• Ausflugstipp: Das Haus Stammberg bei Schriesheim

    Ein paar Gartenstühle stehen unter überhängenden Rhododendren und anderen zur Not als Gartenpflanzen durchgehende Pflanzen.  Im rechten Bildbereich ist nicht allzu gepflegter, aber erkennbarer Rasen mit Wegen dazwischen zu sehen.

    Was hier die Atmosphäre eines Kurparks[1] ausstrahlt, war tatsächlich mal einer. Vorneweg: Das hier beschriebene Gelände ist problemlos öffentlich zugänglich.

    Im Kanzelbachtal, das sich vom Weißen Stein in die Rheinebene bei Schriesheim zieht, steht das Haus Stammberg, heute ein Altenheim der Diakonie und nicht zu verwechseln mit dem nebenan ebenfalls von der Diakonie betriebenen Wiedereingliederungsprojekt Talhof[2]. Zwar haben ein paar der Gebäude des Komplexes durchaus etwas Patina, aber ich hatte für die Gebäude nie mehr als ein halbes Auge, wenn ich bergan Richtung Willhelmsfeld daran vorbeigeradelt bin – und bergab sicher nicht mal ein Zehntelauge.

    Der diesjährige Tag des offenen Denkmals hat dieser Gedankenlosigkeit ein Ende bereitet. Die Geschichte des Hauses Stammberg hat sogar etwas mit dem Jahr 2024 zu tun. Na ja, indirekt. Denn gerade vor 100 Jahren veröffentlichte Thomas Mann seinen Zauberberg, zugleich Roman einer präantibiotischen Tuberkuloseklinik und der Verschrobenheiten der europäischen Vorkriegs(un-)ordnung. Wobei hier vom ersten Weltkrieg die Rede ist.

    Das Haus Stammberg, eröffnet im Jahr 1903, war neu in den Jahren, in denen sich das entfaltet, was im Zauberberg als Handlung durchgeht. Wer sich vor dem Haupteingang des Haupthauses nach rechts wendet und dem Verlauf des Kanzelbaches vielleicht 100 Meter folgt, kann fast eine Zeitreise dorthin unternehmen, wenn sich folgendes Bild zeigt:

    Eine leicht gerundete, vielleicht fünf Meter tiefe und hundert Meter breite, aus Holz errichtete Halle.

    Zur literarischen Verankerung darf ich ein wenig aus der Fantasie von Thomas Mann zitieren:

    Aber Joachim [der Indexpatient im Zauberberg] konnte nur noch behindert und undeutlich antworten. Er hatte aus einem rotledernen, mit Samt gefütterten Etui, das auf seinem Tische lag, ein kleines Thermometer genommen und das untere, mit Quecksilber gefüllte Ende in den Mund gesteckt. Links unter der Zunge hielt er es, so, daß ihm das gläserne Instrument schräg aufwärts aus dem Munde hervorragte. Dann machte er Haustoilette, zog Schuhe und eine litewkaartige Joppe an, nahm eine gedruckte Tabelle nebst Bleistift vom Tisch, ferner ein Buch, eine russische Grammatik – denn er trieb Russisch, weil er, wie er sagte, dienstlichen Vorteil davon erhoffte –, und so ausgerüstet nahm er draußen auf dem Balkon im Liegestuhl Platz, indem er eine Kamelhaardecke nur leicht über die Füße warf.

    [... Hans Castorp, der Besucher, der dem Zauber des Berghofs erliegt] wollte das Ergebnis der Messung abwarten und sah unterdessen zu, wie alles gemacht wurde, betrachtete auch den Pelzsack, der in einem Winkel der Loggia lehnte (Joachim bediente sich seiner an kalten Tagen) und blickte, die Ellenbogen auf der Brüstung, in den Garten hinab, wo die allgemeine Liegehalle nun von lesend, schreibend und plaudernd ausgestreckten Patienten bevölkert war.

    Das Foto oben zeigt die allgemeine Liegehalle des Schriesheimer Stammbergs, die erstaunlich gut erhalten ist. Denn ja: der Stammberg, wie der Berghof im Zauberberg, war eine Tuberkuloseklinik, wenn auch – ich glaube mich zu erinnern, dass im geschichtlichen Überblick von der Bismarck'schen Krankenversicherung als zumindest Beteiligte die Rede war – mit einer deutlich weniger exklusiven Zielgruppe als die der Haute Volée-Spielwiese des Romans. Und auch wenn der Weiße Stein mit seinen gut 500 Metern nicht ganz mithalten kann mit den Dreitausendern rund um Davos, wenigstens ein bisschen in den Bergen befinden sich auch diese Gebäude.

    Tatsächlich war der Berghang am Rand der Kanzelbach-Talaue Teil des damaligen Kurparks. Während sich der Wald die Gartenanlagen am Hang weitgehend wieder geholt hat, sind einige der Flanierwege noch erhalten:

    Durch einen lichten, nach links hin ansteigenden Wald führt ein als naturnahe Treppe ausgeführter Weg.  An dessen Rand steht ein Warnschild: „Vorsicht Stechgefahr Bienen!“.

    Zu diesem Foto ist zu fantasieren, dass 1903 der Pfad vielleicht durch ein paar Rosenstöcke und Rhododendren führte, um die Mobilisierungsübungen der Patientinnen etwas zu verschönern. Ein klein wenig lässt sich das noch am Fuß des Hanges erahnen, wo das Eröffnungsbild dieses Artikels entstanden ist.

    Jedoch: Patientinnen ohne hohes I oder sonstige grammatische Berücksichtung von Männern? Ja, denn im Gegensatz zum Berghof des Zauberbergs, in dem es ja durchaus viel um Techtel aller Arten geht, war das Stammberg ein Frauensanatorium. Davon wiederum war zu hören während eines Vortrags einer Mitarbeiterin des Deutschen Tuberkulosearchivs (DTA) im Denkmalstag-Programm.

    Das DTA ist eine Einrichtung, die zwar schon seit einiger Zeit in Heidelberg – genauer bei der Thoraxklinik in Rohrbach – residiert, von deren Existenz ich aber bis zu dem Vortrag nichts ahnte. Was regelrecht schade ist, denn im Haus befindet sich auch eine Ausstellung, die mir sehr lohnend zu sein scheint. Leider ist diese nur nach Vereinbarung zugänglich. Aber ich plane schon die meine. Also: Vereinbarung.

    Auch über Liegehalle und Park hinaus bietet das Haus Stammberg eine Menge Bau- und Technikgeschichte. Am Tag des offenen Denkmals hat der Leiter des Hauses die BesucherInnen herumgeführt, und zwar bis hin zur Kläranlage am Westende des Geländes. Ja: das hat es 1903 schon gegeben, wenn auch eher ausnahmsweise. Das Stammberg etwa hat sie offenbar bauen lassen, um Bedenken der Schriesheimer Bevölkerung, der Kanzelbach könnte durch das Sanatorium in einen Tuberkelpfuhl verwandelt werden, entgegenzuwirken.

    Wenn das, was heute noch übrig ist, allerdings repräsentativ ist für das, was damals gebaut wurde, dann ist erstaunlich, dass die Bürgerschaft bachabwärts sich hat beruhigen hat lassen:

    Ein grün bewachsenes, vielleicht 10 × 10 m großes Becken mit einem Geländer drumrum.  Dahinter ein recht moderne aussehnder kleiner, einstückiger Klinkerbau mit zwei Fenstern.

    All das ist (jedenfalls mit den ganzen Zauberberg-Geschichten im Hinterkopf) so bezaubernd, dass ich AutorInnen von Heidelberg-Reiseführern (sowie natürlich neugierigen BewohnerInnen von Stadt und Umgebung) das Haus Stammberg ans Herz legen möchte. Mensch muss den Mann-Roman nicht mögen, um dem Charme des Ortes zu erliegen, einschließlich des vielleicht zunächst etwas morbid wirkenden Verfallsthemas, das Buch und Schriesheimer Realität (jedenfalls vorläufig; es gibt schon Pläne, die Liegehalle besser zu konservieren) durchaus gemeinsam haben.

    [1]…und vielleicht Corona-Distanzregeln; das Bild ist aber aktuell.
    [2]Dessen Name übrigens in einer eigenartigen, wenn auch vermutlich nicht geplanten Antiparallelität zum Berghof, dem Sanatorium aus dem Zauberberg, steht.
  • Rick würde heute Wattebäuschchen werfen

    Schwarzweiß-Screenshot: Humphrey Bogart schaut sardonisch und hat den Mund halb geöffnet.

    Humphrey Bogart in Casablanca: „Es gibt ein paar Teile von New York, die ich nicht erobern wollen würde, wenn ich Sie wäre“. Was das mit Wattebäuschchenwerfen zu tun hat? Lest weiter.

    Da die allwöchentliche Heidelberger Kundgebung gegen den zweiten Krimkrieg und vor allem die deutsche Beteiligung daran (Montag 18 Uhr am Theaterplatz) gerade Sommerpause macht, bietet sich ein kurzer Rückblick an auf einen Passanten, der uns „ja, wollt ihr den Putin mit Wattebäuschchen bewerfen?“ entgegenfauchte.

    Leider stand der Fauchende selbst nicht für weitere Erörterungen zur Verfügung, aber den Gedanken finde ich tatsächlich wertvoll: Die Wattebäuschchenwürfe wären zur Erhaltung von Frieden und zumindest rudimentärer persönlicher Selbstbestimmung („Freiheit“) in der Ukraine ganz bestimmt mindestens so wirksam wie die Stahlhelme und Haubitzen, die tatsächlich zum Einsatz kommen (und offensichtlich im Hinblick auf diese Ziele gar keinen Nutzen haben), aber sie würden entschieden weniger Schaden zwischen Kriegsdienstpflichten, Zermetzelten, kaputten Häusern, Zensur, Kriegsrecht, Minimalgruppenhass und Propaganda anrichten.

    Die kontrafaktische Gewissheit über die Wirksamkeit des Tötens

    Tatsächlich verblüfft mich immer wieder, wie der autoritären Versuchung erlegene Menschen entgegen aller Erfahrung und Logik ganz selbstverständlich voraussetzen, dass das Rumballern irgendwas hilft oder jedenfalls Schlimmeres verhindert. Für diese Prämisse gibt es jedoch nicht den Hauch eines Belegs.

    Als besonders deutliche Episode rufe ich auf, dass das Massaker von Srebrenica in unmittelbarer Nachbarschaft einer Kaserne der niederländischen Armee stattfand – und vermutlich ohne die militärische Spezialoperation aus dem aufgeklärten Westen auf „den Balkan“ zumindest so nicht passiert wäre, zumal es das improvisierte Lager von Srebrenica ohne diese in der Form schon gar nicht gegeben hätte. Und nein, auch die humanitäre Operation im Kosovo hat nicht etwa ein Massaker unterbrochen.

    Gänzlich kontrafaktisch werden diese Erzählungen, wenn es mit „Freiheit verteidigen“ weitergeht. „Freiheit“ ist, wenn dieses geschundene Wort überhaupt noch irgendwie mit sinnvollem Inhalt zu füllen ist, ein Attribut im Verhältnis zwischen Obrigkeit (sowie deren HandlangerInnen) und Untertanen. Als solches sind seine Belegungen weitgehend invariant gegen die konkrete Obrigkeit[1]; der ganz entscheidende Faktor hingegen ist, was sich die Untertanen bieten lassen[2].

    Militär verteidigt nie Freiheit(en)

    Im Antagonismus Obrigkeit-Untertanen nun ist das Mittel der nationalen „Verteidigung“, das Militär, aber im Wesentlichen immer[3] auf der Seite der Obrigkeit und mithin gewiss nicht auf der nachvollziehbarer Bedeutungen von „Freiheit“.

    „Freiheit verteidigen“ bedeutet demnach (jaja: im Wesentlichen) immer, Militär zu bekämpfen und nie, sich an die Seite irgendeines Militärs zu stellen. Diese Erkenntnis ist fast so fundamental wie ihre weise Schwester: „Wenn bei einer ethischen Erwägung rauskommt, dass du Leute töten sollst, dann hast du dich komplett verrannt.“

    Das Thema Unterwerfung und Eroberung wird sehr beeindruckend im wahrscheinlich großartigsten Propagandafilm aller Zeiten, Casablanca von 1942, aufgearbeitet. Die Situation: Rick, der als Nationalität „Säufer“ („drunkard“) angegeben hat, also (in dieser Phase des Films) allen möglichen Patriotismen abgeschworen hat, sitzt so etwa 1941 mit Major Strasser an einem Tisch. Strasser, ein Emissär der deutschen Wehrmacht, will Rick überzeugen, einem aus dem deutschen Machtbereich ins Niemandsland von Casablanca – weitgehend loyal zum französischen Marionettenregime in Vichy, aber halt auch nicht so ganz – entkommenen Antifaschisten nicht zur weiteren Flucht zu verhelfen. Er sondiert Ricks Loyalitäten und fragt diesen, ob Rick sich die Wehrmacht in Paris oder London vorstellen könnte. Rick gibt jeweils geistreiche und sehr unpatriotische Antworten.

    Ziel: Keine Lust, uns zu regieren

    Schließlich stellt Strasser die Königsfrage zu Ricks Heimatstadt im Versuch, ihn bei Resten von Patriotismus zu packen: „What about New York?“ Rick pariert mit dem wirklich brillianten Satz:

    There are certain sections of New York that I wouldn't advise you to try to invade.

    Ich finde, das ist ein ausgesprochen erstrebenswertes Ziel für eine Gesellschaft: So zu werden, dass wohlmeinende Menschen Obrigkeiten abraten, sie beherrschen zu wollen.

    Ich will dabei gerne zugestehen, dass Casablanca durchaus auch als Geschichte einer antifaschistischen, vielleicht gar patriotischen Läuterung von Rick gelesen werden kann – einer Läuterung übrigens, die interessanterweise im Namen sexuellen Begehrens beziehungsweise Entsagens erfolgt. Die Läuterung geht so weit, dass Rick Strasser am Schluss umpufft (selbstverständlich in Notwehr, aber das ist für diese Überlegung eher zweitranging).

    Ist diese Sorte Läuterung erstrebenswert? Nun ja, heute wissen wir einiges, das die Epstein-Zwillinge – die das Drehbuch für den Film geschrieben haben – damals noch nicht wissen konnten: Nazis (und anderen Obrigkeiten) massenhaft nicht gehorchen hat erheblich weniger unerwünschte Nebenwirkungen als Nazis umpuffen. Wichtiger noch: es wirkt besser.

    [1]Und selbstverständlich unabhängig von Nationalität oder „Ethnizität“ (was immer das nun schon wieder sein mag) des obrigkeitlichen Personals.
    [2]Ganz besonders wichtig in dem Zusammenhang: warum sind die Untertanen vielerorts eigentlich so gefügig? Womit wir beim Nationalismus als einem wesentlichen Ideologem wären, das Untertanen zum Mitspielen bei den imperialen Ambitionen ihrer jeweiligen Obrigkeit motiviert – und damit zum Verzicht auf so gut wie alles, was „Freiheit“ vernünftigerweise bedeuten könnte. Von Einsichten dieser Art ist es nicht mehr weit zur gerade in Olympiazeiten wertvollen Frage, wie und wann Menschen die Anwendung dieses Ideologems einüben. Aber das gehört hier nicht mal mehr in eine Fußnote.
    [3]In der deutschen Geschichte gab es im Wesentlichen einen Moment, in dem das anders war (die Novemberrevolution). Aber auch da fanden die Soldaten schnell wieder zurück in ihre gewohnte Rolle: die Obrigkeit gegen verschiedene Gruppierungen der Untertanen zu verteidigen (Beweisstück A, Beweisstück B, Beweisstück C, Beweisstück D).
  • Frankenstein und Frankenstein: Eine Geschichte von Touristinformation

    Eine offensichtlich modern restaurierte Burg mit einem behaubten Turm.

    So wüst gefälscht wie die Hardenburg: Burg Frankenstein oberhalb von Darmstadt-Eberstadt.

    Ich sitze gerade auf der Burg Frankenstein, und zwar der hessischen Fassung, mit etwas baumbehinderten Ausblick auf die Oberrheinebene. Abgesehen von Burgherren mit dem bemerkenswerten Vornamen Arbogast weckte dabei vor allem eine Beobachtung meine Bloglust: Quellenkritik ist wichtig. Es stellt sich nämlich angesichts des popkulturell belegten Nachnamens der Arbogasts die zentrale Frage: Hat hier wer künstliche Menschen gemacht?

    Mir fiel auf, dass darüber in der von mir mitgebrachten und der vor Ort installierten Literatur wenig Einigkeit besteht.

    Fangen wir mit der Fassung des ziemlich seriös daherkommenden Rother-Wanderführers „Rund um Frankfurt“ von Gerard Heimler und Thorsten Lensing (2021) an:

    Obwohl es zu Mary Shelleys Roman „Frankenstein oder der moderne Prometheus“ keine über den Namen hinausegehende Verbindung gibt, finden sich auf der erstmals 1252 urkundlich erwähnten Wehranlage Halloweenpartys und Gruseldinner statt.

    Das mit den Dinners dürfte im Augenblick Fake News sein, weil die bemerkenswert hässlich hingeklotzte Gastronomie derzeit offenbar pächterlos ist. Macht bis auf Weiteres nicht meinen Fehler und hofft auf Sättigung hier oben – immerhin gibts aber Wasser auf der Toilette.

    Demgegenüber weiß das buntere, großformatigere „52 kleine & große Eskapaden in der Region Rhein-Main“ von Sarah Waltinger (Dumont 2020, also immerhin vom Verlag her auch nicht ganz ohne Reputation) zu erzählen:

    Man munkelte, der Alchimist Johann Konrad Dippel, 1673 auf der Burg Frankenstein geboren, habe aus Leichenteilen und dem Blut von Jungfrauen einen neuen Menschen erschaffen. In einem Brief soll Jacob Grimm von den unheimlichen Vorfällen einer gewissen Mary Jane Clairmont berichtet haben, die keine Geringere als die Stiefmutter von Mary Shelley war. Ob die Autorin auf diesem Wege zu ihrem Weltbesteseller „Frankenstein“ inspiriert wurde und Johann Konrad Dippel als reale Vorlage für den verrückten Professor diente? Darüber streiten sich die Experten.

    Viele reale Namen, Jahreszahlen und alles: Die Geschichte klingt doch sehr plausibel. Wussten die Rother-Autoren nichts davon? Oder halten sie es für frei erfunden? Gibt es einen Briefwechsel der Grimms mit den englischen Gothics?

    Nun, vor Ort bekommt mensch auf einer Tafel das hier angeboten:

    Abfotografierter Text auf einer Informationstafel: „In der Nacht des 2.Septembers 1814 machte die englische Autorin Mary Shelley während einer Rheinreise ein paar Stunden Rast in Gernsheim (15 km westlich der Burg).  Dabei soll sie auf die Burg Frankenstein aufmerksam geworden sein.  Von Germsheim ist die Burg jedoch – selbst bei Tage – kaum zu erkennen.  Es ist daher unwahrscheinlich, dass es einen direkten Bezug zwischen der Burg und dem Schauerroman gibt.“

    Das steht zwar nicht in direktem Widerspruch zu den beiden anderen Fassungen (je nach dem, wie mensch „direkt“ interpretieren möchte), so richtig passen will es aber auch nicht.

