Tag Römer

  • Replikationskrise: Ärgermanagement mit Schredder und Mülleimer

    Eine unregelmäßig ausgebrochene Bleischeibe mit eigenartigen Zeichen drauf

    Dieses Gekrakel ist auf einem römischen Fluchtäfelchen zu sehen, das im Rheinischen Landesmuseum in Trier ausgestellt ist. Der volle Text (weiter unten auf der Tafel) ist in der Übersetzung des Museums: „Eurer Macht gemäß, Diana und Mars, ihr bindenden, sollt ihr mich von dem Hitzkopf erlösen. Den Eusebius bannt mit Folterkrallen fest, mich aber befreit!“

    Im Januar 2019 lief im Deutschlandfunk-Sendeplatz Wissenschaft im Brennpunkt die hörenswerte Sendung Signifikant oder nicht – Wenn Studien einem zweiten Blick nicht standhalten. Der Titel lässt es ahnen: es ging um die Replikationskrise, die dank Erbsenzählerei bei der Jobvergabe und Wettbewerbsverdichtung die moderne Wissenschaft prägt, und dabei offenbar ganz besonders die Psychologie. In dieser, so heißt es in der Sendung, gelingt es für allenfalls die Hälfte der publizierten Experimente, den behaupteten Effekt bei einer Wiederholung nachzuweisen.

    Als zentrale Take-Home-Nachricht aus der Sendung würde ich empfehlen: die Geschichte von den erfolgreichen Männern, die sich schon als Kind beherrschen konnten („Marshmallow-Test”), ist eine bürgerliche Legende.

    Ach, das ist wirklich so?

    Die Marshmallow-Geschichte illustriert ein Muster für (nicht nur psychologische) Arbeiten, die bei mir einen Replikationsalarm auslösen: Kram, der gut in bestehende Denkschemata passt, aber doch noch einen Hauch von „ach, das ist wirklich so?“ hat. 1a Material für Party-Smalltalk, wenn ihr wollt.

    Etwas aus dieser Kategorie kam in den Wissenschaftsmeldungen vom 8.4.2024 im Deutschlandfunk: Die Behauptung ist, dass mensch Ärger viel besser loswird, wenn mensch die Steine des Anstoßes nicht nur zu Papier bringt, sondern dieses Papier auch noch wahlweise wegwirft oder schreddert. Hm. Das Schreddern ist also wichtig… Ist das wirklich so?

    Die Illustration oben lässt ahnen, dass das Muster alles andere als neu ist. Die antiken Fluchtäfelchen folgten einem durchaus vergleichbaren Muster: Schreibe auf, was dich bedrückt, und werde es dann in mehr oder minder ritueller Art wieder los: „Vor allem in Nordafrika, Rom und den östlichen Provinzen pflegte man Flüche, die Bezüge zu Wagenrennen aufwiesen, im Circus oder in Amphitheatern zu platzieren, wobei besonders gefährliche Stellen wie die Wendepunkte bevorzugt wurden. Eine ganze Reihe von Fluchtäfelchen wurde im Trierer Amphitheater gefunden,“ schreibt aktuell die Wikipedia.

    Die moderne Fassung

    Der Artikel hinter dem DLF-Beitrag ist „Anger is eliminated with the disposal of a paper written because of provocation“, Scientific Reports 14, 7490 (2024) doi:10.1038/s41598-024-57916-z von Yuta Kanaya und Nobuyuki Kawai. Von der Anmutung her könnte es die Publikation von etwas wie Kanayas Abschlussarbeit an der Universität von Nagoya sein. Wenn das so ist, hätten Kawai oder spätestens die GutachterInnen, so finde ich, schon intervenieren können, denn an einigen Stellen wirkt der Artikel stilistisch unnötig unbeholfen.

    Eher schrullig fand ich ja bereits die Attributierung „by a philosopher in Imperium Romanum“ für ein Zitat zum Wert des Gleichmuts. Der leicht angestaubt wirkende Verweis auf Griechenundrömer[1] – und schon gar zu einem Thema, das von hier aus gesehen ein Markenzeichen ost- und südasiatischer Weltanschauungen ist – wird durch das gleichzeitige idiomatische Stolpern – wenn schon westliche Antike, hätte zumindest der Name „Seneca“ fallen müssen, und „in Imperium Romanum“ ist wenigstens in seiner Anmutung, das sei eine Art Land, stark ahistorisch – ins Komische gezogen.

    Der Eindruck einer aufgeregten Erstlingsarbeit verstärkt sich etwas später in der Einleitung, als Kanaya und Kawai das vorliegende Projekt mit „aber: DIE KINDER!“ als Teil der Weltrettung zu positionieren versuchen. Ich bin noch nicht mal sicher, ob Wutkontrolle überhaupt eine Rolle spielen kann und sollte bei der Eindämmung von Gewalt gegen und Traumatisierung von Kindern. Aber es ist offensichtlich, dass kein Schütteltrauma verhindert werden wird, weil sich genervte Eltern hinsetzen, „der Schreihals soll jetzt endlich aufhören“ auf einen Zettel schreiben und den dann wegwerfen.

    Jenseits von Stilfragen

    Stilfragen beiseite ist das Paper durchaus lesenswert, zumal der Versuchsaufbau sich immerhin bemüht, irgendwie mit dem Grundproblem psychologischer Studien umzugehen: Sie sind fast nie verblindbar, weil die Leute ja merken, wie sie behandelt werden und was sie tun. Kanaya und Kawai versuchen, das Problem durch Tarnung des eigentlichen Erkenntnisinteresses zu umgehen.

    Um die ProbandInnen (insgesamt gut 100, die meisten davon Studis) zu ärgern, haben sie eine ungerechte, ja beleidigende Beurteilung (für japanische Verhältnisse dürften ein paar der verwendeten Phrasen wie „wer hat diesen Idioten an die Uni gelassen?“ klingen) eines frisch verfassten Aufsatzes gewählt. Nach der Lektüre der Beurteilung durften die ProbandInnen ihre Kränkungen auf einen Zettel schreiben. Diesen mussten sie entweder aufheben oder wegwerfen bzw. schreddern.

    Bemerkenswert fand ich dabei die Genderstruktur der ProbandInnen, die aus der Auswertung ausgeschlossen wurden, weil sie das Experiment durchschaut hatten. Klar sind die Zahlen sehr klein, aber es zeigt sich im ersten Durchgang des Experiments ein überraschend starkes Gender-Signal: von den ProbandInnen waren 37% weiblich, von denen, die es durchschaut haben, 71%.

    Im zweiten, dem Schredder-Experiment (in dem allerdings auch eine andere Demographie rekrutiert worden ist), hat sich dann aber kein solches Signal gezeigt; dort sollen überhaupt nur zwei überrissen haben, worum es ging (na ja: haben sich dabei erwischen lassen). Nun: Dass „Frauen sind empathischer“ nicht replizierbar ist, hätte ich jetzt auch gehofft.

    Zurück zum eigentlichen Experiment: Ich erlaube mir, die mir etwas esoterisch erscheinenden Überlegungen zu „grounded separation“ und die sie adressierenden Details wegzuabstrahieren, und ich spare mir hier die an sich notwendige Überlegung, ob es überhaupt ein Maß für Ärger gibt, ganz zu schweigen davon, ob die Methode der Autoren, dieses zu bestimmen, das eigentlich tut[2].

    Stattdessen zeige ich gleich das zentrale Ergebnis des Papers in diesen beiden Graphen:

    Was mensch sehen soll: In allen Fällen werden relativ ausgeglichene Menschen („baseline“) erfolgreich geärgert („Provocation“) und kommen durch Aufschreiben ihrer Beschwernisse sowie ggf. der Entsorgung des Aufschriebs wieder runter; dabei funktionieren Schredder (volle Punkte rechts) und Papierkorb (volle Punkte links) gleich gut und an der durch die Fehlerbalken angedeuteten Signifikanzgrenze besser als Aufschreiben und Behalten.

    Ich habe offen gestanden Schwierigkeiten, die so eng überlappenden Kurvenverläufe bis zur Provokation zu glauben. Wenn die Fehlerbalken so groß sind wie gezeigt (und das glaube ich bei so Fragebogenmaßen gerne), ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass vier Punktepaare so eng beieinanderliegen. Mindestens ebenso erstaunlich ist, wie nahe die Post-Provocation-Punkte zwischen rechts und links beieinanderliegen, da bei der rechten Retention-Gruppe ein extra Plexiglasgestell ihnen ihre Beschwernisse recht aufdringlich in Erinnerung rief. Dieses Gestell alleine hätte mich schon zusätzlich zu allem anderen verärgert.

    Ich will damit nicht sagen, dass da die Autoren Daten absichtlich gegelättet oder frisiert haben. Es gibt eine Unzahl von Fallen, die so gute Übereinstimmungen vortäuschen können – wenn es einfach wäre, wäre es keine Wissenschaft. Ich sage nur, dass ich überhaupt nicht überrascht wäre, wenn sich dieses Ergebnis nicht replizieren ließe oder sich jedenfalls viele Details des Experiments als unwichtig erwiesen.

