das jetzt gerade durch Fortschreibung der jeweiligen Randelemente; das gibt diesen an den Rändern viel zu viel Gewicht, aber es ist immer noch besser als einfach mit Nullen fortzuschreiben. Wer mag, kann mein Tricksen in der smooth_gauss-Funktion in olivin ansehen.
  • Lenard vs. Einstein: Vom langsamen Fortschreiten der Zivilisation

    Erst vor ein paar Tagen habe ich das Wort „Augusterlebnis“ so richtig wahrgenommen: Es handelt sich um die 1914er-Version der modernen „Zeitenwende“ von 2022. Auch damals, als sich der Rüstungswettlauf der 1900er Jahre in einem lang erwarteten Krieg entlud, haben sich viele Menschen – leider auch welche, die sich als links und/oder intellektuell verstanden – patriotisch hinter das „eigene“ Land (und dessen Verbündete) gestellt, als dieses mit hinreichender Entschlossenheit und Tiefe Kriegspartei wurde.

    Ich habe dieses Phänomen schon während „unserer“ diversen Kriege im ehemaligen Jugoslawien ungläubig bestaunt. Nach dieser Erfahrung war ich nicht mehr ganz so entsetzt über die vielen Stimmen auch aus in normalen Zeiten weniger patriotischen Kreisen, die im vergangenen Frühling fürs Vaterland wieder töten, sterben oder doch wenigstens waffenliefern wollten.

    Foto: Stehendes Buch im Halbprofil

    Immer wieder gut für historische Perspektiven auf Deutsche, die in den Krieg ziehen (lassen) wollen: Wolfram Wettes „Ernstfall Frieden“.

    Ebenfalls nicht überrascht hat mich die Diffamierung jener, die historische Evidenz beibrachten dafür, dass all das Sterben und Töten Dinge nicht besser, wohl aber blutiger macht. Je nach individuellem Geschmack gelten sie neuen wie alten PatriotInnen als Verblendete, Träumer oder böswillig. Großer Konsens auf allen Seiten ist nach Augusterlebnissen und Zeitenwenden: Wer nicht schießen will, ist ausländischer Agent bzw. gleichbedeutend russischer Troll.

    Das Manifest der 93

    Die Geschichte vom Augusterlebnis von 1914 fand ich, als ich historische Perspektiven dieser Art mit einer Neulektüre des immer wieder informativen Ernstfall Frieden von Wolfram Wette (Bremen: Donat Verlag, 2017) auffrischte. Diese rief mir auch ein für mich besonders deprimierendes Beispiel für Aufwallungen deutschen Patriotismus' in Erinnerung: Das Manifest der 93, eine Erklärung, der sich, während sich die Soldaten im September 1914 an den diversen Fronten eingruben und die ersten Signale zurückkamen, wie ein industrialisierter Krieg wohl aussehen könnte, 93 häufig immer noch recht bekannte „Intellektuelle“[1] des deutschen Reichs anschlossen.

    Die Wikipedia dokumentiert den vollen Text des Manifests; lasst mich ein paar Zitate heraussuchen, die besonders nach heute klingen:

    Es ist nicht wahr, daß Deutschland diesen Krieg verschuldet hat. Weder das Volk hat ihn gewollt noch die Regierung noch der Kaiser. Von deutscher Seite ist das Äußerste geschehen, ihn abzuwenden.

    Das erinnert sehr an die Entschlossenheit vieler aktueller PatriotInnen, mit viel Verve und Empörung die Beiträge zu bestreiten, die „unsere“ Angriffskriege („völkerrechtswidrig“ oder nicht), Grenzverschiebungen, imperialen Abenteuer und Landnahmen auf dem Weg in den Krieg gespielt haben. Ganz entgegen dem Augenschein ist in dieser Erzählung die eigene Seite die personifizierte Friedlichkeit. ImperialistInnen waren auch damals schon immer („nur“, wo es ein „auch“ bräuchte) die anderen.

    Oft genug hat Wilhelm II. in den 26 Jahren seiner Regierung sich als Schirmherr des Weltfriedens erwiesen.

    Außer, wenn er einen Panthersprung vollführte oder seine Flotte aufrüstete oder… nun, bei genauerer Betrachtung war ihm der Weltfrieden doch eigentlich immer ziemlich scheißegal. Aber klar, vielleicht hat er die Flotte ja wirklich gegen Piraten gebraucht, so wie… wir zum Beispiel mit unserer Operation Atalanta.

    Es ist nicht wahr, daß wir freventlich die Neutralität Belgiens verletzt haben. Nachweislich waren Frankreich und England zu ihrer Verletzung entschlossen. Nachweislich war Belgien damit einverstanden. Selbstvernichtung wäre es gewesen, ihnen nicht zuvorzukommen.

    …ganz wie unsere Waffen heute mit dem Einverständnis „der Ukrainer“ helfen, das Land in Schutt und Asche zu legen. Hauptsache (imaginiert eine quäkende Stimme) „aber der hat angefangen“, denn dann dürfen wir es auch.

    Es ist nicht wahr, daß unsere Truppen brutal gegen Löwen [Zum Kontext: gemeint waren nicht Tiere, sondern die flandrische Stadt Leuven/Louvain] gewütet haben. An einer rasenden Einwohnerschaft, die sie im Quartier heimtückisch überfiel, haben sie durch Beschießung eines Teils der Stadt schweren Herzens Vergeltung üben müssen.

    Auch das eine Invariante des Patriotismus: Massaker verüben die anderen. Unsere Herzen sind hingegen immer noch schwer, weil uns ruchlose Feinde zwangen, bei Kundus schlimme Anschläge zu verhindern.

    Töten aus Liebe zur Kunst

    Weiter im Manifest der 93:

    Aber so wenig wir uns in der Liebe zur Kunst von irgend jemand übertreffen lassen, so entschieden lehnen wir es ab, die Erhaltung eines Kunstwerks mit einer deutschen Niederlage zu erkaufen.

    …denn „verlieren“, verlieren dürfen „wir“ nicht. Selbst wenn dafür Städte zu Klump gehen, SoldatInnen ungezählte Menschen töten oder verstümmeln und die, die übrig bleiben, gefälligst fürs Vaterland frieren und hungern sollen.

    Es ist nicht wahr, daß unsere Kriegführung die Gesetze des Völkerrechts mißachtet. Sie kennt keine zuchtlose Grausamkeit. Im Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder die Erde, und im Westen zerreißen Dumdumgeschosse unseren Kriegern die Brust.

    Das, was mensch – von der Kontinuität sprachlicher Figuren, dem radikalen Othering der Kriegspropaganda abgesehen – aus dieser Passage wirklich lernen kann: Wie kam es eigentlich dazu, dass heute „im Westen“ keine Brüste mehr zerrissen werden?

    Mensch kann diese Geschichte gewiss als die einer totalen Niederlage erzählen, durch die Deutschland „geläutert“ worden sei. Weit stimmiger wird das aber durch die Betrachtung, dass im Gegensatz zur Zeit nach dem ersten Weltkrieg nach dessen zweiter Ausgabe auf beiden Seiten von Rhein und Brenner Menschen regierten, die – eingestandenermaßen unter der gefühlten Bedrohung „aus dem Osten“ – beschlossen haben, die dämlichen Auseinandersetzungen um die Kontrolle des Elsaß, von Südtirol oder von Eupen und Malmedy einzustellen und sich zu vertragen, ganz egal, wer irgendwann mal angefangen hat, diese Landstücke wem anders wegzunehmen.

    Ein paar Jahrzehnte später hat sich diese Vernunft – dann schon gegen heftigen Widerstand – sogar auf Oder, Erzgebirge und Böhmerwald ausgedehnt. Stellt euch vor, wie furchtbar die Verhältnisse an diesen Grenzen heute wären, hätte sich damals die „kein Fußbreit unseres Vaterlands unseren Feinden“-Fraktion durchgesetzt.

    Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt

    Zwar möchte heute noch niemand offen das Hohelied des Militarismus singen – die Geschichte, „ohne starke Armee“ müsse das Land untergehen allerdings erzählen leider wieder ziemlich viele Leute. Und zwar auch welche, deren Muttersprache Wörter wie Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz hervorbringt. Wenn diese wieder Typenbezeichnungen von Panzerhaubitzen kennen, ist das jedenfalls nicht weit von „deutschem Militarismus“ weg.

    Wir können die vergifteten Waffen der Lüge unseren Feinden nicht entwinden.

    Nun gut – wir können es zumindest versuchen.

    Glaubt uns! Glaubt, daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle.

    Dass in den entsprechenden Statements von heute eher von Freiheit und Menschenrechten die Rede ist als von schon damals über hundert Jahre alten Geistesgrößen sowie der „Scholle“, das erkenne ich als klaren Fortschritt an.

    Klar unterschreiben Ekelpakete...

    Deprimierend finde ich das Manifest vor allem, weil sich in dem Kreis der Unterzeichner – es hat wirklich keine Frau ihren Namen hergegeben; wahrscheinlich wurde aber auch keine gefragt – finsterste Schurken mit recht normalen Wissenschaftlern und zum Teil sogar ziemlich fortschrittlich denkenden Menschen mischen.

    So steht etwa Philipp Lenard unter der Erklärung, der später in seiner „Deutschen Physik“ die Beiträge von JüdInnen aus der Physik tilgen wollte und der zusammen mit der NSDAP von deutscher Weltherrschaft träumte; seine Wirkungsstätte Heidelberg bekam deshalb das „Institut für Weltpostwesen” neben die Physik am Philosophenweg gestellt, denn das Weltreich, von dem Lenard und seine Freunde träumten, hätte ja schließlich stabile transkontinentale Kommunikation gebraucht.