    Der etwa auch wegen der großartigen Geschichte vom Goldrausch auf der Burg durchaus lesenwerte Wikipedia-Artikel zur Burg erklärt, mit einigen Ergänzungen der letzten Jahre:

    Berühmtheit verdankt die Burg Frankenstein der Tatsache, dass sie als Namensgeber für Mary Shelleys bekanntes Buch „Frankenstein oder der moderne Prometheus“ dargestellt wird, das auch mehrfach verfilmt wurde. Eine Verbindung Mary Shelleys mit der Burg wird von verschiedenen Autoren aus Gründen der beschriebenen Lokalitäten angezweifelt – zudem wird in dem Roman keine Burg erwähnt. Da das Ehepaar Shelley auf der Reise nach Genf aber durch das Rheintal kam, wird vermutet, dass die Schriftstellerin den Namen der Burg bzw. des Adelsgeschlechtes übernahm (der Held im Buch, Viktor Frankenstein, wird als Patriziersohn beschrieben, der aber aus der Schweiz stammt). […]

    Verbreitung fanden diese „neuen“ Legenden über Dippel durch ein 1999 erschienenes Buch des Autors und selbsternannten Burgschreibers der Burg Frankenstein, Walter Scheele, in dem auch behauptet wurde, dass Dippel das historische Vorbild für Mary Shelleys Buch Frankenstein oder der moderne Prometheus sei, eine These, die aufgrund fehlender Belege und Hinweise von Historikern des Geschichtsvereins Eberstadt-Frankenstein abgelehnt wird.

    Ich habe die Belege aus dem Wikipedia-Zitat entfernt (guckt bei Bedarf selbst), bis auf einen. Die Abhandlung des Geschichtsvereins macht einen ernsthaften Eindruck, und sie würde ich als Autorität akzeptieren, bis einE VertreterIn der „Grimmforschung“ widerspricht. Und so: Shame on you, Dumont: Es sind nicht etwa „Experten“, die da streiten.

  • Biologie wie in Borodino

    Ein Ameisenhaufen im Wald, davor ein großer weißer Pilz.

    Nach der Lektüre von Erik Franks Artikel stellt sich die Frage: Betreiben die Ameisen unter dem sichtbaren Pilz-Fruchtkörper (2013 nahe am Edersee) vielleicht eine Pharmafabrik?

    Unter dem Tag Ethikkommission sammele ich hier wissenschaftliche Grobheiten gegen Tiere: Fledermäuse, die wegen Unterdrucks abstürzen, Libellen, die mit dem Rücken nach unten fallen gelassen werden (und schlimmer: deren Augen zugepappt wurden), Wespenköniginnen, die zu, na ja, Hahnenkämpfen proviziert werden. In der Deutschlandfunk-Reihe Forschung aktuell gab es am 3.7.2024 einen weiteren Beitrag zu dieser Liste: Da haben Leute um den Würzburger[1] Biologen Erik Frank Ameisen Teile ihrer Beine abgeschnitten[2].

    Ich vermute, Grundlage des Berichts ist seine Arbeit „Wound Dependent Leg Amputations to Combat Infections in an Ant Society“, erschienen leider im Elsevier-Blatt Current Biology (doi:10.2139/ssrn.4612970 und leider bisher nicht bei libgen verfügbar, um so leidererer, als Elsevier selbst Menschen aus abonnierenden Netzen mit Cookie-Bannern und Registrierung belästigt und die AutorInnen den Kram leider auch nicht auf ordentliche Preprint-Server gelegt haben).[3]

    Wenn mensch sich durch Elseviers Dark Patterns durchmanövriert hat, gehts auch schon im Abstract zur Sache:

    Experimentelle Amputation führte zu höhren Überlebensraten bei Ameisen, deren infizierte Wunden am Oberschenkel lagen, aber nicht, wenn sie am Unterschenkel lagen.

    „Experimentelle Amputation“? „Infizierte Wunden“? Bilder von Schlachtfeldern der napoleonischen Kriege drängen sich in mein Bewusstsein. Das geht bis hin zum Wundfieber, an dem damals Pseudomonaden bestimmt auch regelmäßig beteiligt waren:

    Das Aufbringen von Pseudomonas aeruginosa auf Oberschenkelwunden [der untersuchten Ameisen] resultierte in einer Sterblichkeit von 85% innerhalb von 72 Stunden (N=48), ein Wert, der sehr ähnlich dem war, der für M. analis beobachtet wurde.

    Mensch kann auch sagen: Die Leute haben (in diesem Fall, für die ganze Arbeit waren es viel mehr) 48 Ameisen ein Bein abgeschnitten und dann so fiesen Schmodder auf die Wunde geschmiert, dass fast alle Tiere innerhalb von drei Tagen tot waren.

    Ich sage mal: mit „richtigen“ Tieren (so, mit Pelz und Linsenaugen) hätte das wohl keine Ethikkommission dieses Planeten durchgelassen. Aber ich kann nicht mit Steinen werfen; ich habe ja schon vor zwei Jahren öffentlich gestanden, dass es auch mir gerne mal an Empathie fehlt, selbst bei so offensichtlich sympathischen Geschöpfen wie Fruchtfliegen; und dabei habe ich noch gar nicht mit Mücken und Nacktschnecken angefangen.

    Dennoch hätte ich gerne in dem DFG-Ausschuss mitgehört, der Erik Frank eine Emmy Noether-Gruppenförderung[4] gegeben hat. Ich habe halb im Ohr, wie wer sagt: „Sagt mal, ist das nicht ein wenig wie Käfern die Beine ausreißen? Was ist, wenn TierrechtlerInnen das mal genauer ansehen?“ Wenn das so ähnlich war, hat dann wer anders etwas gesagt wie: „Hör zu, das sind die Ameisen, die wir ohne Not in großer Zahl vergiften, nur damit auf den polierten Terrassensteinen nichts krabbelt“?

    Dabei gestehe ich gerne, dass Franks Ergebnisse beeindruckend sind; dass Ameisen gezielt, also nur bei geeigneten Verletzungen, Chirurgie praktizieren und damit auf recht durchschlagenden Erfolg haben – siehe Abbildung 3 A aus dem Paper:

    Grafik, die Zeit zwischen 0 und 75 Stunden gegen Überlebenswahrscheinlichkt plottet für diverse Szenarien: Ober- und Unterschenkel, steril amputiert oder infiziert, mit Nestpflege oder ohne.  Die infizierten Wunden waren mit Nest-Hilfe nicht wesentlich tödlicher als uninfizierte Wunden, ohne ganz dramatisch viel mehr.

    Rechte: Ich musste meine Erstgeborene an Elsevier verkaufen, und auch dafür darf ich das nicht unter CC-0 verteilen. Zur Not wandere ich in die USA aus und plädiere auf fair use. Ansonsten siehe doi:10.2139/ssrn.4612970.

    – dagegen wäre ich ziemlich hohe Wetten eingegangen, weil ich mir kaum vorstellen kann, wie so komplexes Verhalten in der DNS der Ameisen kodiert sein könnte. Jaja, ein bisschen neugierig bin ich vielleicht auch, was für Antibiosen die dabei einsetzen, aber die Sorte Fragestellung kann mensch wohl getrost der DFG überlassen.

    Einen Einwand muss ich aber doch noch loswerden: Ganz überzeugt bin ich nicht, dass die dramatisch höhere Überlebensrate im Nest tatsächlich auf die Amputation zurückzuführen ist nicht (auch) auf irgendwelche Sorten Nestschutz oder vielleicht wegen Isolation und damit wegen Stress heruntergefahrenem Immunsystem bei den isolierten Tieren – das Stresshormon Cortisol ist zwar nicht ganz so anti-inflammatorisch wie Cortison, aber durchaus auch ein wenig. Da bräuchte es, behaupte ich, schon noch ein paar weitere Experimente.

    Oh nein! Arme Ameisen.

    [1]Na gut: Die Arbeit zum Paper hat er den Affiliations der Ko-Autoren nach zu schließen gemacht, als er in Lausanne (und einem Nationalpark in der Elfenbeinküste) noch auf einen Ruf nach Würzburg hoffte. Das „Würzburger“ ist also ein wenig zu relativieren.
    [2]Der DLF-Journalist Joachim Budde nennt diese Amputation in seinem Beitrag „Simulation“, was, wenn ich mich recht entsinne, noch am ehesten meine Emörungsschwelle überschritten hat.
    [3]Ich kann mich eines tangentialen Kommentars im Kontext meines heiligen Krieges gegen quatschige Metriken nicht enthalten: Der Artikel wurde, als ich ihn während der Suche nach ethisch akzeptablen Preprintquellen gesehen habe, im Netz hoch und runter diskutiert. Dagegen war ich laut Elseviers Downloadzähler erst die dreiundzwanzigste Person, die den Volltext runtergeladen haben soll. Nun glaube ich tatsächlich nicht, dass viele JournalistInnen das ganze Paper gezogen haben, aber zumindest viele KollegInnen werden das getan haben. Was immer die 23, die Elsevier da anzeigt, bedeutet: ich kann mir keine nützliche Größe vorstellen, die sie messen würde. Ich jedenfalls würde gerne mal einen wissenschaftlichen Artikel schreiben, der ein vergleichbares öffentliches Echo hat – während ich 23 Downloads von einem Preprint in nicht völlig exotischen Fächern für ganz normal halte.
    [4]Unglaublich, aber wahr: Die DFG-Webseiten sind ohne Javascript kaputt und, noch krasser, auch mit Javascript, aber ohne Javascript Local Storage. Was für Leute machen solche Webseiten? Und wer nimmt die ab?
  • Zur Erinnerung an Erich Mühsam, ermordet vor 90 Jahren

    Kopf eines in Fraktur geschriebenen Artikels „Strafvollzug an politischen Gefangenen in Bayern“ von Erich Mühsam

    Gestern fand in Heidelberg ein Erinnerungsabend an Erich Mühsam unter dem Titel Sich fügen heißt lügen statt. Der Anlass war nicht im eigentlichen Sinn erfreulich: Auf den Tag genau 90 Jahre zuvor hatten SS-Männer den „Dichter für Freiheit und Menschlichkeit” (und anarchistischen Aktivisten) im frühen KZ Oranienburg – zu diesen Einrichtungen siehe auch Auftakt des Terrors – ermordet.

    Ich finde (eingestandenermaßen unbescheiden), es war trotzdem ein schöner und informativer Abend mit Texten, Gedichten und Liedern von Mühsam, der ihm wahrscheinlich selbst gut gefallen hätte. Mir hat er auch deshalb gefallen, weil mir Mühsams Denken und Handeln in vielerlei Hinsicht sehr modern erscheint – ebenso in der Ablehnung autoritärer Verwirrung in der Linken wie in der entschlossenen Bereitschaft, trotz solcher Grundhaltungen mit Menschen guten Willens an guten Zwecken – wozu insbesondere der Kampf gegen grosso modo Militär und Polizei gehört – zu arbeiten, ganz im Sinne der „ökumenischen Linken“, für die ich David Rovics vor drei Jahren gelobt habe.

    Ich selbst habe vor allem beigetragen durch Lesungen von Extrakten aus zwei Gebrauchstexten von Mühsam. Und nachdem ich die schon mal produziert habe, dachte ich mir, ich könnte sie ja auch hier veröffentlichen, zumal mir scheint, dass zumindest im offenen Netz nirgends brauchbar ocrte Volltexte von ihnen stehen.

    Strafvollzug in Bayern

    Der erste Text war eine Rede, die Mühsam 1925 vor der ersten Reichstagung der „Roten Hilfe Deutschlands“ gehalten hat. Der Text passte auch, weil die Veranstaltung gestern von der modernen Roten Hilfe veranstaltet wurde, und zwar im Rahmen von deren Hundertjahrfeiern, die hier schon zuvor Thema waren.

    Mühsam war gerade kurz zuvor aus einem bayrischen Knast rausgekommen, in den ihn die Behörden von Weimar wegen seiner Unterstützung der bayrischen Räterepublik von 1919 hatten stecken lassen. Der Volltext der Rede (als PDF ohne Text) ist in Fraktur gesetzt; was an daraus resultierenden OCR-Fehlern noch übrig ist, bitte ich großzügig zu überlesen. Kursiv ist im Folgenden meine Moderation.

    Erich Mühsam hat 1925 auf der ersten Reichstagung der Roten Hilfe ein Referat gehalten, das zumindest im Inhalt sehr aktuell klingt, jedenfalls für Menschen, die mal in Bayern demonstrieren waren.

    Genossen und Freunde! Die Tagesordnung der gegenwärtigen Versammlung, die uns zugestellt worden ist, enthält in Punkt 4, wahrscheinlich ohne Absicht der Einberufer, aber doch mit einem tiefen Grund, eine merkwürdige Unterscheidung, die sagt:

    1. der Strafvollzug in Theorie und Praxis,
    2. in Bayern.

    Vieles von dem, was Mühsam im Folgenden berichtet, ist aus heutiger Sicht ein bitterer Kommentar zu all den bürgerlichen Theorien [im Blog: Exhibit 1, Exhibit 2] wie es dazu kommen konnte, dass die Deutschen praktisch ihn ihrer Gesamtheit zu FaschistInnen wurden. Wer Mühsam liest, wird sich noch mehr als ohnehin schon fragen, woher wohl das Gerede von den "Extremisten von Links und Rechts" kommt, die den blühenden Rechtsstaat Weimar demontiert hätten.

    Nein, es ist eher ein Wunder, warum ein derart von rechtsradikalen Autoritären durchsetzter Apparat so lange gebraucht hat, um auch formal die Macht an eine Partei wied ie NSDAP übergehen zu lassen. Hören wir weiter Mühsam:

    Ich muß mich darauf beschränken, vom Festungsstrafvollzug zu sprechen, weil ich hier aus persönlicher trüber Erfahrung sprechen kann. Was über den Strafvollzug in Zuchthäusern und Gefängnissen bekannt geworden ist aus Berichten, die mir zugingen von Leuten, die ihn selbst erlebt haben, die entweder auf die Festung zurückkamen oder mich später aufgesucht haben, das erweckt den Eindruck, als ob im Zuchthaus Straubing und in den Zuchthäusern Bayerns überhaupt gegen die politischen Gefangenen eine wahre Hölle etabliert ist und ein Verfahren, wonach die politischen Gefangenen schlimmer behandelt werden als die kriminellen, und zwar grundsätzlich.

    Soweit wir erfahren konnten, wird z.B. Alois Lindner, der Erhard Auer verwundet hat, nachdem Arco Eisner ermordet hatte — und Lindners Tat war bekanntlich ehrlos, während Arcos Tat als die eines Ehrenmannes gefeiert wurde — so malträtiert, daß er zeitweilig seinen Aufenthalt in der Irrenabteilung des Zuchthauses nehmen mußte. Dagegen wird der Gefangene Makowski in einer Art behandelt, die ungefähr der Behandlung eines Hilfsbeamten gleichkommt.

    Zur Einordnung: Eisner war Regierungsschef der Räterepublik, und Graf Arco hat diesen aus antikommunistischem Hass erschossen. Makowski wiederum hat als Teil der protofaschistischen Freikorps bei der Niederschlagung der Räterepublik 21 Männer niedergemetzelt, die noch nicht mal Kommunisten waren, sondern „katholische Gesellen“. Und so (wieder Mühsam) kam es,

    daß das Gericht seine erste Aufgabe darin sah, festzustellen, ob die Mörder glauben konnten, Spartakisten vor sich zu haben, oder ob sie wußten, daß es sich tatsächlich um Katholiken handelte. Da man bei Makowski und Müller unbedingt zu dem Schluß kommen mußte, daß sie wußten, wer die Leute waren, bekamen sie hohe Zuchthausstrafen. Sie werden jetzt aber besonders bevorzugt behandelt. […]

    Umgekehrt haben sich die Regierungen in Berlin und München besondere Mühe bei den Schikanen gegen die anderen Gefangenen, zumal solche mit linkem Hintergrund, gegeben:

    Es ist in diesen Anstalten Grundsatz — ich bemerke, daß das allgemeiner Grundsatz in Bayern ist — daß die Bestimmungen, die den Verkehr mit den Angehörigen regeln, keine Gültigkeit haben auf Bräute. Die Bräute werden in Bayern nicht anerkannt, sie sind keine Verwandten, und selbst Bräute, die bereits Kinder von ihren Männern haben, und die nur aus irgendwelchen Gründen die Eheschließung nicht vollzogen haben, werden als Bräute nicht anerkannt.

    Auf der anderen Seite haben wir, wenn wirklich mal von der anderen Seite einer ins Zuchthaus kommt, den Fall Zwengauer. Zwengauer ist eines Fehmemordes überführt worden. Er wurde zum Tode verurteilt und dann zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt. Er konnte aber nach ganz kurzer Zeit, nach wenigen Wochen aus der Krankenabteilung des Zuchthauses flüchten. In der bayerischen Presse hieß es: „Es hat den Anschein, als ob er mit Hilfe von Strafvollzugsorganen geflüchtet sei.“ Den Anschein hatte es für uns allerdings auch.

    Von Links her ist in Bayern einem politischen Gefangenen die Flucht noch nie gelungen. Selbst die Flucht aus Festungen ist seit Januar 1921, wo es einem meiner Freunde auf dem Transport zum Zahnarzt gelang, aus dem Zuge zu springen, nicht mehr gelungen. Es wurde keiner mehr zum Zahnarzt befördert.

    Mühsam kommt jetzt genauer auf seine „Festungshaft“ zu sprechen. Festungshaft war im Kaiserreich eine Art Hausarrest für Ehrenmänner – etwa welche, die sich duelliert hatten – unter einem weit großzügigerem Regime als in Gefängnis oder gar Zuchthaus. Für die linken politischen Gefangenen der Weimarer Republik änderte sich das recht schnell:

    Als wir verurteilt wurden vom Stand- oder Volksgericht, da waren die Urteile, die mehr durch Glücksfall auf Festung lauteten, selbstverständlich ausgesprochen worden in der Voraussetzung, daß nunmehr auch Festungshaft vollstreckt werden würde. Bei denjenigen, gegen die man Zuchthaus wollte, wurde ausdrücklich gesagt, daß man keine Festung haben wolle, und das Strafmaß für uns andere wurde außerordentlich hoch angelegt mit Rücksicht darauf, daß die Strafe leicht zu ertragen sei. Unter dieser Voraussetzung wurden bis 15 Jahre Festung verhängt.