    Fragen zum Ärgern

    Aber wer weiß? Natürlich machen auch die Autoren quantitative Analysen, irgendeine ANOVA, und in dem Zahlenmeer finden sich dann trotz Bonferroni auch ein paar signifikante Ergebnisse.

    Ich habe ja unabhängig davon rein intuitiv wenig Zweifel, dass sowohl Verbalisieren von Bekümmernissen als auch Zeug kaputtmachen jeweils geeigneten Ärger mindern kann. Nur: Ist es eigentlich wichtig, dass es gerade der Zettel ist, den mensch weghaut? Hätte sich nicht der gleiche Effekt ergeben, wenn die ProbandInnen was ganz anderes kaputt gemacht hätten, vielleicht noch unterschieden nach denen, die etwas Charismatisches (einen Teddybären?) und etwas Widerliches (einen McKinsey-Bericht?) in den Schredder gepackt hätten? Hätten sie auch einfach Holz spalten können?

    Und dann gibts eine weitere gute Frage: Wenn Prüfungen und ihre Bewertungen für so viel Stunk sorgen: Sollten wir sie dann nicht einfach lassen, wo wir doch gerade gelernt haben, wie schlecht das für die Kinder ist? Oder vielleicht lieber erforschen, wie - wenn es doch vernünftige Gründe für sie geben sollte – wir die Prüfungen so gestalten, dass sie weniger zu Ärger als vielmehr zu Motivation führen?

    [1]Jaja, ich weiß schon, dass ich genau das in diesem Blogpost selbst mache. Wer mag, darf das als Selbstironie interpretieren, aber in Wahrheit habe ich halt einen Römerfimmel und habe das Fluchtäfelchen tatsächlich erst vorgestern fotografiert.
    [2]Die Autoren verwenden u.a. einen selbstgebastelten Fragebogen, auf dem ihre ProbandInnen jedem Begriff von (übersetzt) angry, bothered, annoyed, hostile, and irritated eine Zahl zwischen eins und sechs zuordnen, je nach dem, wie sie sich gerade fühlen; „anger experience composite“ nennen die Autoren ihr Maß, was sich für mich schon fast ein wenig nach Aktienindex anhört.
  • Zum Antikriegstag: Von Aretha Franklin zu antipatriotischen Gedanken

    Ein Gazebo mit einem Transparent dran: „Internationaler Antikriegstag 1. September 2001.  Wir bleiben dabei: Nein zum Krieg“, dahinter eine Fußgängerzonenszene.

    Als PazifistIn kommt mensch aus dem Told-you-so-Sagen gar nicht mehr raus: Kaum zwei Wochen nach der überschaubaren Heidelberger Kundgebung zum Antikriegstag 2001 – heute vor 22 Jahren – erklärten weltweit viele Herrschende den „Krieg gegen den Terror“. Ich denke, niemand wird bestreiten, dass die Welt jetzt viel besser wäre, wenn sie das gelassen hätten.

    Im Deutschlandfunk-Kalenderblatt vom 16. August 2023 erinnerte Andrea Klasen an den zehnten Todestag von Aretha Franklin. Im Beitrag heißt es:

    Aretha Franklins Weg zum Ruhm ist steinig. Sie wird im März 1942 in Memphis, Tennessee, geboren, hinein in ein Elternhaus voller Musik.

    Als Klasen gegen Ende sagte:

    Am sechzehnten August 2018 stirbt die Soul-Diva mit 76 Jahren in ihrer Heimatstadt Detroit.

    habe ich zuerst gedacht: „Holla, aber es hieß doch am Anfang, Franklin sei in Memphis geboren worden? Hat Klasen nicht aufgepasst?“

    Dann aber kam mir, dass der Text vielleicht eine fortschrittlichere Interpretation des ja wahrlich bestenfalls grenzwertigen Begriffs „Heimat“ anwenden wollte, namentlich weniger Blut und Boden, Eltern und Geburtsort, stattdessen mehr „Wo gefällt es dir eigentlich und wo wohnst du?“

    Das wäre ein sehr erheblicher Fortschritt gegenüber der Sorte von Heimat, die beispielsweise im Namen der (zum Glück stark sklerotischen) Verbände der „Heimatvertriebenen“ lauert. Die dort gewählte Interpretation führt(e) zum Glauben, der Geburtsort lege fest, wo allein auf der Welt ein Mensch glücklich werden könnte, weshalb er oder sie auch dringend Anspruch darauf hat, dort Grund besitzen zu können. Für die „Heimatvertriebenen“ kam dazu, dass die Leute, die seit den jeweiligen Befreiungen der diversen „Heimaten“ von der deutschen Herrschaft dort wohnten, ihnen, also den Rückkehrenden, gefälligst hätten weichen sollen.

    Tja: Leider habe ich Klasens Intention wohl überinterpretiert. Auf meine Frage nämlich, was Franklin wohl in die post-autoindustrielle Wüste Detroit gezogen haben könnte, antwortet die Wikipedia, dass bereits ihre Eltern dorthin gezogen waren, und zwar als es noch eine autoindustrielle Wüste war. So lässt sich aus dem Beitrag eher kein entspannteres Konzept von Heimat belegen.

    Aber natürlich auch nicht sein Gegenteil, zumal ein identitätsreduzierter Heimatbegriff keineswegs neu ist: „Ubi bene ibi patria“, meine Heimat ist, wo immer es mir gut geht, war schon im republikanischen Rom eine Parole gegen auch damals grassierendes Blu-Bo-Säbelrasseln. 1848 drehten Marx und Engels die heimatfeindliche Aufklärung etwas weiter, als sie im Kommunistischen Manifest schrieben: „Die Arbeiter haben kein Vaterland“.

    Nach weiteren 170 Jahren, in denen sich Menschen abgemetzelt haben, weil irgendwelche Grobiane ihnen erzählt haben, sie müssten irgendwelche Heimaten oder Vaterländer „verteidigen” (realistisch: in Schutt und Asche legen), möchte ich zum heutigen Antikriegstag eine Fusion vorschlagen. In Küchenlatein wäre das „ubi patria ibi stupor“, in zeitgenössischem Deutsch Vaterland ist für Deppen.

    Ich habe versucht, diesen entschlossenen FriedensdemonstrantInnen bei der Heidelberger Antikriegstag-Kundgebung 2023 meinen neuen Spruch nahezubringen:

    Ein gutes Dutzend Playmobil-Figuren mit Pace-Fahnen in den Händen.

    Ich hatte keinen Erfolg. Was sind eigentlich die aktuellen PISA-Ergebnisse für Latein? Bestimmt ganz schlimm!

  • Die Heilige Ursula, ein großes Gemetzel und das Musée de l'Œuvre Notre-Dame in Straßburg

    Als ich neulich mit meinem Museumspass in Straßburg war (zuvor: zum Musée Historique) habe ich mir auch im Musée de l'Œuvre Notre-Dame allerlei Sehenswertes rund um das Straßburger Münster zu Gemüte geführt. In Analogie zum Speyrer Domschatz und zur entsprechenden Einrichtung in Basel erlaube ich mir, das Haus für diesen Post „Münsterschatz“ zu nennen, weil ich zu faul bin, dem Œ eine angemessen beqeueme Tastenkombination zu geben.

    Ich will vorneweg den meist tatsächlich sinnvollen Technik-Einsatz in diesem Museum loben: VR-Brillen, die schwindelerregende Blicke in den Turm erlauben, AR-Tablets, die einen Eindruck von der ursprünglich bunten Erscheinung einiger Statuen geben, kleine 3D-Monitore mit Hologrammen rekonstruierter Kunstwerke und – ganz Messing und Glas – ein Teleskop mit Blick aufs echte Münster.

    Besser erzählen lassen sich aber andere Geschichten, so etwa die der heiligen Ursula und ihrer 11'000 „Jungfrauen“, die, so jedenfalls eine Fassung der Legende, beim Versuch, die auf Köln anstürmenden Hunnen zu befrieden im 4. Jahrhundert den Märtyrertod gefunden haben sollen. Im Münsterschatz sieht das in Mittelalter-typisch fragwürdiger Perspektive so aus:

    Bild in mittelalterlichem Stil: Männer tragen ziemlich steif liegende, jeweils mit einer Speer- oder Pfeilspitze durchbohrte Frauen weg.  Alle Frauen haben einen Heiligenschein.

    Natürlich ist die morbide Prämisse von massenhaftem Opfertod unerfreulich, und ich habe zumindest starke Zweifel, ob die Schlachtfelder im vierten (oder fünfzehnten) Jahrhundert tatsächlich nur oder auch nur wesentlich von Männern aufgeräumt wurden.