    Unvermeidlich bei dieser Sorte Aufwallung war natürlich ein Vertreter der Familie Wagner, und zwar einer, dem 1924 nach einem Besuch bei Mussolini nur einfiel: „Alles Wille, Kraft, fast Brutalität. Fanatisches Auge, aber keine Liebeskraft darin wie bei Hitler und Ludendorff.“

    Gut auf dieser Liste macht sich auch Fritz Haber, der später die Giftgas-Kriegsführung erfand und mit seinem Engagement fürs Land seine Frau Clara Immerwahr dazu brachte, sich mit seinem Offiziersrevolver zu erschießen. Oder Ernst Haeckel, der zwar wunderschöne Strukturen der Natur dokumentierte, sich aber ansonsten als rabiater Sozialdarwinist hervortat.

    ...aber dann auch normale Menschen

    Dass solche Menschen patriotische Erklärungen unterzeichnen, wird niemanden überraschen. Dass aber auch viele mehr oder weniger normale Wissenschaftler ihre Namen unter das Papier setzten, finde ich zumindest bedenkenswert.

    Max Planck steht da zum Beispiel, der immerhin an anderer Stelle leichteren Hochschulzugang für Frauen gefordert hatte (vom Manifest hat er sich später wohl distanziert), oder Wilhelm Wien (der vom Verschiebungsgesetz) oder Wilhelm Conrad Röntgen (der mit den Strahlen; auch er soll die Unterschrift später bedauert haben) oder Friedrich Wilhelm Ostwald, den ich vor allem als Begründer einer feinen Buchreihe mit „Klassikern der exakten Wissenschaften“ kenne.

    Und dann stehen da Biowissenschaftler unter der Erklärung, die mit ihrer Arbeit ungezählte Leben gerettet haben: Emil Behring – der Namensgeber meiner alten Schule übrigens; hätte ich das damals mal gewusst – etwa, oder Paul Ehrlich, also der mit dem Institut, von dem während Corona die Rede war, wenn es ums Impfen und Testen ging.

    Vielleicht noch erstaunlicher sind die Bona-Fide-Intellektuellen unter der Erklärung: mit Max Reinhardt eine der zentralen Figuren der Kultur des Weimarer Berlin zum Beispiel oder, in gewisser Weise noch schlimmer, Gerhart Hauptmann, der mit den Webern ein wirklich beeindruckendes Sozialdrama geschaffen hatte (und nach einigen Jahren auch wieder zur Vernunft kam).

    Es war sogar ein Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft mit von der Partie, nämlich der Astronom (und Gründer des Instituts, an dem ich arbeite) Wilhelm Foerster. Als ausgewiesener Pazifist fand er …

  • Hart durchgreifen gegen Aggressoren?

    CDU-Wahlplakat mit Slogan: "Hart durchgreifen"

    1999 zeigte sich die hesssische CDU ganz besonders autoritär. Das Plakat warb um Stimmen bei der Landtagswahl am 7.2.1999, kurz vor dem Überfall auf Restjugoslawien, um den es ab hier gehen soll (CC-BY-SA KAS).

    Glücklicherweise ebbt die patriotische Aufwallung vom Frühling des Jahres allmählich ab, und selbst die kommerzielle Öffentlichkeit scheint sich, wenn auch nur in glazialem Tempo, auf die Einsicht zu besinnen, dass das Töten von Menschen nur zu mehr Gemetzel führt. Dennoch ist die Ansicht, der Aggressor müsse auf jeden Fall ordentlich bestraft werden, bevor mensch mit dem Töten aufhören könne, immer noch alarmierend häufig zu lesen.

    Mal die Frage beiseite, ob „der Aggressor“ selbst im Ukrainekrieg so sicher zu bestimmen ist: Das ist natürlich ein ganz massives Nachgeben gegenüber der autoritären Versuchung. Die Fantasie, mit Gewalt und Strafe Verhalten anderer gestalten zu können, funktioniert schon im Strafrecht allenfalls so la-la, obwohl der Staat verglichen mit jenen, die er seiner Disziplin unterwerfen will, praktisch unbegrenzte Gewaltmittel hat. Der Plan, den Umgang von ja innerhalb von ein paar Größenordnungen gleichstarken Staaten[1] gewaltförmig zu zivilisieren, ist hingegen von vorneherein ein Rezept für endloses Blutvergießen.

    Als Bewohner der Bundesrepublik Deutschland bin ich tatsächlich ziemlich froh, dass es diese Sorte Strafgericht zwischen Staaten nicht gibt (mal von Rechtfertigungsreden für Krieg und Waffenlieferung abgesehen), denn ich habe keine Lust, für die diversen Angriffskriege meiner Regierungen und ihrer Freunde bestraft zu werden, um so weniger, da ich über die Jahre gegen sie alle angekämpft habe.

    Beweismittel: Ein Bericht der OSZE

    Ein besonders schlagendes Beispiel für strafwürdiges Verhalten liefert der erste ordentliche[2] Angriffskrieg der BRD-Geschichte, der Angriff auf das ohnehin schon gerupfte Restjugoslawien im Jahr 1999. Das Rationale damals war, es müsse dringend „ein neues Auschwitz verhindert werden“ (so Außenminister Josef Fischer). Parallelen zum heutigen Bullshit von der „Entnazifizierung der Ukraine“ dürfen gesehen werden; und klar ging es in beiden Fällen in Wirklichkeit darum, Klientelregimes der jeweiligen Gegenseite – die Milošević-Regierung von Restjugoslawien für Russland damals, die Seliniski-Regierung für „uns“ heute – zu schwächen oder idealerweise gar zu stürzen. Nebenbei: die weitere Geschichte des serbischen Staates lässt ahnen, dass diese Sorte gewaltsamen Regime Changes in der Regel nicht so richtig toll funktioniert.

    Wie dünn die Geschichten mit dem zu verhindernden „Auschwitz“ und den Hufeisenplänen waren, war damals genauso klar wie es die Schwächen der öffentlich beteuerten Kriegsgründe auf allen Seiten heute sind. Insbesondere stand während des gesamten Kosovokriegs auf der Webseite der OSZE der Bericht einer Beobachtermission, die bis kurz vor „unserem“ Angriff die Dinge im Kosovo im Auge behielt (Backup als PDF).

    Ich möchte hier ein paar Ausschnitte aus diesem Bericht vorstellen, um zu zeigen, wie sehr „wir“ damals Aggressor waren und wie fadenscheinig die Vorwände für den Überfall.

    Während der Umfang der militärischen Auseinandersetzungen im Februar abgenommen hat, setzte die UCK ihre Angriffe auf die serbische Polizei fort. Das umfasste isolierte Zusammenstöße und sporadisch Schusswechsel, zeitweise auch den Einsatz schwerer Waffen durch die Jugoslawische Armee.

    Also: keine Frage, da haben Leute aufeinander geschossen, aber das war dennoch klar ein Guerillakrieg von Freischärlern[3] und mitnichten irgendein „Vernichtungsfeldzug“ im Stil der deutschen Armee der 1940er Jahre. Das war nicht die gleiche Liga, das war nicht das gleiche Stadion, das war nicht mal die gleiche Sportart – eine Feststellung, auf die ich übrigens auch im Hinblick auf die aktuellen Kämpfe Wert lege.

    Polizei im Schwarzenegger-Stil

    Sehen wir mal an, wie das konkret aussah:

    Am 20. Januar [1999] endete eine polizeiliche Durchsuchung im Gebiet von Mitrovica in einem Schusswechsel und dem Tod von zwei UCK-Mitgliedern. Der Zwischenfall wurde von der OSZE-Mission durchgehend beobachtet. Die Polizei umstellte zwei Häuser und forderte die BewohnerInnen auf, sich zu ergeben. Diese reagierten mit Feuer aus Kleinwaffen. Eine Vermittlung durch die OSZE-Mission scheiterte, als die BewohnerInnen das Feuer mit panzerbrechenden Raketen eröffneten. Die Polizei antwortete mit Flak-Feuer. Die Leichen von zwei UCK-Kämpfern wurden gefunden. Es wurde geschätzt, dass 10 weitere BewohnerInnen geflohen waren.

    Ich gebe zu: Wenn die Polizei mit Flak-Geschützen rumfährt, ist klar was nicht in Ordnung. Aber wenn sie das tut, weil irgendwer mit Panzerfäusten auf sie schießt, ist gleichzeitig offensichtlich, dass mehr Waffen und mehr Rumballern die Situation gewiss nicht verbessern werden. Übrigens finde ich recht beeindruckend, dass da 10 Leute trotz Polizeiflak davongekommen sind. Ich will im Angesicht von Flak lieber nicht von verhältnismäßigem Einsatz von Gewalt sprechen, aber verglichen mit so manchem Waffengebrauch der deutschen Polizei müssen die damals den Abzug eher verhalten bedient haben.

    Bemerkenswert ist ebenfalls, dass das offensichtlich wie eine recht normale Polizeiaktion anfing, so mit Umstellen und Durchsagen und allem. Zum Vergleich, wie sowas in einem „richtigen“ Krieg aussieht (wohlgemerkt: immer noch kein „Vernichtungskrieg“), sei der Artikel Fallujah during the Iraq War aus der englischsprachigen Wikipedia und einige der verlinkten Quellen empfohlen; diese Lektüre hilft übrigens auch beim Nachvollziehen der Genese eines Zivilisationbruchs vom Kaliber des IS.

    Parenthetisch kann ich bei der Alliteration von Polizei und Panzerfaust nicht anders, als genüsslich §69 des Polizeigesetzes Baden-Württemberg zu verlinken.

    Terroristen!

