Noch bis 7.12. in Heidelberg: „Auftakt des Terrors“ über die ersten NS-Konzentrationslager

Ein stattlicher Bau in klassizistischem Stil, umgeben von einer Betonmauer mit zahlreichen Lampen darauf.

Wer gelegentlich mit dem Zug zwischen Heidelberg und Karlsruhe unterwegs ist, kennt diesen Anblick: Das ummauerte Schloss Kislau. Von 1824 bis heute war das Gebäude mit kurzen Unterbrechungen fast durchweg eine Art Gefängnis – und von 1933 bis 1939 eines der frühen Konzentrationslager der NSDAP-Regierung. Um eine Ausstellung zu diesen dreht sich dieser Post. Foto: CC-BY-SA Grossbildjaeger.

So sehr die Erinnerung an die Shoah wachzuhalten ist: Fürs heutige politische Handeln erheblich relevanter ist die Betrachtung der Anfänge der Nazibarbarei. Das folgt schon aus den Mahnungen von Habermas et al, die Shoah nicht durch aktuelle politische Relativierungen zu trivialisieren und – schlimmer noch – zu instrumentalisieren[1]. Die größere Relevanz folgt aber bereits daraus, dass Faschismus auch ohne Shoah eine schreckliche Sache ist.

Dies ist eine der Lehren, mit denen mensch ziemlich sicher aus der Ausstellung „Auftakt des Terrors“ herauskommen wird, in der die Anfänge des Systems der Konzentrationslager beleuchtet werden. Die Ausstellung – 10 Stationen und etwas lokales Material – ist noch bis zum 7.12. (ja, es gibt eine Verlängerung) beim Zentralrat der Sinti und Roma in Deutschland in der Heidelberger Bremeneckgasse zu sehen (lokale Ankündigung) und wird dann weiter in den Salmen in Offenburg ziehen (weitere Ausstellungsorte).

Von Beginn an Folter und Mord

Es ist besonders passend, die Ausstellung in Heidelberg zu zeigen, gab es doch im Umkreis von 50 km um die Stadt gleich drei der in der zuständigen Arbeitsgemeinschaft des Gedenkstättenforums bearbeiteten frühen NS-Konzentrationslager: Osthofen bei Worms im Nordwesten (übrigens Schauplatz von Anna Seghers Klassiker Das siebte Kreuz), Neustadt/Haardt im Westen[2] und schließlich Kislau im Süden, das im Gegensatz zu den anderen beiden langfristig, nämlich bis 1939, bestand. Etwas pikanterweise ist bei letzterem auch das Gedenken erschwert, weil das Land das Gebäude bis heute als Gefängnis nutzt.

Wie sehr Faschismus – oder generell auf Polizei und Militär ausgerichtete Regierungsführung – schon lange vor industriellem Massenmord fürchterlich ist, illustriert die Ausstellung beispielsweise auf der Station 7 durch eine Hafterfahrung des SPD-Aktivisten Fritz Solmitz, der sie am 13. September 1933 auf Zigarettenpapier festhielt. Zunächst ist ein Foto einer Taschenuhr zu sehen, in der seine Aufzeichnungen nach draußen kamen, nachdem das NS-Personal Solmitz wenige Tage später totgefoltert hatte:

Eine aufgeklappte, goldschimmernde Taschenuhr liegt aufgeklappt auf winzig beschriebenen Zettelchen.

Die Uhr ist ein Original, die Zettel Nachbildungen (nicht das Ausstellungs-Foto; Quelle).

Nur auf diese Weise konnte Solmitz der Nachwelt dieses Kassiber hinterlassen:

Ich wurde in den Keller getrieben. Kommando: „Bück dich“. Ich blieb aufrecht stehen, erhielt sofort furchtbare Schläge mit Hundepeitsche und Ochsenziemer. Ich taumelte, fiel. „Das Schwein markiert nur: Hoch, Aufstehen. Bück dich“. Dreimal wurde ich so niedergeschlagen. Nach dem 3. Mal hatte ich noch die Kraft zu schreien „Ich bücke mich nicht“. Ich glaube aber, zuallerletzt in halb bewußtlosem Zustand hab ichs doch getan.