    Andererseits stellt das Bild eine theologische und keine historische Szene dar, und so ist vorliegend die Frage viel spannender, ob Heiligenscheine wirklich nach dem Tod weiterschimmern, ob diese also an den Körper oder nicht doch eher die „Seele“ – wir befinden uns ja tief in nichtmaterialistischem Terrain – gebunden sind. Wer dazu Lehrmeinungen kennt, möge sie einsenden.

    Der kommerzielle Wert eskalierender Opferzahlen

    In Wirklichkeit hat mich das Bild aber aus einem ganz anderen Grund hingerissen. Es hat mich nämlich daran erinnert, dass die auch nach Maßstäben von frommen Legenden exorbitante Märtyerinnenzahl bei der Ursulageschichte plausiblerweise einen profund materiellen Hintergrund hat.

    Jetzt gerade erklärt die Wikipedia dazu:

    Die Zahl 11.000 geht möglicherweise auf einen Lesefehler zurück. In den frühen Quellen ist gelegentlich von nur elf Jungfrauen die Rede. Deshalb wurde vermutet, dass die Angabe „XI.M.V.“ statt als „11 martyres virgines“ fälschlich als „11 milia virgines“ gelesen wurde. Allerdings berichtet Wandalbert von Prüm bereits 848 über Tausende (millia) von getöteten Heiligen.

    Ich möchte eine andere Version der Geschichte anbieten, die ich vor Jahren in einem längst vergessenen Köln-Reiseführer gelesen habe und die zu gut ist, um nicht erzählt zu werden, auch wenn sie aus Gründen bis dahin unzureichender wirtschaftlicher Erholung ziemlich klar nicht vor Wandalberts Berichten aus dem Jahr 848 stattgefunden haben kann – aber wer weiß schon, ob wir heute wirklich lesen, was Wandalbert geschrieben hat?

    Wichtig dabei ist, dass St. Ursula in Köln etwas außerhalb der römischen Stadt CCAA[1] liegt, deren Nordmauer sich weiter südlich etwa beim heutigen Dom befand. Gleich um die Ecke der Kirche verläuft die heutige Straße Eigelstein, die auf der Trasse der Römerstraße von der CCAA Richtung der Colonia Ulpia Traiana (also, Stadt-Land-Fluss-SpielerInnen aufgepasst: Xanten) verläuft. Menschen mit Römerfimmel mögen ahnen, was jetzt kommt, denn entlang ihrer Ausfallstraßen haben die Römer ihre Toten[2] begraben. Tatsächlich war der eponymische Eigelstein ein bis in die Neuzeit auffälliges römisches Monumentalgrab. Der Boden unter St. Ursula ist also voll von römischen Knochen.

    Soweit die Fakten. Die Geschichte des Reiseführers war nun, dass die Originallegende der Ursula elf Gefährtinnen mitgab – die Wikipedia erwähnt ja auch diese Möglichkeit. Irgendwann hätten dann geschäftstüchtige ReliquienherstellerInnen versucht, die Knochen der zwölf Frauen bei St. Ursula zu finden, was ihnen dank der römischen Bestattungspraktiken leicht gelang.

    Nachdem das Geschäft mit den mutmaßlichen Überresten der Heiligen gut ging, gruben die Leute weiter. Da die CCAA eine große Stadt war, hatte es auch viele Tote gegeben und mithin auch viel Leichenbrand oder – aus der vergleichsweise kurzen christlichen Zeit der CCAA, als die Brandbestattungen außer Mode kamen – auch komplette Skelette. So fanden sich in der Umgebung von St. Ursula zu viele Knochen für zwölf Menschen, so viele gar, dass es ein Jammer gewesen wäre, das Geschäft aufzugeben. Und so sorgten die ReliquienherstellerInnen kurzerhand dafür, dass die Zahl der Jungfrauen in der offiziellen Legende verzehnfacht wurde.

    Das Spiel der Expansion der Metzelerzählung wiederholte sich, während das Geschäft exponentiell wuchs, bis es irgendwem bei 11'000 heiligen Märtyrerinnen offenbar zu dumm wurde oder der Preis für Duodezreliquien unter die Profitabilitätsschwelle gefallen war. Am Schluss jedenfalls landeten wirklich absurde Mengen menschlicher Überreste in der „goldenen Kammer“ von St. Ursula, in der die Wände mit Schädeln und Knochen tapeziert sind:

    Aus allerlei verschiedenen wohl meist menschlichen Knochen gestaltete Muster an einer Wand; ein paar Kunstköpfe stehen auf einem Fries.

    Eine Wand der goldenen Kammer von St. Ursula in Köln; CC-BY-SA 3.0 Hans Peter Schäfer

    Zumindest als ich vor ein paar Jahren mal in Köln war, war die leicht gruselige Installation noch öffentlich zugänglich. Für Menschen, die sich gerne von der katholischen Kirche entfremden wollen, ist das ein lohnender Besuch. Ob hingegen die Geschichte vom Großmassaker wirklich einen ökonomischen Hintergrund hat: Wer weiß?

    Wo Wikipedia-AutorInnen fehlgehen

    Widersprechen möchte ich – auch wenn es weit vom Münsterschatz wegfürt – der Passage

    Eine weitere Grabung [nach noch mehr Reliquien von Ursula und ihrer Schar] wurde zwischen 1155 und 1164 durch die Deutzer Benediktiner im Auftrag von Erzbischof Arnold II. durchgeführt. Dabei fanden sich neben Frauen natürlich auch Männer und Kinder-Gebeine.

    aus dem aktuellen Wikipedia-Artikel zur heiligen Ursula. Ich würde noch zugestehen, dass Knochen von Kindern mit den Mitteln des zwölften Jahrhunderts von denen Erwachsener unterscheidbar waren. Eine Geschlechtsbestimmung hingegen war aussichtslos. Die klappt notorisch nicht mal mit Methoden modernerer Archäologie, wie sich regelmäßig zeigt, wenn irgendwo genetische Analysen einziehen – und selbst dann bleibt es schwierig, wie etwa die Debatte um den_die „Krieger(in) von Birka“ zeigt (vgl. z.B. doi:10.1002/ajpa.23308).

    Es bleibt, aus einem Beitrag über ein spanisches Kupferzeit-Grab in DLF-Forschung aktuell vom 7. Juli diesen Jahres zu zitieren, in dem Christiane Westerhaus lapidar feststellt:

    Zu oft projizierten Forscher ihr eigenes Rollenbild auf die Wissenschaft.

    Da das für mittelalterliche Benediktinermönche sicher nochmal verschärft gilt, wäre ich versucht, die Stelle in der Wikipedia zu

    Etliche der dabei auftauchenden Knochen klassifizierten die Mönche auch als die Überreste von Männern.

    zu korrigieren. Mal sehen, ob ich dieses Fass aufmachen möchte.

    Hunde am Münster

    Der Straßburger Münsterschatz hat nicht nur meine Erinnerung an die wilde Ursula-Geschichte aus Köln aufgefrischt, sondern auch den etwas piefigen Goethe- bzw. Dumont-Claim „Man sieht nur, was man weiß“ dick unterstrichen. Ich war nämlich ziemlich überrascht, als im Museum immer wieder Hunde-Plastiken zu sehen waren, darunter einige, denen ich durchaus ein gewisses Viralitätspotenzial zusprechen würde:

    Eine Sandsteinfigur eines Hundes mit Schlappohren und extrem großen Augen.

    Der Begleittext erläutert, dass diese Figuren viele der zahlreichen Dachspitzen des in glorioser Zuckerbäckergotik erbauten Münsters zieren. Das war mir nie vorher aufgefallen, auch nicht, als ich vor Jahren mal hochgestiegen bin.

    Als ich aber wieder vor der Tür des Münsterschatzes und mithin vor dem Münster selbst stand, fiel mir sofort das hier ins Auge:

    Eine Sandsteinfigur eines Hundes auf einer Turmspitze vor dem Hintergrund einer gotischen Fassade.

    – und gleich danach bemerkte ich viele weitere Hunde oder hundeartige Wesen auf allen möglichen Spitzen. Wo sie mir mal aufgefallen waren, konnte ich nicht mehr verstehen, wie mir diese Merkwürdigkeit vorher hatte entgehen können. Gruselige Wasserspeier, klar, das ist ja praktisch die Definition von Gotik – wer guckt da noch hin? Aber Hunde auf allen Türmen? Wer hat sich das ausgedacht? Und warum?

    Was nicht mehr im Münsterschatz ist

    Gerade im Vergleich mit dem Domschatz in Speyer fällt auf, dass im Straßburger Münsterschatz praktisch nichts Goldenes ausgestellt wird. Es gibt demgegenüber haufenweise Steine, ein wenig Plunder aus verarbeitetem Elfenbein und noch ein paar Objekte, bei denen sich viele wünschen werden, sie hätten sie nicht gesehen. Ich führe mal dieses, nun, „Objekt“ aus dem Besitz eines der Fürstbischöfe als Beispiel an:

    Eine Plastik eines silberfarbenen Stiefels mit einer Spore und einem relativ hohen Absatz

    Der Grund für die Abwesenheit allzu prunkvoller Albernheiten ist einfach: in Straßburg hatten die Leute 1789ff eine zünftige Revolution – ich hatte dazu ja neulich schon philosophiert. Bei der Gelegenheit haben die dritten und vierten Stände dem fürstbischoflichen Hof einen Besuch abgestattet und den Kram, der wertvoll oder nützlich erschien, rausgetragen und vergesellschaftet.