    Aber weiter im OSZE-Bericht:

    Die UCK hat am 22. Januar fünf alte serbische ZivilistInnen aus Nevoljane (westlich von Vucitrn) entführt. Sie teilte der OSZE-Mission mit, dass die Geiseln an die OSZE übergeben würden, wenn die Polizei ihre Arbeit in der Gegend von Vucitrn einstellen würde […] Die OSZE-Mission hat die Entführung dieser ZivilistInnen mit Nachdruck als einen Akt des Terrorismus verurteilt.

    Eingestanden: anständige Leute sagen nicht Terrorismus. Aber da das nun mal Politprofis waren, die damals die Dinge im Kosovo begutachteten, sei ihnen die Gaunersprache gegönnt. Wichtiger für die Frage der Legitimation unserer Aggression ist jedoch: Diese Sorte von Entführen und Erpressen ist auch nicht gerade das, was mensch unmittelbar vor dem „Auschwitz“ von Außenminister Fischer erwarten würde.

    Unterdessen gab es tatsächlich eine Ecke, in der die UCK richtig Krieg gespielt hat:

    Am 28. und 29. Januar gab es Berichte über Mörser-, Panzer- und Maschinengewehrfeuer südlich von Podujevo in Richtung des Dorfes Kisela Banja. Es gibt keine Berichte über Opfer, jedoch wurden in der Gegend zahlreiche Personen auf der Flucht beobachtet. Der fortgesetzte Stellungskrieg zwischen UCK und den Sicherheitskräften in diesem Gebiet, in dessen Rahmen beide Seiten Gräben gezogen und Stellungen vorbereitet haben, war über den gesamten Berichtszeitraum hinweg besonders besorgniserregend. […] Die OSZE-Mission hat gegen die Verletzung der Waffenstillstandsregeln durch beide Seiten protestiert.

    Der Punkt hier ist: es war nicht etwa so, dass die jugoslawische Armee im Falluja-Stil durch die Dörfer gezogen wäre und Kram kaputt gehauen hätte. Nein, es gab einfach ein Widerstandsnest, das sie nicht haben erobern können. Angenommen, irgendwelche Radikalkurpfälzer würden sich am Heidelberger Schloss…

    Foto: das Heidelberger Schloss mit wilden Wolken

    …verschanzen: wie würde wohl die Regierung in Berlin reagieren? Ich denke, auf diese Frage konnen wir Antworten aus der Geschichte bekommen.

    Mafia-Methoden

    Zurück ins Restjugoslawien des Jahres 1999:

    Die Gewalt in den Städten hat im Februar stark zugenommen. Pristina, Mitrovica, Pez, Urosevac haben alle derartige Zwischenfälle erlebt. In ihnen wurden fünf Menschen getötet und mehr als ein Dutzend verletzt. Im schlimmsten dieser Fälle wurde am 6. Februar eine Bombe außerhalb eines kleinen albanischen Ladens in Pristina gezündet. Sie tötete den Besitzer und zwei PassantInnen, darunter eine Teenagerin.

    Es gab weitere Berichte, wie die UCK „polizeiliche“ Gewalt unter den AlbanerInnen ausübte und Strafmaßnahmen durchführte gegen Personen, die der Kollaboration mit den Serben beschuldigt wurden […] Die meisten Opfer waren gut ausgebildete Männer, von serbischer Seite beschrieben als „loyale Bürger von Serbien“. Sie wurden durch Schüsse in den Kopf getötet.

  • Falsche Dichotomien

    Über den Köpfen von Demonstrierenden: Schneegestöber

    So sieht Engagement für Freiheit und Emanzipation aus: Im Schneegestöber demonstrierten die Menschen im Februar 2018 gegen die Militärs und Kriegsherren, die sich in der Münchner Edelunterkunft Bayrischer Hof zu ihrer „Sicherheitskonferenz“ getroffen haben.

    Seit dem Überfall auf die Ukraine grassiert das Aufziehen falscher Dichotomien (weniger elegant gesagt: sich angeblich ausschließender Alternativen) auch bei Menschen, die das vermutlich nicht im Rhetorikkurs gelernt haben und oft sogar guten Willens sind. Wer in den letzten Monaten normale Zeitungen oder Twitter gelesen hat, wird zumindest die folgenden Figuren gesehen haben (es gibt eine ganze Ecke mehr):

    • Entweder wir liefern Waffen oder wir unterstützen Angriffskriege (Quatsch: einfach mal selbst keine Angriffskriege und Drohnenballereien mehr machen und dann auf eine effektive Ächtung solcher Aktionen hinarbeiten wäre viel effektiver)
    • Entweder du bist für „uns“ oder du bist für Putin (Quatsch: Ich habe schon des Öfteren gegen Putin-Besuche demonstriert und bin dafür auch einmal im Auftrag von Olaf Scholz verprügelt worden; mensch kann prima gegen alle Sorten blutiger Hähne[1] sein)
    • Entweder lassen wir auf Russen schießen oder die Leute in der Ukraine werden alle getötet (Quatsch: Das russlandgefällige Janukowitsch-Regime war jetzt nicht klasse, aber ausweislich diverser Wahlen oder Leaks nicht qualitativ verschieden von den uns gefälligen Regimes von, sagen wir, Kutschma und Tymoschenko oder auch Poroschenko; es ist nach aller realistischen historischen Erfahrung völlig sicher, dass im Krieg viel mehr Menschen sterben und leiden werden als bei einem schnellen Regime Change, zumal wenn die regimechangenden Truppen dann nicht so ewig bleiben wie die unseren in Afghanistan und im Irak und/oder die Bevölkerung schnell aus dem Kriegsmodus herauskommt)
    • Entweder willst du Volk und Nation der Ukraine retten oder du willst die Leute in der Ukraine in Knechtschaft sehen (Quatsch: spätestens seit Brecht haben nette Menschen aufgehört, von „Volk“ zu reden, denn „Bevölkerung“ verhindert Fehlschlüsse, und spätestens seit dem 20. Jahrhundert sollte eigentlich Konsens bestehen, dass das mit den „Nationen“ eine eher bescheidene Idee war; mit der Verteidigung bzw. Erringung von Menschen- und Bürgerrechten haben Volk und Nation jedenfalls längst nichts mehr zu tun)
    • Entweder du schießt oder du tust gar nichts (Quatsch: Im Gegenteil ist eine geschichtliche Konstante, dass sozialer Fortschritt, der aus den Gewehrläufen kommt, nicht viel taugt und jedenfalls nicht lange anhält)

    Es lohnt sich grundsätzlich, aber ganz besonders bei all den kriegseuphorischen Äußerungen, auf solche falschen Dichotomien zu achten. Wie gesagt: Nicht alle, die sowas verwenden, sind im Bereich finsterer Rhetorik unterwegs. Aber wer in diesem Bereich unterwegs ist, verwendet sie fast immer. Mal sehen, ob ich den Fleiß habe, mehr unter dem Tag Dichotomien zu schreiben, den ich anlässlich dieses Posts angelegt habe

    Nachtrag (2023-04-01)

    Nee, habe ich wieder weggemacht, weil ich den Fleiß noch nicht hatte.

    Dennoch kann ich mich in der Kriegsfrage eigentlich nicht mehr groß über solche Tricks echauffieren, denn Kriegsbegeisterung hält erfahrungsgemäß selten lange an; ich bin eigentlich recht zuversichtlich, dass jedenfalls diejenigen neuen Fans der Panzerhaubitze, die noch etwas Herz und/oder Verstand haben, in recht absehbarer Zeit zu wieder etwas gewaltskeptischeren Positionen zurückkehren werden, ohne dass sich erst richtig viele Leute totschießen müssen.

    Was allerdings taz-Chefreporter (was immer das sein mag) Peter Unfried in der taz vom Samstag gebracht hat, hat mich dann doch schlucken lassen:

    Die Gewaltoption [konkreter weiter oben fomuliert: militärischer Massenmord] ist Voraussetzung einer freien und emanzipatorischen Zukunft.

    Ob es nun sinnvoll ist oder nicht, ich musste dem widersprechen, und die taz hat meinen Leserbrief heute auch abgedruckt:

    Peter Unfried will durch Militär eine freie und emanzipatorische Zukunft sichern. Das ist nicht nur absurd, ist doch der autoritäre Gewaltapparat Militär die Antithese zu Freiheit und Emanzipation. Es ist auch schlicht unhistorisch. Versammlungsfreiheit und Datenschutz, Wahlrecht und Atomausstieg, Streikrecht und straffreie Abtreibung, ganz besonders das Recht, nicht morden zu müssen, auch bekannt als Kriegsdienstverweigerung: Alles in der weiteren Umgebung von Freiheit haben Menschen ohne Militär – in Gewerkschaft, Blaustrümpfen oder Fridays for Future – gegen Menschen mit Militär – ihre Regierungen nämlich – erkämpft und tun es auch gerade jetzt überall Tag für Tag. Wenn Unfried hingegen seine Freiheit auf das Militär baut, hat er sie schon verloren.
    [1]

    Wer es nicht erkennt: Das bezieht sich auf ein sehr zeitgemäßes Lied der Brecht/Weill-Combo. Seit dem 24.8.2021 sind nun Brechts Werke endlich gemeinfrei, und so kann ich den mich immer wieder beeindruckenden Text bedenkenlos zitieren:

    Am Grunde der Moldau wandern die Steine
    Es liegen drei Kaiser begraben in Prag
    Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine
    Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

    Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne
    Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.
    Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne
    Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.

    Am Grunde der Moldau wandern die Steine
    Es liegen drei Kaiser begraben in Prag
    Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine
    Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.
  • Aus der Geschichte lernen: Chios

    Landschaftsfoto: Felsen mit einzelnen Bäumen drin

    Für diese Landschaft haben sich Menschen 1822 in großen Mengen massakriert: Das Innere von Chios. CC-BY-SA FrontierNG

    Am 11. April gedachte das DLF-Kalenderblatt dem Massaker von Chios, das vor 200 Jahren den Höhe- oder eher Tiefpunkt einer jedenfalls rückblickend betrachtet völlig durchgeknallten Verkettung von Gewalttaten und Vergeltungsaktionen markierte.

