Tag Kunst

  • Ein Brief an die Zukunft aus dem Jahr eins nach 1.5 K

    Liebe Zukunft,

    Schön, dass es dich gibt. Das ist überhaupt nicht selbstverständlich nach all den Dummheiten, die wir gerade anstellen. Gleich zu Anfang: dieser Brief ist eine Bitte um Entschuldigung für diese Dummheiten. Und für vieles weitere, denn unsere Dummheiten sind vielfältig und verworren, zugleich lächerlich und beängstigend.

    Lass mich gestehen, dass ich aus dem Jahr eins nach dem ersten Reißen des 1.5-Grad-Ziels schreibe: Anderthalb Grad, so haben wir geglaubt, könnten wir das Klima wärmer werden lassen, ohne dass du, liebe Zukunft, schlimme Hungersnöte wirst auszustehen haben.

    2024, im letzten Jahr, lagen wir zum ersten Mal darüber. Niemand hat mehr Zweifel, dass das Normalzustand werden wird, dass wir auch die zwei Grad reißen werden.

    Ich will mich entschuldigen, keine Ausreden bringen: wir wissen, was wir tun. Schau dir mit deinen Zukunftsaugen das folgende Plakat an, das in meiner Gegenwart die Leute aufgehängt haben, die dich am entschlossensten und aus den albernsten Gründen vergiften und verbrühen möchten:

    Ein Seitenportrait eines fülligen Menschen mit Brille und Seitenscheitel vor einer Klinkerwand, davor schwarz auf gelb: "Die Zukunft ist, was wir daraus machen".

    Deine Menschen, werte Zukunft, die zwischen den letzten Knochen längst gestorbener Automobile und zerfallendem Beton versuchen, ihre karge Hirse vorm durchfegenden Wüstenwind zu schützen, sie haben diese Zukunft. Wir sind eifrig dabei, sie aus dem zu machen, was jetzt gerade eigentlich noch ganz angenehm ist.

    Verzeihung.

    Während ich diesen Brief schreibe, haben wir „Wahlkampf“, einen Ritus, in dem die Menschen HäuptlingsanwärterInnen huldigen; wer am meisten Huldigung erfährt, wird für die nächste Zeit Häuptling. Die verschiedenen AnwärterInnen buhlen mit bunten Papptafeln an unseren Wegen um die Gunst ihrer prospektiven oder auch gegenwärtigen Untertanen (letzteres hieße „Wiederwahl“).

    Dieser Ritus wäre, das muss ich dir als Zukunft wohl nicht erklären, eigentlich eine gute Gelegenheit, von weniger Arbeit und weniger Dreck zu reden, gerade vor dem Hintergrund unseres rasanten Schwungs in den Abgrund. Aber nein, stattdessen hängen die Straßen voll Unsinn, den du, liebe Zukunft, wohl längst vergessen hast:

    Wahlplakat "Deutschland kann es besser" auf blauem Grund, schwarzrotgelbe Silhouette, daneben "wieder nach vorne"

    Was ist das, wovon die reden, fragst du? Oh je. „Deutschland“ ist zu meiner Zeit ein „Land“, also ein Gebiet, das ein bestimmter Häuptling kontrolliert; wer auf diesem Gebiet wohnt, muss zumindest über ein paar Ecken diesem (selten auch mal dieser) Häuptling gehorchen.

    Es gibt auch viele andere Häuptlinge, die jeweils ihre eigenen Gebiete haben. Jeder Häuptling feuert seine Untertanen an, ihn „wieder nach vorne“ zu bringen, wie auf dem türkisen Plakat in der rechten oberen Ecke. Tatsächlich finden es viele Untertanen total toll, wenn ihr Häuptling im Wettbewerb mit den anderen Häuptlingen gut aussieht.