    Besonders beeindruckend fand ich, dass sie die Bücher aus dem Palais Rohan, dem Amtssitz des Fürstbischofs, in die bürgerliche Stadtbücherei integriert haben. Schade allein, dass sie dort verbrannt sind, wenn ich mich recht entsinne, aufgrund des Wütens der deutschen Truppen von 1870 (auch dazu vgl. neulich) – aber das ist den RevolutionärInnen nun wirklich nicht vorzuwerfen.

    Wer mehr über diese Geschichte wissen will, sollte ins Straßburger Kunstgewerbemuseum (Musée des Arts décoratifs) gehen, in dem der Raum der damals sozialisierten Bibliothek heute (für 7.50 oder halt einen Museumspass) zugänglich ist Vielleicht habe ich dazu demnächst noch etwas mehr zu sagen.

    [1]Also Colonia Claudia Ara Agrippinensium, der volle Name des antiken Kölns. Der war schon deren Bewohnern zu lang, weshalb die Abkürzung CCAA tatsächlich auf etlichen Weihesteinen und Bauinschriften überliefert ist.
    [2]Respektive das, was von ihnen, also den Toten, nach der in heidnischen Zeiten obligatorischen Brandbestattung übrig geblieben ist.
  • Römer vs. Postmoderne in Schriesheim: 0:1

    In der dritten Auflage des Standardwerks „Die Römer in Baden-Württemberg“ (Stuttgart und Aalen: Konrad Theiss, 1986) ist zum kurpfälzischen Städtchen Schriesheim zu lesen:

    Der 1971 [ins Kellergeschoß des Rathauses] übertragene Keller (4,04 x 4,06 m) zeigt quadratischen Grundriß. Da er einst unter einer Hausecke saß, besitzt er an zwei Wänden Schrägen für die Kellerfenster. Rechts des Einganges und an der gegenüberliegenden Wand je zwei Nischen mit Rundbögen. Die drei Mauerschlitze links vom Eingang dienten vermutlich zum Einsetzen eines Holzgestells. Als Baumaterial wurden Quader (H ca. 0,12 m) aus bräunlichem Granit verwendet, deren ausgezogene Fugen im Kalkmörtelbereich Reste roter Ausmalung zeigen. Das Mauerwerk (H noch 1,70 m) ist zT in Buntsandstein ergänzt. Der mitten im Raum stehende runde Steintisch wurde rekonstruiert.

    Der beschriebene Keller eines römischen Gutshofs ist beim Bau eines Einfamilienhauses (zugegeben: das könnte eine tendeziöse Ausschmückung sein, denn ich weiß nicht wirklich, was da gebaut wurde) aufgetaucht und konnte an der Fundstelle vermutlich nicht wieder verbuddelt oder zugänglich gemacht werden. Dank des Einbaus ins Rathaus jedoch kann mensch nun angesichts der römischen Steine ein wenig den Hauch der Geschichte spüren, wann immer das Rathaus offen ist (also: verglichen mit einem typischen Heimatmuseum sehr oft).

    Insgesamt fand ich das eine recht gute Nutzung des, hust, historischen Erbes des Städtchens. Allerdings birgt die Einbettung in eine laufende Stadtverwaltung auch Risiken. Derzeit nämlich findet der Schriesheimer Römerkeller einige Zweit- und Drittnutzung:

    Foto eines schwach beleuchteten Kellers mit Mauerstrich, in dem allerlei Pappen, eine Zimmerpflanze und anderer Kram lagern.

    Vielleicht kann jemand der Stadt Schriesheim alternative Lagerflächen anbieten?

    Nachtrag (2023-12-04)

    Der Keller ist übrigens schon archäologiegeschichtlich nicht irrelevant. Im Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museum ist eine Seite des 1770 erschienen Buches De Sepulcro Romano prope Schrishemium reperto von Johann Daniel Schöpflin gezeigt; gelobt wird vor allem die bahnbrechend sorgfältige Dokumentation, und wer mal im Keller in Schriesheim war, wird das sofort wiedererkennen:

    Ausschnitt eines aufgeschlagenen, etwas altertümlichen Buchs, Latein in Antiqua gesetzt.  Dazu eine Grabungsskizze mit einem also „Columbarium“ bezeichneten Raum mit einigen Nischen.
  • Gallische Dörfer, römische Klappmesser: Das Landesmuseum in Bonn

    Ich war seit gestern in anderer Sache in Bonn, hatte dabei aber Zeit für einen mittel-langen Blick in das „LVR LandesMuseum Bonn“. Das wollte ich gerne, denn erstens wusste ich, dass dort die Überreste des originalen Neandertalers liegen, und zweitens bin ich im Rahmen meines Römerfimmels schon einige Male auf „Original im LVR LandesMuseum Bonn“ (oder diverse Varianten der flamboyanten Schreibweise[1]) gestolpert.

    Tatsächlich habe ich von den Exponaten, die im Wikipedia-Artikel zum Museum erwähnt sind, nicht viel gesehen, denn die Leute bauen gerade eifrig um. Dafür bin ich aber auch umsonst reingekommen, und zumindest der Ur-Neandertaler war am Platz – die gefundenen Knochen ebenso wie eine rekonstruierte Figur.

    Letztere hatte nichts mehr von den gebeugten, haarigen Kreaturen, die noch vor wenigen Jahrzehnten das Neadertaler-Bild prägten. Der Steinzeitspeer in der Hand musste jedoch offenbar noch sein, obwohl doch Verbandszeug viel besser zur Befundlage passen würde. Der Ur-Neandertaler hatte nämlich ausweislich der nachgebliebenen Knochen 20 Jahre vor seinem Tod eine ziemlich schwere Armverletzung, und dass er danach so lange überlebt hat, wird als eindeutiger Beleg für Krankenversorgung und Fürsorge unter NeandertalerInnen gewertet.

    Eher noch beeindruckender fand ich aber die keltische Abteilung des Museums, in der Folgendes ausgestellt ist:

    Diorama eines Dorfes mit ca. 200 Fachwerkhäusern, einigen Gärten und Weiden sowie einer Umfriedung drumrum.

    Das ist nicht etwa ein Diorama des gallischen Dorfes von Asterix und Obelix. Nein, es ist ein Diorama, das die archäologischen Erkentnisse zum gallischen Dorf von Niederzier-Hambach reflektiert. Genauer war dort eine eburonische[2] Siedlung, die (vermutlich) im Rahmen der caesar'schen Angriffskriege im östlichen Gallien 54 bis 51 vdcE[3] aufgegeben wurde.

    Weil sie so prima in unsere Zeit passt, lasst mich kurz ein Destillat dieser Geschichte im Geiste meiner Betrachtungen zu Chios erzählen: Um 57 vdcE ließen die eburonischen Herrscher ihre Untertanen mit Caesars Truppen Belger abmetzeln. Doch schon zwei Jahre später empfanden sie das römische Winterlager irgendwo in der Nähe ihrer Hauptstadt („Atuatuca“; kein Mensch weiß heute mehr, wo das überhaupt war) als unerträgliche Kränkung nationaler Gefühle. Sie brachten also die Römer irgendwie dazu, aus ihrem Kastell auszurücken. Als sie das geschafft hatten, ließen sie ihr Militär angreifen, das, so Caesar, 10'000 römische Soldaten umbrachte.

    Die, ach ja, „Offensive“ erwies sich mittelfristig als unklug, denn Caesar konnte sowas nicht auf sich sitzen lassen. Er selbst bezichtigt sich im de bello gallico des, ach ja, „Genozids“. In den aktuellen Worten der Wikipedia:

    Die Einwohner wurden niedergemetzelt, die Gehöfte eingeäschert, das Vieh weggetrieben. König Catuvolcus starb durch Suizid (53 v. Chr.), König Ambiorix konnte mit knapper Not über den Rhein zu den Germanen entkommen. Über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt. Archäologisch lässt sich für die Zeit um 50 v. Chr. in eburonischen Siedlungen tatsächlich oftmals ein Siedlungsabbruch erkennen.

    Auch in der Darstellung im Landesmuseum werden Zweifel geäußert, ob nun die Römer die EburonInnen wirklich alle abgemurkst haben; der gute Zustand der Reste von Niederzier-Hambach und auch das Fehlen eines Brandhorizonts lassen vermuten, dass hinreichend viele EburonInnen klug genug waren, sich auf keine weiteren Kriegshandlungen einzulassen und schlicht davongerannt sind. Etwas in dieser Art schlägt auch der Bericht von Strabo vor, der so um die christliche Epoche herum von den Eburonen wieder als Verbündete Roms spricht. Dennoch: Bioarchäologisch ist nachweisbar, dass nach den römischen Feldzügen der Wald das eburonische Land zurückgewann. Oh Grusel.