    Ich muss gestehen, dass mir die ganze Geschichte völlig neu war; in der Kürze beim DLF klang es für mich zunächst so, als habe der osmanische Sultan die Bevölkerung der reichen Ägaisinsel Chios ausradieren lassen, weil sie gegen ihre manifesten (ökonomischen) Interessen mit Aufständischen paktiert hatte, die wiederum zuvor andere Untertanen des Sultans massakriert hatten.

    Mir klang das nach einem guten Beispiel, wie das allseite Nachgeben gegenüber der autoritären Versuchung zu einer Spirale von Bestialität führt, bei der jede Seite die moralische Berechtigung, wenn nicht gar Verpflichtung fühlt, den Feind zu töten. Da der Abstand den Blick schärfen mag, der bei analogen Ereignissen in der Nähe derzeit ganz offenbar vielfach getrübt ist, habe ich mir heute den zugehörigen Wikipedia-Artikel zu Gemüte geführt.

    Die Vorgeschichte

    Sehr bemerkenswert fand ich schon mal, dass die Wikipedia für die Vorgeschichte auf den Frieden von Küçük Kaynarca verweist, den 1774 das osmanische Reich und Russland geschlossen hatten. Bemerkenswert ist das einerseits, weil es damals schon um die jetzt gerade wieder umstrittenen Gebiete ging: Russland hat sich in diesem Vertrag den Süden der späteren Ukraine einverleibt, die Krim – die für zehn Jahre noch als autonomes Khanat weiterexistierte – folgte 1783. Nach allem, was danach kam, von Krimkrieg über die Verheerungen des zweiten Weltkriegs bis zum jetzigen Stellvertreterkrieg: Was für eine geschundene Gegend.

    Andererseits war diese Niederlage des osmanischen Sultans offenbar ein Segen für jedenfalls nennenswerte Teile seiner Untertanenschaft. In den Worten der Wikipedia:

    Wie im Rest Griechenlands wuchs nach dem Friedensvertrag von Kutchuk-Kaïnardji 1774 der Wohlstand auf Chios.

    Das bezieht sich, wie gesagt, auf die Verliererseite des Russisch-Türkischen Krieges von 1768-1774. Erneut zeigt sich die alte Weisheit, dass es weit schlimmer ist, einen Krieg zu führen als einen zu verlieren.

    Das Verhängnis von Chios begann indes, auch recht typisch, mit Patrioten, und zwar in diesem Fall mit griechischen. Diese nämlich legten 1821 einen zünftigen Aufstand auf der Peloponnes hin, als viele der dortigen (osmanischen) Besatzungssoldaten andernorts gebraucht wurden, nämlich für Kämpfe innerhalb der osmanischen Elite und weil, ganz modern, russische Truppen in das noch osmanische Moldawien eingefallen waren.

    Der zünftige Aufstand schlug erwartungsgemäß schnell in Barbarei um. Die tapferen und frommen Freiheitskämpfer eroberten^Wbefreiten im Oktober 1821 die Provinzhauptstadt Tripoli (nicht zu verwechseln mit dem zuerst durch unsere Flugverbotszone befreiten und dann seit inzwischen einem Jahrzehnt glühend umkämpften libyschen Tripolis) und metzelten gegen 8000 der verbliebenen BewohnerInnen nieder – schon während der Belagerung hatte sich die Bevölkerung auf etwa 15000 halbiert. Immerhin sind wohl nicht alle anderen 15000 dem Krieg zum Opfer gefallen, einige haben rechtzeitig fliehen können.

    Eine weitere Weisheit: Wenn es nach Krieg riecht, verpiss dich rechtzeitig. In der jungen Welt gab es am Wochenende eine Geschichte, wie es ganz aktuell zugeht, wenn du das mit dem „rechtzeitig“ nicht hinbekommst.

    In Chios

    Aber dies ist ja eine Geschichte über Chios, eine vor 1821 in weitgehender christlicher Autonomie von achtzehn, großartiger Titel, Demogeronten für den Sultan regierten Insel nicht weit vor der Küste der heutigen Türkei.

    Die DLF-Erzählung einer durch Mastix-Produkion und -Handel reich gewordenen Gemeinde trägt wohl; jedenfalls hatten die Demogeronten schon im April 1821 klar angesagt, dass sie lieber Wohlstand als (nationalen) Aufstand haben wollen. Für solche Anliegen hatten die Patrioten von der Peloponnes wenig Verständnis. Ein „Admiral“ Iakovos Tombazis – bei einem derart jungen Aufstand dürfte so ein „Admiral“ ungefähr drei Jollen befehligt haben – landete auf Chios, zog mit seinen Leuten ein wenig herum, um die satt & glücklich-Bevölkerung dort zum Abfall vom Sultan und zur Unterwerfung unter die neue christlich-griechische Regierung zu bewegen. Chios ist die zehntgrößte Insel im ganzen Mittelmeer, so dass er dafür elf Tage brauchte. Dann verschwanden er und seine Leute wieder.

    Bekannte von Bekannten berichten von ähnlichen Stunts der aktuellen PKK im türkischen Kurdistan. Zumindest diese Bekannten von Bekannten hat das nicht zu Fans der PKK gemacht, denn die Reaktion der derzeitigen türkischen Regierung ist in etwa so wie die der damaligen. In den Worten der Wikipedia:

    Der Dīwān entsandte den Gouverneur Vehid-Pacha. Er richtete sich in der Festung von Chora ein. Um sicherzustellen, dass die Chioten sich ruhig halten, forderte er 40 Geiseln an (darunter den Erzbischof Platon Franghiadi, die Demogeronten und Mitglieder der wichtigsten Familien der Insel [...]).

    Klar: Das war auch völlig überflüssiger Terror. Anständige Leute tun sowas nicht. Aber wer könnte es, „denkt an Tripoli!“, dem armen Dīwān verübeln, wenn er den Aggressor in die Schranken weist? Dazu gehören natürlich auch Soldaten. Erwartbarerweise sorgten diese Soldaten mitnichten dafür, dass irgendwas besser wurde:

    Es handelte sich um wenig disziplinierte Soldaten, die von der Plünderungsmöglichkeit angezogen wurden. Sie kontrollierten die ländlichen Gebiete der Insel und verbreiteten dort Schrecken.

    So wurden die ChiotInnen, die sich anfangs aus guten Gründen aus der ganzen für sie völlig nutzlosen Frage raushalten wollten, ob sie nun aus dem fernen Konstantinopel oder aus dem noch ferneren Athen regiert werden sollten, allmählich doch zu PatriotInnen.

    Wirklich schlimm wurde es allerdings erst, als bewaffnete Patrioten aus Samos im März 1822 versuchten, die inzwischen wieder etwas menschlicher gewordene Militärherrschaft auf Chios durch Rumballern zu beenden. Fast 3000 christliche Soldaten landeten auf der Insel und zwangen die osmanischen Truppen zum Rückzug in die Burg der Hauptstadt Chora.

    Das Verhängnis patriotischer Erhebung

    An diesem Punkt wurden auch die BäuerInnen aus dem Inselinneren vom nationalen Taumel erfasst und bewaffneten sich, übrigens gegen das Flehen ihrer alten Lokalregierung, die ja immer noch in osmanischer Geiselhaft saß:

    Sie zogen mit Kreuzen und Ikonen durch die Straßen und sangen patriotische Lieder.

    Das konnte sich nun wiederum der Sultan nicht bieten lassen und schickte weitere Verstärkung nach Çeşme, gleich gegenüber von Chios. Am 11. April 1822 landeten ungefähr 7000 osmanische Soldaten auf der Insel – ihr merkt, wie sich auch die Zahlen immer weiter aufschaukeln –, und machen mit christlichen Soldaten wie BäuerInnen recht kurzen Prozess, zumal ersteren zwischendurch die Munition ausgegangen war.

    Es entfaltete sich ein Massaker, das das von Tripoli nochmal weit überbot. Die Bilanz der Wikipedia ist ähnlich düster wie die des DLF:

    Die Bevölkerung der Insel betrug Anfang 1822 zwischen 100.000 und 120.000 Menschen, davon 30.000 Einwohner in Chora. Es waren auch etwa 2.000 Muslime auf der Insel. Für die Zeit nach den Massakern wird meist die Einwohnerzahl von 20.000 genannt. [...] Die häufigsten Schätzungen nennen 25.000 Tote und 45.000 versklavte Menschen. 10.000 bis 20.000 sei die Flucht gelungen.

    Zwar hat so schnell niemand den Griechen Panzerhaubitzen geliefert, und so hatten sie rein materiell keine Möglichkeit zur weiteren Eskalation. Sie brachten aber in der nächsten Runde immer noch 2000 osmanische Soldaten um, als sie am 6. Juni 1822 – die Besatzung war wegen Zuckerfest vermutlich nicht gut beieinander – das osmaische Flaggschiff in der Bucht von Chora abfackelten. Die türkischen Truppen haben zur Vergeltung eine weitere, letzte Zerstörungstour über die Insel unternahmen, konnten da aber auch nicht mehr eskalieren, weil ja schon fast alle BewohnerInnen tot oder verschleppt waren.

    Alles umsonst

    Wofür sind die Leute alle gestorben? Aus heutiger Sicht wird wahrscheinlich niemand bestreiten, dass das alles Quatsch war. Für die Griechen bestand ihre „Freiheit“ aus einem bayrischen König, der „Griechenland“ zwar exzessiv „liebte“, 1862 aber von einem britischen Schiff evakuiert werden musste, weil seine Machtbasis komplett erodiert war und schon wieder Aufstand herrschte. Sein letzter Nachfolger schließlich ging 1968 unter, als er selbst einen Militärputsch plante, ihm andere Militärs aber zuvorkamen (die Ereignisse in der Wikipedia). Diese Militärs waren wiederum die, über die ich in meinem Filmtipp von neulich geschäumt habe.