    Bei der Wahl, für die die Leute diese Plakate aufgehängt haben, ging es um den Häuptling von diesem „Deutschland“. In der Zeit, in der ich das schreibe, während es also eigentlich darum hätte gehen sollen, wie wir fein leben könnten, ohne alles (und obendrein uns) kaputt zu machen, ist der aktuelle Häuptling so aufgetreten:

    Ein Kopf mit wenig Haaren von einem schwarz-rot-gelben Hintergrund, darüber in weiß: "Mehr für dich. Besser für Deutschland"

    „Besser für Deutschland“ meint diesen Unsinn mit dem Häuptlingswettbewerb. Liebe Zukunft, du siehst, das war wirklich so ein Thema, wie ich das behauptet habe. Das „Mehr für dich“ soll bedeuten, dass die Leute mehr oder größer essen oder Auto (frage nicht, was das ist; du würdest es doch nicht glauben) fahren können, wenn sie diesen Häuptling wählen.

    Das ist auch das implizite und völlig leere Versprechen bei dem komischen Wort „Wirtschaftswachstum“ auf dieser Pappe:

    Wahlplakat "Hier ist mehr Wirtschaftswachstum drin" auf rotem Grund

    Tatsächlich setzen heute die Untertanen das „Wirtschaftswachstum“ und das „Mehr für dich“ mehr oder weniger gleich, obwohl es da empririsch überhaupt keinen Zusammenhang gibt. Es ist aber auch nicht einfach zu erklären, was es damit wirklich auf sich hat oder haben soll.

    Ich probiers trotzdem mal: Zu meiner Zeit organisieren wir die gesellschaftliche Arbeitsteilung über so eine Art Gutscheine auf die Arbeit anderer Leute. „Geld“ nennen wir das hier, und es ist enorm wichtig, weil auch wir ohne die Früchte der Arbeit anderer Menschen nicht überleben können, mensch aber derzeit fast nur über diese Gutscheine Zugang zu ihnen bekommt.

    Beim „Wirtschaftswachstum“ wiederum versuchen mehr oder minder kluge Menschen zu zählen, wie viele solche Gutscheine wohl alle zusammen ausgetauscht haben. Ja, klar, da ist viel Schätzung dabei, aber trotzdem: Wenn die Schätzung in einem Jahr unter der des Vorjahres liegt, ist das kurz vorm Weltuntergang. Liegt sie darüber, heißt es eben „Wirtschaftswachstum“. Dabei gilt mehr als besser, selbst wenn viele Menschen Gutscheine bekommen, weil sie schädlichen Quatsch machen wie z.B. diese „Autos“ zusammendengeln oder andere Leute mit buntem Leuchtquatsch belästigen.

    Die Gutscheine für die Arbeit anderer Leute bekommen heute die meisten Menschen durch etwas, das wir meist „Job” nennen und das eigentlich niemand leiden kann, außer Häuptlinge und die, die es gerne werden wollen. „Job“ meint so in etwa: die Leute arbeiten nicht aus Einsicht in die Notwendigkeit oder gar Freude am Zweck oder Tun, sondern um an Gutscheine ranzukommen. Dies bedenkend verwundert das folgende Plakat sehr:

    Plakat: Schwarzweißfoto eines ziemlich aufgedonnerten Mannes mit Schwarz auf Gelb: "Alles geben. Auch für deinen Job"

    Warum dieser Mann den Eindruck erwecken will, alles für diesen „Job“ „geben“ zu wollen, wenn er doch Häuptling werden will und fast alle, die ihm potenziell huldigen könnten, ihren „Job“ regelmäßig aus ziemlich guten Gründen hassen? Keine Ahnung.

