Tag Kunst

  • Rick würde heute Wattebäuschchen werfen

    Schwarzweiß-Screenshot: Humphrey Bogart schaut sardonisch und hat den Mund halb geöffnet.

    Humphrey Bogart in Casablanca: „Es gibt ein paar Teile von New York, die ich nicht erobern wollen würde, wenn ich Sie wäre“. Was das mit Wattebäuschchenwerfen zu tun hat? Lest weiter.

    Da die allwöchentliche Heidelberger Kundgebung gegen den zweiten Krimkrieg und vor allem die deutsche Beteiligung daran (Montag 18 Uhr am Theaterplatz) gerade Sommerpause macht, bietet sich ein kurzer Rückblick an auf einen Passanten, der uns „ja, wollt ihr den Putin mit Wattebäuschchen bewerfen?“ entgegenfauchte.

    Leider stand der Fauchende selbst nicht für weitere Erörterungen zur Verfügung, aber den Gedanken finde ich tatsächlich wertvoll: Die Wattebäuschchenwürfe wären zur Erhaltung von Frieden und zumindest rudimentärer persönlicher Selbstbestimmung („Freiheit“) in der Ukraine ganz bestimmt mindestens so wirksam wie die Stahlhelme und Haubitzen, die tatsächlich zum Einsatz kommen (und offensichtlich im Hinblick auf diese Ziele gar keinen Nutzen haben), aber sie würden entschieden weniger Schaden zwischen Kriegsdienstpflichten, Zermetzelten, kaputten Häusern, Zensur, Kriegsrecht, Minimalgruppenhass und Propaganda anrichten.

    Die kontrafaktische Gewissheit über die Wirksamkeit des Tötens

    Tatsächlich verblüfft mich immer wieder, wie der autoritären Versuchung erlegene Menschen entgegen aller Erfahrung und Logik ganz selbstverständlich voraussetzen, dass das Rumballern irgendwas hilft oder jedenfalls Schlimmeres verhindert. Für diese Prämisse gibt es jedoch nicht den Hauch eines Belegs.

    Als besonders deutliche Episode rufe ich auf, dass das Massaker von Srebrenica in unmittelbarer Nachbarschaft einer Kaserne der niederländischen Armee stattfand – und vermutlich ohne die militärische Spezialoperation aus dem aufgeklärten Westen auf „den Balkan“ zumindest so nicht passiert wäre, zumal es das improvisierte Lager von Srebrenica ohne diese in der Form schon gar nicht gegeben hätte. Und nein, auch die humanitäre Operation im Kosovo hat nicht etwa ein Massaker unterbrochen.

    Gänzlich kontrafaktisch werden diese Erzählungen, wenn es mit „Freiheit verteidigen“ weitergeht. „Freiheit“ ist, wenn dieses geschundene Wort überhaupt noch irgendwie mit sinnvollem Inhalt zu füllen ist, ein Attribut im Verhältnis zwischen Obrigkeit (sowie deren HandlangerInnen) und Untertanen. Als solches sind seine Belegungen weitgehend invariant gegen die konkrete Obrigkeit[1]; der ganz entscheidende Faktor hingegen ist, was sich die Untertanen bieten lassen[2].

    Militär verteidigt nie Freiheit(en)

    Im Antagonismus Obrigkeit-Untertanen nun ist das Mittel der nationalen „Verteidigung“, das Militär, aber im Wesentlichen immer[3] auf der Seite der Obrigkeit und mithin gewiss nicht auf der nachvollziehbarer Bedeutungen von „Freiheit“.

    „Freiheit verteidigen“ bedeutet demnach (jaja: im Wesentlichen) immer, Militär zu bekämpfen und nie, sich an die Seite irgendeines Militärs zu stellen. Diese Erkenntnis ist fast so fundamental wie ihre weise Schwester: „Wenn bei einer ethischen Erwägung rauskommt, dass du Leute töten sollst, dann hast du dich komplett verrannt.“

    Das Thema Unterwerfung und Eroberung wird sehr beeindruckend im wahrscheinlich großartigsten Propagandafilm aller Zeiten, Casablanca von 1942, aufgearbeitet. Die Situation: Rick, der als Nationalität „Säufer“ („drunkard“) angegeben hat, also (in dieser Phase des Films) allen möglichen Patriotismen abgeschworen hat, sitzt so etwa 1941 mit Major Strasser an einem Tisch. Strasser, ein Emissär der deutschen Wehrmacht, will Rick überzeugen, einem aus dem deutschen Machtbereich ins Niemandsland von Casablanca – weitgehend loyal zum französischen Marionettenregime in Vichy, aber halt auch nicht so ganz – entkommenen Antifaschisten nicht zur weiteren Flucht zu verhelfen. Er sondiert Ricks Loyalitäten und fragt diesen, ob Rick sich die Wehrmacht in Paris oder London vorstellen könnte. Rick gibt jeweils geistreiche und sehr unpatriotische Antworten.