    Da kam der Justizminister Dr. Müller (Meiningen), Demokrat in der sozialdemokratischen Regierung Hoffmann, und brachte, nachdem wir schon von Anfang an nicht in die eigentliche Festung, die dafür gedient hatte, gelegt wurden, sondern in eine Abteilung des Zuchthauses Ebracht, also in andere Räume, und nachdem uns schon von Anfang an Ausgang nicht bewilligt wurde, obwohl er zur Festungshaft gehört, nachdem uns sonst aber ein Festungsstrafvollzug, wie er üblich war, zuteil geworden war — war im August 1919 einen Erlaß heraus, den er Ausführungsbeftimmungen zur Hausordnung für Festungsgefangene nannte. Diese Ausführungsbestimmungen hoben aber die Verordnung, deren Ausführung sie auslegen sollte, absolut auf. […]

    [Die bayrische Regierung kann danach] jeden Raum, der [ihnen] gefällt, dazu bestimmen. Klar ist, daß das Gesetz für die Festungsgefangenen bestimmt, daß sie in eigens dazu bestimmten, baulich dafür in Frage kommenden Räumen unterzubringen sind und nicht in Räumen, die zu Gefängnis- und Zuchthausstrafen eingerichtet sind.

    Das kennen wir auch heute noch, von Sicherungsverwahrung – neulich war Thomas Mayer-Falk hier in Heidelberg – und auch von Abschiebehaft und ähnlichen Übergriffen.

    Ich bin darauf eingegangen, weil von hier aus die ganzen Schikanen, die ganzen Ruchlosigkeiten ihren Ausgang nahmen. Denn nicht nur, daß wir in Gefängnissen und Zuchthäusern untergebracht waren, wir wurden auch bewacht von ausgebildetem Gefängnis- und Zuchthauspersonal, die den Unterschied zwischen der Festungshaft und der Gefängnis- und Zuchthaushaft nicht machten. So geschah es und so war es auch die Absicht.

    […]

    Es ist ein uraltes Prinzip des Strafvollzugs, daß bei Beginn der Strafe die Strafe schwer ist, daß die Gefangenen zuerst fest an die Kandare genommen werden und daß allmählich ein Nachlassen dieser Härten vor sich geht. Das ist ein Prinzip, wie es bisher überall im Strafvollzug festgelegt ist. In Bayern wurde das umgekehrte Prinzip gehandhabt. Es hat sich in einem Prozeß durch den Eid eines Beamten der Festung St. Georgen herausgestellt, daß ein Erlaß bestand, wonach Müller (Meiningen) verfügt hat: Die Festungshaft ist sukzessive zu verschärfen. Und die Verschärfung hat fünf Jahre angedauert.

    Franz Kafkas „Prozess“, geschrieben ca. 1914, erschien gerade in den Tagen, als Mühsam seine Rede hielt. Es war Zeitgeist:

    Die Verschärfungen wurden zur Kenntnis gebracht häufig einfach durch Disziplinierungen. Man wurde in Einzelhaft genommen und wußte dann, daß man das und das nicht tun darf. Fünf Jahre wurden wir so gemartert. Das war schlimmer, als alles das, was ich später nur streifen kann, da ich wenig Zeit habe. Ueberhaupt diese geheimen …

  • The Oldest Python In The World

    Fossilised bones in snake shape, whitish on a yellow background

    Messelopython freyi – or rather, its remains – as shown in the visitor centre of Grube Messel: the “world's oldest python“.

    In early June, I visited Grubel Messel, a former quarry for oil shale that was devised to become a landfill but, thanks to a major dose of civic resistance, instead has become a UNESCO world heritage site for the richness in diversity and detail of the fossils found in its shale. Mind you, this is not about dinosaurs. The animals preserved there lived at least 10 million years after all dinosaurs except the birds went exinct, in the Eocene. Messel's most famous fossils are those of a small ancestor of our modern horses (“Urpferdchen”, in the PR of the site).

    I, however, was much more smitten by the bones pictured above. That is mostly because the museum claims that these are the remains of the oldest python of the world. That may be a fleeting fame, as the genus was only introduced in 2020, but by the Messelopython page in the German Wikipedia (no translation yet, sorry), it is about 48 Million years old. And that certainly is quite an age even compared to the ancient Python 1.4 that I wrote my first Python programs in late in the last Millennium.

    But that's what I wanted to publish that photo for: If you want to rant about some really, really ancient piece of Python code that somehow made it to the 2020ies, feel free to use this photo as an illustration; as almost everything here, it is distributed under CC0. Of course, the name of the beast, Messelopython, is an added bonus.

  • Lesetipp: Der Grundrechte-Report 2024

    Ein Buch liegt auf einem Tischchen eines Regionalzugs: „Grundrechte-Report“ in Rot, „2024“ in Schwarz, auf weißem Grund mit einem Foto einer Aktion zur Verteidigung des Asylrechts.

    1a Reiselektüre: Der Grundrechte-Report 2024 zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland, herausgegeben von Peter von Auer und anderen, Fischer 2024.

    Jedes Jahr veröffentlicht eine breite Koalition von in der BRD aktiven Menschenrechtsorganisationen den Grundrechte-Report. Er enthält, numerisch sortiert nach den betroffenen Artikeln des Grundgesetzes, wahre Geschichten zu aktuellen Angriffen auf Grundrechte. In diesem Jahr wurden das 44 Kurz-Essays, die eigentlich alle dokumentieren, wie wenig die <hust> Verteidigung der Freiheit mit Waffen und Militär – oder, wie in der Erzählung von der „wehrhaften Demokratie“, mit Geheimdienst und Polizei – zu tun hat und wie viel mit der alltäglichen Wachsamkeit von ZivilistInnen. Jahr um Jahr belegt der Grundrechte-Report aber auch, wie alle Staatsgewalt (sowie ihre nähere Umgebung) ständig der autoritären Versuchung ausgesetzt ist, und wie sie ihr nur zu oft nachgibt.

    Für meinen Geschmack deutlich zu staatstragend, aber doch hinreichend antiautoritär und im Bewusstsein defizitärer Realität bringt das Friedrich Zillessen in seiner im 2024er Report enthaltenen Abschätzung der Folgen von relativen AfD-Mehrheiten in diversen Legisla- und Exekutiven auf den Punkt:

    Eine tatsächlich »wehrhafte« Demokratie ist vor allem eine vorbereitete Demokratie mit einer informierten Zivilgesellschaft und demokratischen Parteien, die einen autoritär-populistischen Zug erkennen, wenn er gemacht wird.

    Wehrhaft durch Folter

    Wie das „wehrhaft“ demgegenüber in der berüchtigten Verfassungswirklichkeit aussieht, diskutieren Hannah Espin Grau und Tobias Singelnstein im Report am Beispiel von polizeilichen Schmerzgriffen. Anwendung und Androhung dieser, so die beiden eher zurückhaltend, können

    im Einzelfall […] eine unmenschliche Behandlung darstellen und damit gegen das Folterverbot aus Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen.

    Wenn, wie im Report dargestellt, ein Polizist knurrt, sein Opfer werde „die nächsten Tage, nicht nur heute, Schmerzen beim Kauen und beim Schlucken haben“, wenn er mit seinem Griff fertig sei, ist in so einer Aussage jede Modalität, jede Einzelfallabwägung fehl am Platz.

    Neu ist das indes nicht; in meinem engeren politischen Umfeld empörte mich schon vor rund 20 Jahren, wie eine Handvoll PolizistInnen eine schmerzhafte Fesselung anwandte, um einen Freund zur Kooperation bei der Abnahme von Fingerabdrücken zu zwingen.

    Empörender noch als der eigentliche, für polizeierfahrene Menschen nicht sehr überraschende Vorgang war die nonchalante Selbstverständlichkeit, mit der die Polizei diese klare Folter im – gerichtsoffiziellen! – eigenen Bericht eingestanden hat. Die BeamtInnen zeigten sich darin sogar erstaunt, dass auch nach weiterem Anziehen der Fesselung, das „erfahrungsgemäß“ ausgesprochen schmerzhaft sei, keine Kooperationsbereitschaft zu erkennen gewesen sei.

    Hintergrund der Nonchalance ist, so erläutern Espin Grau und Singelnstein, die Behauptung der deutschen Polizei, nicht vom Folterverbot erfasst zu sein, da dieses für Bagatellfolter – unterhalb eines „minimum level of severety“, so die europäische Menschenrechtskonvention – nicht greife. Bagatellfolter ist eingestandenermaßen mein Wort, und ich wünschte, ich hätte es nicht erfinden müssen.

    Sechs von sechs Versuchen verfassungswidrig

    Zu solch zweifelhaften Rechtskonstrukten tritt ein entschiedener Wille der Parlamente oder jedenfalls der die Mehrheitsfraktionen kontrollierenden Regierungen, autoritäre Herrschaftsmittel wie Bagatellfolter – oder Vorratsdatenspeicherung, oder Ewigkeitsgewahrsam, zu dem sich auch ein Beitrag findet im Grundrechte-Report – zu legalisieren oder vielleicht besser: zu verrechtlichen. Zu diagnostizieren bleibt die Bereitschaft „der Politik“, den Erzählungen und Forderungen der reaktionären Polizeimehrheit so weitgehend zu folgen wie Zivilgesellschaft und (fortschrittliche Teile der) Justiz sie jeweils lassen.

    Ein besonders groteskes Beispiel für die Unfähigkeit des Bundestags, menschenrechtliche Maßstäbe an seine Gesetzgebung anzulegen, erwähnen Kalle Hümpfner und Tuuli Reiss eher nebenbei in ihrem Beitrag zum – was für eine Bezeichnung! – Transsexuellengesetz. Schon dessen Erlass im Jahr 1980 war der Legislative nur durch Dauernörgeln der Judikative und jede Menge zivilgesellschaftlichen Druck abzuringen. Es gibt aber sicher keine freundliche Erklärung dafür, dass seine Iterationen seit 1981 atemberaubende sechs Mal vorm BVerfG scheiterten; angesichts der Verfahrensdauern bis zum BVerfG ist davon auszugehen, dass gegen das Transsexuellengesetz immer mindestens eine (später) erfolgreiche Verfassungsbeschwerde lief und dass der Bundestag nie einen glaubhaften Versuch gemacht hat, ein menschenrechtskonformes Gesetz zu schreiben.

    Klar, ein Mal mag mensch, gerade in einem in der Mehrheitsgesellschaft so tabubesetzten Thema wie Queers, danebengreifen; Menschenrechte sind zwar eigentlich einfach, aber im Machtkalkül leicht zu übersehen. Zwei Mal übergreifen, na ja. Aber wer ein Gesetz sechs Mal so schreibt, dass das Verfassungsgericht eingreifen muss, macht das mit Absicht und entscheidet sich offensichtlich bewusst für (in diesem Fall) Ressentiment und gegen Menschenrechte.

    Amazon. Menschenrechte?

    Auf eine ganz eigene Art bedrückend ist der Beitrag von Andreas Engelmann über Beschäftigtendatenschutz. Diese Geschichte beginnt, als die niedersächsische Datenschutz-Aufsichtsbehörde Amazon untersagt, die Handlungen seiner MitarbeiterInnen engmaschigst zu analysieren. Krass ist, wie ehrlich die Amazon-Manager bei der Angabe ihrer Motivlage sind. Sie wollen „produktivere Arbeitskräfte […] zielgenau einsetzen“, die Daten für „Feedbackgespräche“ nutzen und dabei vor allem die „produktivsten und unproduktivsten Mitarbeitenden“ ansprechen, etwa durch „Qualifizierungsangebote“.

    Das ist eine so dystopische Horrorshow, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, welche SchurkInnen sich das ausgedacht, wer die Software dafür geschrieben hat. Aber siehe da, das VG Hannover hat das ja nun wirklich völlig offensichtlich gebotene Verbot der Datenverarbeitung durch die LfDI aufgehoben; die Verarbeitung, also der schwerwiegende Eingriff in die Grundrechte der Beschäftigten, sei notwendig, um Amazons Liefergarantien einhalten zu können. Engelmann kritisiert die Entscheidung mit den schönen und eigentlich hoffnungsfrohen Worten:

    Renditeerwartungen unterliegen, anders als die Persönlichkeitsrechte, keinem grundrechtlichen Schutz.

    Immer weniger Recht auf Versammlung

    Beim linearen Lesen erstaunlich fand ich, dass in Clemens Arzts Übersicht über behördliche Angriffe auf das Versammlungsrecht durch Allgemeinverfügungen – diese leugnen Artikel 8 des Grundgesetzes gleich komplett und untersagen Versammlungen vollständig – zwar Corona, letzte Generation und Pali-Soli erwähnt sind, nicht jedoch der „Tag X“ in Leipzig (3.6.2023), also die Kundgebungen gegen das Skandalurteil im Antifa-Ost-Verfahren („Lina E.“).

    Dabei hatte das Gericht nicht nur in einem eklatant politischen Urteil eine Beschuldigte für absurde fünf Jahre in den Knast geschickt. Nein, im Anschluss hat die Justiz auch noch munter tagelang alle Kundgebungen zum Thema untersagt und eine in der Folge angemeldete Kundgebung gegen diesen atemberaubenden Verfassungsbruch von der Polizei unterdrücken lassen. Hunderte Menschen verbrachten eine sehr unangenehme Nacht in einem Polizeikessel. Wer unklug genug war, ein Mobiltelefon mit auf die Demo zu nehmen, war das dann auch los. Häufig liegen die Dinger bis heute bei der Polizei, die versucht, aus ihnen Daten rauszukramen – oder doch jedenfalls ihre BesitzerInnen zu ärgern.

    Diese fast schon provokativ zur Schau gestellte Missachtung der Menschenrechte hat indes ganz zu Recht einen eigenen Beitrag im Report. Wer ergänzend zu Peer Stolles Abhandlung über diese „Verselbstständigung polizeilicher Repression“ etwas mehr lesen will, findet in der Zeitung der Roten Hilfe 1/2024 zwei einschlägige Artikel (S. 28ff).

    Sollte jemand glauben, pauschale Demonstrationsverbote nach chinesischem Vorbild – und mögen sie auch als „Allgemeinverfügung“ technokratisch einen liberalen Mantel erhalten – würden wenigstens durch eine im Vergleich zu Beijing rechtsstaatlich gezähmte Polizei grundrechtsschonend durchgesetzt, kann sich in Tina Kellers Beitrag über die Räumung von Lützerath eines Schlechteren belehren lassen:

    Es wurde immer an mehreren Orten im Gelände gleichzeitig geräumt, und es wurden Menschen mit Hebebühnen aus Bäumen oder Hochsitzen geholt, während direkt daneben übereilt mit schwerem Gerät Häuser abgerissen oder Bäume gefällt wurden [beachtet die freundlichen Passivkonstruktionen!] Dies hatte zur Folge, dass […] mehrfach Geäst beinahe in Seile fiel, an denen noch Menschen gesichert waren. […]

    Zahlreiche Demonstrierende erlitten Verletzungen – auffällig dabei war die Häufigkeit von Verletzungen im Kopfbereich, was auf gezielte Schläge der Polizei schließen lässt.

    Und nein, das war gewiss nicht wegen schlechter Laune nach dem gelungenen Auftritt des Schlammpriesters:

    (Rechte: Keine Ahnung, also eher nicht CC0 wie hier sonst üblich)

    Kein Verlass auf Gerichte

    Ich habe damit aufgemacht, dass es bestimmt nicht das Militär ist, das unsere Grundrechte – und mithin das, was dem großen Wort „Freiheit“ irgendeinen nachvollziehbaren Inhalt verleiht – verteidigt. Der Grundrechte-Report zeigt, dass diesen Job weiter im Wesentlichen nie Parlamente machen und leider oft genug auch nicht Gerichte.

    Im Grundrechts-Report stellt Benjamin Derin in einem Lamento über das Ewigkeitsgewahrsam – das BVerfG hat schon 2004 zwei Wochen grundloses Einsperren abgesegnet, seine bayrischen KollegInnen fanden inzwischen auch unbegrenztes Wegsperren Unschuldiger mit ein paar Klimmzügen vertretbar – klar:

    Die Hoffnung auf höchstgerichtliche Begrenzungen präventiver Gewahrsamsregelungen …
  • Schon mal was von EUTM Mozambique gehört?

    Ich bin ganz grundsätzlich ein Feind des Nationalfahnenschwingens, ob nun Schwarz, Rot und Gelb oder sonstwie. Das umfasst durchaus auch blau mit gelben Sternen drauf. Gerade derzeit, da diverse Ämter sogar in der Straßenbahn das Europawählen schon fast als antifaschistische Betätigung framen, stoßen Zweifel am Europafahnenschwingen jedoch gelegentlich auf Unverständnis: „Aber Europa ist doch ein Friedensprojekt! Die EU hat doch sogar den Friedensnobelpreis bekommen!“

    Nun, das hat Henry Kissinger auch. Im Gegensatz zu ihm mögen die Vorgänger der EU einen Friedensaspekt gehabt haben, vor allem, als sie noch mit der Regulierung der Stahlproduktion beschäftigt waren, denn Stahl bedeutete auch damals schon Waffen. Mit der Festlegung auf Freihandel und noch mehr der „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ GASP hat sich das indes verflüchtigt. Die großen EuropäerInnen sehen sich selbst als hard power und bemühen sich, das im internationalen Rahmen zu demonstrieren.

    Hard power heißt im Klartext, „kriegstüchtig“ zu sein, also andere Menschen mit viel Stahl und Sprengstoff töten zu können. Rückblickend ist erstaunlich, dass die Rede von der Kriegstüchtigkeit erst jetzt aufkommt, denn das Kalkül von Stahl und Sprengstoff ist im Falle der EU tatsächlich schon 20 Jahre alt, auch wenn das kaum wer, ach ja, „auf dem Schirm“ hat.

    Dunkel-weinroter Hintergrund mit drei Soldaten und EU-Sternen, Titel: „Under the Radar/Twenty years of EU military missions.“

    Unterm Radar

    So ist es sehr verdienstvoll, dass das britische Transnational Institute (TNI) gerade einen 50-seitigen Bericht zu diesen EU-Militärmissionen und ihrem aktuellen Jubiläum publiziert hat: Under the radar – twenty years of EU military missions von Josephine Valeske.

    Schon seit diesen 20 Jahren geriert sich die EU als Militärmacht, und wie die BRD vor ihr formte sie ihre militärische Komponente durch SoldatInnen auf dem Balkan. Für die EU war das 2004 in Mazedonien (zeitgenössisch und großartig FYROM genannt), das durch unseren vorherigen Krieg gegen Serbien und unsere Unterstützung der UCK ins Wackeln geraten war. Um dem ein rechtmäßig aussehendes Antlitz zu geben, formulierten damals etliche Menschen in Brüssel an der GASP herum, und schon durch Diskussion des Personaltableaus erlaubt der TNI-Bericht tiefe Einblicke in die Natur der GASP:

    Die GASP wurde wesentlich geprägt von Enrique Solana, der zwischen 1995 und 1999 NATO-Generalsekretär und anschließend Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitk war.