    Vielleicht ist es, weil die meisten Menschen furchtbar Angst haben, diesen „Job” zu verlieren, weil sie dann ohne Gutscheine jämmerlich verenden müssten? Aber nein, liebe Zukunft, keine Sorge: Ganz so schlimm ist es nicht mehr in meiner Zeit. Zumindest hier, am Westrand des großen Nordkontinents, bekommen die Leute auch ohne Job ein paar Gutscheine und müssen nicht verhungern. Darüber haben sich übrigens etliche der Häuptlings-Bewerber verärgert gezeigt. Auf ihre Plakate hat das so deutlich allerdings niemand schreiben wollen. Oh, fast niemand. Ein Plakat hat schon einen schlimmen Subtext von „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen”:

    Weiß auf schwarz auf türkisem Hintergrund: "Fleiß muss sich wieder lohnen."

    Andere Häuptlingswahlvereine haben die komischen Gutscheine ausgerechnet in einen Zusammenhang mit dir, liebe Zukunft, gestellt, so etwa dieser hier:

    Plakat: "Holen wir uns die Zukunft zurück mit Lösungen für bezahlbares Leben" auf blauem Grund.

    „Bezahlbar“ heißt in etwa, dass du für deine Zeit im Schnitt Gutscheine für mehr Stunden von anderen Leuten bekommst als du selbst gearbeitet hast. Jaja, das ist irre kompliziert. Jaja, klar kannst du nicht allen Leuten gleichzeitig versprechen, dass ihre Zeit mehr wert ist als die der anderen; aber niemand erwartet in meiner Zeit, dass das, was auf den Wahlplakaten steht, schlüssig ist.

    Es war auch überhaupt nicht schlimm, wenn verschiedene Menschen, die jeweils Häuptling werden wollten, die gleichen Dinge versprachen. Zum Beispiel wirkt das hier:

    Plakat: "Leben: Bezahlbar machen. Ein Bündnis. Ein Wort" in weiß und gelb auf grünem Grund.

    nicht so viel anders als das hier:

    Plakat: "Wir sorgen für bezahlbare Mieten"

    Oha: Was dieses „Mieten”-Ding schon wieder ist? Nun, liebe Zukunft, das war, wenn du Menschen, die schon viele Arbeitsgutscheine hatten, noch mehr davon gegeben hast, damit sie dich nicht aus deiner Wohnung rauswerfen lassen. Klingt etwas wirr, war aber so; es hatte etwas damit zu tun, dass die Arbeitsgutscheine sich irgendwann ziemlich verselbstständigt haben. Es gibt hinter diesem „Immobilienwesen“ (so heißt das mit dem Aus-der-Wohnung werfen zu meiner Zeit) durchaus ein paar plausible Geschichten. Die sind allerdings zu lang für diesen Brief.

    Mieten und noch mehr das Entfliehen aus Drohung mit dem Rausschmiss waren jedoch, das ist wichtig für dich, ein ganz großer Grund für die Beton- und Asphaltorgien, wegen der du jetzt die großen Wüsten hast. Verzeihung. Vielleicht wissen wir doch nicht immer ganz genau, was wir eigentlich tun.

    Trotz dieser Orgien jedenfalls haben die Menschen wie gesagt große Sorge, dass sie irgendwann nicht genug Gutscheine haben würden und sie der Mensch mit den vielen Arbeitsgutscheinen („Vermieter“ heißen die in meiner Zeit) doch aus ihrer Wohnung werfen lassen würde. Nicht ganz zu unrecht: Solche Dinge passieren recht regelmäßig. Es gibt Menschen, die Arbeitsgutscheine erhalten dafür, dass sie andere Menschen aus ihren Wohnungen werfen. Kein Witz.

    Obsessiv ist die Sorge der Menschen, was passieren wird, wenn sie altern und dann keinen „Job“ mehr bekommen für die Gutscheine, die sie zum Beispiel für ihre „Miete“ brauchen. Um das etwas abzumildern, haben Leute, die sich „Sozialdemokraten“ nannten (die aber mit denen mit den roten Plakaten nicht mehr viel zu tun haben) schon vor über 150 Jahren etwas erkämpft, das wir „Rente“ nennen. Das ist so eine Art Gutscheinabo, das wir unseren Alten gönnen, auch wenn diese zu klapprig sind, um noch für irgendwen einen „Job“ machen zu können.