    Wo gerade die Rede von Ambiorix war: Nicht nur die gallischen Dörfer sehen offenbar so aus wie halt gallische Dörfer, also die bei Uderzo und Goscinny. Die Leute scheinen auch so zu heißen. Ambiorix, Vercingetorix, Verleihnix. Im Landesmuseum gab es dazu eine These, die ich, so glaube ich, zuvor noch nicht gehört habe. Und zwar sei die Namensendung -rix eigentlich ein -rigs, was wiederum mit dem lateinischen Rex, König zu vergleichen sei. Ambiorix sei dann also „König der Ambiorer“, Asterix vielleicht „König der Sterne“. Obelix… oh, nee, ich mache jetzt keine Witze über mögliche Sprachfehler.

    Nach dieser Deutung kämen die zahlreichen auf -rix endenden Namen in der Überlieferung einfach daher, dass die klassische Geschichtswissenschaft im Wesentlichen von Königen und ihren Untergrobianen redet. Mir hingegen ist viel sympathischer der relativ neue Trend (ich linke dazu auf Arno Borst, 1925-2007) der Archäologie, das wirkliche Leben zu betrachten. Dabei können so (mich) verblüffende Ergebnisse herauskommen wie: Die Römer hatten Klappmesser. Nehmt etwa dieses her:

    Foto einer rostigen, gekrümmten Messerklinge, die in eine grob menschenähnliche Hülle geklappt werden konnte

    Das ist ein Fund aus dem Grab der „Schönen von Zülpich“, und die MuseumskuratorInnen wundern sich ein wenig, was wohl so ein Taschenmesser in einem Frauengrab macht. Ein wenig sexistisch fand ich das schon, in jeder Richtung; denn soweit ich das sehe – die Römer haben ihre Toten ja bis zur christlichen Machtübernahme durchweg verbrannt, so dass es kaum DNA-Evidenz geben wird –, wird die These des Frauengrabes im Wesentlichen nur durch Beigaben von Spiegel, Kamm und Cremes gestützt, die zumindest ausgehend vom modernen Befund durchaus auch von Männern genutzt werden.

    Und selbst wenn die Tote weiblich war, sind Taschenmesser wirklich recht unabhängig von Geschlechtszuschreibungen nützlich; stellt euch alleine mal vor, wie lausig die kaum gezüchteten Orangen der römischen Zeit zu schälen gewesen sein werden[4]. Nur, weil unser Patriarchat Frauen Klappmesser lieber vorenthält (schon dadurch, dass Frauenkleidung wenigstens vor dem Zeitalter großer Telefone meist keine messergeeigneten Taschen hatte), heißt das ja noch nicht, dass das römische Patriarchat das auch so gehalten hat.

    Jedenfalls: Dann und wann bin auch ich noch überrascht über den Stand der Technik in den römischen Provinzen. Das gilt vielleicht noch mehr für den Klappstuhl der „Priesterin von Borschemich“:

    Foto zweier Exponate: links ein Haufen rostiger Streben, links ein modern anmutender Klappstuhl.

    Das rostige Zeug links ist in einem Grab einer Anhängerin, vielleicht sogar einer Priesterin, einer der zahlreichen orientaloiden Kulte des kaiserzeitlichen Roms gefunden worden, und die Museumsleute haben mich davon überzeugt, dass das schicke Teil rechts eine zuverlässige Rekonstruktion des Originalzustands ist; wer vor Ort ist und das rostige Zeug genauer ansieht, dürfte, so erwarte ich, diese Einschätzung schließlich teilen.

    TIL: Die Römer hatten Campingmöbel. Vielleicht haben sie die zu kultischen Zwecken eingesetzt, aber vielleicht ist das bei uns auch nicht so viel anders.

    Zum Schluss muss ich etwas besorgte Kritik loswerden, und zwar an diesem Ausschnitt aus dem „Stammbusch“ des Menschen, der in der Nähe des Neandertalers zu finden ist:

    Foto eines Graphen mit dicken und dünnen Strichen zwischen menschlichen Schädeln: Ein dicker Strich verbindet Neandertaler und Homo sapiens sapiens, ein viel dünnerer Homo sapiens und Homo sapiens sapiens.

    Zunächst ist das schon ein wenig moderner als die Anno-Darwin-Anthropologie, denn die verschiedenen Homo-Arten mischen sich in diesem Bild zum modernen Menschen (der durchgezogene senkrechte Strich ganz rechts), und der Neandertaler steht nicht mehr als tumber, unterlegener, rausdarwinierter, toter Ast da. Das ist schön.

    Zumindest in eine möglicherweise nicht so schöne Ecke geht das allerdings im breiteren Kontext. Auf der grauen, oberen Fläche steht nämlich außerhalb des gewählten Ausschnitts „Europa“, auf der unteren, blasstürkisen „Afrika“. Und so könnten Menschen das als Teilrevision der in konservativen Kreisen immer noch gerne als kränkend empfundenen Out of Africa-Theorie ansehen. Jaja, so könnte mensch hier lesen, Homo sapiens ist schon in Afrika entstanden, aber zum ordentlichen Homo sapiens sapiens ist er erst geworden, als er es nach Europa geschafft hat und dort dem hellhäutigen Neandertaler zum letzten Schliff verholfen hat. Wenn das die Intention dieser Grafik sein sollte, würde ich erstmal (also: bis irgendwer sehr starke Belege bringt, dass die Homo sapiens, die seinerzeit aus Afrika ausgerückt sind, nicht schon fertige moderne Menschen waren) sagen: Nicht so schön.

    Die beeindruckende Animation der Ausbreitung der verschiedenen Homo- und Australopithecus-Arten während der vergangnen paar Millionen Jahre, die rechts von diesem Stammgebüsch an der Rückwand der Neandertaler-Halle läuft, gibt das dicke Linie-dünne Linie-Verhältnis in dieser Darstellung ebenfalls überhaupt nicht her. Dort ist pures Out of Africa zu sehen. Tatsächlich besiedeln (erobern?) in deren Darstellung moderne Menschen West-, Süd- und Ostasien, lange bevor sie sich ins kalte Europa wagen.

    Dennoch: das Landesmuesum in Bonn kann ich warm empfehlen, auch während der Umbauarbeiten. Ob mensch danach noch ohne Geld zumindest in die Dauerausstellung kommt: Das hätte ich wohl erfragen sollen. Habe ich aber nicht gemacht.

    [1]Ich will offen sein: ich könnte auf CamelCase und technokratisch-verbrandendes „LVR“ gut verzichten. Eigentlich hätte der originale Name, „Museum Rheinisch-Westfälischer Altertümer”, meine Stimme.
    [2]Caesar hat die Eburoner eingestandenermaßen als cisrheinische Germanen statt als Gallier bezeichnet, aber zu der Zeit waren Germanen ja auch gerade erst frisch erfunden, und es spricht extrem viel dafür, dass das schon eher so Asterix-Leute waren, angefangen beim Namen des einen ihrer Chefs. Nein, nicht Majestix, aber doch Ambiorix.
    [3]Vgl. diese Fußnote
    [4]Jaja, Orangen, die mensch schälen wollte, gelangten wohl erst über 1000 Jahre nach dem Tod der Schönen von Zülpich ins (dann ehemalige) Imperium Romanum. Aber vielleicht wollte sie ja Holzäpfel schälen, wenn die arme Seele schon keine Orangen hatte?
  • Machen Straßen auch nach 2000 Jahren noch Dreck?

    Foto: Straße mit braunem Tourismus-Hinweis: Limes

    Zumindest die Kolonnenwege am Limes sind heute meist grüne Wiese (oder Maisfeld oder Wald). Aber wie ist es mit Spuren größerer Römerstraßen?

    Neulich habe ich die DLF-Wissenschaftsmeldungen vom 23.11. gehört. Ab Minute 2:30 ging es römisch zu:

    Römerstraßen prägen noch immer den Wohlstand in Europa [...] Die anhand von Lichtspuren erkennbare heutige Verteilung von Siedlungen, Populationsdichte und Wirtschaftsleistung in Europa folgt noch immer den gleichen Mustern [wie das römische Straßennetz].

    Ich will nun gar nicht darüber schimpfen, dass ausgerechnet Licht- und damit Umweltverschmutzung als Maß für „Wohlstand“ (im Original etwas zweideutiger „prosperity“) genommen wird. Nein, meine spontane Reaktion war: „Boah, was für ein Wiwi[1]-Bullshit. Natürlich sind die römischen Straßen da, wo die damals ihre Städte gebaut haben, und natürlich haben sie ihre Städte im Groben da gebaut, wo wir das immer noch tun: dort, wo Schiffe gut hinkommen, wo das Wetter nicht zu garstig ist, wo nicht zu viele Berge sind, wo der Boden Ertrag bringt.”