    Für die Osmanen hat sich das auch nicht gelohnt, denn die Griechen gingen mit Chios im Westen ähnlich wie heute die aktuelle ukrainische Regierung mit russischen Massakern hausieren. Sie konnten viel Sympathie für diese Sorte „Freiheitskampf“ wecken und bekamen viel politische Unterstützung für ihre Sezession, die 1830 auch stattfand. Sicher weniger dramatisch für die Hohe Pforte: Leute wie Lord Byron[1] zogen „für Griechenland” in den Krieg und starben dabei. Chios selbst ging 1912 doch an Griechenland, noch bevor das osmanische System zum Ende des ersten Weltkriegs gänzlich implodierte.

    Und die Leute auf Chios? Also: die, die übrig geblieben sind? Nun, von den gut 100'000 BewohnerInnen aus dem Wikipedia-Zitat von oben ist Chios immer noch weit entfernt; gegenwärtig wohnen rund 50'000 Menschen auf der Insel.

    Ach weh. Wer aus der Geschichte nicht lernen will, wird immer wieder zehntausende Menschen in irgendwelchen mehr oder minder romantischen Anwandlungen von Patriotismus umbringen und, wenns ganz schlimm läuft, auch noch den Rest der Welt davon überzeugen wollen, dass das groß, wichtig und gut ist. Den Akteuren von 1822, die noch keine Wikipedia hatten, möchte ich das nicht vorwerfen, auch wenn sie mit etwas mehr Mühe bereits hinreichend viel Anschauungsmaterial aus der Geschichte hätten gewinnen können.

    Uns Heutigen – tja, wir haben die Wikipedia.

    [1]

    Zu Byron will ich euch die Worte von Bertrand …

  • Der Oliv-Index

    Filmszene: Revue-Bühne mit Tänzerinnen und Sänger in Uniform und Monokel

    Die Staudte-Verfilmung von Klaus Manns Untertan (DDR 1951) illustriert die militarisierte Gesellschaft durch eine Revuenummer, in der Frauen mit Pickelhauben zu uniformiertem Gesang von der „Elite der Nation“ halb tanzen, halb marschieren. Olivindex: 1. (Rechte bei… na ja, wer immer den DEFA-Kram halt gekauft hat.)

    Wer in den frühen 1990er Jahren Filme wie Der Untertan oder, etwas leichtherziger, den Hauptmann von Köpenick gesehen hat, wird die Verehrung des Militärischen, die dort gezeigt wurde, für eine unfassbare historische Verirrung gehalten haben, eine Art kollektive Psychose, lächerlich und zugleich gruselig, aber jedenfalls vom anderen Ende der Geschichte.

    Dann kam die Zeitenwende; nicht etwa jetzt, sondern im Laufe der 1990er, in denen sich die Bundeswehr zurückrobbte an diverse Plätze an der Sonne, angefangen mit Jagdbombern, die im Januar 1991 US-Jets in der Türkei ersetzten, damit diese für die Wiedereinsetzung des Emirs von Kuwait töten konnten. Es folgten die ersten Truppen außerhalb des NATO-Gebiets in Kambodscha im Mai 1992, wo im Oktober 1993 auch der erste Held anfiel (for the record: Alexander Arndt), dann mit AWACS-Flügen über Jugoslawien und so weiter und so fort. Langsam, aber bestimmt überschritt das Militär immer wieder zuvor sicher geglaubte Grenzen. Der große Zusammenbruch, oder wegen mir die Zeitenwende, kam aber erst ganz am Ende der 1990er Jahre: Militärminister Rühe hatte noch 1997 verkündet, nie wieder dürfe ein Stiefel eines deutschen Soldaten in Jugoslawien auftreten. 1999 griff die Bundeswehr Serbien an und marschierte im Kosovo ein, geschmackloserweise gerade unter Verweis auf die Verbrechen der deutschen Großväter (die damals ja noch in großer Zahl lebten).

    Nach diesem Tabubruch schlichen sich Reden von Helden, Tapferkeit und Vaterland in immer mehr Salons, kehrte der Glaube zurück, Militär an sich und schon gar deutsches Militär könne irgendwo und schon gar im Ausland Zustände verbessern. Mit der schon aus fünf Schritt Entfernung offensichtlich dystopischen Erzählung vom R2P wurde ab 2005 aus dem „Können“ allmählich ein „Müssen“ – also: dort, wo es bequem war und gegen die richtigen Feinde ging.

    „Rohrkrepierer“ ist eine Diagnose – von Sprache

    Die Militarisierung des Diskurses fand nicht nur nach außen statt. Eines der exteremen Beispiele: 2005 sollte die Bundeswehr für die Polizei Zivilflugzeuge abschießen dürfen – was das Verfassungsgericht 2006 zum Glück nochmal einfangen konnte (vgl. Luftsicherheitsgesetz in der Wikipedia). Dass der Corona-Krisenstab einen General als Vorsitzenden bekam, war kurzfristig ein neuer Höhepunkt der Preußen-Renaissance. Wieder half das Glück der Zivilgesellschaft, denn dieses Gremium stellte sich schnell als Rohrkrepierer (um mich auch kurz an Militärsprache zu versuchen) heraus.

    Nach dem Umschlagen der jüngsten Aufrüstungsrunde (das verlinkte PDF ist von 2019; der Kram ist also nicht neu) in einen weiteren Krieg hat eine giftige Mischung aus Patriotismus und Militarismus wenigstens vorläufig die… unbestrittene Lufthoheit. Zeitweise waren und sind Kommentare, die sich positiv auf deutsche Eingriffe in Kriege bezogen, in der Presseschau im Deutschlandfunk in der breiten Mehrheit, während in der Tagesschau oft kaum ein Beitrag ohne Olivgrün daherkommt.

    Ein Thermometer fürs Kriegsfieber

    Auch ein erklärter Feind von Metriken wie ich kann an dieser Stelle nicht widerstehen. Es braucht eine Zahl zur Charakterisierung des gesellschaftlichen Kriegsfiebers[1]. Nun, hier ist meine Zahl: Der Oliv-Index. Der von heute ist 0.55, wobei 0 „alles zivil oder unpatriotisch“ und 1 „der Kaiser schickt seine Soldaten aus“ bedeutet. Etwas weniger blumig ist der Oliv-Index ist das Verhältnis der Zahl der patriotisch-militaristischen Kommentarauszüge zu allen, die an einem Tag in der Morgen-Presseschau des DLF zitiert werden.

    Balken in verschiedenen Schattierungen von oliv

    Der Olivgrün-Index zwischen siebtem und 21. Mai: Je oliver, desto höher das patriotisch-militärische Fieber im Blätterwald der Republik.

    Nachtrag (2022-06-09)

    Ich führe den Olivindex tatsächlich fort, und für eine Weile ist die aktuelle Lage jeweils am Fuß der Blogseiten. Und, jeweils aktuell, solange ich das Elend auswerte, hier:

    Viel mehr Balken in verschiedenen Schattierungen von oliv

    Ich habe das in den vergangenen zwei Wochen ausprobiert, schon, um zu sehen wie viele Zweifelsfälle es geben würde. Tatsächlich war es beispielsweise nicht immer einfach, die Kommentare zur Entthronung von Gerhard Schröder korrekt einzuordnen: Was davon war allgemeine patriotische Empörung, was davon Empörung über Vaterlandsverrat im Krieg? Und – nicht, dass das für den Oliv-Index eine Rolle spielen würde: Was war Abwiegelung aus Staatsraison, was Abwiegelung aus kühlem Kopf? Die naheliegende Position „wenn ihr ihn wegen Kosovo und Hartz IV, wegen Afghanistan und Riesterrente, wegen BamS und lupenreinen Demokraten nicht abgesägt habt, müsst ihr es jetzt auch nicht mehr machen“ kam leider nicht vor.

    Dennoch sind Zweifelsfälle nach meinem ersten Eindruck nicht furchtbar dramatisch. Ich würde vermuten, dass andere Menschen meine Scores innerhalb von vielleicht 10% reproduzieren würden.

    Wer das probieren will, ist herzlich eingeladen. Dazu könnt ihr meine codes.txt inspizieren und sehen, ob ihr meine Einschätzungen teilt, solange die Presseschauen nicht depubliziert sind (was derzeit leider sehr schnell geht). In so einem Code steht von links nach rechts jedes Zeichen für einen Kommentarauszug, von oben nach unten gelesen. Ein o steht für einen oliven, also patriotisch-militaristischen Artikel, ein Punkt für einen anderen.

    Ihr könnt auch das Programm, das die Plots macht, ziehen: olivin. Da dürfte sich in der nächsten Zeit noch das eine oder andere ändern, denn, das gebe ich gleich mal zu, ich hoffe, am Schluss etwas Ähnliches zu produzieren wie die längst zu Popkultur gewordenen Climate Stripes von Ed Hawkins. Nur eben, ich bin ja Optimist, als Illustration einer vielleicht wieder allmählich sinkenden Begeisterung für Militär und Vaterland.

    Nachtrag (2023-06-17)

    Nach über einem Jahr mit der DLF-Presseschau hat mich jetzt die Lust verlassen; die letzte Presseschau, die ich verdaut habe, ist die vom 20.5.2023. Hier sind die military stripes von damals:

    Viel mehr Balken in verschiedenen Schattierungen von oliv

    Verschiedene braune Bänder lassen sich den Ereignissen der Zeit zuordnen; so entspricht das starke Feature rechts von 2023-01-16 der Großaufregung für die Lieferung von Kampfpanzern aus der Produktion der Rüstungsschmieden Krupp^W Krauss-Maffei-Wegmann und Rheinmetall an die Regierung der Ukraine; die darauf folgende weiße Beruhigung illustriert, dass der militärisch-patriotische Komplex durchaus auch mal für ein paar Tage zufrieden sein kann.