    Es gibt aber ein Wort, um die Menschen trotz „Rente“ in Sorge zu halten: „Lebensstandard“. Das ist ist auch zu widersinnig, um es dir, liebe Zukunft, in nicht zu vielen Worten erklären zu können. Aber es dürfte die geistige Landschaft sein, auf der Plakate wie dieses entstehen:

    Plakat: ein Frauenportrait mit dem Schriftzug "Unser Land verdient mehr Rente"

    Wo auf diesem Plakat auf einmal das „Land“ herkommt, willst du wissen, liebe Zukunft, wo doch die „Rente“ irgendwas für alte Menschen ist und nicht für die Sprengel der Häuptlinge? Ich weiß es auch nicht. Wie gesagt, eigentlich hat niemand erwartet, dass auf diesen Plakaten etwas tatsächlich Durchdachtes oder Überzeugendes zu lesen ist.

    Hier ist ein weiteres Wort, das du vergessen haben wirst: „Investition“:

    Plakat mit dem Portrait einer Frau vor einer Holzvertäfelung: Bildung ist die beste Investition in die Zukunft.

    Der Hintergrund: Ein paar Menschen haben Arbeitsgutscheine in großem Umfang gesammelt (sie heißen dann „reich“; jaja, das deckt sich recht weitgehend mit den „Vermietern“ von oben) und können sich gleich richtig viel Arbeit auf einmal kaufen.

    Das nutzen sie gelegentlich, um andere Menschen Sachen herstellen zu lassen, für die der_die Reiche mehr Gutscheine bekommen kann als er_sie den anderen Menschen gegeben hat. Das alles zusammengenommen heißt bei uns „Investition“. Den Gedanken, Gutscheine einzulösen, um mit der erhaltenen Arbeit mehr Gutscheine zurückzubekommen, finden die Menschen …

  • Rick würde heute Wattebäuschchen werfen

    Schwarzweiß-Screenshot: Humphrey Bogart schaut sardonisch und hat den Mund halb geöffnet.

    Humphrey Bogart in Casablanca: „Es gibt ein paar Teile von New York, die ich nicht erobern wollen würde, wenn ich Sie wäre“. Was das mit Wattebäuschchenwerfen zu tun hat? Lest weiter.

    Da die allwöchentliche Heidelberger Kundgebung gegen den zweiten Krimkrieg und vor allem die deutsche Beteiligung daran (Montag 18 Uhr am Theaterplatz) gerade Sommerpause macht, bietet sich ein kurzer Rückblick an auf einen Passanten, der uns „ja, wollt ihr den Putin mit Wattebäuschchen bewerfen?“ entgegenfauchte.

    Leider stand der Fauchende selbst nicht für weitere Erörterungen zur Verfügung, aber den Gedanken finde ich tatsächlich wertvoll: Die Wattebäuschchenwürfe wären zur Erhaltung von Frieden und zumindest rudimentärer persönlicher Selbstbestimmung („Freiheit“) in der Ukraine ganz bestimmt mindestens so wirksam wie die Stahlhelme und Haubitzen, die tatsächlich zum Einsatz kommen (und offensichtlich im Hinblick auf diese Ziele gar keinen Nutzen haben), aber sie würden entschieden weniger Schaden zwischen Kriegsdienstpflichten, Zermetzelten, kaputten Häusern, Zensur, Kriegsrecht, Minimalgruppenhass und Propaganda anrichten.

    Die kontrafaktische Gewissheit über die Wirksamkeit des Tötens

    Tatsächlich verblüfft mich immer wieder, wie der autoritären Versuchung erlegene Menschen entgegen aller Erfahrung und Logik ganz selbstverständlich voraussetzen, dass das Rumballern irgendwas hilft oder jedenfalls Schlimmeres verhindert. Für diese Prämisse gibt es jedoch nicht den Hauch eines Belegs.

