Wen verteidigen? Und warum?
Die Ausstellung des Mannheimer Stadtarchivs („Marchivum“) ist aus vielen Gründen sehenswert. Vor einem Jahr hatte ich es beispielsweise von der Zwangsarbeit bei der OEG (heute: „RNV“) und davon, dass ein Sohn der Stadt das Vernichtungslager Auschwitz befehligte. Ein weiteres, damals nicht erwähntes Highlight ist eine lange, mit historischen Daten annotierte Kurve der Mannheimer Bevölkerungszahl. Hier ist ein Ausschnitt davon (die altrosa Fläche im unteren Bereich):
Bemerkenswert dabei finde ich vor allem anderen die beiden Aussterbeereignisse (also: Bevölkerung praktisch null) in der Kurve. In beiden Fällen waren es Kriege, die die Stadtbevölkerung im Wesentlichen oder ganz ausgerottet haben: einerseits der Dreißigjährige Krieg, andererseits der pfälzische Erbfolgekrieg.
Mir drängt sich dabei, wie eigentlich immer bei dieser Sorte Blick in die Geschichte, zunächst die Frage auf, wofür diese Menschen eigentlich alle gestorben sind (oder, im besten Fall, fliehen konnten). Pop Quiz: Wer kann sagen, worum es im pfälzischen Erbfolgekrieg ging[1]? Und wer würde sich im ehemaligen Dreißigjährigenkriegsgebiet heute unwohler fühlen, hätten entweder KatholikInnen oder ProtestantInnen damals ein Einsehen gehabt und das Rumballern einfach sein gelassen?
Gut: vielleicht gäbe es jetzt etwas weniger Kirchen, weil die in der historischen Realität von den Söldnerheeren verwüsteten Ländereien in einer weniger schießbereiten Welt vermutlich konfessionell homogener geworden wären. Aber steht dieser kleine Nachteil (wenn er überhaupt einer ist; die Leute, die die Kirchen haben bauen müssen, hätten es wohl als Vorteil gesehen) in irgendeinem Verhältnis zu dem furchtbaren Leid, das der Krieg verursacht hat?
Der Seufzer „was für eine absurde Verschwendung von Menschenleben“ und die ihm vorgehende Einsicht, dass eigentlich alle Kriege kaum mehr sind als das Abstecken von Claims über Untertanen durch sehr unangenehme (sonst würden sie nicht andere für sich töten und sterben lassen) Menschen[2]: das sind, so scheint mir, so offensichtliche Gründe für Pazifismus, dass ich wirklich ohne jedes Verständnis dastehe für die Inbrunst, mit der sich all die SoldatInnen gegenseitig abschlachten.
Was haben sie aus ihren Geschichtsstunden (nicht) mitgenommen? Kaufen sie wirklich die Erzählungen, nach denen es irgendeine Rolle spielte oder gar immer noch spielt, ob Louis XIV oder Maximilian II Emanuel von Bayern die Mannheimer Bürgerschaft kujonierte? Im wahrscheinlichen Fall, dass ihr die Frage nicht versteht: Darum ging es im pfälzischen Erbfolgkrieg, also dem Anlass einer kompletten Vernichtung von Mannheim.
Speziell diese komplette Vernichtung hat aber einen zweiten interessanten Aspekt, der im Keller des Mannheimer Schlosses in einer ebenfalls langen Zeitleiste genauer betrachtet wird. Ich darf das kurz montieren:
Keine Sorge, ihr müsst die kleinen Buchstaben nicht entziffern; ich gebe ihren Inhalt im Folgenden im Wesentlichen wieder.
Für 1680 steht da:
Um sich besser vor feindlichen Übergriffen zu schützen, wird die pfälzische Infanterie ab 1680 neu aufgestellt und erweitert [… obendrauf gibt es eine Art Miliz-Arbeitsdienst …] Bis zum fünfzigsten Lebensjahr sind alle Einwohner Mannheims zur aktiven Mitgliedschaft verpflichtet. [Hervorhebung A.F.]
Ich werde ja immer aufmerksam, wenn im Zusammenhang mit Mord und Folter Passivkonstruktionen auftauchen („wurde hingerichtet“). So ist das auch hier: Wer da hat aufstellen lassen, wer also Menschen ins Mordgeschäft gezwungen hat, war die Obrigkeit, also damals der Fürst.
Mit dieser Benennung löst sich dann auch das „sich“ auf, das im Original ja eine leere Referenz ist – oder hat der_die Schloss-KuratorIn es vielleicht auf Mannheim beziehen wollen? Nun: einer Stadt (oder einem Land, oder einem „Volk“) einen Willen, ein Ich zu unterstellen: das ist die Wurzel von Nationalismus und beliebiger Mengen anderen Unsinns, der sich in dem Moment restlos auflöst, in dem mensch Völker und Staaten als die kontingenten und beliebigen Konstrukte erkennt, die sie sind: sie reflektieren ja nicht mehr als die Claims, die die jeweiligen Obergrobiane bei ihren jeweils letzten Mord- und Raubzügen gegeneinander abgesteckt haben.