    Und so ist das Programm der GASP auch nicht viel anders als das der NATO: Die geeignet ausgehandelten Interessen der jeweiligen Regierungen durch Schießen oder Drohung mit Schießen durchsetzen. In den Worten des EEAS (also des Ladens, der die verschiedenen Kriege und Kriegchen koordiniert) von 2021:

    Der EEAS hat die Aufgabe, die GASP umzusetzen, mit dem [“formellen“; keine Ahnung, was der Autor hier sagen wollte] Ziel, Frieden, Prosperität, Sicherheit und die Interessen der Europäer [sc. ihrer Regierungen, und auch nur derer, die in der EU sind] zu fördern.

    Viel ungeschminkter lässt sich ein imperiales Programm nicht formulieren. Entsprechend ist dann auch die Gedankenwelt der Protagonisten; neulich gab der Migrationskommissar schon den weißen Herren, während der „Außenminister“ der EU, Josep Borrell, seine Weltsicht so verlauten lässt:

    Europa ist ein Garten. […] Der großte Teil vom Rest der Welt ist ein Dschungel, und der Dschungel könnte in den Garten einfallen. Die Gärtner müssen in den Dschungel gehen. Die Europäer müssen sich viel mehr im Rest der Welt engagieren.

    Was „engagieren“ im Mund solcher Menschen heißt, ist nach der Vorrede klar.

    Graph mit Titel „Number of military missions 2003-2024“.  Die Kurve steigt recht kontinuierlich von 1 auf 10, mit einem temporären Stillstand 2014 bis 2019.

    Die Militarisierung der EU in einer einfachen Kurve. Quelle.

    Wobei eingeräumt werden muss, dass die EU-Kriegchen schon noch auf relativ kleiner Flamme kochen; im Augenblick laufen davon 10, und nur etwa 5'000 EU-SoldatInnen stehen in diesem Rahmen auf fremdem Boden. Zum Vergleich: Zur Aufrechterhaltung der britischen Kolonialherrschaft in Indien, dem British Raj, brauchten die damaligen Behörden um 1880 herum rund die zehnfache Menge an „weißen“ Soldaten, 66'000.

    Übrigens gibt es in der EU-Außenpolitik neben den Militärmissionen noch einige „zivile“ Missionen, die meist nicht viel erfreulicher sind, da es in der Regel darum geht, lokale Schurken dafür zu qualifizieren, Flüchtende mit allen Mitteln von unseren Grenzen fernzuhalten. Das TNI beschreibt das so:

    Die GASP unterscheidet formell zwischen zivilen und militärischen Missionen, wobei erstere sich unter anderem auf Polizeiarbeit, Reformen im Sicherheitsapparat und Grenzen konzentrieren. Da jedoch in den letzten Jahren die Polizei-, Sicherheits- und Grenzpolitiken stark militarisiert wurden, mag die Unterscheidung im wesentlichen rhetorischer Natur sein.

    Der TNI-Bericht beschäftigt sich dennoch ausschließlich mit Militärmissionen, und zwar nur den aktuell laufenden. Das ist gruselig genug; nur zur Eichung von Erwartungen an die Aufsicht durch Gremien sei angemerkt, dass allen diesen Missionen ein Weltsicherheitsrats-Beschluss (nun: Bis auf die Flüchtlingsabwehrmission Sophia, die offenbar überdringlich erschien und die sich die EU-Chefs nachträglich abnicken ließen) oder eine Einladung einer hinreichend anerkannten Regierung zugrundeliegt.

    Ein kommentiertes Missionsverzeichnis

    Der Hauptteil des TNI-Berichts kommt als so eine Art kommentiertes Missionsverzeichnis daher. In ultrakompakter Form sieht es zur Zeit so aus:

    • EUFOR Althea – die älteste noch laufende Militärmission ist die Nachfolge der internationalen Interventionstruppen in Bosnien-Herzegowina (BiH), genau denen, die damals das Massaker von Srebrenica beaufsichtigt haben. In den 20 Jahren, die ihr EUFOR-Nachfolger nun schon läuft, hat sie keine erkennbaren Fortschritte in Richtung auf den Zustand vor der deutschen Jugoslawien-Zündelei bewirkt (vgl. auch diesen Hörtipp zu dortigen Varianten patriotischen Irrsinns). Selbst Menschen, die daran glauben, dass andere Menschen gut werden, wenn sie auf den Kopf gehauen werden, dürfte das nicht überraschen, denn, in den Worten des des TNI:

      Zusammenfassend scheint das Ziel der Operation Althea weniger zu sein, zur dauerhaften Stabilität von BiH beizutragen, und mehr, die EU als eine kriegstüchtige Militärmacht zu präsentieren, insbesondere auf den Trümmern des frühren Jugoslawienkrieges – und, die Verbindungen der EU zur NATO zu demonstrieren.

    • EUNAVFOR ATALANTA – der „Anti-Piraterie“-Pantersprung der EU vorm Horn von Afrika ist noch die bekannteste Militärmission der EU, auch wenn viele glauben werden, das sei eigentlich die UNO, die NATO oder die Bundeswehr in eigener imperialer Mission. Aber nein, es war die EU, die „unsere“ Schiffe verteidigt hat gegen Menschen, deren Meer wir vorher leer gefischt haben und die nun etwas an „unserem“ Reichtum partizipieren wollten. Als wir die zurückgedrängt oder getötet hatten, kamen auch die Fischtrawler zurück, weshalb da bis heute Schiffe kreuzen, die die ex-Fischer von vor Ort von „unseren“ Schiffen fernhalten.

      Modellhaft an ATALANTA war übrigens, dass die offizielle Begründung den Schutz von Schiffen des World Food Programme (WFP) nach Somalia in den Vordergrund stellte. Reality Check im TNI-Bericht:

      Es wurde offensichtlich, dass das Hauptanliegen von EUNAVOR der europäische Handel und weniger die WFP-Schiffe waren – ein Schluss, den auch die Tatsache nahelegt, dass drei Mal mehr kommerzielle Schiffe geschützt wurden als Schiffe von WFP oder AMISOM.

    • EUTM Somalia – das ist sozusagen eine Ergänzung von ATALANTA auf dem Land, vielleicht in der Hoffnung, irgendwann die eigenen Schiffe vor der somalischen Küste durch Schiffe unserer lokalen Verwaltung ersetzen zu können. Das „TM“ in diesen Missionsnamen steht für „Training Mission“. Dabei erklären SoldatInnen aus EU-Staaten dem Personal unserer (ja meist nicht sehr freundlichen) Statthalter, wie mensch schießt und tötet. Genau mit Bezug auf EUTM Somalia haben Roy Ginsberg und Susan Penksa in einer längeren Untersuchung der GASP-Missionen von 2012 festgestellt:

      Die Gesamtwirkung könnte sein, dass die EU somalischen Soldaten beibringt, wie sie somalische BürgerInnen effektiver umbringen können.

      Ähnliches wird sich wohl über all die „TMs“ sagen lassen.

    • EUTM Mali – das ist eine der vielen Kolonialkriege^WMilitärmissionen, die die EU seit den frühen 2000ern in der Sahelzohne führt, in Mali konkret, nachdem wir 2011 unser (na gut: in diesem Fall unsere Freunde ihr) Mütchen in Libyen gekühlt hatten und daraufhin Waffen und Ex-Söldner durch ganz Nordafrika zogen.

      Mit einem Erfolg, der PazifistInnen nicht überraschen wird. Der TNI-Bericht schreibt:

      In den Jahren 2002 und …

  • Horröses Heidelberg 2: Die Lenard-Säule

    Heidelberg war selten eine sonderlich progressive Stadt. Gerade die zahlreichen Studentenverbindungen – Buschenschaften, Corps, Turnerschaften und was sich da sonst noch so im patriotischen Sumpf suhlt(e) – sorg(t)en für einen reichen Nährboden für jede Sorte rechten Wahnsinns. Von militaristischen Aspekten davon war im ersten Teil von Horröses Heidelberg schon die Rede. Dieses Mal habe ich rabiaten Antisemitismus im Angebot:

    Rechts eine fast geschlossene Zimmertür, daneben ein etwa ein Meter hoher, weiß getünchter Betonblock mit einem Querschnitt von vielleicht 30×30 cm, wieder daneben ein Regal mit ein paar Packen Kopierpapier.

    Die mutmaßliche Lenard-Säule.

    Diese eher langweilig aussehende Installation findet sich im alten Physikgebäude im Philosophenweg 12, hinter einer Tür gegenüber dem unteren Ausgang des großen Hörsaals. Wenn die Geschichte, die ich jetzt gleich erzählen werde, ungefähr wahr ist, dann ist sie ein bizarres Denkmal antisemitischer Verblendung.

    Vorneweg: Ich weiß offen gestanden nicht, wie wahr die Geschichte des Klotzes ist. Sie ist etwas, das sich Physikstudis von Generation zu Generation erzählt haben und das sehr plausibel klingt. Bevor ich sie in einer seriösen Publikation erzählen würde, würde ich vermutlich lieber erstmal die Bau-Unterlagen im Uni-Archiv einsehen wollen.

    Philipp Lenard sucht den Äther...

    Aber jetzt die Geschichte: Anfang des 20. Jahrhunderts ärgerte sich ein gewisser Philipp Lenard – bereits im Besitz eines Physik-Nobelpreises – über die damals aufkommende „neue“ Physik zwischen Quantenmechanik und Relativitätstheorie. Seit 1907 leitete er das Institut für Physik und Radiologie der Uni Heidelberg, und je länger er dort Geistesgenossen um sich sammelte, desto durchgeknallter wurde der ganze Laden. Schließlich publizierte er ein Machwerk unter dem Titel „Deutsche Physik“, das noch in den 1930er Jahren versuchte, die Welt ohne die Physik des 20. Jahrhunderts – aus Sicht der Deutschen Physiker: die „jüdischen Beiträge“ – zu erklären.

    Das scheiterte natürlich, und noch nicht mal besonders grandios. In meiner Studienzeit gab es aber in der Bibliothek der angewandten Mathematik noch abgegriffene Exemplare der Deutschen Physik, deren Mischung aus normaler Standard-Physik und patriotischer Verwirrung wirkt, als habe sich ein normaler Studienrat eine Anfallskrankheit eingefangen, die ihn dann und wann in Erich von Däniken verwandelt (Literarische Referenz).

    Lenard arbeitete sich vor allem an der speziellen Relativitätstheorie ab. Diese entstand ja in Teilen, weil das Michelson-Morley-Experiment mit der voreinsteinschen Licht-Theorie (Licht war danach wie Schall in der Luft, nur wäre die Luft fürs Licht ein Zeug namens Äther gewesen) echte Schwierigkeiten hatte: Mit jeder nicht ganz abseitigen Äthertheorie hatte mensch in diesem Experiment zumindest den „Fahrtwind“ der Bewegung der Erde um die Sonne sehen müssen[1].

    Und hier kommt der Klotz auf dem Bild oben ins Spiel: In der Studi-Überlieferung nämlich hat ihn Lenard, für den das hässliche Physik-Gebäude am Philosophenweg gebaut wurde, einbauen lassen, um auf ihm Michelson-Morley-Versuche zu machen. Eine wesentliche Schwierigkeit bei diesen war nämlich das Wackeln des Untergrunds und das davon ausgelöste Rumzittern der Interferenzstreifen. Die Wikipedia schreibt zum Originalexperiment von 1881 derzeit, um „die Erschütterungen zu minimieren, wurde der Verkehr [beim Originalexperiment] weiträumig abgesperrt“. Diese Möglichkeit bestand am Rande des dicht besiedelten Neuenheim natürlich nicht.

    Viel Stein, Treppe, düsteres Haus und so.

    Hier spielt diese Folge des horrösen Heidelbergs: Der Lenardbunker im Philweg 12.

    ...und kommt zu nichts

    Der Lenard'sche Klotz nun soll fest mit dem Grundgebirge verbunden sein und auf dieses Weise eine erschütterungsarme Umgebung bieten. Ich persönlich glaube nicht, dass das funktioniert hätte, denn vermutlich schwingt das Grundgebirge nicht viel weniger als alles andere, und ohne Entkopplung vom Rest des Gebäudes – von der nichts zu erkennen ist – wäre auch eine größere Ruhe des Grundgebirges nicht sehr hilfreich. Ich weiß darüber hinaus nicht, ob Lenard wirklich jemals Zeit fand, nach seinem arischen Äther zu suchen.

    Vermutlich nicht, denn er kämpfte an vielen Fronten. Ein Beispiel: Nachdem Freikorpsleute am 28. Juni 1922 den selbst eher konservativen Außenminister Walther Rathenau erschossen hatten, hatte die Reichsregierung eine allgemeine Arbeitsruhe angeordnet. Lenard und seine protofaschistischen Mitarbeiter konnten sich das schon wegen Rathenaus jüdischer Herkunft nicht vorstellen und werkten weiter. Das blieb auch wegen keineswegs auf Halbmast gezogener Fahnen nicht unbemerkt, und fortschrittliche AktivistInnen versammelten sich vor dem Institut. Dieses befand sich bereits seit 1913 am Philosophenweg; wer heute dort steht, steht also auf dem historischen Grund der Kundgebung.

    Zunächst hinderte Polizei die DemonstrantInnen an einer Institutsbesetzung, aber die Situation eskalierte, als die Männer im Institut die Kundgebung mit Wasser aus Feuerwehrschläuchen unter Beschuss nahmen. Schließlich stürmten die DemonstrantInnen doch das Physikgebäude, und die Polizei musste Lenard in „Schutzhaft“ nehmen. Für Leute seines Schlages bedeutete das allerdings nicht, wie wenig später für allerlei den NS-Behörden verhasste Menschen, Darben im KZ, sondern eine komfortable Hotelübernachtung.

    Vom Weitermachen und Einfahren

    Immerhin sah sich der damalige badische Unterrichtsminister – wie Rathenau ein DDP-Mann und darüber hinaus selbst ehemals an der Heidelberger Uniklinik beschäftigt – nach Lenards Provokation bemüßigt, ihn zu suspendieren. Lenard antwortete nach außen mit einem Entlassungsgesuch, zu seinen reaktionären Freunden hin aber offenbar mit Unterstützungsappellen. Jedenfalls liefen nicht ganz ein Jahr später, am 1. Juni 1923, etliche konservative Studis beim engeren Senat der Uni auf und überreichten über 1000 Unterschriften, die Lenards bedingungslose Weiterbeschäftigung forderten. Tatsächlich blieb Lenard unangefochten bis zu seiner Emiritierung 1932 Leiter des Instituts für Physik und Radiologie.

    Das ging Carlo Mierendorff anders; er war 1922 schon ein stadtbekannter Linker, und so stürzte sich der Staatsschutz begeistert auf ihn, als er in der Menge vor der Lenard'schen Festung auffiel. Am 10. April 1923 eröffnete ein längst vergessener Richter ein Gerichtsverfahren gegen ihn wegen eines in den heutigen Analoga immer noch nur zu vertrauten Delikts: Landfriedensbruch. Das ist auch aktuell der gefühlt drittpopulärste Vorwurf, wenn die Polizei eher willkürlich DemonstrantInnen bestrafen will (nach Vermummung und dem entsetzlichen tätlichen Angriff nach dem 2017 neu erfundenen §114 StGB).

    Der Staatsschutz hatte Mierendorff eine Handvoll Mitangeklagte an die Seite gestellt, deren Demographie ich mit meinen heutigen Augen faszinierend finde. Abgesehen von ihm (zu dem Zeitpunkt wohl promovierender Studi) waren das nämlich durchweg Nichtstudis: der Tagelöhner Jakob Black, der Bauarbeiter Martin Kratzert, der Metzger Martin Erle, die Schlosser Franz Josef Mohr, Wilhelm Heilmann und Friedrich Zobeley, der Kaufmann Karl Hopp und der Kanzleiassistent Franz Joseph Bolz. Ob das wohl charakteristisch war für die TeilnehmerInnen der Anti-Lenard-Demo im Juni 1922? Das ist schwer zu sagen, aber fraglos waren die Studis damals weit überwiegend reaktionär und damit gewiss kaum an Kritik an Lenard interessiert.

    Mierendorff übrigens fuhr am Schluss als „Rädelsführer“ für vier Monate ein.

    Vergiftete Atmosphäre

    Die Atmosphäre in Lenards Institut blieb auch nach dessen Emeritierung kurz vor der Machtübergabe an die NSDAP vergiftet. Sein Nachfolger, der deutlich liberalere Walter Bothe, schmiss nach zwei Jahren entnervt hin und wechselte an das ebenfalls in Heidelberg befindliche Institut, das heute das MPI für medizinische Forschung ist. Dass der Lenard-Schuler Ludwig Wesch mit seinen SS-Kadern stundenlang über Bothes Büro exerziert hat, war vermutlich nur der handfesteste Teil des Terrors, der noch am 23. Dezember 1933 sogar den Fakultätsrat der naturwissenschaftlichen Fakultät beschäftigt hat, wie es aussieht, wiederum auf externen Druck hin, denn Vorsprache hielt damals Uni-Kanzler Stein persönlich.

    Nur, um nicht falsch verstanden zu werden: Bothe war selbst auch überhaupt kein netter Mensch. Als die Wehrmacht im Sommer 1940 Paris überrannt hatte, lief Bothe zum Beispiel im Windschatten der Soldaten im Pariser Labor von Frédéric Joliot-Curie auf und untersuchte den Stand von dessen Arbeiten an einem Teilchenbeschleuniger (drei Jahre später gab es dann auch in Heidelberg ein Zyklotron). Und das ist noch so etwa das Netteste, was in seinem Institut passierte; die MPG gesteht selbst, an Bohes Institut sei „noch 1944 die Synthetisierung des hochtoxischen Nervengases Soman“, na ja, „gelungen“.

    Ob es wirklich der Betonblock im alten physikalischen Institut ist, der all diese Geschichten erzählt, will ich wie gesagt nicht versprechen. Die Geschichten selbst allerdings haben sich so zugetragen und sind Teil des horrösen Erbes von Heidelberg.