    Damalige und heutige Produktions- und Bevölkerungsdichte werden also in jedem Fall stark korreliert sein, und das nicht, weil das eine das andere bedingen würde – immerhin trennt ein recht weitgehender und mithin kausal entkoppelnder Zusammenbruch[2] die beiden Sorten von Metriken –, sondern weil sie beide von ungefähr gleichen zugrundeliegenden Variablen wie „Verkehrsgunst“ oder meinetwegen „ökonomisches Potenzial des Bodens“ abhängen.

    Aber ich habe erstens einen Römerfimmel und will mich zweitens nicht unverdient des Natwi-Chauvinismus zeihen lassen. Deshalb habe ich das Paper herausgesucht. Es handelt sich um „Roman roads to prosperity: Persistence and non-persistence of public infrastructure“ von Carl-Johan Dalgaard und KollegInnen, erschienen leider bei Elsevier im Journal of Comparative Economics. Ich linke da nicht gerne drauf, zumal es nicht open access ist und selbst Leute mit Zugang derzeit durch ein dämliches Javascript-Fegefeuer müssen, um ein ordentliches PDF zu bekommen. Aber es hilft alles nichts: doi:10.1016/j.jce.2022.05.003.

    Korrelation oder Kausation?

    Die dänischen WirtschaftswissenschaftlerInnen – es hat offenbar niemand mit akademisch verbürgten Antike-Hintergrund mitgeschrieben – um Dalgaard prüfen in der Tat die Hypothese, dass sich Investitionen in die öffentliche Infrastruktur (also, ähh: Straßen) noch nach 2000 Jahren lohnen können, und die DLF-Zusammenfassung kommt auch insoweit hin, als sie diese Hypothese für den europäischen Teil des römischen Reichs bejahen.

    Natürlich war Dalgaard et al der Einwand der gemeinsamen Ursache der Korrelation durchaus bewusst, und so bieten sie bereits in der Einleitung an:

    Roman road construction did not follow the rules of infrastructure planning in the contemporary era. The Roman roads were built mainly with a military purpose in mind, and geographic obstacles in the landscape were often surmounted rather than evaded.

    Zum Beleg führen die AutorInnen den Prototyp der römischen Straße an, die Via Appia, die ohne viel Federlesens schnurgerade quer durch die Pontischen Sümpfe gelegt wurde. Aber schon ein schneller Blick auf die Abbildung A1 aus den Anhängen des Artikels stellt klar, dass die römischen PlanerInnen ihre Straßen sehr wohl den geographischen Gegebenheiten angepasst haben:

    Eine Landkarte des nördlichen Mittelitaliens, in die einige römische Straßen eingezeichnet sind; sie vermeiden ersichtlich bergige Gegenden.

    Straßen durch den Apennin gibt es, wenn überhaupt, nur in den Tälern, und wo niemand wohnt, ist auch keine Straße; ansonsten verbinden die Straßen halt Städte auf relativ direktem Weg und umgehen Unwegsamkeiten, wenn das ohne allzu große Umwege geht. Rechte: Dalgaard et al

    Richtig ist allerdings, dass die Römer durchaus auch größere Konstruktionen in Angriff genommen haben, wenn sie dadurch Strecke einsparen konnten. Schöne Beispiele dafür finden sich im Wikipedia-Artikel zur Via Claudia Augusta. Nebenbei zur Frage der Kontinuitäten: So sieht die Via Claudia Augusta heute bei Franzensfeste/Fortezza – wo das Tal übrigens so eng ist, dass es gar nicht so arg viele Alternativtrassen gibt – aus:

    Eine in den Felsen gegrabene Karrenspur, stark zugewachsen.

    Die Via Claudia Augusta belegt anonsten aber, dass römische Straßen den gleichen natürlichen Gegebenheiten unterworfen waren wie unsere heutigen Straßen auch. Damals wie heute sind Reschenpass und Fernpass halbwegs attraktiv, damals wie heute ging die Autobahn (oder damals halt die Via Raetia) schließlich über den bequemeren Brennerpass.

    Wer sich ein Bild zur Korrelation über die parallele Auswahl der Siedlungsräume machen will, möge eine Karte des obergermanischen Limes betrachten (zum Beispiel in den tollen Limes-Heften der Deutschen Limeskommission). Dort sind ein paar eigenartige Ausbuchungen zu sehen, insbesondere fürs Neuwieder Becken, für das die Provinzverwaltung den Limes extra noch ein Stück nach Norden gezogen hat, und die Wetterau, die insgesamt hübsch vom Limes eingeschlossen wird. Natürlich werden römische wie unsere Straßen mit solchen Gebieten korrelieren.[3]

    Oder ist da doch noch was?

    Damit könnte das Thema eigentlich erledigt sein, aber Dalgaard et al vermuten – so lege ich ihnen das mal in den Mund –, dass es da noch ein Extrasignal geben könnte, dass also der damalige Straßenbau heutige Umweltverschmutzung (in ihren Worten: wirtschaftliche Entwicklung) verursachen würde, die es bei sonst gleicher Geographie ohne den Straßenbau nicht gegeben hätte.

    Das Problem: wie findet mensch so einen Extra-Effekt? Die grundsätzliche Technik ist, in Analysen „für Confounder zu kontrollieren“, also im Groben zu versuchen, die (hier) störenden Einflüsse durch analoge Motivationen zum Straßenbau zu schätzen und dann herauszurechnen. Das ist tatsächlich kein völliger Hokuspokus, auch wenn es oft eine Familienpackung Modellierung und Annahmen braucht. Die englische Wikipedia deutet in controlling for a variable an, wie das gehen kann; wo sowas in der deutschen Wikipedia steht, weiß ich offen gestanden nicht.

    Die Achillesferse des Kontrollierens ist das Modell, was denn wohl (in diesem Fall) die möglichen gemeinsamen Einflüsse sein könnten. Dalgaard et al bieten dazu die Seehöhe an – auf den Bergen ist es kälter und unwirtlicher; etwas, das sie „Caloric Suitability“[4] nennen und das Boden, Wetter und Feuchtigkeit zusammenfasst zu einem Maß, wie viel Essen mensch aus dem Boden rausholen kann, getrennt nach vor-Kartoffel und nach-Kartoffel, so dass für die römische Zeit andere Kriterien gelten als für unsere; „agricultural suitability“, was so ähnlich funktioniert, aber andere AutorInnen hat; den Abstand zum nächsten größeren Fluss; den Abstand zum Meer; und antike Minen.

    Obendrauf meinen sie, moderne Systematiken rausrechnen zu müssen, vor allem den Einfluss von Sprache und Land auf die Wirtschaftsleistung, aber dann auch völlige Albernheiten wie die Entfernung zu Wittenberg als Proxy für Neigung zu Protestantismus – als sei dieser eine sich langsam ausbreitende Infektionskrankheit, die einfach noch nicht genug Zeit hatte, um sich, sagen wir, in Italien durchzusetzen – und inspiriert von Max Webers Theorie vom Protestantismus als Basisideologie des Kapitalismus. Wer schmunzeln will: die Arbeit sieht schwach signifikant, dass es mit wachsender Entfernung von Wittenberg im römischen Reich dunkler wird.

    Wie rechnet mensch die Verstraßung der Landschaft aus?

    Um ihre unabhängige Variable, die Straßendichte in römischer Zeit, auszurechnen, teilen Dalgaard et al das römische Reich in Zellen von ein Grad in Länge und ein Grad in Breite auf. Wenn ich das als Astronom mit Neigung zum Natwi-Chauvinismus sagen darf: In Zeiten von HEALPix ist das etwas fußgängerisch. Aber das römische Reich hat hinreichend wenig von der Kugelform der Erde mitbekommen, so dass zu Fuß laufen vermutlich keine nennenswerten Probleme einführt. Dann legen sie um die römischen Straßen aus dem Barrington-Atlas (ausleihbar in der Library Genesis) 5-km-Umgebungen – in der GIS-Szene „Buffer“ genannt – und rechnen das Verhältnis der so erzeugten Fläche zur Gesamtfläche in ihrer Zelle aus.

    Warum die das so machen, ist mir offen gestanden nicht klar, denn es benachteiligt ausgerechnet besonders gut vernetzte Orte, um die herum sich diese Buffer massiv überlagern werden. Als Zeichen für die Verbundenheit einer Zelle schiene mir jedenfalls die Gesamtlänge der Straßen in ihr als Metrik erheblich naheliegender. Wahrscheinlich ist das römische Straßennetz so grobmaschig, dass die Überlagerung allenfalls in ausgesprochenen Knotenpunkten wie Rouen überhaupt eine Rolle spielt. Aber etwas seltsam ist die Bufferflächen-Metrik doch.