Kontinuitäten im Hass nach außen und unten

Gut herausgearbeitet ist in der Ausstellung (Station 5) auch, wie die NSDAP reaktionäre Phantasmen bespielt hat, mit Formen, die auch heute noch Menschen zuverlässig nach rechts treiben. Zitiert wird etwa aus der Frankfurter Zeitung vom 29. August 1933:

Die Meldungen mehren sich, dass in zahlreichen Plätzen in Hessen die Juden beginnen, die gebotene Zurückhaltung außer Acht zu lassen. […] Versuche sich deutschen Mädchen zu nähern und dergleichen verursachen berechtigte Erregung in der deutschen Bevölkerung. Die Politische Polizei ist hierdurch genötigt, die Schuldigen oder solche bekannten Juden, gegen die sich die Erregung richten könnte, in Polizeihaft zu nehmen. Am 26. August wurde durch die Staatspolizeistelle in Worms eine größere Anzahl Juden in Polizeihaft genommen und dem Konzentrationslager Osthofen zugeführt.

Gar nicht weit vom damaligen KZ Osthofen entfernt, im südpfälzischen Kandel, gab es 2017 und folgende ganz vergleichbare „Erregungen“, die ohne das Stereotyp Ausländer-und-deutsche-Frauen ganz gewiss nicht dieses Ausmaß und diese Dauer gehabt hätten (eingestanden: im Zweifel tun es auch mal Männer als Opfer).

Wer weiter die „Erregung“ um Florida-Rolf in Erinnerung hat (oder eigentlich beliebige Beiträge von Rechts zur Frage sozialer Grundsicherung), wird dann auch im ebenfalls auf Station 5 dokumentierten Artikel aus dem Ulmer Tagblatt vom 9. Februar 1935 bekannte Figuren wiedererkennen:

Der verheiratete G. hat in letzter Zeit die ihm und seiner Familie gewährten Unterstützungsgelder in zweifelhafter Gesellschaft durchgebracht. Wegen dieses schändlichen Verhaltens ist G. in Schutzhaft genommen und in das Schutzhaftlager Oberer Kuhberg eingeliefert worden. Diese Maßnahme sollen sich andere zur ernsthaften Warnung dienen lassen, denn es ist ein Verbrechen an Familie und Volksgemeinschaft, Unterstützungsgelder und Gaben des Winterhilfswerks zu vergeuden.

Nicht weit von Ulm und dem ehemaligen „Schutzhaft“-Lager Kuhberg entfernt schrieb am 15.9.2022 die Augsburger Allgemeine:

Ja, die Hartz-Gesetze waren nicht perfekt. […] Nötig waren die Reformen gleichwohl. Wo ein Staat viel fördert und wenig fordert, zementiert er nur die bestehenden Verhältnisse und schafft fast zwangsläufig auch noch Anreize für Missbrauch.

Patrioten, Polizisten und Militärs

Ziemlich unzweifelhaft sind jedoch noch vor plattem Hass auf Menschen mit anderer Obrigkeit bzw. weniger Geld Patriotismus und Militärbegeisterung die Hintergründe, vor denen sich breite Mehrheiten der Bevölkerung – die Ausstellung belegt vielfach, dass das KZ-Wesen in voller Öffentlichkeit stattfand (Station 8), wenn auch anfangs vielleicht nicht in seiner ganzen Brutalität – dem Faschismus zuwandten. So ist zu loben, dass die Ausstellung bei der Betrachtung des Wegs in die Diktatur (Station 1) das klassische Plakat zur Dolchstoßlegende – von der DNVP aus dem Jahr 1924 – reproduziert:

Faksimile eines Plakats mit einer roten Figur, die einen stahlbehelmten Soldaten von hinten erdolcht.  Dazu ein Text, der Aktivitäten zur Beendigung des ersten Weltkriegs als irgendwie schlecht denunziert.

Vielleicht hätte noch etwas genauer diskutiert werden können, weshalb genau dieses Plakat so fürchterlich ist: Es stellt die Beendigung der Schlächterei – wozu natürlich auch die Abrüstung des Patriotismus gehört – als eine Art Verbrechen dar und sorgt sich um „Volk und Vaterland“ statt um all die Menschen, die, um die metzelnden Soldaten zu füttern und auszurüsten, hungerten und schufteten. Wer sich von diesem Plakat auch nur irgendwie angesprochen fühlt, möge sich klar machen, dass die primäre Verwirrung darin besteht, die Desertion und nicht die Kriegsführung als Verbrechen anzusehen.

Planer und Akteure

Ein Halbseitenportrat eines Mannes in seinen 60ern in einer Nazi-Uniform.  Er scheint in die Ferne zu blicken.