    Aber erstens war die militärisch-patriotische Begeisterung schon im letzten Sommer insgesamt überschaubar, und zweitens artet das alles in Arbeit aus. Wenn aber wer mal mit inzwischen über einem Jahr DLF-Presseschauen spielen will (ich könnte mir z.B. vorstellen, dass ein darauf nachtrainiertes LLM ausgesprochen bizarre Sachen sagen würde), möge sich bei mir rühren.

    [1]Nun ja: Für die Leute, die die Metriken definieren, sind sie ja schon nützlich, denn natürlich wird mensch die so definieren, dass sie den eigenen Interessen dienlich sind. Insofern bin ich natürlich kein Feind von Metriken, die ich definiere.
  • „Sackgasse Aufrüstung“ mit Jürgen Wagner

    Modern anmutendes Plakat: "Gold gab ich zur Wehr, Eisen nahm ich zur Ehr"

    Dass auch avantgardistisch orientierte Menschen im ersten Weltkrieg die große Knochenmühle mit ihrer Kreativität unterstützten, zeigt, so finde ich, dieses im Technischen Museum Wien ausgestellte zeitgenössische Plakat. Aber dazu später.

    Gestern war Jürgen Wagner von der großartigen Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Heidelberg und hat über „Krieg gegen die Ukraine – Russlands Krieg, die westliche Rolle und die Sackgasse Aufrüstung“ referiert (Ankündigung). In einer Zeit, in der praktisch keine öffentliche Äußerung ohne Schaum vorm Mund auskommt, war der im Groben ruhige Verlauf der Veranstaltung eine sehr willkommene Abwechslng. Aber gut, es konnten auch die meisten der (praktisch durchweg grauhaarigen) Anwesenden mit gutem Gewissen sagen: Wir waren gegen die Angriffskriege gegen Serbien, Afghanistan, den Irak, Libyen oder Efrîn auf der Straße – klar sind wir auch gegen den Angriff auf die Ukraine auf der Straße. Wer so viel Routine hat bei der Empörung gegen das staatliche Töten, hat vielleicht wirklich bessere Voraussetzungen, allzu überschäumender Erregung zu entgehen.

    Ich nehme ich an, dass Jürgens Online-Vortrag vom 28.3.2022 ziemlich genau dem entspricht, was er gestern erzählt hat, und so empfehle ich das jetzt mal ungesehen. Lohnend ist das unter anderem, weil Jürgen recht überzeugend eines der hässlicheren Narrative der letzten paar Wochen zerlegt: Dass es nämlich eine Appeasement-Politik gegeben habe und diese gescheitert sei, weshalb nun die Aufrüstung (und in der Konsequenz das Niederringen und -werfen des Feindes) alternativlos sei.

    Es hat seit 1990 keine „Appeasement“-Politik gegeben.

    Beide Teile dieses Narrativs sind Quatsch. Es hat nämlich schon mal keine Appeasement-Politik gegeben. Mal ganz davon abgesehen, dass eine Diffamierung von Entspannungs- und Kompromisspolitik als „Appeasement“ (und damit des Feindes als „Hitler“) an sich schon stark nach übler Demagogie schmeckt: „Der Westen“ hat seit der Niederlage der Sowjetunion konsequent die berühmten „roten Linien“ seiner (nicht nur russischen) Feinde überschritten und hat entsprechende Signale von diesen nonchalant ignoriert. Wer nicht Video gucken will, findet auch auf der Ukraine-Seite der IMI viel Material zu diesem Thema.

    Diese Frage ist durchaus relevant, denn: Zur Abwechslung mal nicht blind die eigenen nationalen Interessen durchsetzen wäre durchaus ein Modell für eine antiapokalyptische Außenpolitik nach dem jüngsten Krieg in Europa, gerade auch im Hinblick auf ein Einbremsen der zahlreichen vergleichbaren Gemetzel im globalen Süden.

    Was im Übrigen vom Appeasement-Narrativ zu halten ist, zeigt die Entwicklung der deutschen Kriegskasse:

    Seit der Eskalation um das Assoziationsabkommen der EU mit der Ukraine stieg das Budget der Bundeswehr von 32,5 Mrd. Euro (2014) auf 46,9 Mrd. (2021) steil an – und das sind nur die offiziellen Zahlen, hinter denen sich noch einmal etliche Milliarden versteckte Militärausgaben verbergen (siehe IMI-Standpunkt 2019/058).

    Jürgen Wagner am 28.2.

    An gleicher Stelle macht Jürgen auch einen weiteren Punkt aus dem Vortrag gestern, und zwar einen, der eigentlich allem Aufrüstungsgerede ohnehin sofort den Boden entziehen sollte:

    Die NATO-Militärausgaben sind also heute bereits rund 18mal höher als die Russlands. Augenscheinlich haben die militärischen Ausgabensteigerungen bislang in keiner Weise zu mehr Sicherheit geführt, wie derzeit leider offensichtlich wird.

    Wer also immer meint, jetzt als Folge der Empörung über Putins Töten die „eigenen“ Fähigkeiten zum Töten ausbauen zu sollen, dürfen oder müssen, sollte besser glaubhafte Geschichten liefern, wie genau der russische Angriff auf die Ukraine nicht stattgefunden hätte, wenn „wir“, sagen wir, 20-mal mehr oder 30-mal mehr oder 100-mal mehr als „die Russen“ fürs Töten ausgegeben hätten. Szenarien, die mehr als 100-mal mehr fürs Militär ausgeben wollen als Russland, gelten nicht, denn das würde wahrscheinlich selbst unsere Volkswirtschaften überlasten, von den verheerenden Wirkungen auf den Rest der Welt ganz zu schweigen.

    Allerdings dreht sich die Spirale logisch und moralisch fragwürdiger Erzählungen im patriotischen Taumel weiter und lässt die behaupteten Sachzwänge der Tötungsmittelspirale inzwischen hinter sich.

    Die Auszeichnungen für das aktuell krummste „Argument“ muss wohl an Dominic Johnson gehen, der gestern in der taz in einem Kommentar mit dem eigenartig selbstbezüglichen Titel „Putins verquere Logik“ ein Aufrüstungsargument versucht, das, nun, verquer ist:

    Vielleicht hofft der russische Präsident, dass im Westen die üblichen Mahner weiter davor warnen, Russland zu „provozieren“ – so als ob Russland nicht schon unprovoziert schlimm genug agiert. Zu befürchten ist aber eher, dass diese Entwicklung gewollt ist. Putin zeichnet gegenüber dem russischen Volk ein Zerrbild des Westens als aggressive Kraft, die die russische Zivilisation im Namen der europäischen Liberalität zerstören will. Mit seiner Gewalt will er jetzt den Westen dazu bringen, diesem Zerrbild zu entsprechen – damit Russland als Führungsnation eines aggressiven „Antiwestens“ auftreten kann. Die Ukraine ist dafür Putins Fußabtreter.

    Gerade deswegen aber ist der Kurs, die Nato zu stärken, richtig und alternativlos.

    Kurz: „Unsere Aufrüstung ist gut für Putin. Lasst uns mehr aufrüsten!“ Und ich dachte, „wir“ sollten „Putin stoppen“?

    Vielleicht missverstehe ich Johnson aber auch. Ich komme ja schon bei der konventionelleren Begeisterung für Waffen und HeldInnen nicht recht mit, etwa wenn heute morgen in der DLF-Presseschau der Vorwurf des Münchner Merkurs wiederholt wurde:

    Schwere Waffen [...] will der Kanzler den heldenhaft gegen Putins Vernichtungsarmee kämpfenden Ukrainern weiterhin nicht liefern.

    Woher kommt so eine Denke, so eine Schreibe bei Leuten, die doch vor gerade mal acht Jahren mit einer Haltung von „bedauernswerte, verwirrte Schlafwandler” dem Kriegsgejubel und -kreditieren von 1914 gedacht haben?

    Wenn wir uns heute empören dürfen, jeden Kompromiss und jede Verhandlung ablehnen, dann durften es die Kaiser, Zaren, Könige und Präsidenten damals auch. Nicht vergessen: Die Zaren, Könige und Präsidenten waren mit Terroristen im Bund, die die geliebte Thronfolgerin für erhebliche Teile der heutigen Ukraine feige und brutal ermordet haben – von den imperialen Politiken überall in der Welt, die uns von unserem verdienten Platz an der Sonne fernhalten, mal ganz zu schweigen.

    Die Kaiser wiederum haben furchtbare Massaker bei ihren eigenen imperialen Abenteuern angerichtet und hielten große Teile ihrer Bevölkerung in bitterer Armut, während sie selbst in Saus und Braus lebten. Klar, dass das die Könige, Präsidenten und Zaren nicht hinnehmen konnten.

    Bullshit? Jaklar. Aber warum hören dann so viele Menschen bis hinein in die Linkspartei – für die ja der Burgfrieden quasi der Gründungsmythos ist – den heutigen Varianten solcher Erzählungen zu?