    Als besonders deutliche Episode rufe ich auf, dass das Massaker von Srebrenica in unmittelbarer Nachbarschaft einer Kaserne der niederländischen Armee stattfand – und vermutlich ohne die militärische Spezialoperation aus dem aufgeklärten Westen auf „den Balkan“ zumindest so nicht passiert wäre, zumal es das improvisierte Lager von Srebrenica ohne diese in der Form schon gar nicht gegeben hätte. Und nein, auch die humanitäre Operation im Kosovo hat nicht etwa ein Massaker unterbrochen.

    Gänzlich kontrafaktisch werden diese Erzählungen, wenn es mit „Freiheit verteidigen“ weitergeht. „Freiheit“ ist, wenn dieses geschundene Wort überhaupt noch irgendwie mit sinnvollem Inhalt zu füllen ist, ein Attribut im Verhältnis zwischen Obrigkeit (sowie deren HandlangerInnen) und Untertanen. Als solches sind seine Belegungen weitgehend invariant gegen die konkrete Obrigkeit[1]; der ganz entscheidende Faktor hingegen ist, was sich die Untertanen bieten lassen[2].

    Militär verteidigt nie Freiheit(en)

    Im Antagonismus Obrigkeit-Untertanen nun ist das Mittel der nationalen „Verteidigung“, das Militär, aber im Wesentlichen immer[3] auf der Seite der Obrigkeit und mithin gewiss nicht auf der nachvollziehbarer Bedeutungen von „Freiheit“.

    „Freiheit verteidigen“ bedeutet demnach (jaja: im Wesentlichen) immer, Militär zu bekämpfen und nie, sich an die Seite irgendeines Militärs zu stellen. Diese Erkenntnis ist fast so fundamental wie ihre weise Schwester: „Wenn bei einer ethischen Erwägung rauskommt, dass du Leute töten sollst, dann hast du dich komplett verrannt.“

    Das Thema Unterwerfung und Eroberung wird sehr beeindruckend im wahrscheinlich großartigsten Propagandafilm aller Zeiten, Casablanca von 1942, aufgearbeitet. Die Situation: Rick, der als Nationalität „Säufer“ („drunkard“) angegeben hat, also (in dieser Phase des Films) allen möglichen Patriotismen abgeschworen hat, sitzt so etwa 1941 mit Major Strasser an einem Tisch. Strasser, ein Emissär der deutschen Wehrmacht, will Rick überzeugen, einem aus dem deutschen Machtbereich ins Niemandsland von Casablanca – weitgehend loyal zum französischen Marionettenregime in Vichy, aber halt auch nicht so ganz – entkommenen Antifaschisten nicht zur weiteren Flucht zu verhelfen. Er sondiert Ricks Loyalitäten und fragt diesen, ob Rick sich die Wehrmacht in Paris oder London vorstellen könnte. Rick gibt jeweils geistreiche und sehr unpatriotische Antworten.

    Ziel: Keine Lust, uns zu regieren

    Schließlich stellt Strasser die Königsfrage zu Ricks Heimatstadt im Versuch, ihn bei Resten von Patriotismus zu packen: „What about New York?“ Rick pariert mit dem wirklich brillianten Satz:

    There are certain sections of New York that I wouldn't advise you to try to invade.

    Ich finde, das ist ein ausgesprochen erstrebenswertes Ziel für eine Gesellschaft: So zu werden, dass wohlmeinende Menschen Obrigkeiten abraten, sie beherrschen zu wollen.