    Ziel: Keine Lust, uns zu regieren

    Schließlich stellt Strasser die Königsfrage zu Ricks Heimatstadt im Versuch, ihn bei Resten von Patriotismus zu packen: „What about New York?“ Rick pariert mit dem wirklich brillianten Satz:

    There are certain sections of New York that I wouldn't advise you to try to invade.

    Ich finde, das ist ein ausgesprochen erstrebenswertes Ziel für eine Gesellschaft: So zu werden, dass wohlmeinende Menschen Obrigkeiten abraten, sie beherrschen zu wollen.

    Ich will dabei gerne zugestehen, dass Casablanca durchaus auch als Geschichte einer antifaschistischen, vielleicht gar patriotischen Läuterung von Rick gelesen werden kann – einer Läuterung übrigens, die interessanterweise im Namen sexuellen Begehrens beziehungsweise Entsagens erfolgt. Die Läuterung geht so weit, dass Rick Strasser am Schluss umpufft (selbstverständlich in Notwehr, aber das ist für diese Überlegung eher zweitranging).

    Ist diese Sorte Läuterung erstrebenswert? Nun ja, heute wissen wir einiges, das die Epstein-Zwillinge – die das Drehbuch für den Film geschrieben haben – damals noch nicht wissen konnten: Nazis (und anderen Obrigkeiten) massenhaft nicht gehorchen hat erheblich weniger unerwünschte Nebenwirkungen als Nazis umpuffen. Wichtiger noch: es wirkt besser.

    [1]Und selbstverständlich unabhängig von Nationalität oder „Ethnizität“ (was immer das nun schon wieder sein mag) des obrigkeitlichen Personals.
    [2]Ganz besonders wichtig in dem Zusammenhang: warum sind die Untertanen vielerorts eigentlich so gefügig? Womit wir beim Nationalismus als einem wesentlichen Ideologem wären, das Untertanen zum Mitspielen bei den imperialen Ambitionen ihrer jeweiligen Obrigkeit motiviert – und damit zum Verzicht auf so gut wie alles, was „Freiheit“ vernünftigerweise bedeuten könnte. Von Einsichten dieser Art ist es nicht mehr weit zur gerade in Olympiazeiten wertvollen Frage, wie und wann Menschen die Anwendung dieses Ideologems einüben. Aber das gehört hier nicht mal mehr in eine Fußnote.
    [3]In der deutschen Geschichte gab es im Wesentlichen einen Moment, in dem das anders war (die Novemberrevolution). Aber auch da fanden die Soldaten schnell wieder zurück in ihre gewohnte Rolle: die Obrigkeit gegen verschiedene Gruppierungen der Untertanen zu verteidigen (Beweisstück A, Beweisstück B, Beweisstück C, Beweisstück D).
  • Ella: Fast ein Jahr im Gefängnis

    Gerade an dem Tag, an dem in meinen Überlegungen zu Wahlen und Informationstheorie anmerkte, bedeutender als Wahlen sei für die politische Partizipation „eine Justiz, die es häufig genug doch noch schafft, diesen wenigstens dann und wann ein wenig Schutz vor den Übergriffen der Exekutive zu geben“, fand eine verteilte Uraufführung eines Films statt, der Zweifel am „häufig genug“ ziemlich nachhaltig vertieft.

    Es geht darin um den Fall von „Ella“ oder auch „UP1“ für „Unbekannte Person 1“, die seit der brutalen Räumung des Dannenröder Forsts im letzten November im Gefängnis sitzt. Der Fall folgt dem von den Rondenbarg-Prozessen allzu bekannten Muster, bei dem die Polizei lebensgefährliche Einsatzmethoden – im Dannenröder Forst insbesondere das Durchtrennen lebenswichtiger Seile – durch absurd aufgeblasene Vorwürfe gegen die Opfer dieser Einsätze in irgendeinem Sinne zu rechtfertigen versucht; in Ellas Fall kommt sicher noch einiger Zorn über ihre erfolgreiche Personalienverweigerung dazu.