    [1]Und dazu die, wie wir heute wissen, noch weit größeren Beiträge aus der Bewegung der Sonne um das Zentrum der Milchstraße, die Eigenbewegung der Milchstraße in der lokalen Gruppe und, ganz dramatisch, den Sturz der lokalen Gruppe Richtung Coma-Haufen. Aber von fast allem davon wusste mensch noch nichts in den Zeiten von Michelson und Morley Ende des 19. Jahrhunderts. Selbst die eher randständige Lage des Sonnensystems in der Milchstraße, die für die Bahnbewegung von rund 200 km/s sorgt (Bahngeschwindigkeit der Erde 30 km/s oder ein bisschen mehr als ein Zehntel, und wo wir schon dabei sind: Die Fluchtgeschwindigkeit der Erde ist ein bisschen mehr als 10 km/s), hat erst in den 1910er Jahren Harlow Shapley durch die Untersuchung der Verteilung der galaktischen Kugelsternhaufen wirklich überzeugend nachgewiesen.
  • Replikationskrise: Ärgermanagement mit Schredder und Mülleimer

    Eine unregelmäßig ausgebrochene Bleischeibe mit eigenartigen Zeichen drauf

    Dieses Gekrakel ist auf einem römischen Fluchtäfelchen zu sehen, das im Rheinischen Landesmuseum in Trier ausgestellt ist. Der volle Text (weiter unten auf der Tafel) ist in der Übersetzung des Museums: „Eurer Macht gemäß, Diana und Mars, ihr bindenden, sollt ihr mich von dem Hitzkopf erlösen. Den Eusebius bannt mit Folterkrallen fest, mich aber befreit!“

    Im Januar 2019 lief im Deutschlandfunk-Sendeplatz Wissenschaft im Brennpunkt die hörenswerte Sendung Signifikant oder nicht – Wenn Studien einem zweiten Blick nicht standhalten. Der Titel lässt es ahnen: es ging um die Replikationskrise, die dank Erbsenzählerei bei der Jobvergabe und Wettbewerbsverdichtung die moderne Wissenschaft prägt, und dabei offenbar ganz besonders die Psychologie. In dieser, so heißt es in der Sendung, gelingt es für allenfalls die Hälfte der publizierten Experimente, den behaupteten Effekt bei einer Wiederholung nachzuweisen.

    Als zentrale Take-Home-Nachricht aus der Sendung würde ich empfehlen: die Geschichte von den erfolgreichen Männern, die sich schon als Kind beherrschen konnten („Marshmallow-Test”), ist eine bürgerliche Legende.

    Ach, das ist wirklich so?

    Die Marshmallow-Geschichte illustriert ein Muster für (nicht nur psychologische) Arbeiten, die bei mir einen Replikationsalarm auslösen: Kram, der gut in bestehende Denkschemata passt, aber doch noch einen Hauch von „ach, das ist wirklich so?“ hat. 1a Material für Party-Smalltalk, wenn ihr wollt.

    Etwas aus dieser Kategorie kam in den Wissenschaftsmeldungen vom 8.4.2024 im Deutschlandfunk: Die Behauptung ist, dass mensch Ärger viel besser loswird, wenn mensch die Steine des Anstoßes nicht nur zu Papier bringt, sondern dieses Papier auch noch wahlweise wegwirft oder schreddert. Hm. Das Schreddern ist also wichtig… Ist das wirklich so?

    Die Illustration oben lässt ahnen, dass das Muster alles andere als neu ist. Die antiken Fluchtäfelchen folgten einem durchaus vergleichbaren Muster: Schreibe auf, was dich bedrückt, und werde es dann in mehr oder minder ritueller Art wieder los: „Vor allem in Nordafrika, Rom und den östlichen Provinzen pflegte man Flüche, die Bezüge zu Wagenrennen aufwiesen, im Circus oder in Amphitheatern zu platzieren, wobei besonders gefährliche Stellen wie die Wendepunkte bevorzugt wurden. Eine ganze Reihe von Fluchtäfelchen wurde im Trierer Amphitheater gefunden,“ schreibt aktuell die Wikipedia.

    Die moderne Fassung

    Der Artikel hinter dem DLF-Beitrag ist „Anger is eliminated with the disposal of a paper written because of provocation“, Scientific Reports 14, 7490 (2024) doi:10.1038/s41598-024-57916-z von Yuta Kanaya und Nobuyuki Kawai. Von der Anmutung her könnte es die Publikation von etwas wie Kanayas Abschlussarbeit an der Universität von Nagoya sein. Wenn das so ist, hätten Kawai oder spätestens die GutachterInnen, so finde ich, schon intervenieren können, denn an einigen Stellen wirkt der Artikel stilistisch unnötig unbeholfen.

    Eher schrullig fand ich ja bereits die Attributierung „by a philosopher in Imperium Romanum“ für ein Zitat zum Wert des Gleichmuts. Der leicht angestaubt wirkende Verweis auf Griechenundrömer[1] – und schon gar zu einem Thema, das von hier aus gesehen ein Markenzeichen ost- und südasiatischer Weltanschauungen ist – wird durch das gleichzeitige idiomatische Stolpern – wenn schon westliche Antike, hätte zumindest der Name „Seneca“ fallen müssen, und „in Imperium Romanum“ ist wenigstens in seiner Anmutung, das sei eine Art Land, stark ahistorisch – ins Komische gezogen.

    Der Eindruck einer aufgeregten Erstlingsarbeit verstärkt sich etwas später in der Einleitung, als Kanaya und Kawai das vorliegende Projekt mit „aber: DIE KINDER!“ als Teil der Weltrettung zu positionieren versuchen. Ich bin noch nicht mal sicher, ob Wutkontrolle überhaupt eine Rolle spielen kann und sollte bei der Eindämmung von Gewalt gegen und Traumatisierung von Kindern. Aber es ist offensichtlich, dass kein Schütteltrauma verhindert werden wird, weil sich genervte Eltern hinsetzen, „der Schreihals soll jetzt endlich aufhören“ auf einen Zettel schreiben und den dann wegwerfen.

    Jenseits von Stilfragen

    Stilfragen beiseite ist das Paper durchaus lesenswert, zumal der Versuchsaufbau sich immerhin bemüht, irgendwie mit dem Grundproblem psychologischer Studien umzugehen: Sie sind fast nie verblindbar, weil die Leute ja merken, wie sie behandelt werden und was sie tun. Kanaya und Kawai versuchen, das Problem durch Tarnung des eigentlichen Erkenntnisinteresses zu umgehen.

    Um die ProbandInnen (insgesamt gut 100, die meisten davon Studis) zu ärgern, haben sie eine ungerechte, ja beleidigende Beurteilung (für japanische Verhältnisse dürften ein paar der verwendeten Phrasen wie „wer hat diesen Idioten an die Uni gelassen?“ klingen) eines frisch verfassten Aufsatzes gewählt. Nach der Lektüre der Beurteilung durften die ProbandInnen ihre Kränkungen auf einen Zettel schreiben. Diesen mussten sie entweder aufheben oder wegwerfen bzw. schreddern.

    Bemerkenswert fand ich dabei die Genderstruktur der ProbandInnen, die aus der Auswertung ausgeschlossen wurden, weil sie das Experiment durchschaut hatten. Klar sind die Zahlen sehr klein, aber es zeigt sich im ersten Durchgang des Experiments ein überraschend starkes Gender-Signal: von den ProbandInnen waren 37% weiblich, von denen, die es durchschaut haben, 71%.

    Im zweiten, dem Schredder-Experiment (in dem allerdings auch eine andere Demographie rekrutiert worden ist), hat sich dann aber kein solches Signal gezeigt; dort sollen überhaupt nur zwei überrissen haben, worum es ging (na ja: haben sich dabei erwischen lassen). Nun: Dass „Frauen sind empathischer“ nicht replizierbar ist, hätte ich jetzt auch gehofft.

    Zurück zum eigentlichen Experiment: Ich erlaube mir, die mir etwas esoterisch erscheinenden Überlegungen zu „grounded separation“ und die sie adressierenden Details wegzuabstrahieren, und ich spare mir hier die an sich notwendige Überlegung, ob es überhaupt ein Maß für Ärger gibt, ganz zu schweigen davon, ob die Methode der Autoren, dieses zu bestimmen, das eigentlich tut[2].

    Stattdessen zeige ich gleich das zentrale Ergebnis des Papers in diesen beiden Graphen:

    Was mensch sehen soll: In allen Fällen werden relativ ausgeglichene Menschen („baseline“) erfolgreich geärgert („Provocation“) und kommen durch Aufschreiben ihrer Beschwernisse sowie ggf. der Entsorgung des Aufschriebs wieder runter; dabei funktionieren Schredder (volle Punkte rechts) und Papierkorb (volle Punkte links) gleich gut und an der durch die Fehlerbalken angedeuteten Signifikanzgrenze besser als Aufschreiben und Behalten.

    Ich habe offen gestanden Schwierigkeiten, die so eng überlappenden Kurvenverläufe bis zur Provokation zu glauben. Wenn die Fehlerbalken so groß sind wie gezeigt (und das glaube ich bei so Fragebogenmaßen gerne), ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass vier Punktepaare so eng beieinanderliegen. Mindestens ebenso erstaunlich ist, wie nahe die Post-Provocation-Punkte zwischen rechts und links beieinanderliegen, da bei der rechten Retention-Gruppe ein extra Plexiglasgestell ihnen ihre Beschwernisse recht aufdringlich in Erinnerung rief. Dieses Gestell alleine hätte mich schon zusätzlich zu allem anderen verärgert.

    Ich will damit nicht sagen, dass da die Autoren Daten absichtlich gegelättet oder frisiert haben. Es gibt eine Unzahl von Fallen, die so gute Übereinstimmungen vortäuschen können – wenn es einfach wäre, wäre es keine Wissenschaft. Ich sage nur, dass ich überhaupt nicht überrascht wäre, wenn sich dieses Ergebnis nicht replizieren ließe oder sich jedenfalls viele Details des Experiments als unwichtig erwiesen.

    Fragen zum Ärgern

    Aber wer weiß? Natürlich machen auch die Autoren quantitative Analysen, irgendeine ANOVA, und in dem Zahlenmeer finden sich dann trotz Bonferroni auch ein paar signifikante Ergebnisse.

    Ich habe ja unabhängig davon rein intuitiv wenig Zweifel, dass sowohl Verbalisieren von Bekümmernissen als auch Zeug kaputtmachen jeweils geeigneten Ärger mindern kann. Nur: Ist es eigentlich wichtig, dass es gerade der Zettel ist, den mensch weghaut? Hätte sich nicht der gleiche Effekt ergeben, wenn die ProbandInnen was ganz anderes kaputt gemacht hätten, vielleicht noch unterschieden nach denen, die etwas Charismatisches (einen Teddybären?) und etwas Widerliches (einen McKinsey-Bericht?) in den Schredder gepackt hätten? Hätten sie auch einfach Holz spalten können?

    Und dann gibts eine weitere gute Frage: Wenn Prüfungen und ihre Bewertungen für so viel Stunk sorgen: Sollten wir sie dann nicht einfach lassen, wo wir doch gerade gelernt haben, wie schlecht das für die Kinder ist? Oder vielleicht lieber erforschen, wie - wenn es doch vernünftige Gründe für sie geben sollte – wir die Prüfungen so gestalten, dass sie weniger zu Ärger als vielmehr zu Motivation führen?

    [1]Jaja, ich weiß schon, dass ich genau das in diesem Blogpost selbst mache. Wer mag, darf das als Selbstironie interpretieren, aber in Wahrheit habe ich halt einen Römerfimmel und habe das Fluchtäfelchen tatsächlich erst vorgestern fotografiert.
    [2]Die Autoren verwenden u.a. einen selbstgebastelten Fragebogen, auf dem ihre ProbandInnen jedem Begriff von (übersetzt) angry, bothered, annoyed, hostile, and irritated eine Zahl zwischen eins und sechs zuordnen, je nach dem, wie sie sich gerade fühlen; „anger experience composite“ nennen die Autoren ihr Maß, was sich für mich schon fast ein wenig nach Aktienindex anhört.
  • ssh-Based git Upstreams with Multiple Identities

    A screenshot showing a grid of many grey and a few black boxes, with a legend “70 contributions in the last 12 months“.

    This is what I'd like to contain: Activity graphs on version control platforms. It should not be too easy to get a global graph of my activities, and in particular not across my various activities in work and life, even where these are, taken by themselves, public.

    I have largely given up on self-hosting version control systems for the part of my stuff that the general public might want to look at. In this game, it's platforms[1] exclusively nowadays, as there is no way anyone would find the material anywhere else.

    That, of course, is a severe privacy problem, even when the platform itself is relatively benevolent (i.e., codeberg). For people like me – spending a significant part of their lives at the keyboard and version-controlling a significant part of the keystrokes, the commit history says a lot about their lives, quite likely a lot more than they care to publicly disclose.

    As a partial mitigation, I am at least using different accounts for different functions: work, hacking, politics, the lot. The partial commit histories are decidedly less telling than a global commit history would be.

    However, this turns out to be trickier than you might expect, which is why I am writing this post.

    First off, the common:

    git config user.name "Anselm Flügel"
    git config user.email zuengeln@tfiu.de
    

    does not have anything to do with the platform accounts. It only changes the authorships in the log entries, and you are completely free to put anything at all there. The account used for pushing – and hence the source of the platforms' user history and activity images (see above) is absolutely unrelated to the commits' user.name-s. Instead, the account name is, in effect, encoded in the URI of the remote; and that is where things become subtle.

    Because, you see, there is no useful user name in:

    $ git remote get-url origin
    git@codeberg.org:AnselmF/crapicity.git
    

    The AnselmF in there is part of the repo path; you can push into other peoples' repos if they let you, so that cannot be the source of the user name. And the “git@” at the start, while it looks like a username and actually is one, is the same for everyone.

    So, how do github, codeberg and their ilk figure out which account to do a push under? Well: They use the ssh key that you uploaded into your profile. Since each ssh key can only be assigned to one account, the platforms can deduce the account from the fingerprint of the public key that ssh presents on connecting.

    Historical note: the big Debian SSL disaster 16 years ago, where Debian boxes would only generate a very small number of distinct secret keys (thus making them non-secret), was uncovered in this way, as just when the early github phased in this scheme, impossibly many keys from different persons turned out to have the same fingerprint. Matt Palmer recently related how in his work at github he worked out Debian's broken random number generator back then.

    In practice, this means that when you want to have multiple accounts on a single platform, after you have created a new account, you need to create a new ssh key associated with it (i.e., the new account), preferably with a name that roughly matches its intended use:

    cd ~/.ssh
    ssh-keygen -t ed25519 -f id_anselm
    

    This will leave the public key in ~/.ssh/id_anselm.pub; the contents of that file will go into (say) codeberg's SSH key text box (look for the “Keys” section in your “Settings”).

    This still is not enough: ssh will by default try all the keys you have in ~/.ssh in a deterministic order. This means that you will still always be the same user as long as you use a remote URL like git@codeberg.org:AnselmF/crapicity.git – the user the public key of which is tried first. To change this, you must configure ssh to use your account-specific key for some bespoke remote URIs. The (I think) simplest way to do that is to invent a hostname in your ~/.ssh/config, like this:

    Host codeberg-anselm
            HostName codeberg.org
            User git
            IdentitiesOnly yes
            IdentityFile ~/.ssh/id_anselm
    

    This lets you choose your upstream identity using the authority part of the remote URI; use (in this case) codeberg-anselm rather than codeberg.org to work with your new account. Of course the URIs you paste from codeberg (or github or whatever) will not know about this. Hence, you will normally have to manually configure the remote URI, with a (somewhat hypothetical) command sequence like this:

    git clone git@codeberg.org:AnselmF/crapicity.git # pasted URI
    git remote set-url origin git@codeberg-anselm:AnselmF/crapicity.git
    

    After that, you will push and pull using the new account.

    [1]Well, at this point it is, if I have to be absolutely honest, one platform largely, but I outright refuse to acknowledge that.
  • Hörtipp: Wir müssen reden anno 2022

    Treuen LeserInnen dieses Blogs wird nicht neu sein, dass ich dauerhaft wirklich schlechtes Gewissen habe, weil ich der patriotischen Filetierung Jugoslawiens durch meine nach der „Wiedervereinigung“ im Machtrausch delirierende Regierung nicht genug Widerstand entgegengesetzt habe und schließlich auch der Vorlage zur Sezession des Donbass im Wesentlichen nur fassungslos zugesehen habe (wenn auch mit Transparenten in der Hand).

    Eine Kundgebung mit einer guten Handvoll Menschen vor Stadthäusern.  Ein rotes Transparent, auf dem „US/NATO out of Yugoslavia“ steht, ist von hinten zu sehen.

    Zum Beleg der „Transparente in der Hand“: Wohnortbedingt konnte ich gegen die Spätphasen des Kosovokrieges nicht in der BRD protestieren. Aber die Antikriegsdemo an der Bostoner Park Street Station am 25. März 2000 (ungefähr der erste Jahrestags unseres Überfalls) habe ich denooch mitgenommen.

    Zur Rechtfertigung dieser Neuauflage alter Imperialismen haben die ApologetInnen der deutschen Politik die Geschichte vom „Völkergefängnis [als Begriff übrigens aus der Mottenkiste der rechten Feinde des ausgehenden Habsburgerreichs herausgeklaubt] Jugoslawien“ erzählt. Einen, wie ich finde, hübschen Kommentar dazu hatte der Deuschlandfunk Ende Dezember 2022: Wir müssen reden: Jugoslawisch.

    Von Dingen überzeugt, die schwer zu glauben sind

    Gleich am Anfang wird darin Vladimir Arsenijević zitiert:

    Nach dem Zerfall von Jugoslawien wurden vier politische Sprachen geschaffen. In Bosnien-Herzegowina spricht man offiziell Bosnisch, in Montenegro Montenegrinisch, in Serbien Serbisch, in Kroatien Kroatisch, aber jeder, der bei klarem Verstand ist, weiß, dass es sich eigentlich um eine einzige Sprache handelt.

    Jaklar, könnt ihr sagen, der ist ja, igitt, Serbe und macht da halt seine Großserbien-Sprüche; interessanterweise gibt es derzeit, vielleicht in so einer Logik, Wikipedia-Seiten über ihn auf Französisch, Katalan, Italienisch und sogar Kroatisch, aber nicht auf Deutsch. Ahem. Aber wenn wer, wie Arsenijević, sagt:

    [D]as ganze nationalistische Projekt beruht darauf, dass Leute von Dingen überzeugt sind, die eigentlich schwer zu glauben sind.

    …dann hat er_sie mein Herz gewonnen. Diese Vernunft auf der Seite „unserer“ Feinde steht übrigens in eklatantem Gegensatz zu Äußerungen „unserer” Verbündeter. Die ehemalige kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović fand – ebenfalls im DLF-Beitrag – die Proposition, es werde wohl schon die gleiche Sprache sein, wenn die Leute ohne Schwierigkeiten miteinander reden können, offensichtlich plausibel, aber unerträgich:

    Diese sogenannte gemeinsame Sprache war ein politisches Projekt, das zusammen mit dem ehemaligen Jugoslawien untergegangen ist und es wird sie nie wieder geben.

    Serbokroatisch als Kunstprodukt? Nur zu!

    Ich will ihr geben, dass, wie sich auch im Laufe der Sendung herausstellt, auch Serbokroatisch ein Kunstprodukt ist, ganz wie Hochdeutsch, Italienisch und Französisch auch. In dem Sinn ist es tatsächlich auch ein politisches Projekt. Christian Foss von der HU Berlin wird im DLF zitiert mit:

    Als Geburtsstunde einer gemeinsamen Sprache würde ich eigentlich das sogenannte Wiener Sprachabkommen von 1850 beurteilen, als sich serbische, kroatische und auch zwei slowenische Intellektuelle, Schriftsteller in einem Wiener Cafe trafen und eine Erklärung aufgesetzt haben, dass sie sich als ein gemeinsames Volk deklarieren, das eine gemeinsame Sprache brauche.