    Ich will dabei gerne zugestehen, dass Casablanca durchaus auch als Geschichte einer antifaschistischen, vielleicht gar patriotischen Läuterung von Rick gelesen werden kann – einer Läuterung übrigens, die interessanterweise im Namen sexuellen Begehrens beziehungsweise Entsagens erfolgt. Die Läuterung geht so weit, dass Rick Strasser am Schluss umpufft (selbstverständlich in Notwehr, aber das ist für diese Überlegung eher zweitranging).

    Ist diese Sorte Läuterung erstrebenswert? Nun ja, heute wissen wir einiges, das die Epstein-Zwillinge – die das Drehbuch für den Film geschrieben haben – damals noch nicht wissen konnten: Nazis (und anderen Obrigkeiten) massenhaft nicht gehorchen hat erheblich weniger unerwünschte Nebenwirkungen als Nazis umpuffen. Wichtiger noch: es wirkt besser.

    [1]Und selbstverständlich unabhängig von Nationalität oder „Ethnizität“ (was immer das nun schon wieder sein mag) des obrigkeitlichen Personals.
    [2]Ganz besonders wichtig in dem Zusammenhang: warum sind die Untertanen vielerorts eigentlich so gefügig? Womit wir beim Nationalismus als einem wesentlichen Ideologem wären, das Untertanen zum Mitspielen bei den imperialen Ambitionen ihrer jeweiligen Obrigkeit motiviert – und damit zum Verzicht auf so gut wie alles, was „Freiheit“ vernünftigerweise bedeuten könnte. Von Einsichten dieser Art ist es nicht mehr weit zur gerade in Olympiazeiten wertvollen Frage, wie und wann Menschen die Anwendung dieses Ideologems einüben. Aber das gehört hier nicht mal mehr in eine Fußnote.
    [3]In der deutschen Geschichte gab es im Wesentlichen einen Moment, in dem das anders war (die Novemberrevolution). Aber auch da fanden die Soldaten schnell wieder zurück in ihre gewohnte Rolle: die Obrigkeit gegen verschiedene Gruppierungen der Untertanen zu verteidigen (Beweisstück A, Beweisstück B, Beweisstück C, Beweisstück D).
  • Ella: Fast ein Jahr im Gefängnis

    Gerade an dem Tag, an dem in meinen Überlegungen zu Wahlen und Informationstheorie anmerkte, bedeutender als Wahlen sei für die politische Partizipation „eine Justiz, die es häufig genug doch noch schafft, diesen wenigstens dann und wann ein wenig Schutz vor den Übergriffen der Exekutive zu geben“, fand eine verteilte Uraufführung eines Films statt, der Zweifel am „häufig genug“ ziemlich nachhaltig vertieft.

    Es geht darin um den Fall von „Ella“ oder auch „UP1“ für „Unbekannte Person 1“, die seit der brutalen Räumung des Dannenröder Forsts im letzten November im Gefängnis sitzt. Der Fall folgt dem von den Rondenbarg-Prozessen allzu bekannten Muster, bei dem die Polizei lebensgefährliche Einsatzmethoden – im Dannenröder Forst insbesondere das Durchtrennen lebenswichtiger Seile – durch absurd aufgeblasene Vorwürfe gegen die Opfer dieser Einsätze in irgendeinem Sinne zu rechtfertigen versucht; in Ellas Fall kommt sicher noch einiger Zorn über ihre erfolgreiche Personalienverweigerung dazu.

    Einsatzszene

    Ein Sequenz vom Anfang des Ella-Films: Ein Polizist wirft einen Aktivisten von einem Baum runter. Die öffentliche Zurückhaltung angesichts erschreckend gewalttätiger Räumungstechniken im Wald (na gut, inzwischen: Autobahnbaustelle) ist jedenfalls im Hinblick auf künftige Möglichkeiten politischer Partizipation schon ziemlich beunruhigend.

    Die erste Gerichtsinstanz hat dabei mitgemacht, und nun soll sie noch weitere 16 Monate im Gefängnis schmoren. Ohne große Öffentlichkeit wird das wohl auch so kommen, denn ein Landgerichtsprozess geht normalerweise nicht im Eiltempo. Und dann hilft auch ein Freispruch nichts mehr.