Als Anstoß für einen Wikipedia-Artikel zu Franz Mohr hier schon mal ein Foto von ihm aus dem Jahr 1936 (gescannt aus dem Ausstellungskatalog). Quelle: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, 505, Nr. 109-2. Urheberrechte an diesem Foto sind fast sicher längst erloschen.

Erfreulich ist auch die Betrachtung der Akteure und ihrer Biographien (Stationen 4 und 9). So etwas geht für den Nachfolgestaat des Deutschen Reichs meist ungut aus und war daher über Jahrzehnte ziemlich unpopulär. Dass etwa der langjährige (1933-1939) Leiter des KZ Kislau, ein gewisser Franz Mohr (noch keine Wikipedia-Seite), 1947 als „entlastet“ aus der Entnazifizierung herauskam, wirft ein wenig schmeichelhaftes Licht auf die damaligen Prioriäten. Eingestanden: Mohr hatte eine erhebliche Immunität aus seiner Tätigkeit als Polizeioffizier bereits in der Weimarer Republik. Dass er extra für den Job als KZ-Kommandant aus der Pension in den Beruf zurückgekehrt ist, spielte für seine Spruchkammer offenbar keine große Rolle.

Ich will dabei gerne einräumen, dass das KZ Kislau offenbar auch aus Sicht der Berliner oder Karlsruher Regierung eher zweitrangig war. Mensch mag Mohr das als Verdienst anrechnen. Jedenfalls deportierten die Behörden die jüdischen Männer aus Heidelberg im Gefolge der Pogromnacht vom 9.11.1938 nicht ins nahegelegene Kislau, sondern ins relativ ferne KZ Dachau.

Während Mohr – trotz seiner Funktion als einziger badischer KZ-Kommandant in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre – bis zu seinem natürlichen Tod im Jahr 1950 bequem in die westdeusche Gesellschaft zurückkehren konnte, blieb der frühen BRD eine vergleichbare Peinlichkeit bei seinem zeitweisen Kollegen in Weimarer Polizei und NS-KZ-Leitung Theodor Eicke erspart. Allerdings wäre es bei ihm ohnehin nicht so einfach gewesen, denn offenbar war er selbst nach Maßstäben der Polizei der Weimarer Republik zu mundverschäumt. Die Wikipedia schreibt jedenfalls:

In späteren, in der Zeit des Nationalsozialismus entstandenen Lebensläufen führte Eicke seine mehrfachen Entlassungen aus dem Polizeidienst auf seine „aktive Bekämpfung der Novemberrepublik“ zurück oder sah sich „durch roten Terror hinausgedrängt“. Angesichts der Verhältnisse bei der Polizei in den Anfangsjahren der Weimarer Republik ist dies nicht sehr plausibel; „Eickes persönliches Verhalten muß immer mit ein ausschlaggebender Grund gewesen sein“, so der Politikwissenschaftler Johannes Tuchel.

Kennen sollte mensch Eicke jedoch, weil er 1933 und 1934 das KZ Dachau kommandierte und es in dieser Zeit zu einer Art Modell-Lager ausbaute, nach dem die späteren großen KZs gestaltet wurden; in gewisser Weise kann er so als Erfinder des eigentlichen Nazi-KZs gelten. Die Nachkriegs-Justiz musste sich mit ihm nicht auseinandersetzen, weil er einen Flug für die Waffen-SS über der Sowjetunion nicht überlebte.

Nicht aus Weimarer Polizeizusammenhängen hingegen kam der in der Ausstellung als Architekt des panoptisch angelegten KZ Sachsenhausen eingeführte Bernhard Kuiper: er war in der ersten Republik als Tischler und Architekt tätig. 1934 schaffte er es in die SS und arbeitete in der Folge (neben zahlreichen anderen Nazi-Schurkereien) direkt an und in den Lagern Esterwegen, Columbia (Berlin) und Sachsenhausen. Dennoch kam auch er 1948 als unbelastet aus dem Spruchkammerverfahren. Was er in den folgenden 40 Jahren bis zu seinem Tod getrieben hat, sagen leider weder die Ausstellung noch die Wikipedia.

Extras des Lernorts: Motion Comics

In Heidelberg zusätzlich zu sehen ist ein Exponat des Lernorts Kislau, einer Initiative, die neben dem heutigen Knast im ehemaligen KZ Kislau eine Gedenkstätte errichten will. An diesem Exponat sind die von der Initiative produzierten Motion Comics zu sehen, die recht eindrücklich die Schicksale verschiedener (mehr oder weniger) widerständischer Menschen illustrieren.