    Einsatzszene

    Ein Sequenz vom Anfang des Ella-Films: Ein Polizist wirft einen Aktivisten von einem Baum runter. Die öffentliche Zurückhaltung angesichts erschreckend gewalttätiger Räumungstechniken im Wald (na gut, inzwischen: Autobahnbaustelle) ist jedenfalls im Hinblick auf künftige Möglichkeiten politischer Partizipation schon ziemlich beunruhigend.

    Die erste Gerichtsinstanz hat dabei mitgemacht, und nun soll sie noch weitere 16 Monate im Gefängnis schmoren. Ohne große Öffentlichkeit wird das wohl auch so kommen, denn ein Landgerichtsprozess geht normalerweise nicht im Eiltempo. Und dann hilft auch ein Freispruch nichts mehr.

    Sowohl im Hinblick auf Ellas Schicksal als auch auf die Diskussion indiskutabler Polizeitaktiken finde ich den Film also höchst verdienstvoll. Wer ihn verbreiten kann, möge das tun, z.B. von youtube; wer das Ding ohne google bekommen will, möge sich per Mail rühren, dann lege ich es auf von mir kontrollierten Webspace (ich spare mir die 800 MB in der Erwartung, dass eh alle zu youtube gehen).

    Nachtrag (2022-05-10)

    Meine Spekulation, es sei bei der ganzen Einsperrerei im Wesentlichen um Ellas Weigerung gegangen, ihre Personalien abzugeben, gewinnt an Substanz. Die Staatsgewalt lässt Ella jetzt, da sie ihre Identität preisgegeben hat, frei, wie die taz berichtet. Die Entscheidung wird den mitredenden Behörden leicht gefallen sein, denn sie werden alle nicht wild sein auf eine weitere Klärung der inzwischen offizell gewordenen Tatsache, dass „die Beamten die Unwahrheit gesagt hatten“ (so die taz sehr staatsfreundlich) und des offensichtlichen Desinteresses beider Gerichtsinstanzen, die Polizei beim Lügen zu erwischen. Zumindest die zweite Instanz kannte ja (vermutlich) den hier besprochenen Film.

  • Ein Jahr ohne Terry Jones

    Heute vor einem Jahr ist Terry Jones gestorben (habe ich auf sofo-hd erfahren). Allein für die Regie beim ewigen Klassiker Life of Brian gedenke ich seiner gerne. Wofür ich ja jetzt dieses Blog habe.

    Die 1a Blasphemie, die Alien-Szene, die scharfsichtige Darstellung OECD-kompatibler Pädagogik („So 'eunt' is...?“ mit einem Schwert am Hals) und die gekonnte Verarbeitung der abgedroschenen Klischees der Historienschiken rund um Ben Hur würde eigentlich schon für eine Aufnahme des Films in den Olymp großer Kunst reichen.

    Vor allem aber sollte der Film Pflichtlektüre linker Aktivist_innen sein. Wer nämlich lange genug in linken Grüppchen unterwegs war, wird in eigentlich jeder Szene Vertrautes erblicken, ohne das wir, glaube ich, alle schon ein ganzes Stück weiter wären. Der blinde Hass zwischen Judean People's Front und People's Front of Judea, das „this calls for... immediate discussion“ statt einfach mal vor die Tür zu gehen (und der folgende Paternalismus), der zumindest mal alberne Versuch, patriotische Gefühle für eine (vielleicht) fortschrittliche Idee einzuspannen („What have the Romans ever done for us?“), das gegenseitige Abmetzeln über Fragen, die sich vernünftige Menschen gar nicht stellen würden („we were here first“ unter Pilatus' Palast), sinnlose Opferbereitschaft aus einem Bedürfnis nach größtmöglicher Reinheit heraus („We are the Judean People's Front. Crack suicide squad.“ vor dem Massenselbstmord), die große (autoritäre) Versuchung, einer „Bewegung“ anzugehören („Yes, we are all different!“) und so fort: Fast alles, was es an Irrsinn gibt, der (glücklicherweise nicht nur) fortschrittliche Kämpfe lähmt, findet sich in diesem Film.

    Mein Tipp: Jeden Karfreitag mal reinschauen.

    Was ich bisher nicht wusste: Den Film gibts überhaupt nur, weil Ex-Beatle George Harrison eingesprungen ist, als die ursprüngliche Produktionsfirma nach dem Lesen des Skripts den Geldhahn zugedreht hatte (vgl. rational wiki, der noch ein paar weitere Geschichten dazu hat).

    Die Welt ist klein.

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