    Sowohl im Hinblick auf Ellas Schicksal als auch auf die Diskussion indiskutabler Polizeitaktiken finde ich den Film also höchst verdienstvoll. Wer ihn verbreiten kann, möge das tun, z.B. von youtube; wer das Ding ohne google bekommen will, möge sich per Mail rühren, dann lege ich es auf von mir kontrollierten Webspace (ich spare mir die 800 MB in der Erwartung, dass eh alle zu youtube gehen).

    Nachtrag (2022-05-10)

    Meine Spekulation, es sei bei der ganzen Einsperrerei im Wesentlichen um Ellas Weigerung gegangen, ihre Personalien abzugeben, gewinnt an Substanz. Die Staatsgewalt lässt Ella jetzt, da sie ihre Identität preisgegeben hat, frei, wie die taz berichtet. Die Entscheidung wird den mitredenden Behörden leicht gefallen sein, denn sie werden alle nicht wild sein auf eine weitere Klärung der inzwischen offizell gewordenen Tatsache, dass „die Beamten die Unwahrheit gesagt hatten“ (so die taz sehr staatsfreundlich) und des offensichtlichen Desinteresses beider Gerichtsinstanzen, die Polizei beim Lügen zu erwischen. Zumindest die zweite Instanz kannte ja (vermutlich) den hier besprochenen Film.

  • Ein Jahr ohne Terry Jones

    Heute vor einem Jahr ist Terry Jones gestorben (habe ich auf sofo-hd erfahren). Allein für die Regie beim ewigen Klassiker Life of Brian gedenke ich seiner gerne. Wofür ich ja jetzt dieses Blog habe.

    Die 1a Blasphemie, die Alien-Szene, die scharfsichtige Darstellung OECD-kompatibler Pädagogik („So 'eunt' is...?“ mit einem Schwert am Hals) und die gekonnte Verarbeitung der abgedroschenen Klischees der Historienschiken rund um Ben Hur würde eigentlich schon für eine Aufnahme des Films in den Olymp großer Kunst reichen.

    Vor allem aber sollte der Film Pflichtlektüre linker Aktivist_innen sein. Wer nämlich lange genug in linken Grüppchen unterwegs war, wird in eigentlich jeder Szene Vertrautes erblicken, ohne das wir, glaube ich, alle schon ein ganzes Stück weiter wären. Der blinde Hass zwischen Judean People's Front und People's Front of Judea, das „this calls for... immediate discussion“ statt einfach mal vor die Tür zu gehen (und der folgende Paternalismus), der zumindest mal alberne Versuch, patriotische Gefühle für eine (vielleicht) fortschrittliche Idee einzuspannen („What have the Romans ever done for us?“), das gegenseitige Abmetzeln über Fragen, die sich vernünftige Menschen gar nicht stellen würden („we were here first“ unter Pilatus' Palast), sinnlose Opferbereitschaft aus einem Bedürfnis nach größtmöglicher Reinheit heraus („We are the Judean People's Front. Crack suicide squad.“ vor dem Massenselbstmord), die große (autoritäre) Versuchung, einer „Bewegung“ anzugehören („Yes, we are all different!“) und so fort: Fast alles, was es an Irrsinn gibt, der (glücklicherweise nicht nur) fortschrittliche Kämpfe lähmt, findet sich in diesem Film.

    Mein Tipp: Jeden Karfreitag mal reinschauen.

    Was ich bisher nicht wusste: Den Film gibts überhaupt nur, weil Ex-Beatle George Harrison eingesprungen ist, als die ursprüngliche Produktionsfirma nach dem Lesen des Skripts den Geldhahn zugedreht hatte (vgl. rational wiki, der noch ein paar weitere Geschichten dazu hat).

    Die Welt ist klein.

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