    Damit fangen Dalgaard et al an zu rechnen. Sie fitten eine Unzahl linearer Zusammenhänge zwischen den Logarithmen aller möglicher dieser Metriken. Sachlich also unterstellen sie Potenzgesetze, a ∝ bγ, wobei sie endlose Tabellen dieser γ für alle möglichen Parameter ausrechnen, während sie für alles Mögliche kontrollieren.

    Ihr zentrales Ergebnis (aus der Tabelle 3, Spalte 7 im Paper) ließe sich etwa formulieren als: Die moderne Lichtverschmutzung geht ungefähr mit der Wurzel der antiken Straßendichte, also: 25 Mal mehr Straßen damals macht fünf Mal mehr Lichtverschmutzung heute[5].

    Zentral^WZahlenfriedhof

    Um ein Gefühl dafür zu kriegen, wie empfindlich dieses Ergebnis auf die diversen Kontrollen für Land, Leute, Höhe und Breite reagiert, kann mensch auf die anderen Spalten der erwähnten Tabelle spitzen: Das γ kann statt ungefähr 1/2 auch mal eher 3/2 sein (nämlich ganz ohne Kontrollen), was dann auf 125 Mal mehr Lichtverschmutzung für das 25-mal dichtere Straßennetz führen würde, oder auch mal 1 (wenn sie für die Zeit seit der lokalen neolithischen Revolution kontrollieren, wenn ich die etwas hemdsärmelige Beschreibug der Tabelle richtig lese), was einfach auf 25-fache Lichtverschmutzung führen würde.

    Ergebnisse, die je nach Modellierung so wild schwanken, rufen nach einer Plausibilisierung der zugrundeliegenden Modelle. Ich glaube, dass die Zahlenfriedhöfe, die das Paper und seine Anhänge durchziehen, dieser Plausibilisierung dienen sollen, und ich habe eine ganze Weile auf Tabellen dieser Art gestarrt (nur zur Illustration; die Werte, die ich für meine Betrachtung als relevant erachte …

  • Seuchen, Christen und das Ende des Imperiums

    Fotos antiker Inschriften: eine schön in regelmäßig, die andere völlig krakelig.

    Mein Sinnbild für den Zusammenbruch der antiken Kultur: Zwei Inschriften aus dem Kölner Römisch-Germanischen Museum, die eine schon christlich-apokalyptisch (mit Flammenvisionen), aber noch erkennbar von Profis mit Anschluss an die mediterrane Kultur gefertigt, die andere, vielleicht 100 Jahre später, nur noch freihändiges Gekrakel fränkischer Amateure.

    Ich habe mich schon im März eines gewissen Römerfimmels bezichtigt. Dieser Schwäche nachgebend lese ich gerade „The Fate of Rome – Climate, Disease & the End of an Empire“ von Kyle Harper (Princeton University Press, 2017, entleihbar bei libgen; gibts auch auf Deutsch bei C.H. Beck als „Fatum. Das Klima und der Untergang des Römischen Reichs“, aber das habe ich nicht).

    Der Untertitel verrät es: Harper analysiert hier den Untergang des römischen Reichs als Folge von Klimaveränderung und Seuchen. Das klingt nicht nur wie ein Film am Discovery Channel, es ist auch ein wenig so geschrieben. Gut, der eingebettete Arztroman über Galen ist immerhin noch motiviert, weil dieser eine wichtige Quelle zur Antoninischen Pest (nach Harpers Einschätzung eine Pockenepedemie) ist, aber dennoch wirken Spannungsbögen in so einem Buch schnell albern oder ranschmeißerisch. Und Harpers Tendenz, das Gleiche mehrfach hintereinander leicht variiert zu sagen, verbunden mit einer oft ziemlich atemlosen Sprache, nervt doch etwas. Eine Kostprobe:

    But it was not yet a crisis: [...] The fruits of Severan success were abundant. A bloom of cultural efflorescence, more inclusive than ever before, unfolded. The influx of provincial talent was a jolt to Severan culture. The ancient capital remained the focal point of imperial patronage.

    Allzu oft wirkt es, als hätte Harper Zeilen geschunden. Das Buch könnte bei gleichem Informationsgehalt auch halb so lang sein und wäre dabei jedenfalls für Menschen wie mich lesbarer.

    Dabei sind viele der Gedanken sehr wertvoll und verdienen überhaupt nicht, im Stil einer Fernsehreportage über spontane Selbstentzündung serviert zu werden. So hatte ich zwar schon lange die Ausbreitung des apokalyptischen Christentums mit dem weitgehenden Zusammenbruch der antiken Kultur in Verbindung gebracht. Über die Ursache dieser Ausbreitung hatte ich mir jedoch nie wirklich Gedanken gemacht – es war in meiner Vorstellung, wahrscheinlich unter dem übermächtigen Einfluss von Bertrand Russell, eben so, dass die Leute plötzlich auf orientalische Kulte Lust hatten, ob nun Isis und Osiris, Mithras, Jupiter Dolichenus[1] oder halt Jesus Christus.

    Nun bietet Harper eine historisch-materialistisch befriedigendere Geschichte an:

    Bis 200 ndcE[2] sind Christen in der Überlieferung praktisch unsichtbar. Die Christen der ersten zwei Jahrhunderte wären kaum eine Fußnote der Geschichte, wären da nicht die späteren Ereignisse. Es wird geschätzt, dass es in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts größenordnungsmäßig 100'000 ChristInnen gegeben hat [wie gesagt, Harper sagt die Dinge gerne drei Mal]. Im Jahr 300 ndcE hatte sich ein atemberaubender Wandel ergeben. Das deutlichste Zeichen ist die plötzliche Verbreitung christlicher Vornamen. Eine aktuelle Arbeit schätzt, dass zu diesem Zeitpunkt erstaunliche 15-20 Prozent der ägyptischen Bevölkerung ChristInnen waren.

    Dazwischen fand – neben dramatischen Missernten infolge von mit einer Abkühlung des Weltklimas verbundenen Dürren im Mittelmeerraum[3] – die nach Harpers Darstellung verheerende Cyprianische Pest statt, für die er einen Ebola-ähnlichen Erreger vorschlägt. Es ist höchst plausibel, dass ein Massensterben an hämorrhagischem Fieber – also: Leute bluten aus jeder Pore ihres Körpers – größte Zweifel an den herrschenen Weltbildern auslösen kann. Harper schreibt dazu:

    Die Verbindung von Pest und Verfolgung scheint die Verbreitung des Christentums beschleunigt zu haben. So jedenfalls sah die Erinnerung einer bestimmten Christengemeinde aus, der von Neocaesarea in Pontus. In den Volkserzälungen rund um den Ortsheiligen, Gregor den Wundertäter, war die Pest ein Wendepunkt in der Christianisierung der Gemeinde. Das Massensterben zeigt die Machtlosigkeit der Götter der Alten und stellte die Tugenden des christlichen Glaubens heraus. Mag die Geschichte auch stark schablonenhaft sein, sie konserviert einen Kern historischer Erinnerung über die Rolle der Pest in der religösen Bekehrung der Gemeinde.

    Der klarste Vorteil des Christentums war seine unerschöpfliche Kapazität, mittels einer Ethik aufopfernder Liebe familienähnliche Netzwerke zwischen völlig Fremden zu knüpfen.

    Ohne, dass das viel an Harpers Darstellung ändern würde, würde ich persönlich ja in der erwähnten Tradition von Bertrand Russell eher spekulieren, dass das zumindest in etlichen Ausprägungen heitere antike Pantheon – ich verweise auf das leicht skandalöse, aber den römischen Geschmack m.E. gut treffende Riesendia im Römermuseum Osterburken:

    Foto: Ein farbenprächtig-sinnliches modernes Gemälde eines runden Dutzends antiker Götter

    – in einer Zeit von Hunger- und Pestkatastrophen viel weniger attraktiv wirkte als die Endzeitreligion, die das damalige Christentum ganz sicher war. Die zeitgenössichen Missionierenden dürften mindestens ebenso alarmistisch unterwegs gewesen sein wie die „das Ende ist nah“-Zeugen, die sich heute auch nicht davon beirren lassen, dass sich ihre Vorhersagen der Weltuntergänge 1914, 1925 und 1975 allesamt als nicht ganz zutreffend erwiesen haben[4].

    Und damit landen wir in der Gegenwart. Gewiss ist die SARS-2-Pandemie verglichen mit einem Krankheitsgeschehen mit einer Gesamtsterblichkeit im einige-zehn-Prozent-Bereich nicht zu vergleichen – aber dann ist unsere Gesellschaft in mancherlei Hinsicht etwas menschlicher geworden (auch wenn Blicke etwa in Fußballstadien oder Boxhallen anderes vermuten lassen). Und so mögen auch die insgesamt weniger dramatischen Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit zusammen mit der Erfahrung von Lockdown, Aussperrung und Heimarbeit sowie dem Doomscrolling auf Twitter durchaus zu vergleichbaren Aufwühlungen geführt haben. Müssen wir jetzt also mit religiösen Erweckungsbewegungen der Größenordnung der Christianisierung Roms rechnen?