    Das Programm war, eine einheitliche Schriftsprache zu schaffen, andere Dialekte aufzugeben, und das Interessante ist, dass dies, was auf absoluter Freiwilligkeit beruhte, tatsächlich funktioniert hat.

    Nun: Bis Genscher und seine Freunde durchgeknallte Nationalisten vom Schlage eines Franjo Tuđjman dazu nutzten, die Sahnestücke Slowenien und Kroatien EU-tauglich aus Jugoslawien herauszulösen und den ungewaschenen Rest vergleichbar miesen Potentaten zu überlassen. Mensch stelle sich für einen Augenblick eine alternative Geschichte vor, in der die EU wirklich so nett ist wie viele ihrer BewohnerInnen glauben, eine EU, die all den PatriotInnen in den verschiedenen jugoslawischen Republiken gesagt hätte: „Ihr kommt nur entweder gemeinsam in die EU oder gar nicht. Also hört mit eurer scheiß-patriotischen Propaganda auf.“

    Wie es stattdessen Anfang der 1990er aussah in den gerade erst auf deutschen Druck geschaffenen neuen Staaten, beschreibt in der DLF-Sendung eine Journalistin, die über den kroatischen Rundfunk berichtet:

    Es gab eine richtig gehende Besessenheit, alle Worte, die irgendwie serbisch klangen, aus der Sprache zu tilgen und durch kroatische Ausdrücke zu ersetzen.

    Wenn ich die Wahl habe zwischen einem politischen Projekt, das Feindschaften abbauen will und einem, das wie beschrieben Feindschaften schürt, dann liegt meine Sympathie klar bei ersterem. Wenn Leute wie Grabar-Kitarović dem ein Nie Wieder entgegenschwören, ist das ein schlimmes Drama.

    Für kontraproduktive Umtriebe dieser Art existiert ein Begriff, der sogar ein Wikipedia-Kapitel hat: Sprachchauvinismus; unterhaltsamer ist der verwandte Artikel zu deutschem Sprachpurismus, der zahlreiche mehr oder minder amüsante Beispiele erwähnt, wie Menschen aus patriotischer Verwirrung das Lexikon verkomplizierten („Mundart“ statt des international verständlichen und ja trotz Mundart immer noch gebräuchlichen „Dialekt“ zum Beispiel) oder es jedenfalls versuchen (beispielsweise „Meuchelpuffer“ statt Pistole im Falle des 17.-Jahrhundert-Volksfans Philipp von Zesen).

    A propos Volksfan: Im Sprachpurismus-Artikel habe ich gerade auch gelernt, dass das (glücklicherweise) immer noch verpönte „völkisch“ schlicht als sprachchauvinistischer Ersatz für das ja gerade leider wieder in Mode geratende „national“ vorgelegt wurde, und zwar erst 1875 von einem besonders unangenehmen Protofaschisten namens Hermann von Pfister-Schwaighusen (nun: seine eigene Wikipedia-Seite relativiert das „wurde“ zu „soll haben“, aber wenn die Geschichte nicht stimmen sollte, so ist sie doch zumindest gut erzählt.

    Es gibt Hoffnung

    Tja: Vielleicht hilft bei solchen Tendenzen KI? Es gibt ein Indiz dafür. Ich habe die DLF-Sendung nämlich wie hier beschrieben von Whisper transkribieren lassen, und die, hust, KI hat aus der Pointe der Geschichte um Tudjmans „Ich freue mich“-Begrüßung für den damaligen US-Präsidenten Clinton und seinen darin verwendeten (vermeintlichen) Serbizismus das hier gemacht:

    Das Problem ist: sretchan ist serbisch, auf kroatisch heißt es sretchan.

    Dass meine „KI“ da nicht zwischen „Serbisch“ und „Kroatisch“ zu unterscheiden vermag, würde ich als Hinweis auf kulturellen Fortschritt werten.

    Noch mehr Hoffnung weckt jedoch die Geschichte der Kinder aus der bosnischen Kleinstadt Jajce, die für gemeinsamen Unterricht demonstriert haben. Vladimir Arsenijević berichtet von dort:

    Wochenlang sind sie auf die Straße gegangen. Ihre Forderung: Sie wollten zusammen in die Schule gehen. Sie hatten Transparente, auf denen sie Birnen und Äpfel gemalt hatten. Ich habe das erst nicht verstanden, und dann haben sie es mir erklärt: Als der Kantonminister für Bildung gefragt wurde, warum er die Segregation im Bildungssystem nicht abschafft, hat er geantwortet, man könne Birnen nicht mit Äpfel mischen.

    Wenn Menschen, die derartigen Überdosen patriotischen Unsinns ausgesetzt waren wie die Opfer deutscher Großmachtpolitik am Balkan, wieder zur Vernunft kommen können, dann gibt es noch Hoffnung.

  • Zum Tag der politischen Gefangenen: Weimar und die wehrhafte Demokratie

    Ein Mensch hält eine Pappe mit der Aufschrift „Faschist:innen verbieten ist wie Schnaps gegen Suff“.

    Ich recyle zum 18. März meine Pappe von neulich, um das Diktum des Hamburger Verfassungsrechtlers Horst Meier etwas auf den Punkt zu bringen: „Das Parteiverbot ist eine einzigartige Schöpfung westdeutschen Verfassungsgeistes, in der Kalter Krieg und hilfloser Antifaschismus eine vordemokratische Symbiose eingangengen sind.“

    Als ich mich anlässlich der großen Anti-AfD-Demos im Januar skeptisch zur autoritären Versuchung im Umgang speziell mit der AfD geäußert habe, habe ich munter behauptet, es hätte reichlich mildere (von geeigneter mal ganz zu schweigen) Mittel als ein Verbot der NSDAP gegeben, um ein Ende von Weimar im Faschismus zu verhindern:

    Es hätte vermutlich immer noch gereicht, wenn die Vorgängerorganisationen von CDU, FDP und AfD (letztere wäre im Augenblick bei mir noch die DNVP) Gewaltenteilung und Rechtsstaat nicht mit voller Absicht abgewickelt hätten. Es sind Einsichten wie diese, die die autoritäre Rede von der „wehrhaften Demokratie“ bei ihrer Erfindung verhindern sollte.

    Dazu würde ich gerne einen weiteren Datenpunkt liefern. Derzeit feiert nämlich die Rote Hilfe ihren 100. Geburtstag, unter anderem mit einem Film (den ich warm empfehlen kann, sollte er mal in einem Kino in eurer Nähe laufen) sowie einer Ausstellung zur wechselvollen Geschichte der Organisation. Letztere kommt mit einem aufschlussreichen Katalog, in dem Folgendes zu lesen ist:

    Nachdem die RHD [Rote Hilfe Deutschlands] mehrere Teilamnestien erwirkt hatte und die Zahl der inhaftierten Genoss*innen Anfang 1931 auf 1.300 gesunken war, füllten die hohen Urteile gegen fortschrittliche Kräfte die Gefängnisse schnell aufs Neue: Ende 1931 saßen 6.500 Aktivist*innen in Haft, und im Sommer 1932 zählte die RHD sogar 9.000 politische Gefangene, die ebenso wie ihre Familien Unterstützung brauchten

    Es stellt sich also heraus: Die Weimarer Republik war ausgesprochen „wehrhaft“. Sie sperrte innerhalb von einem guten Jahr mal eben deutlich über 5'000 „Linksextremisten“ ein, etwas, das die „wehrhafte“ BRD in diesem Ausmaß nie hinbekommen hat[1]. Ich behaupte, notabene, nicht, dass diese Massenverhaftungen die Machtübergabe an die NSDAP beschleunigt haben. Aber sie haben sie offensichtlich auch nicht behindert.

    Anlässlich des morgigen Tags der politischen Gefangenen (18. März) möchte ich das kurz in Relation setzen zu den 19 politischen Gefangenen, die die Rote Hilfe in ihrer aktuellen Zeitung zum 18.3. für die BRD zählt (S. 15). Oder den 1000 politischen Gefangenen, die Memorial für Russland zwischen 2009 und 2022 insgesamt rechnet.

    Es bleibt, dass auch der Mythos von der mangelnden „Wehrhaftigkeit“ der Weimarer Demokratie als Ursache von Weltkrieg und antisemitischem, rassistischem und ablistischem Massenmord einer Prüfung nicht standhält, ebensowenig wenig wie die Mythen von der fehlenden 5%-Hürde oder der hohen Inflation. Die platte Wahrheit ist und bleibt: Es waren die „bürgerlichen“ Parteien, ihr Präsident und ihre ParlamentarierInnen, die die NSDAP-Regierung sehenden Auges installiert haben. Obendrauf war der NS-Apparat, ganz besonders in Polizei und Justiz, von wenigen Ausnahmen abgesehen, genau der Apparat der Weimarer Republik, und übrigens im Wesentlichen auch der Apparat der frühen BRD.

    Das ist keine schöne Wahrheit, vor allem nicht für die beteiligten Parteien und Institutionen. Aber wer aus der Geschichte lernen will, wird nicht um ein Mindestmaß an Entmystifizierung rumkommen. Und daraus zumindest eine Konsequenz ziehen: Faschismus bekämpft mensch nicht durch autoritäre Formierung der Gesellschaft.

    [1]

    Allerdings: Zwischen 1956 und 1964 haben deutsche Gerichte rund 10'000 Menschen im Zuge des Verbots der KPD verurteilt. Zwar saß nur eine überschaubare Minderheit der Betroffenen auch wirklich im Knast, aber es gab durchaus unfassbare Urteile. Rolf Gössner berichtet in „Die vergessenen Justizopfer des Kalten Krieges“ (Aufbau Verlag 1998) etwa:

    [Die Niedersächsische Gemeinschaft zur Wahrung demokratischer Rechte] NG war im Jahre 1958 verboten und aufgelöst worden, die verwaltungsgerichtliche Entscheidung stand noch aus. Dennoch wurden zwei ihrer Mitglieder, der Landrat a.D. Richard Brenning und der Journalist Heinz Hilke, vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Lüneburg angeklagt und auch wegen „Rädelsführerschaft in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung in Tateinheit mit Geheimbündelei“ zu je vierzehn Monaten Gefängnis verurteilt – anschließende Polizeiaufsicht und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf drei Jahre inklusive.
  • Asteroideneinschläge sind schlecht fürs Bankgeschäft

    Ein rundlicher Stein mit vielleicht 10 cm Durchmesser und einer Delle in der Mitte, darunter eine Museumsbeschriftung: Cheliabynsk 2013

    2013 in Tscheljabinsk war es nur ein recht kleiner Brocken, der vom Himmel fiel und ordentlich Rumms machte[1]. Im Bild ist ein winziges Bruchstück des Brockens, das es ins Naturkundemuseum in Wien geschafft hat. Die Frage der Marktwirtschaft an sowas ist: Was sind die Kosten? Meine Frage ist: Ab welcher Grenze wird diese Frage fragwürdig?

    Zu den fürs Verständnis der Menschenwelt nützlicheren Konzepten, die durch MarxistInnen in den politischen Diskurs kamen, gehört ziemlich fraglos die Entfremdung. Es gibt ganze Bücher darüber, wie genauer zu fassen sei, was Marx in seinen Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten in den 1840er Jahren so beschrieben hat:

    Jedes Produkt ist ein Köder, womit man das Wesen des andern, sein Geld, an sich locken will, jedes wirkliche oder mögliche Bedürfnis ist eine Schwachheit, die die Fliege an die Leimstange heranführen wird.

    Mir gefiel eigentlich immer die knappe Definition: „Entfremdung ist, wenn Menschen nicht mehr als soziale Wesen in Beziehung zueinander treten, sondern als Handelnde auf einem Markt, also durch Austausch von Geld – und am Ende auch nur zu diesem Zweck.“

    Ich will dabei nicht von der Hand weisen, dass diese Sorte Interaktion häufig recht bequem ist. Klar macht es auch mein Leben leichter, wenn ich beim Bäcker einfach einen Schein rüberreichen kann und mit einem Brot rausgehe, ohne argumentieren zu müssen, warum es nötig und richtig ist, mich zu füttern.

    Wenn es allerdings um die Zerstörung von Landstrichen oder Kontinenten durch Einschläge großer Asteroiden geht, wird die entfremdete Denke von Markt und Profit zum Agitprop-Stück über den Irrsinn des Kapitalismus und der Art, wie er die ihn tragende Gesellschaft organisiert. Könnte mensch meinen. Aber hört euch mal diesen Beitrag aus DLF Forschung aktuell vom 24. Januar an. Ich warte hier solange.

    Wer das Stück nicht gehört hat: Untersucht wird ein (überhaupt nicht unplausibles) Szenario, in dem AstronomInnen einen größeren erdkreuzenden Asteroiden entdecken. Schnell wird klar, dass er innerhalb von etwa 10 Jahren die Erde treffen wird. Eifrig wird beobachtet, und mit wachsender Genauigkeit des Orbits wird immer klarer, wo genau er einschlagen und was er dabei zerstören wird.

    Ich hätte bei Simulationen eines solchen Szenarios naiv Überlegungen erwartet, wie mensch die Leute, die im Zielgebiet wohnen, dort rauskriegt, wo sie dann leben sollen, auf wie viel Landfläche mensch verzichten kann, ohne dass es viel Hunger gibt, wie mensch sich vielleicht auf für ein paar Jahre sinkende globale Durchschnittstemperaturen einstellt, sowas halt.

    Im Interview hingegen klingt es, als sehe der Interviewte – Rudolf Albrecht, Mitarbeiter der ESO im Ruhestand – das zentrale Interesse des Artikels so:

    Wenn man [im Zerstörungsgebiet] zum Beispiel ein Haus hat, was wird mit dem Grundstückspreis passieren? Das Haus wird nicht mehr zu verkaufen sein. Was passiert, wenn die Hauspreise gegen Null gehen? Dann zahlen die Leute ihre Hypothekraten nicht mehr. Was passiert, wenn die Leute ihre Hypothekraten nicht mehr bezahlen? Die Banken bekommen Schwierigkeiten.

    Hu? „Ich könnte ja mit dem Weltuntergang an sich gut leben, aber wo kommt dann mein Champagner her?“ „Was für ein Mist, dass ich mich in meinem SUV gerade totgefahren habe; ich hatte ja fünf Cupholder mitbestellt, und den links hinten hatte ich noch gar nicht ausprobiert!“ Ach: diese ganze Überlegung ist so obszön, dass mir gar nicht einfällt, wie ich sie noch persiflieren kann.

    Nun bezieht sich das Interview auf einen Artikel, den Laura Jamschon Mac Garry, Albrecht selbst und Sergio Camacho-Lara unter dem Titel Diplomatic, geopolitical and economic consequences of an impending asteroid threat in den Acta Astronautica 214 (2024) veröffentlicht haben[2]. Dieser Artikel enthält durchaus auch die weit naheliegenderen Überlegungen zu einem rationaleren Umgang mit so einer Krise. Albrechts Überlegungen finden sich dort aber doc, und zwar als Nachteile einer frühen Entdeckung eines gefährlichen Asteroiden:

    On the other hand, there was also a disadvantage associated with the extensive lead time: the economy in the impact corridor would become severely affected, as investments would probably decrease, real estate values would plummet, banks could become insolvent as the population would try to leave the area. The extensive lead time would be a period of considerable political and economic uncertainty, during which time events would take unpredictable turns. Merchant shipping and other trade routes near the risk corridor would be likely to be discontinued around the time of a possible impact. Delivery chains would be interrupted.

    Glauben wirklich nennenswert viele Menschen, dass wir im Angesicht einer solchen Katastrophe nicht überlegen, wie wir in einer geplanten und überlegten Anstrengung dafür sorgen, dass das kein Riesengemetzel wird, sondern weiter über Grundstückspreise reden?

    Nun gut… Ich gebe zu, dass wir gerade eine ähnliche Situation haben, denn die Klimaänderungen, die wir uns gerade eintreten, werden absehbar zu einem Riesengemetzel führen, und da reden in der Tat immer noch erstaunlich viele von Arbeitsplätzen, Emissionshandel und grünem Wachstum, statt zu planen, wie wir einfach und angenehm den ganzen Mist stoppen und dabei weniger Arbeit, Krach und Stress haben. Die Entfremdung ist zumindest im Hinblick aufs Klima offenbar tatsächlich so weit, dass ganze Gesellschaften ihre schiere Existenz nur übers Geld verhandeln und dabei rauskriegen, dass es wichtiger ist, jetzt in Blechkäfigen zu öden Jobs zu rasen als den Menschen in fünfzig Jahren ein schönes Leben zu ermöglichen.

    Ach weh: Jamschon Mac Garry et al haben vielleicht mehr Weisheit, als ich ihnen aus dem Bauch heraus zugesprochen habe.

    [1]Quantifiziert wäre der Rumms 500 Kilotonnen TNT-Äquivalent oder ein gutes Dutzend Hiroshimabomben, so heißt es. Aber natürlich war die Explosionsdynamik ganz anders, und so waren die Schäden auch viel geringer.
    [2]Nebenbei ein Appell an die Verlage: eine Landing Page fürs DOI-System ist potenziell für die Ewigkeit und garantiert kein guter Platz für technische Spielereien. Dort ganz besonders sollte es keinen Javascript-Zwang geben (so wie bei Acta Astronautica). Wenigstens bei dem Journal treibt Elsevier es jetzt gerade gleich noch wüster: Ohne Übertragung der Referrer-Header geht da nichts Nützliches. Au Weia.
  • Nachrichten aus dem Polizei-Rechtsstaat

    Am 2. Mai 2022 haben zwei Polizisten auf dem Marktplatz in Mannheim den 47-jährigen Ante P. umgebracht. Als Nicht-Schwabo[1] mit einer psychischen Diagnose gehörte ihr Opfer zur gegenüber tödlicher Polizeigewalt in der BRD gefährdesten Gruppe überhaupt; ich darf ein paar Beispiele aus den sofo-hd-Jahrestagen zitieren:

    23.12.2023 – in Mannheim-Schönau töten Polizisten den türkischstämmigen Ertekin Ö. mit vier Schüssen. Ö. hatte in einer psychischen Krise und wegen Auseinandersetzungen mit dem Jugendamt wegen seiner Kinder selbst die Polizei gerufen. Die Polizei eröffnete das Feuer aus der Distanz, als sie ihn auf der Straße mit nacktem Oberkörper und einem Messer in der Hand antraf.

    12.1.2023 – In Mosbach-Neckarelz erschießt die Polizei einen Mann, der sich mit einem Messer bewaffnet der Wohnung seiner Ex-Partnerin genähert hat. Das Opfer hatte sich in psychiatrischer Behandlung befunden.