Darunter sind Filme zu Stars wie dem großartigen Pazifisten, Mathematiker und Antifaschisten Emil Julius Gumbel (Video-Seite) oder dem nach Maßstäben seiner Partei relativ liberalen Zentrumspolitiker Joseph Wirth (Video-Seite), der es immerhin für einen Moment nach dem Rathenau-Mord fertigbrachte, die zeitgenössischen Varianten des Extremismus-Unsinns hinter sich zu lassen und halbwegs klar zu formulieren, was das Problem war.

Es gibt aber auch Filme zu unbekannteren Personen, etwa zu Käthe Vordtriede (Video-Seite), die als Redakteurin beim Freiburger SPD-Blatt Volkswacht versuchte, die Rechtsentwicklung der deutschen Gesellschaft aufzuhalten, der Erstürmung ihrer Redaktion cool trotzte und 1939 dank Fluchthilfe zur rechten Zeit Deutschland gerade noch über Basel Richtung Schweiz verlassen konnte (anders als Georg Elser, der es etwa zur gleichen Zeit in Konstanz probiert hat).

Ein weiteres Video beschäftigt sich mit einem Lörracher Mädchen aus einer Familie von ZeugInnen Jehovas, Anna. Sie hielt 1938 mit ihren 15 Jahren den Polizei-Verhören des NS-Apparats stand und verriet keines ihrer Glaubensgeschwister. Die deutschen Behörden ermordeten ihre Eltern, sie selbst hat ein Schleuser in die Schweiz retten können (Video-Seite).

Zu den Filmen wäre das eine oder andere zu sagen – einerseits machen sie klar, dass „die Nazis“ nicht „mit dem UFO“ gekommen sind, sondern dass tatsächlich weite Teile der deutschen Bevölkerung FaschistInnen waren; andererseits lassen sie wenig Kritik an Patriotismus und Extremismustheorie erkennen –, aber das sind Details.

Völlig unnötig blöd ist dagegen, dass sie im Netz derzeit über Youtube ausgespielt werden, statt sie einfach über die Webseite des Lernorts zu verteilen. Und ich kann sie auch nicht hier vernünftig verbreiten, weil sie leider ohne Lizenz kommen – und das, obwohl sie (größtenteils) mit öffentlichem Geld finanziert wurden. Liebe LernörtlerInnen: bitte macht das besser.

Ursprünglich als Abschussveranstaltung zur Ausstellung geplant war der Vortrag „Facetten von Widerstand und Verfolgung in Heidelberg, Mannheim und Umgebung” mit der Lernort-Leiterin Andrea Hoffend am 21.11. um 18 Uhr, ebenfalls im Kultur- und Dokumentationszentrum der Sinti und Roma. Auch wenn ihr nun noch ein paar Tage mehr Zeit habt zum Besuch der Ausstellung: Der Vortrag lohnt sich bestimmt.

[1]

Ja, damit meine ich in erster Linie die Unsitte, den Hauptfeind des Tages zum neuen Hitler zu erklären und mithin das eigene Handeln in die Tradition der alliierten Handlungen der Jahre 1942 bis 1945 zu stellen. Tatsächlich mag die Erfahrung der breiten Unterstützung fürs deutsche Morden in der damaligen Bevölkerung den durchgedrehten Plan nahelegen, mensch müsse nur lange genug Irakis, Serben oder Russen zu erschießen, und dann sei irgendein Problem gelöst.

Aber natürlich ist das Quatsch. Habermas et al hatten recht: Nichts in der gegenwärtigen Welt ist irgendwie mit dem deutschen Morden zwischen Einsatzgruppen und Vernichtungslagern vergleichbar, und mithin sind wir auch nicht annähernd in ethischen Dilemmata der Art, die die Alliierten damals hätten beschäftigen können.

Ich glaube in der Tat, dass das ein etwas übersehener Aspekt im Historikerstreit war: Der Rekurs auf den ultimativen Zivilisationsbruch, platt gesprochen die X=Hitler-Figur, kann alles und jedes rechtfertigen und führt daher fast sicher in die Irre. Auch darum gilt es, Versuche der Relativierung der Shoah zurückzuweisen.

[2]Heute heißt das Neustadt an der Weinstraße, und ich werde meine Tipps zum Nachprogramm bei einem Besuch des Hambacher Schlosses noch entsprechend erweitern müssen.

Zitiert in: Zur Erinnerung an Erich Mühsam, ermordet vor 90 Jahren Von der größten Demo in Heidelberg seit Jahrzehnten und der autoritären Versuchung

Letzte Ergänzungen