Der Klartext der Tafel lautet also: Der pfälzische Kurfürst war um seine Herrschaft besorgt, hat Soldaten ausgehoben und eine Dienstpflicht über seine anderweitigen Untertanen verhängt, um ihn bzw. seine Herrschaft zu verteidigen.
Im nächsten Jahr wurde das nicht besser. Der Textblock zu 1681 weiß zu berichten:
Ein kurfürstlicher Erlass aus dem Jahr 1681 verlangt die Erbauung einer „Stadtmauer“. Damit ist eine Verstärkung der Bastionen gemeint, die bisher nur als Erdwerke ausgeführt sind.
Hier wird immerhin ein Zusammenhang mit dem Kurfürsten hergestellt. Mensch könnte den Text noch etwas verbessern durchs Weglassen der Entpersonalisierung durch den „Erlass“ (der hier ein wenig wie eine Naturgewalt wirken mag). Als Textvorschlag biete ich an: „Der Kurfürst verlangt, dass ihm seine Untertanen hohe Mauern bauen, damit er seine Feinde besser niederkämpfen kann.“
Diese konkrete Geschichte wird nun besonders lehrreich, weil die Verteidigung der Stadt (oh: der Kurfürst war kurz vorher ohne Feindeinwirkung verstorben) auch nach Maßstäben blutiger Verteidigungspolitk schnell und spektakulär scheitert. Für 1689, nur acht Jahre nach den fürstlichen Durchgriffen, berichten die Schloss-KuratorInnen:
Im Feburar 1689 wird mit der Schleifung der Festung Mannheim durch französische Truppen begonnen [wieder mal: warum Passiv?]. Vom kurfürstlichen Schloss bleiben nur Reste erhalten. Ab dem 5. März 1689 beginnt die Zerstörung Mannheims zum Zweck der totalen Entvölkerung auf lange Sicht.
So lange war die Sicht offenbar nicht, denn diese Episode ist der steile Hang am ersten kleinen Berg im Graphen oben. Mannheim war wieder komplett entvölkert, in etwa wie schon im 30-jährigen Krieg, nur noch etwas mehr. Entscheidend ist die Beobachtung, dass die Stadt in beiden Fällen zuvor befestigt gewesen war, „sie“ sich also „verteidigt“ hat.
Es mag sein, dass der alarmierende Zusammenhang zwischen Verteidigung und Massensterben auch damals schon aufgefallen ist. Jedenfalls hatte Mannheim im 18. Jahrhundert zwischendurch eine relativ weise Herrschaft, die die Befestigungsanlagen hat niederlegen lassen. Es gab in der Folge keine Gemetzel an der Stadtbevölkerung mehr, die denen vergleichbar gewesen wären, die die befestigte, „verteidigte“ Stadt alle paar Jahrzehnte heimgesucht haben[3]. Ein Blick auf die ganze Kurve:
Ich würde das gerne als doppelte Lehre aus der in Marchivum und Schloss erzählten Geschichte formulieren: Wenn dir wer was von „Verteidigung“ erzählt, lohnt sich jeder Gedanke dazu, wer da eigentlich was verteidigen soll, was nach der Verteidigung noch davon übrig sein wird, und vor allem, ob es jetzt oder spätestens in zehn oder fünzig Jahren irgendeinen praktischen Unterschied machen wird, ob gerade irgendwer stirbt, tötet oder hungert.
Und schließlich: Wer „sich“ (also praktisch: seine_ihre Obrigkeit) nicht in diesem Sinn „verteidigt“, hat deutlich bessere Überlebenschancen.
[1] | Wer jetzt antwortet „na, um die pfälzische Erbfolge“ hat zwar schon ein wenig recht, müsste dann aber doch noch erklären, wer da alles warum Anspruch erhoben hat und warum erhebliche Menschenmengen bereit waren, für diese Ansprüche zu töten, zu zerstören und zu sterben. |
[2] | Ich würde einräumen, dass die napoleonischen Kriege, Teile des zweiten Weltkriegs und vermutlich die vietnamesische Invasion von Kambodscha im Jahr 1979 Ausnahmen sein könnten. Aber zumindest die beiden letzten Beispiele kann mensch plausibel als Endspiele in sich völlig sinnloser Kriege (erster Weltkrieg bzw. Vietnamkrieg) lesen. Innerhalb von Kriegen ist natürlich alles, was tatsächlich auf deren Ende hinführt, sinnvoll. |
[3] | Die Scharte des zweiten Weltkriegs ist zwar relativ tief (wenn auch bei weitem nicht so dramatisch wie die Einbrüche zu Zeiten der Stadtmauern), aber das liegt größenteils an Evakuierungen, was schon angedeutet ist durch die Steile des Aufstiegs nach dem Einbruch: Die Scharte ist ziemlich symmetrisch, weil der ihr zugrunde liegende Prozess immerhin teilweise Migration ist. Etwas zögerlich könnte ich als Lehre daraus formulieren: Wenn Widerstand gegen Krieg wegen überwältigender Kriegsbegeisterung praktisch der gesamten Bevölkerung – das haben wir in der BRD gerade glücklicherweise noch nicht, aber unter der NSDAP-Regierung hatten die paar WiderständlerInnen ganz sicher bis mindestens 1944 damit zu kämpfen – zu aussichtslos wirkt, ist Weglaufen eine prima Option. |