    17.11.2022 – In Usingen im Taunus stirbt eine 39-jährige in Polizeigewahrsam. Die Polizei gibt an, sie habe ihr Handfesseln angelegt, weil sie randaliert habe. „Kurz darauf verschlechterte sich der Gesundheitszustand der Frau [...] Die unverzüglich alarmierten Rettungskräfte begannen noch vor Ort mit Wiederbelebungsversuchen“

    5.1.2020 – In Gelsenkirchen schlägt der aus der Türkei kommende Mehmet B. mit einem Ast auf ein leeres Polizeiauto ein und soll danach in der Nähe stehende Beamte bedroht haben. Diese eröffnen das Feuer und töten B. mit vier Schüssen. Die erste Sprachregelung der Polizei ist, dass ein Terroranschlag vorlag, doch rudert der Innenminister später auf „psychisch auffälliger Einzeltäter“ zurück. Die Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungen gegen den Schützen natürlich ein.

    2.11.2019 – Im Hunsrückdorf Hoppstädten-Weiersbach jagt ein größeres Aufgebot Polizei einen Exil-Eritreer, der PassantInnen mit einer Axt bedroht haben soll. Schließlich spüren zwei BeamtInnen den gesuchten „neben einem Geräteschuppen am Boden kauernd“ auf einem Tennisplatz auf und erschießen ihn in seiner, so die das Verfahren gegen den Schützen einstellende Staatsanwaltschaft, „Aufwärtsbewegung“.

    12.1.2019 – In Berlin stirbt ein griechischstämmiger Mann an den Folgen von Polizeimaßnahmen („lagebedingter Erstickungstod”). Er war im vorherigen Dezember im Gefolge eines psychotischen Schubes in einer Bäckerei auffällig geworden. In der Gefangenensammelstelle Tempelhof hatten ihn danach Beamte mit Pfefferspray traktiert und anschließend in Bauchlage fixiert, bis er kollabierte.

    9.2.2016 – In Hamburg stirbt der einen Monat zuvor wegen des Besitzes von 1.65 Gramm Marihuana in Untersuchungshaft genommene Yaya Jabbi. Die Polizei gibt an, er habe sich an der Gardinenstange in seiner Zelle erhängt, das einen Suizid bestätigende Gutachten kommt ausgerechnet von Klaus Püschel, der zuvor die ebenfalls klar rassistisch eingesetzte Brechmittelfolter in Hamburg verantwortet hat.

    13.4.2018 – In Fulda wirft der vor einer Abschiebung nach Afghanistan stehende 19-jährige Matiullah Jabarkhil Steine auf eine Bäckerei, in der seine Bitte um altes Brot rüde zurückgewiesen worden war. Rasch treffen mindestens vier Polizisten ein und verfolgen den fliehenden Jabarkhil. Nach 150 Metern eröffnet ein Polizist das Feuer und tötet Jabarkhil mit zwölf Schüssen. Im Januar und August 2019 stellen Staatsanwaltschaften die Verfahren gegen die Tatbeteiligten ein.

    Und so weiter ad nauseam. Wer noch kann, sollte auf deathincustody.info nachlesen; das spart zwar die polizeilichen Tötungen „zur Gefahrenabwehr“ aus, ist aber trotzdem ziemlich bedrückend.

    Am ersten März nun fand in Mannheim das erstinstanzliche Strafverfahren gegen die beiden Täter im „Fall“ Ante P. ein Ende. Dabei ist allein die Tatsache des Verfahrens eine gewisse Besonderheit, die wohl nur den zahlreichen Videoaufnahmen zu verdanken ist, die PassantInnen am Marktplatz angefertigt und dann auch veröffentlicht haben. Ein vergleichbarer Vorfall nur acht Tage nach der Tötung von Ante P. im Mannheimer Waldhof ohne entsprechendes Material kam nicht mal vor Gericht.

    Dass das Gericht die beiden Angeklagten im aktuellen Prozess im Wesentlichen freigesprochen hat – einer der beiden ist mit 120 Tagessätzen á 50 Euro zwar kurz mal vorbestraft, aber angesichts einer Tötungshandlung darf eine Strafe im unteren Bereich der Urteile beim „Bullenschubsen“ nach §114 StGB als Freispruch gelten[2] –, wird niemand überraschen, der meine kurze Zusammenstellung oben überflogen hat oder anderweitig mit Rechtshilfe zu tun hat. Aber darum geht es mir hier gar nicht, denn als Antiautoritärer bin ich ja froh über jede Strafe, die nicht verhängt wird.

    Nein, es sind mehr die Umstände des Verfahrens, die zornig machen. Das Grundrechtekomitee hat dazu gestern eine Pressemitteilung herausgegeben, die Pflichtlektüre sein sollte für Menschen, die finden, ausgerechnet die eigene Regierung sollte Menschenrechte in aller Welt herbeibomben und -waffenliefern oder durch Export von Repressionstechnologie „befördern“: Katastrophales Urteil in Mannheim - unverhohlener Ableismus und institutionelle Nähe von Strafjustiz und Polizei.

    Wer es etwas genauer wissen will, sei auf den ebenfalls höchst aufschlussreichen Prozessbericht der Initiative 2. Mai verwiesen, den ich hier spiegele; es wäre wirklich schade, wenn er durch z.B. Bitrot auf seiner Quellseite aus dem Internet verschwände.

    [1]Als Schwabo bezeichne(te)n viele BewohnerInnen Jugoslawiens „die Deutschen“; weil ich immer noch schlechtes Gewissen habe, dass ich meiner Regierung Anfang der 1990er nicht genug Widerstand entgegengesetzt habe, als sie Jugoslawien in Mord und Totschlag stürzte, nehme ich ihr Wort gerne, um das Konzept zu bezeichnen, das andernorts (aus meiner Sicht weniger glücklich) „Biodeutsch“ oder „Kartoffel“ heißt.
    [2]Zum Vergleich: Wegen trivialster Verstöße gegen Auflagen (im Wesentlichen „Mütze zur Corona-Maske getragen“) bei einer Demonstration gegen Polizeigewalt kurz nach der, nun, Polizeimaßnahme am 2.5.2022 hat ein Gericht 50 Tagessätze verhängt.
  • Leider kein Sprecher ohne Nerven

    Ich habe mich hier schon des Öfteren als Fan von Live-Medien und dem mehr oder minder professionellen Umgang mit ihren Pannen geoutet – natürlich immer mit besonderer <hust> Mühe, jeden Anschein von Schadenfreude zu vermeiden.

    Vor diesem Hintergrund fand ich den Umgang des anonymen Sprechers[1] mit einer offensichtlichen Panne bei den 16:30-Nachrichen am 23.1.2024 im Deutschlandfunk (ja, ich bin ein wenig hinterher bei meinem asynchronen Radio-Konsum) nachgerade unfassbar professionell. Hört euch das hier mal an:

    (Blättern) Die deutsche Schauspielerin Sandra Hüller ist für einen Oscar nominiert worden […ca 20 Sekunden Sprache…] (Blattern) Die deutsche Schauspielerin Sandra Hüller ist für einen Oscar nominiert worden [weiterer identischer Text]

    Als ich das hörte, war ich hingerissen, wie der Sprecher völlig ungerührt weiterliest, obwohl ihm spätestens nach wenigen Sekunden aufgefallen sein muss, dass er sich gerade wiederholt. Gut – ich hätte jetzt ein „Verzeihung, diese Nachricht hatten wir gerade schon“ eigentlich sympathischer gefunden. Die größere Kunst jedoch ist, so glaube ich, überzeugend so zu tun, als sei gar nichts.

    Bei genauerer Betrachtung stellt sich allerdings heraus, dass für den Sprecher tatsächlich gar nichts war. Folgt mir kurz auf meinem Weg zu dieser Entdeckung.

    Wer im Audio genau hinhört, hört ganz am Anfang ein Blättern; dass da (noch) geblättert wird, hat mich zunächst nicht verunsichert, denn die Werkzeuge von Profis ändern sich langsam. Es ist aus meiner Sicht gut möglich, dass die Leute im DLF noch nicht vom Computer weglesen. Dass vor der Wiederholung nochmal ein Blättern zu hören ist, hat mich auch noch nicht verblüfft. Im Gegenteil ist es höchst plausibel, dass es zur Wiederholung kam, weil zwei Kopien des gleichen Blattes im Nachrichtenstapel lagen.

    Allerdings sahen beim Beschneiden im Audio-Editor die Wellenformen von Blättern und Lossprechen schon ganz verblüffend ähnlich aus. So ähnlich, dass ich mir die Mühe gemacht habe, die Wiederholung unter das Original zu legen und (etwas improvisiert) mithilfe meines pyscreenruler als Hilfslinie aneineinander auszurichten:

    Zwei Wellenformen untereinander, die exakt parallel verlaufen

    Nein: Auch der professionellste Sprecher kann nicht so exakt parallele Signalverläufe hervorbringen.

    Nachtrag (2024-03-02)

    Weil Proteste kamen: Ja, in ganz feinen Details unterscheiden sich die Kurven. Das kommt einerseits vielleicht ein wenig aus der unterschiedlichen Vorgeschichte der beiden Signale, die in die Kompression eingegangen ist. Yor allem ist das etwas, das grob unter dem Begriff unter „Aliasing“ läuft: Wenn ihr einen etwa ein Pixel breiten Gipfel durch zwei Pixel durchschiebt, ist manchmal nur in einem richtig Signal und manchmal in beiden. Hier ist die Lage der beiden Signale bezüglich des jeweils ersten Samples (Audio-Pixel, wenn ihr so wollt) leicht verschieden, und drum „wackelt“ es auf Pixelebene manchmal ein wenig.

    Das ist entweder digital erzeugt oder digital wiederholt worden. Eine Roboterstimme mit dieser Qualität und dann noch beim Deutschlandfunk ist wohl auszuschließen (schon, weil es dort einen Personalrat gibt). Da die Doppelung genau an Satzgrenzen beginnt und aufhört, scheint auch eine natürliche Ursache für die Dopplung – sagen wir, ein Puffer, dessen Fortsetzung nicht rechtzeitig fertig ist und der dann einfach wiederholt wird – jedenfalls sehr unwahrscheinlich (mal abgesehen davon, dass kein plausibler Puffer 20 Sekunden lang wäre).

    Bliebe noch, dass da jemand bewusst geschnitten bzw. geloopt hat. Aber wie geht das? Soweit ich weiß, werden die Nachrichten im DLF live gesprochen, was heißt, dass der Loop mehr oder weniger in Echtzeit produziert worden sein muss. Geht sowas überhaupt? Vor allem aber: Wer sollte das tun wollen? Und warum?

    Fazit im Hinblick auf Live: Leider ist hier kein Nachrichtensprecher ohne Nerven zugange. Wer immer da redet, hatte seinen Job schon getan, als irgendwer anders diesen Loop in seine Sprache einbaute.

    [1]

    Ich glaubte mich zu erinnern, dass die DLF-NachrichtensprecherInnen früher ihre Namen gesagt haben. Haben sie nicht, jedenfalls nicht 2001. Ich habe extra in meinem Archiv nachgehört. Dabei bin ich allerdings über Verkehrsmeldungen gestolpert, die sie damals noch gebracht haben, und darüber bin ich (etwas perverserweise) nostalgisch geworden („Seewetteramt Hamburg“). Für andere DLF-DauerhörerInnen hätte ich hier eine Flashback-Gelegenheit, nämlich die Verkehrsmeldungen vom 24. August 2001, 16:34:

  • In den Stuttgarter Naturkundemuseen

    Trotz des Risikos weiterer Verwicklungen in Aktivitäten von Gewaltherrscher-Sprösslingen, mit denen in Stuttgarter Museen offenbar schon mal zu rechnen ist[1], habe ich mich mit meinem Museumspass erneut in die Landeshauptstadt gewagt, denn das dortige Naturkundemuseum lockte sehr. Wo, wenn nicht dort, wird wohl Professor Zwengelmann Direktor[2] sein?

    Der Beschluss zu diesem Post reifte indes vor allem, weil ich vor einer naheliegenden Fehlbedienung des Löwentor-Teils des Museums warnen will. Zunächst: Das Museum besteht aus einem modernen Bau, in dem die verschiedenen geologischen Systeme, die in Baden-Württemberg vertreten sind (das heißt: Kreide hat eine Wand von kaum ein paar Metern), nach Fauna, Flora und Fossilien vorgestellt werden, und einem vielleicht 500 m Parkspaziergang davon entfernten älteren Gebäude („Schloss Rosenstein“), in dem es um die aktuelle Welt geht.

    Wer nun im Löwentor-Bau naheliegenderweise von der Garderobe durch eine offene Tür entspannt in die große Ausstellungshalle diffundiert, landet im Tertiär, wird dann recht schnell konfus zwischen Jura und Trias umherirren und sich schließlich fragen, wie das alles zusammengehört. Das liegt daran, dass der Löwentor-Teil so eine Art Open-Plan-Museum ist, also (fast) alles auf zwei durchgehenden Ebenen einer großen Halle stattfindet:

    Ein moderner, hoher Raum.  Eine Treppe führt zu diversen Fossilien, an einer Wand hängt eine mehrere Meter hohe schwarze Platte mit viel Struktur.

    Das ist klasse, wenn mensch schnell „zurückspulen“ möchte (sagen wir: Ich will nochmal das arme Babymammut sehen, das im Moorloch kämpft – herzzerreißend, aber paläontologisch verbürgt), denn mensch muss nicht ohne Übersicht durch Zillionen von Räumen irren. Noch dazu hat das Museum durch diese Architektur auch Platz, einige meterhohe Riesenfossilien zu drapieren, allen voran die cthulhuesken Überreste von Seelilien aus den Posidonienschiefern des Schwarzjura[3], im Foto oben rechts an der Wand.

    Andererseits hat ohne die Strukturierung durch Mauern viel Mühe, wer Leitelemente wie die gelbe Linie in diesem Bild:

    Ein Skelett eines kleinen Rindes in einem Glaskasten; seine Knochen sind schwarz.  Auf dem Glaskasten steht in Gelb „Quartär Holozän“, eine gelbe Linie auf dem Boden läuft auf den Glaskasten zu.

    als zu einem irgendwie optionalen Spiel gehörend interpretiert. Nein, die kuratorische Erzählung und damit der Spaziergang durch die Erdzeitalter funktionieren nur, wenn mensch auf der Linie hinter der Kasse im Erdaltertum anfängt und ihrem leicht verschlungenen Verlauf chronologisch durch die (durch verschiedene Farben markierten) stratigraphischen Systeme folgt.

    Das Rinderskelett in dem Kasten auf dem Gelbe-Linien-Bild kommt mit diesem Rezept ziemlich am Schluss – Holozän – und markiert bereits domestizierende Menschen (anders gesagt: ein positives StarDIT). Verglichen mit unseren heutigen Turborindern war dieses Tier aber eher mickrig. Zur Erklärung bietet der Museumstext an, diese „Torfrinder“ seien so klein gewesen, weil sie in ihrer kargen Umwelt nicht genug zu Essen bekommen haben. Etwas differenzierter und vielleicht weniger dickensianisch hat Markus Bühler genau dieses Skelett 2012 diskutiert.

    Für Laien wie mich eindrücklicher als Knochen sind, das muss ich zugeben, aber die vielen lebensgroßen Dioramen, mit denen das Museum versucht (mit gutem Erfolg, soweit es mich betrifft), die vergangenen oder entfernten Lebenswelten erfahrbar zu machen. In etliche kann mensch auch reingehen, so dass Mutproben wie diese möglich werden:

    Eine Menschenhand wird von links in den geöffneten Kiefer eines von rechts ins Bild ragenden Saurierkopfs gehalten.

    Noch im paläontologischen Teil der Ausstellung finden sich auch Menschen in diesen Dioramen, zunächst als Neandertaler. Der Tuareg, der im anderen Teil der Ausstellung („Schloss Rosenstein“) in einer Vitrine steht, vertiefte meine Bedenken, dass das Ganze Richtung „Völkerschau“ abrutscht; auch ein Naturkundemuseum mag sich gelegentlich Fragen stellen müssen wie die, die mich während meines Besuchs im Lindenmuseum (ebenfalls in Stuttgart) beschäftigt haben.

    Kolonialer Herablassung kann mensch das Naturkundemuseum jedoch eher nicht bezichtigen, denn in den Vitrinen steht durchaus auch mal ein weißer Mann, und er spielt nicht gerade eine vorteilhafte Rolle:

    Hinter Glas ein paar lebensgroße (aber künstliche) Maispflanzen. Davor bückt sich ein blonder Mann (auch künstlich) im Karohemd und mischt ein Pflanzenschutzmittel.

    In der Vitrine geht es um Artensterben durch Giftmischerei und einige weitere Kollisionen zwischen Kapitalismus und der realen Welt. Vielleicht sind Karohemd und blonde Haare der Verkörperung des ersteren einen Hauch zu dick aufgetragen. Vielleicht aber auch nicht.

    Der Mann hat so oder so keine Chance gegen meinen Lieblingsbereich im Gesamt-Museum, nämlich den Nebenraum in der Gegend des oberen Jura, in dem verschiedene Rekonstruktionen illustrieren, wie Dinosaurier sich befiedert haben und sich dann im Tertiär zwitschernd unter die Säugetiere gemischt haben. Das sind größtenteils anheimelnde Modelle, bis hin zum höchst anmutigen und weise blickenden Archäopteryx. Wenn die wirklich so aussahen, ist es ausgesprochen bedauerlich, dass sie es nicht in die Gegenwart geschafft haben:

    Etwas vogelähnliches mit braundem Gefieder.  Der Kopf allerdings hat keinen Schnabel, sondern eher einen lächelndem Mund in einer länglichen Schnauze – und große, gütig blickende Augen.

    Mein wesentlicher Schluss aus diesem Seitenraum ist: Wenn ihr die Vöglein singen hört, bedenkt, dass sie einstmals T. Rex waren, oder jedenfalls sowas ähnliches. Wenn aber die Dinosaurier weggekommen sind vom Töten und Fressen durch überlegene Stärke und Größe, dann mag das auch für unsere Spezies ein bisschen Hoffnung machen.

    [1]

    Tatsächlich ist das Naturkundemuseum ein enfernter Abkömmling der „Kunst- und Wunderkammer“ der Stuttgarter Autokraten, was nicht nur an kuratorischen Grausamkeiten zu erkennen ist. Aber auch. Hier ist das älteste Exponat der Ausstellung, ein Geweih eines Eiszeithirschen; Die Obrigkeit hat es ersichtlich im Jahr 1600 ihren Schätzen einverleibt:

    Ein Stück eines vergilbten Geweihs, über das in schwarzer Tinte groß „1600. FOSSILE“ gemalt ist.
    [2]Womit ich mich erneut als glühender Fan der Max Kruse-Edition des Urmel geoutet habe. Und nein, der echte Direktor des Stuttgarter Naturkundemuseums hat natürlich nichts mit Zwengelmann zu tun.
    [3]Ich musste „Schwarzjura“ und „Posidonienschiefer“ einfach neben „Cthulhu“ platzieren. Sie passen, so finde ich, perfekt in diesen Kontext, auch wenn sie ganz offizielle:w Geologie sind.
  • Carl Württemberg und die unvollständige Revolution

    Immer noch bin ich mit meinem Museumspass unterwegs, doch nicht immer sind es die Gegenstände in den Ausstellungen, die die tiefsten Eindrücke hinterlassen. So war das neulich auch im württembergischen Landesmuseum (vor dem Klicken ggf. einen Blick auf ach so: die Webseite werfen) in Stuttgart. Vorausgeschickt: zwischen dem ehemaligen Kuriositätenkabinett der Potentaten des Schwabenlandes und allerlei keltischen Schätzen gibts da durchaus viel Beeindruckendes oder zumindest, tja, Kurioses.