    Ich sage mal mutig: eher nicht. Ohne tiefere Recherche scheint mir, dass grob vergleichbare Ereignisse in der Moderne auch keine solchen Konsequenzen hatten. Weder die spanische Grippe, die noch dazu vor der Horrorfolie des gerade zu Ende gegangenen ersten Weltkriegs ablief und fast überall deutlich dramatischer war als SARS-2, noch die vermutlich letzte Coronapandemie vor SARS-2 mit einer Sterblichkeit, die damals wahrscheinlich mit der in heutigen Lassen-Wirs-Laufen-Ländern vergleichbar gewesen sein wird, hatten offenbar nennenswerten Einfluss auf den Missionserfolg von Adventisten, Zeugen oder vergleichbaren Endzeitkulten.

    Schauen wir mal. Wer Anzeichen von Post-Corona-FlagellantInnen sieht: Ich bin für Hinweise dankbar.

    [1]Der ist übrigens mein Lieblingskult in dieser Liga, weil er eine der wenigen Religionen in der Geschichte der Menschheit sein dürfte, die an Kollisionen mit der Realität scheiterten. Der Hauptgott war eine milde angepasste Interpretatio Romana des mesopotamischen Superhelden Hadad, der vor allem mal alles zerschmettern konnte. Zitat Wikipedia: „Nach der Zerstörung des Hauptheiligtums in Doliche durch den Sassaniden-König Schapur I. Mitte des 3. Jahrhunderts ging der Kult unter.“ Sagt, was ihr wollt: Ein Kult, der einen solchen Gegenbeweis der Glaubensinhalte zum Anlass zur Auflösung – statt, wie in dem Geschäft sonst üblich, zu Zelotentum und verdrehten Ausflüchten – nimmt, kann so verkehrt nicht gewesen sein.
    [2]„nach der der christlichen Epoche“; vgl. dazu diese Fußnote.
    [3]Aus Heidelberger Sicht vergleichbar relevant: In der fraglichen Zeit, also zwischen 240 und 260, löste sich auch das Grenzregime am Limes auf, und die römischen Truppen zogen sich an Rhein und Donau zurück (von ein paar Brückenköpfen wie Ladenburg oder Köln-Deutz mal abgesehen).
    [4]Nur, damit ich nicht falsch verstanden werde: Verglichen mit zahlreichen anderen Kulten kann ich Jehovas Zeugen trotzdem total gut leiden. Einerseits natürlich wegen der Steinigungsszene im Life of Brian, vor allem aber, weil eine Lehre, aus der konsequente und radikale Kriegsdienstverweigerung (lokales Beispiel) folgt, extrem viel Nachsicht erwarten kann.
  • Hatte Marc Aurel Bandwürmer?

    Foto: Konservierte Bandwürmer in hohen Glasbehältern

    Bandwürmer im großartigen Naturhistorischen Museum in Wien: Den besonders lange in der Mitte soll sich der Arzt wohl so zur k.u.k.Zeit selbst gezogen haben. Auch „bei uns“ hatten also selbst wohlhabende Menschen noch vor recht kurzer Zeit beeindruckende Würmer.

    In den DLF-Wissenschaftsmeldungen vom 15. Februar ging es ab Sekunde 50 um römische Archäologie mit Bandwürmern. Ich gestehe ja einen gewissen Römerfimmel ein, und ich fand zudem die Passage

    In römerzeitlichen Fundstätten auf Sizilien wurden mehrfach konische Tongefäße ausgegraben. Bisherigen Interpretationen zufolge wurden darin Lebensmittel gelagert.

    vielversprechend im Hinblick auf mein Projekt interessanter Selbstkorrekturen von Wissenschaft, denn die neuen Erkenntnisse zeigen recht deutlich, dass zumindest eines dieser Gefäße in Wahrheit als Nachttopf genutzt wurde. Und deshalb habe ich mir die Arbeit besorgt, auf der die Kurzmeldung basiert.

    Es handelt sich dabei um „Using parasite analysis to identify ancient chamber pots: An example of the fifth century CE from Gerace, Sicily, Italy“ der Archäologin Sophie Rabinow (Cambridge, UK) und ihrer KollegInnen (DOI 10.1016/j.jasrep.2022.103349), erschienen leider im Elsevier-Journal of Archeological Science. Ich linke nicht gerne auf die, zumal der Artikel auch nicht open access ist, aber leider gibts das Paper derzeit nicht bei der Libgen.

    Publikationsethische Erwägungen beiseite: Diese Leute haben einen der erwähnten „konischen Tongefäße” aus einer spätrömischen Ruine im sizilianischen Enna hergenommen und den „sehr harten, weißlichen Rückstand von schuppigem Kalk“ („very hard whitish lime-scale deposit“) am Boden des Gefäßes untersucht. Vor allem anderen: Ich hätte wirklich nicht damit gerechnet, dass, was in einem lange genutzten Nachttopf zurückbleibt, schließlich diese Konsistenz bekommt.

    Nie wieder Sandalenfilme ohne Wurmgedanken

    Aber so ist es wohl, denn nachdem die Leute das Zeug in Salzsäure aufgelöst und gereinigt hatten, waren durch schlichte Lichtmikroskopie (mein Kompliment an die AutorInnen, dass sie der Versuchung widerstanden haben, coole und drittmittelträchtige DNA-Analysen zu machen) haufenweise Eier von Peitschenwürmern zu sehen – und das halte auch ich für ein starkes Zeichen, dass reichlich menschlicher Kot in diesem Pott gewesen sein dürfte. Auch wenn, wie die AutorInnen einräumen, keine Kontrollprobe der umgebenden Erde zur Verfügung stand, ist es nicht plausibel, wie Eier in dieser Menge durch nachträgliche Kontamination in den „harten, weißen Rückstand“ kommen sollten.

    Römer hatten – das war schon vor dieser Arbeit klar – nicht zu knapp Würmer. Alles andere wäre trotz der relativ ordentlichen Kanalisation in größeren römischen Siedlungen höchst erstaunlich, da auch in unserer modernen Welt die (arme) Hälfte der Menschheit Würmer hat (vgl. z.B. Stepek et al 2006, DOI 10.1111/j.1365-2613.2006.00495.x). Dennoch guckt sich so ein zünftiger Sandalenfilm (sagen wir, der immer noch hinreißende Ben Hur) ganz anders an, wenn mensch sich klar macht, dass die feschen Soldaten und fetten Senatoren alle des öfteren mal Würmer hatten. Und auch Caesars Gallischer Krieg oder Mark Aurels Selbstbetrachtungen erhalten, finde ich, eine zusätzliche Tiefe, wenn mensch sich vorstellt, dass in den Gedärmen jener, die da Kriegspropaganda oder stoische Philosophie betrieben, parasitische Würmer mitaßen.

    Forschungsprojekt: Wurmbefall in Köln vor und nach 260

    Nun schätzen Rabinow et al allerdings, dass ihre Rückstände wohl in der Mitte des fünften Jahrhunderts entstanden. Damals hatte die römische Zivilisation und damit auch ihre Kanalisation wahrscheinlich auch in Sizilien schon etwas gelitten. Die Kölner Eifelwasserleitung etwa – die eingestandenermaßen technisch besonders anspruchsvoll war und in einem besonders unruhigen Teil des Imperiums lag – haben „Germanen“ schon im Jahr 260 zerstört, und sie wurde danach nicht mehr in Betrieb genommen, obwohl Köln bis weit ins 5. Jahrhundert hinein eine römische Verwaltung hatte.

    Ich persönlich wäre überzeugt, dass, wer mit der Rabinow-Methode an entsprechend datierbare Überreste heranginge, mit dem Jahr 260 eine sprunghafte Erhöhung der Verwurmung in Köln feststellen würde. Insofern: Vielleicht hatten Caesar und Mark Aurel, zu deren Zeiten der römlische Wasserbau noch blühte, ja doch nicht viel mehr Würmer als wir im kanalisierten Westen?

    Ach so: Das mit dem Irrtum – „nee, die Teile hatten sie für Essen“ – war so wild in Wirklichkeit nicht. Wie üblich in der Wissenschaft waren die Antworten auch vorher nicht so klar. Rabinow et al schreiben:

    A recent study of material at the town of Viminacium in Serbia, where over 350 identically deep-shaped vessels are known, was able to confirm at least 3 potential uses: storage for cereals or water, burial urns, and chamber pots […]. Chamber pots clearly were also sometimes put to secondary use, for example as a container for builder’s lime […], while vessels initially destined for other purposes may have been turned into chamber pots.

    Nun, dann und wann kommen sogar Wissenschaft und „gesunder“ Menschenverstand zu recht vergleichbaren Ergebnissen.

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