  • Erfolgskriterien

    Eine regelmäßige Leserin dieser Seiten hat mir zur Frage, wie sich im Augenblick Menschenleben gegen nationale Größe vergleichen eine Collage aus der taz vom 22. März geschickt. Da sie die sich aus dieser Abwägung ergebenden Maßstäbe für Erfolg schön beleuchtet, gebe ich das Dokument hier gerne weiter

  • Cat Content für die Aufrüstung

    Zwei Kriegsfotos mit Katzen, montiert

    Bilder aus der Tagesschau vom 9.3.2022 und (Inset) aus der taz vom 14.3.2022: Cat content geht immer – leider offenbar auch, wenn patriotische Emotion Tötungshemmung überwinden helfen soll (Rechte bei der ARD bzw. der taz)

    Einem militanten Pazifist wie mir geht das Herz derzeit natürlich oft auf, da ja allenthalben Wladimir Putin heftig gescholten wird dafür, dass er für seine (und damit bis auf Weiteres auch die nationalen russischen) Interessen Menschen töten lässt – die Monströsität entsprechender Ideen hatte ich ja schon im letzten September und davor im Januar angeprangert.

    Leider schließt sich mein Herz dann allzu oft zumindest gegenüber weiten Teilen der öffentlichen Meinung wieder, denn fast immer geht der Ausdruck von Abscheu gegenüber dem Putin'schen Morden über in die Forderung, „wir“ (sc.[1] „unsere“ Regierung) müssten nun aber viel mehr tun, damit „wir“ dann auch besser für „unsere“ (sc. der Regierung) Interessen töten können. Und es sei nicht hinnehmbar, dass „wir“ (sc. die Bundeswehr) gerade nicht hinreichend gut töten könnten. Nur vorsorglich und nebenbei möchte ich zur Erzählung von der kaputten Bundeswehr gehöriges Misstrauen anmelden: if only it were true.

    Immerhin kommen diese Appelle an Wehr- und Tötungsbereitschaft derzeit noch oft im Flauschkostüm daher: es ist wirklich auffällig, wie viele Hunde und Katzen aus den aktuellen Kriegsbildern äugen. Die beiden Kitschbeispiele im Titelfoto sind wirklich nur zufällig aus einem großen Korpus gegriffen, auch heute sind in der taz wieder Bilder von ukrainischen Frauen, die Katzen tragen.

    Klar: Das ist mir viel lieber als harte Männer mit großen Knarren. Das Narrativ von „wir müssen die Tiere vor Putins Grausamkeit retten“ (und deshalb 100 Milliarden Sondervermögen fürs Töten einstellen) relativiert sich allerdings schon deshalb, weil ein jedenfalls vom Flauschfaktor her bemerkenswerter, in Wahrrheit aber sowohl menschen- als auch tierrechtlich ernster Skandal in den Cat Content-Medien im Wesentlichen untergegangen ist. Ich zitiere aus der Zeitung der Roten Hilfe 1/2022 (S. 23):

    Weil die Tierschutz-Hundeverordnung seit Jahresbeginn den Einsatz so genannter Zug- und Stachelhalsbänder verbietet, fürchten die Polizeien des Bundes und der Länder um ihre bei Demonstrationen, Fußballspielen usw. eingesetzten „Schutzhunde“ – sie werden sowohl in der Ausbildung als auch bei jährlichen Trainings mit solchen Halsbändern gequält, um im Einsatz auch beim Anziehen eines normalen Halsbandes in Erinnerung der Schmerzen Befehle auszuführen. Stellten einige Länder ihre Hunde kurzzeitig außer Dienst, suchen sie nun Wege, die Tiere weiter als Waffen abzurichten und einzusetzen. Berlin etwa sieht die Verordnung als nur Ausbildung und Training, nicht aber den Einsatz betreffend, Niedersachsen will im Bundesrat eine Tierquäl-Ausnahme-Erlaubnis für die Polizei erreichen. Brandenburg ignoriert die Verordnung komplett: Es sei nur verboten, Tieren „ohne vernünftigen Grund“ Schmerzen zuzufügen. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) fürchtet ohne Stachelhalsbänder gar „fatale Auswirkungen auf die innere Sicherheit“.

    Das Thema Rüstung für den Tierschutz hat Aspekte, die überraschen mögen. Ich bin auf einen Artikel aus dem lokalen Boulevardmedium hingewiesen worden, in dem steht:

    Unter dem schrecklichen Krieg in der Ukraine leidet nicht nur die dortige Zivilbevölkerung. Viele der Millionen flüchtenden Menschen haben ihre geliebten Haustiere wie Hunde, Katzen oder Frettchen dabei.

    Öhm… Frettchen? Stellt sich jedenfalls raus, dass das auch anderweitig ein Thema ist:

    Ukrainische Haustiere sind in bayerischen Flüchtlingsunterkunft neuerdings willkommen. […] Die Regierungen und Kreisverwaltungsbehörden wurden angewiesen, bei der Aufnahme von Haustieren ukrainischer Geflüchteter großzügig zu sein.

    […] Eigentlich seien die Unterkünfte nicht auf Haltung von Haustieren ausgelegt, erklärt das Ministerium. Aber ein Haustier könne eine wichtige Stütze nach Kriegserfahrung und Flucht sein. Man wolle Trennungen vermeiden.

    BR-Nachrichten

    Zu vergleichen ist das mit einem Urteil des VG Ansbach, AN 15 K 19.30225 vom (ausgerechnet) 20. April 2021, in dem das BAMF wie folgt paraphrasiert wird:

    In den Gründen zum ablehnenden Teil ist zusammengefasst ausgeführt, der Klägerin [eine Frau aus Syrien] stehe kein originärer Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus § 3 Abs. 1 AsylG zu. Sie habe keine drohende oder bereits erlittene Verfolgung in ihrem Herkunftsland glaubhaft gemacht. Die Klägerin sei wegen der Kriegssituation ausgereist.

    Das Gericht (Ansbach ist übrigens seit Napoleon bayrisch) hat die Klage abgewiesen.

    [1]Für den Fall, dass die schöne Abkürzung „sc.“ nicht allen geläufig ist (ich musste auch über 30 werden, bis ich ihr endlich begegnet bin): Das steht für scilicet, und das wiederum für scire licet, was ich verwendungsgeschichtlich inspiriert und frei als „wie jedeR wissen dürfte” übersetzen würde. Mit anderen Worten ist das einsetzbar wie „d.h.“, nur vielleicht mit einem Unterton von „selbstverständlich“ oder so, und noch mit dem Bonus von „Latein, das nicht jede_r kennt“. Also: In jeder Richtung der Jackpot für bildungsbürgerliche Nerds.
  • Nicht schon wieder!

    Ich habe heute an einer Kundgebung, nun, gegen den Krieg in der Ukraine auf dem Heidelberger Uniplatz teilgenommen, und zwar so:

    DemoteilnehmerIn mit Schild: „1914 – 2022 – Nicht schon wieder Kriegskredite”

    Ich kann leider nicht sagen, dass ich mich in der großen Menge – es werden so um die 1000 Menschen gekommen sein – sonderlich wohl gefühlt hätte, schon, weil fast alle, die da waren, es im Januar 2020 nicht für nötig befunden hatten, gegen den unfassbaren, thematisch natheliegenden, jedoch die eigene Regierung angehenden Skandal auf die Straße zu gehen, dass „wir“ Nuklearwaffen einsetzen wollen. Jedenfalls waren wir bei der Demo damals vielleicht 20 Leute. Mir wäre schon etwas wohler, wenn zu beiden Anlässen je 500 gekommen wären.

    Unschön war aber vor allem, dass in den Redebeiträgen durchweg von der „Solidarität mit der Ukraine” die Rede war. „Solidarität” wird, auf Länder gerichtet, ein gefährliches Konzept, ganz genau wie bei einer Mischung mit „Volk“, zu dem Bertolt Brecht (der 1914 selbst noch patriotische, kriegsbegeisterte Gedichte geschrieben hatte – Besinnung ist wichtig) einst ausführte:

    Wer in unserer Zeit [ok, das war 1935] statt Volk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt unterstützt schon viele Lügen nicht. Er nimmt den Wörtern ihre faule Mystik. Das Wort Volk besagt eine gewisse Einheitlichkeit und deutet auf gemeinsame Interessen hin, sollte also nur benutzt werden, wenn von mehreren Völkern die Rede ist, da höchstens dann eine Gemeinsamkeit der Interessen vorstellbar ist. Die Bevölkerung eines Landstriches hat verschiedene, auch einander centgegengesetzte Interessen, und dies ist eine Wahrheit, die unterdrückt wird.

    Solidarisch will mensch also sein mit den Menschen in der Ukraine, und diese sollten im Augenblick vernünftigerweise mindestens ein gemeinsames Interesse haben: Der Krieg muss möglichst schnell aufhören. Ein im Wesentlichen unausweichliches Korollar davon ist: die Waffen müssen raus. Wer die Regierung stellt, ist demgegenüber ganz sicher sehr zweitrangig (und zudem Brechts entgegengesetzten Interessen unterworfen). In jedem Fall bleibe ich dabei, dass für eine Regierung kein einziger Mensch sterben sollte.

    Nur zur Klarheit, weil das Dementi des Putinverstehens ja derzeit zum guten Ton gehört: Mein Problem ist nicht das allgemeine Sentiment, dass Putin ein Schurke ist. Das ist er, und beileibe nicht nur, weil er einen Krieg angefangen hat. Um so mehr bleibt übrigens ein Imperativ, Edward Snowden die Rückkehr in eine etwas freiere Gesellschaft zu ermöglichen – dass „wir“ ihn in Russland verrotten lassen, ist niederschmetternde Undankbarkeit. Zum Krieg als Totalausfall der Zivilisation hatte ich mir in Töten und Massenschlachten schon einige Empörung von der Seele geschrieben, die ganz genau so natürlich auch russischen Potentaten und, igitt, Ex-Geheimdienstlern gilt.

    Mit dem durch die gegenwärtigen Medienlandschaft geprägten Gefühl, meine Pappe enthalte nicht genug derartiger Klarstellung, bin ich mit einigen Bedenken zur Kundgebung gegangen. Um so angenehmer war ich überrascht von der durchweg positiven Aufnahme meiner Parole vom „Nicht schon wieder Kriegskredite“: mehrere TeilnehmerInnen sind extra zu mir gekommen, um mir ihre Unterstützung auszusprechen, etliche haben Transpi-Portraits geschossen, einer hat sogar Szenenapplaus gegeben, nicht eineR hat nasegerümpft.

    Es ist beruhigend zu wissen, dass die Erinnerung an die Geschichte der Kriegskredite von 1914 noch vielfach wach ist, Und daran, wie sich SozialdemokratInnen (zu denen sich in der heutigen Wiederholung offenbar auch ziemlich viele LinksparteigängerInnen gesellt haben) diese damals durchaus nicht nur rein patriotisch zurechtlogen: „aber wir müssen uns doch wehren gegen das finstere, reaktionäre Zarenreich“, „…die Liberalen aus England, die uns unsere Sozialversicherungen wegnehmen wollen“. Das ist wieder ein Gesicht der autoritären Versuchung: „Wenns schon keine gute Lösung gibt, dann lasst uns wenigstens Gewalt versuchen“.

    Das ist, so viel lehrt die Geschichte, eigentlich immer falsch – Ausnahmen von dieser Regel sind so rar, dass sie wahrscheinlich niemand, der_die das hier liest, je erleben wird.

    [1]Ich kann der Beobachtung nicht widerstehen, dass sich „unsere“ und „ihre“ Operationen selbst im Timing ähneln. Wir: Separation des Kosovo mit dubiosen „Freiheitskämpfern“ 1999, diplomatische Anerkennung gegen den Willen der Gegenseite nach neun Jahren im Jahr 2008. Sie: Separation des Donbas mit dubiosen „Freiheitskämpfern“ 2014, diplomatische Anerkennung gegen den Willen der Gegenseite nach acht Jahren 2022.
  • Stahlhelmdiplomatie

    Was früher Kanonenbootdiplomatie war, hat sich heute offenbar zu Stahlhelmdiplomatie entwickelt. Einerseits, weil „wir“ welche in die Ukraine liefern, statt den Mist, den wir mit unserer Zündelei dort angerichtet haben, etwas zu entspannen. Andererseits, weil die Außenministerin – die „Chefdiplomatin“ also – sich ernsthaft martialisch in den Abendnachrichten zeigt, und zwar sozusagen vor der Haustür des aktuellen Erbfeinds Russland:

    Annalena Baerbock mit Stahlhelm in der Ukraine

    Beschnittener Screenshot aus der Tagesschau vom 8.2.2022: Außenministerin Baerbock beim Staatsbesuch in der Ukraine. Rechte bei der ARD.

    Wer das für Diplomatie hält, glaubt auch an die These von den Schlafwandlern. Was niemand tun sollte. Der erste Weltkrieg ist nicht ausgebrochen, er wurde gemacht. Von einer Öffentlichkeit (ich definiere das jetzt mal nicht näher; weite Teile der Presse gehörten und gehören da auf jeden Fall mal dazu), die Härte, Treue und Verlässlichkeit gefordert hat. Und von einer Regierung, die sich auch auch irgendwas wie vier Jahre in das Gemetzel hinein nicht geschämt hat, die Kriegsrhetorik vom August 1914 auf Wachstrommel zu bellen:

    Na ja, und so sieht es jetzt halt wieder aus. Leider oder zum Glück, so stelle ich gerade fest, depubliziert der DLF seine Presseschauen nach sieben Tagen (trotz allem: Buh!), so dass die übelsten Ausfälle jetzt schon wieder hinter Paywalls verschwunden sind, aber all das Gerede von „nicht zurückweichen“, „klare Kante gegen Russland zeigen“, „der Provokation entgegentreten“, Waffen liefern, Truppen schicken, härter drohen: So schnell kann es gehen zwischen dem zerknirscht-geschichtsklitternden Erinnerungsjahr 2014 und patriotischem Taumel nach der Mode von 1914.

    Dabei ist mir ja schon völlig unklar, was sich all die Russland-EntgegentreterInnen eigentlich als Ausgang der ganzen Angelegenheit vorstellen. Versteht mich nicht falsch: Es ist bestimmt kein Fehler, wenn ein augenscheinlich wirklich an Zauber, Auferstehung und heiligen Krieg glaubender Christ wie Achim Schönbach lieber nicht mehr die Marine befehligt. Aber wer Russland die Krim wieder abnehmen will, wird sich zwischen einer der folgenden Alternativen entscheiden müssen:

    1. Irgendeine russische Regierung gibt sie freiwillig ab. Die Frage beiseite, was sie dazu bewegen könnte, es wäre wohl das letzte, was sie täte. Weder das Militär noch große Teile der Bevölkerung würden das hinnehmen – das wäre nach übereinstimmenden Angaben von osteuropäischen KollegInnen und Ex-Studis in etwa so, als würde die BRD Mallorca, Helgoland und Sylt an Serbien übergeben. Also, so richtig, mit: Kein Urlaub mehr dort für Deutsche. Diese Alternative existiert mithin eigentlich nicht, und es bleiben realistisch nur die beiden anderen.
    2. Irgendwie zwingen „wir“ Russland ohne Krieg zur Aufgabe der Krim. Die Folge wäre ein Revanchismus in Russland, der garantiert die Größenordnung des Revanchismus in der Weimarer Republik angesichts von Versailles erreichen würde. Das wäre nicht nur für Russland furchtbar; mit Sicherheit wären damit alle Hoffnungen auf Ausgleich für die nächsten 30 Jahre futsch. Es gäbe auch praktisch sicher eine wild drehende Aufrüstungsspirale. Wer könnte es einer Bevölkerung, die mindestens ebenso patriotisch betaumelt ist wie „unsere“ verdenken, Russland nach so einer Nummer so stärken zu wollen, dass es eine solche Schmach nicht nochmal hinnehmen müsste? Gut, ich kann das, weil es klar durchgeknallt ist. Aber es ist nicht durchgeknallter das das, was „wir“ im Augenblick aufführen.
    3. Wir machen mal wieder einen Krimkrieg, weil der letzte so ein Höhepunkt der Zivilisation war. Tut euch den Gefallen und blättert ein wenig im verlinkten Wikipedia-Artikel. Wer sowas ernsthaft will, möge erstmal die wunderbaren Thursday Next-Bücher von Japer Fforde lesen – Hauptperson ist eine Veteranin eines in einer Alternate History eingefrorenen Krimkriegs – und sich danach bitte schleunigst auf den Weg zurück in Kreise zivilisierter Menschen begeben.

    Alle drei Alternativen sind offensichtlich Quatsch. Nichts davon ist auch nur im Entferntesten wünschbar. Mit welchen Gedanken im Kopf kann sich also irgendwer darüber erregen, wenn irgendwer anders – und sei es auch ein frömmelnder Marinechef – das Offensichtliche feststellt: Chruschtschows Laune von 1954, als er die Krim an die Ukraine übergab, war nie mehr als das, eine Laune (eines Diktators, Autokraten, oder wie immer das heute heißt, zumal) nämlich, und gewiss nichts, für das irgendwer sterben sollte.

  • Patriotische Raison

    Die heutige Presseschau im Deutschlandfunk war mal wieder niederschmetternd.

    Zum Afghanistan-„Zapfenstreich“ gestern fällt der taz gerade noch ein, es sei „eher“ ein „Kuriosum“, während die anderen Blätter sich noch fester hinter ihrer Armee versammeln:

    • Es wäre in Afghanistan ja sonst noch viel schlimmer gewesen (Volksstimme); angesichts der tatsächlichen Verhältnisse ist das nur schwer vorstellbar: Geringer als in Afghanistan, 51.3 Jahre laut CIA World Factbook von 2016, ist die Lebenserwartung derzeit nur noch in zwei Staaten.
    • Soldaten – und nicht etwa ihre Opfer – seien „traumatisiert und physisch verletzt“ (Mitteldeutsche; den naheliegenden Schluss, die Bundeswehr, die dafür ja verantwortlich ist, aufzulösen, zieht sie natürlich nicht).
    • „gut gemeint“ (Nürnberger Nachrichten).
    • „Außen- und Sicherheitspolitik den nötigen Raum“ geben (Märkische Oderzeitung).
    Strammstehende und taktstockschwingene Soldaten

    Screenshots vom Zapfenstreich, Rechte fürs Rohmaterial hat die ARD.

    Au weia. Niemand möchte sich durch Stellen der offensichtlichen Frage als vaterlandsloser Geselle outen: „Was war denn das für ein bizarres Spektakel?“

    Strammstehen, Tschingdarassabum, bunte Kappen, Orden? Für Leute, die für die Regierung töten? Leute, es ist 2021. Es hat zwischendurch ein 20. Jahrhundert gegeben. Erinnert ihr euch?

    Den Auweia-Preis für den fürchterlichsten Kommentar räumt aber erneut die FAZ ab, wenn sie fordert:

    Nie wieder darf die ‚Parlamentsarmee‘ in eine Mission geschickt werden, in der sie mit ihrem Blut für die Unschärfe des Mandats und die Inkonsequenz, um nicht zu sagen: Feigheit der politischen Entscheider büßen muss.

    Das ist nur noch ein paar Millimeter von „im Felde ungeschlagen“ und dem Narrativ hinter der Dolchstoßlegende („die tapferen Jungs hätten den Feind schon platt gemacht, aber die Politiker...!“) entfernt. Wenn in dieser Umgebung dann noch Testosteron-Vokabeln wie „feige“ und „Entscheider“ auftauchen, schlägt mein persönliches Jetzt-Flucht-planen-o-Meter schon ziemlich deutlich aus.

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