    Was nicht bleiben sollte

    Den erwähnten tiefsten Eindruck hinterließ jedoch die Wand neben dem Ausgang. Dort ist nämlich eine dieser Mahntafeln zur Privatisierung gesellschaftlicher Aufgaben[1] angebracht, auf denen Menschen zur Dankbarkeit für allerlei Personen und Firmen aufgerufen werden („Logos“):

    Auf einer braunen Wand angebrachte weiße Schilder mit diversen Logos unter der Überschrift „Exclusive Partners“ („Wüstenrot-Stiftung“, „Bosch“).  Ganz vorne jedoch ein Wappen mit Krönchen und allem, darunter „Carl Herzog von Württemberg“.

    So traurig diese Beflimmerung light schon im Allgemeinen ist: dass da ein Nachkomme der alten Autokraten und Gewaltherrscher sein ultrakitschiges Herrschaftszeichen mit Krone und Spruchband („Furchtlos und treu“ – hatten wir nicht schon mehr als genug Sprüche mit „Treue“ während der letzten hundert Jahre?) im öffentlichen Raum – und dann noch ganz vorne – platzieren darf, das ist klar ein Symptom einer Demokratisierung, die allzu früh steckengeblieben ist.

    Nun will ich mich nicht beschweren, dass die bis dann herrschenden Schurken 1918 ihre Köpfe behalten durften. Keine Frage, der Umgang mit Louis XVI im Jahr 1793 war selbstverständlich ein schlimmer Verstoß gegen das Prinzip RiwaFiw („Radikalität ist wichtig, aber Freundlichkeit ist wichtiger“).

    Dass aber die ausgehenden FürstenInnen einen Gutteil der Dinge, die sie sich mit Feuer und Schwert von ihren Untertanen geholt hatten, behalten durften und ihnen das jetzt die Mittel gibt, Duftmarken und vermutlich auch Agenden in unseren Museen zu setzen, das ist auch ein schlimmer Verstoß gegen RiwaFiw. Die damaligen Gesetzgeber haben allzu radikal am Prinzip von Eigentum festgehalten, statt sich an einer ganz schlichten, intuitiven und freundlichen Ethik zu orientieren. Sagen wir: „was du bekommst, indem du Menschen quälst, soll zumindest diesen Menschen wieder nutzen, wenn dir die Gewaltmittel ausgehen, um deine Ansprüche durchzusetzen“.

    In Sachen Schaden und Spott tritt dazu die weitere Alimentierung der Nachfahren der alten Obrigkeiten, so (vermutlich auch im württembergischen Landesmuseum) durch den „Ankauf“ von Plunder, der bereits 1918 hätte sozialisiert werden müssen.

    Besonders auffällig war das im Zusammenhang mit Carl Württembergs Spießgesellen aus dem anderen Landesteil, stark archaisierend „Haus Baden“ genannt, das vor rund dreißig Jahren mit Teilen seines Tafelsilbers versuchte, das Land zu erpressen. Einen kurzen Eindruck der damaligen Debatten gibt ein Blogpost von 2006 zu diesem Thema, in dem einige FAZ-Passagen illustrieren, weshalb das weitere Gebiet der durchlauchtigen Besitztümer auch außerhalb des württembergischen Landesmuseums für schlechte Laune sorgt; diese Geschichte geht übrigens immer noch weiter, wie weitere Beiträge auf dem Blog aus dem letzten Jahrzehnt belegen.

    Ach so: Die Webseite

    Ich kann diesesn Post nicht ohne einen scharfen Themenbruch beenden. Als ich nämlich oben aufs württembergische Landesmuseum verlinkt habe, habe ich selbstverständlich erstmal nachgesehen, was dort eigentlich steht und sah: Nichts. Alles weiß. Dabei hat die Seite eine Crapicity von gerade mal 6 (also: nur 5 Byte Digitalsoße auf 1 Byte lesbaren Text), was für kommerziell produzierte Webseiten in der heutigen Zeit an sich recht ordentlich ist.

    Das hat mich milde neugierig gemacht, warum die Anzeige trotzdem so vergurkt ist. Was soll ich sagen? Es ist etwas unbedachtes CSS, das den Kram hier kaputt macht – eingestanden natürlich nur in Verbindung mit der üblichen Javascriptitis, ohne die die Zuständigen gleich selbst gesehen hätten, dass was kaputt ist. Auf reinen Textbrowsern wie wie w3m ist die Seite ordentlich nutzbar. Dillo mit seiner reduzierten CSS-Interpretation liefert ebenfalls ein brauchbares Rendering.

    Immerhin, die Museumsleute haben offenbar ein gewisses Problembewusstsein im Hinblick darauf, dass die „großen“ Browser ihren Inhalt weiß auf weiß darstellen. Auf der Erklärung zur Barrierefreiheit des Museums heißt es nämlich:

    Einige der Helligkeitskontraste sind zu klein und damit schlecht wahrnehmbar.

    Das ist nicht falsch. Allerdings netto doch einen Hauch euphemistisch:

    Screenshot eines Browserfensters für www.landesmuseum-stuttgart.de: Alles ist weiß
    [1]Nun, eigentlich sind das Mahnmale der unzureichenden Besteuerung von Unternehmen und Reichen; denn offensichtlich haben die Mäzene Geld, das sie genauso gut der Gesellschaft zur Verfügung stellen (also als Steuer zahlen) könnten, mit dem sie sich jetzt aber privaten Einfluss auf öffentliche Museen kaufen. Und immerhin: hatte mensch sie ordentlich besteuert, könnten sie die Mussen nicht zwingen, ihre (also: der Museen, nicht der Mäzene) BesucherInnen mit doofen Logos und Wappen zu belästigen.
  • Ach Bahn, Teil 16: Rekursion in der Praxis

    Ein Ausschnitt aus dem Stichwortverzeichnis eines englischsprachigen Buches, Seite 269.  Unter dem Stichwort „recursion“ findet sich die Seite 269.

    14.83% aller Nerd-Witze drehen sich um Rekursion. Der im Bild oben kommt von den Großmeistern Brian Kernigan und Dennis Ritchie, die eine knappe Erklärung von Rekursion im Stichvortverzeichnis des Klassikers The C Programming Language (2. Auflage) untergebracht haben.

    Bei etwas, das Verwunderung und Verwirrung stiften kann, will die Bahn natürlich nicht Beiseite stehen. Vor ein paar Tagen hatte ich mich ja schlecht gelaunt gezeigt darüber, dass die armen Seelen, die die Bahn-Kontaktmail betreuen müssen, statt auf die Anliegen einzugehen, auch nach anderthalb Monaten lediglich grob im Bedeutungsfeld liegende Textbausteine zusammenklicken.

    Die Bahn hat, praktisch in Rekordzeit, mit dem hier geantwortet:

    -webkit-box-shadow: 0px 4px 8px #828282; /*webkit browser */-moz-box-shadow: 0px 4px 8px #828282; /*firefox */box-shadow: 0px 4px […die gewohnten gut 2kB CSS…] berschrift7-H{font-family:Arial;color:#000000;font-size:10pt;} .NormaleTabelle-C{vertical-align:top;} Ihre Nachricht vom: 29. Januar 2024Unser Zeichen: 1-17XXXXXXXXXX Hallo Herr [immerhin richtiger Name], vielen Dank für Ihre E-Mail.Sie bemängeln, dass wir in unserem Antwortschreiben nicht individuell auf Ihr Anliegen eingehen, sondern dieses mit Textbausteinen beantworten. Bitte sehen Sie dies nicht als Herabsetzung Ihrer Person. Die Deutsche Bahn befördert pro Tag ca. 4 Millionen Reisende und es erreichen den Kundendialog pro Woche eine Vielzahl von Anfragen, Anregungen und Kritik zu den verschiedensten Themen. Vor diesem Hintergrund bitten wir um Verständnis, dass wir - wie es bei jedem Großunternehmen üblich ist - auf Textbausteine zurückgreifen, um Verzögerungen bei der Beantwortung zu vermeiden. Ihre Kritik haben wir zur Information den verantwortlichen Fachbereichen zur internen Auswertung zur Verfügung gestellt. Mit freundlichen Grüßen Ihr Kundendialog DB Fernverkehr AG Ihre Meinung ist uns wichtig. Bitte bewerten Sie Ihren heutigen Kontakt zu unserem Service. Wir freuen uns über Ihre Teilnahme an unserer Kundenzufriedenheitsbefragung.P.S.: Für Ihre Anregungen, Lob und Kritik sind wir jederzeit gern unter 030 2970 für Sie da. Sie erreichen uns rund um die Uhr mit dem Stichwort Kundendialog im Hauptmenü.

    Wenn ich mich jetzt wieder über Textbausteine beklagen würde, müssten – Nerd humour alert – wir hoffen, dass wir beide Tail Call Elimination vornehmen. Wie ein Stack-Überlauf in der wirklichen Welt aussieht, will ich ja lieber nicht sehen.

  • Ach, Bahn, Teil 15: Privatsphäre ist teuer

    Dass „Digitalisierung“ Antisprache ist, also etwas, das mit ordentlicher Sprache zusammen zu Quatsch zerstrahlt, habe ich schon vor geraumer Zeit behauptet. Ein schöner Beleg dazu war neulich im Bahn-Reisezentrum in Hamburg-Altona zu bewundern:

    Ein Plakataufsteller auf einem gefliesten Boden: „Jetzt wird's digital! Für die Buchung Ihres Digitalen Tickets benötigen wir Ihren Vor- und Zunamen sowie Ihre E-Mail-Adresse“.

    Die Bahn verlangt jetzt also Name und gar noch eine Mail-Adresse von Menschen, die vergünstigte Tickets kaufen wollen. Was mit Menschen passiert, die keine Mailadresse haben: Wer weiß?

    So oder so ist das ein ziemlich dreister Übergriff auf die Privatsphäre der weniger betuchten KundInnen der Bahn. Es macht den Buchungsprozess komplizierter und hat für die Betroffenen ganz offensichtlich nicht den Hauch eines Vorteils. Die Bahn will hier vermutlich irgendwelche windigen Geschäfte mit ihren fiesen Spezialtickets[1] verhindern (oder was könnten sie sonst für einen Grund für diese Masche haben?), will aber aus nicht ganz einsichtigen Gründen nicht zugeben, dass sie damit allen das Leben schwer macht.

    Stattdessen versucht die Bahn, das Offensichtliche durch Antisprache wegzuquatschen: „Optimal weil digital“. Was für ein platter Versuch, die KundInnen für dumm zu verkaufen. Zum Fremdschämen. Wer, frage ich mich, soll auf diese Fadenscheinigkeit hereinfallen?

    Update: Definiere Digitalisierung

    Aber es gibt nichts, das nicht auch Vorteile hätte: Ich habe einen Neuzugang in meiner Hitliste „Definiere Digitalisierung“, die ich vor einem guten Jahr angefangen habe. Der aktuelle Stand:

    1. Digitalisierung ist, wenn alles außer Werbung und Ausforschung kaputt ist.
    2. Digitalisierung ist, wenn du deinen Namen und deine Mailadresse abgeben musst.
    3. Digitalisierung ist, wenn du es aus- und wiedereinschalten musst.
    4. Digitalisierung ist, wenn Menschen, die keinen Bock drauf haben, Computer verwenden müssen.

    Echter Fortschritt: fahrscheinloses Reisen

    Ach ja… Es gehört ja vielleicht nicht direkt hierher, aber weil die Bahn schon mal derart ehrlich vorlegt: Wenn „papierloses Reisen“ ein so großer Wert ist, dass er die Aufgabe von Privatsphäre rechtfertigt… Ja, wie ist das dann mit „Reisen ohne die fetten Geräte unter der Verwaltung von Google bzw. Apple“? Wäre nicht noch viel besser: „fahrscheinloses Reisen“?

    Jaja, das mag vielleicht jetzt gerade etwas radikal klingen, aber das galt bis vor ein paar Jahren auch für fahrscheinlosen Nahverkehr. Inzwischen aber ist das kein großer Aufreger mehr. Neulich zum Beispiel bin ich in Tucson eine ganze Woche lang ohne Ticket durch die Sonne von Arizona getuckert:

    Text in einer Art Wolkenform auf Betonboden: „Fares are currently free / suntran.com“ und das nochmal in Spanisch.

    Ja, klar, da steht noch „currently“, und vielleicht wickeln sie ihr Umsonst-Fahrprogramm ja nochmal ab. Aber erstens geht es eben doch, zweitens wäre sowas ein rundrum viel besseres „Produkterlebnis” (oh Mann!), und drittens eine geeignetere Maßnahme gegen Ticket-Schwarzhandel als Übergriffe auf die Daten der KundInnen.

    [1]Fies, weil die Tickets mit Zugbindung bewirken, dass arme Leute in den Randstunden fahren müssen, während die Reichen fahren dürfen, wann sie wollen. Auch hier war der schlanke, effiziente Beamtenapparat von früher deutlich besser: Es gab einen Einheitspreis (von Bonzenschleudern wie dem Rheingold mal abgesehen). Das war übrigens nicht nur gerechter, es hat auch von vorneherein den Ticket-Schwarzhandel verhindert, den die Bahn hier vermutlich auf dem Rücken der ärmeren KundInnen bekämpfen will.
  • Feiertage in remind: Jetzt Bundesweit

    Vor einem bunten Schaufenster steht eine bunte Jesusfigur auf einem kleinen, leintuchumhüllten Podest, darunter ganz viel Grünstreu und Blumen.

    Vielleicht braucht ein Post zu Feiertagsdaten nicht unbedingt eine Illustration. Aber wo sollte ich diese Konkurrenz zwischen Fronleichnamskult (2014 in Walldürn) und moderner Schaufensterdeko sonst unterbringen?

    In meinem Post zu Feiertagen in remind habe ich gesagt:

    Mit wenig Mühe sollte das auf die Verhältnisse in anderen Bundesländern anzupassen sein. Wer das tut, darf die Ergebnisse gerne hierherschicken. Als großer Freund des Feiertags an und für sich würde ich hier sehr gerne ein Repositorium von Feiertagsdateien pflegen.

    Nun, tatsächlich lohnt es sich eigentlich gar nicht, so etwas crowdzusourcen, denn es gibt eine recht nützliche Übersicht über die Feiertage in den Astronomischen Grundlagen für den Kalender, und das wiederum ist schnell in Python übersetzt (will sagen: Fehler sind meine). Das Ergebnis: remind-feiertage.

    Das ist ein Python-Skript, das ohne weitere Abhängigkeit läuft und einen oder mehrere Bundesland-Kürzel nimmt:

    $ python remind-feiertage.py
    Usage: remind-feiertage.py land {land}.
    Gibt remind-Feiertagsdateien für deutsche Länder aus.
    Länderkürzel: BW BY BE BB HB HH HE MV NDS NRW RLP SH TH.
    Erklärung: SL=Saarland, SN=Sachsen, SA=Sachsen-Anhalt)
    

    Übergibt mensch alle Kürzel, kommen auch alle Feiertagsdateien raus. Ihr könnt also auch einfach die Daten für euer Bundesland von hier cutten und pasten:

    $ python remind-feiertage.py BW BY BE BB HB HH HE MV NDS NRW RLP SA SH SL SN TH
    
    ============= BB =============
    # Feiertage in BB
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
    SET ostern EASTERDATE($Uy)
    
    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM [ostern-2] MSG Karfreitag
    REM [ostern+1] MSG Ostermontag
    REM May 1 MSG Maifeiertag
    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    
    
    ============= BE =============
    # Feiertage in BE
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
    SET ostern EASTERDATE($Uy)
    
    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM [ostern-2] MSG Karfreitag
    REM [ostern+1] MSG Ostermontag
    REM May 1 MSG Maifeiertag
    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM Mar 8 MSG Frauentag
    
    
    ============= BW =============
    # Feiertage in BW
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
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    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM [ostern-2] MSG Karfreitag
    REM [ostern+1] MSG Ostermontag
    REM May 1 MSG Maifeiertag
    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM Jan 6 MSG Epiphanias
    REM [ostern+60] MSG Fronleichnam
    REM Nov 1 MSG Allerheiligen
    
    
    ============= BY =============
    # Feiertage in BY
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
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    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
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    REM Jan 6 MSG Epiphanias
    REM [ostern+60] MSG Fronleichnam
    REM Aug 15 MSG M. Himmelfahrt
    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    
    
    ============= HB =============
    # Feiertage in HB
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
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    REM May 1 MSG Maifeiertag
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    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    
    
    ============= HE =============
    # Feiertage in HE
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
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    REM [ostern+60] MSG Fronleichnam
    
    
    ============= HH =============
    # Feiertage in HH
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
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    REM May 1 MSG Maifeiertag
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    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    
    
    ============= MV =============
    # Feiertage in MV
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
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    REM May 1 MSG Maifeiertag
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    REM Mar 8 MSG Frauentag
    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    
    
    ============= NDS =============
    # Feiertage in NDS
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
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    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
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    ============= NRW =============
    # Feiertage in NRW
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
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    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    
    
    ============= RLP =============
    # Feiertage in RLP
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
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    ============= SA =============
    # Feiertage in SA
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
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    ============= SH =============
    # Feiertage in SH
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
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    ============= SL =============
    # Feiertage in SL
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    REM May 1 MSG Maifeiertag
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    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM [ostern+60] MSG Fronleichnam
    REM Aug 15 MSG M. Himmelfahrt
    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    
    
    ============= SN =============
    # Feiertage in SN
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
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    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM [ostern-2] MSG Karfreitag
    REM [ostern+1] MSG Ostermontag
    REM May 1 MSG Maifeiertag
    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM [ostern+60] MSG Fronleichnam
    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    REM Wednesday Nov 16 MSG Buß+Bettag
    
    
    ============= TH =============
    # Feiertage in TH
    # CC0; siehe auch https://codeberg.org/AnselmF/remind-feiertage
    
    SET ostern EASTERDATE($Uy)
    
    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM [ostern-2] MSG Karfreitag
    REM [ostern+1] MSG Ostermontag
    REM May 1 MSG Maifeiertag
    REM [ostern+39] MSG Himmelfahrt
    REM [ostern+50] MSG Pfingstmontag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM [ostern+60] MSG Fronleichnam
    REM Sep 20 MSG Weltkindertag
    REM Oct 31 MSG Reformationstag
    

    Hinweise, wie das mit remind verwendbar ist, findet ihr im Baden-Württemberg-Post.

    Lasst mich zur Klarheit und auch als mein äußerstes Zugeständnis an Search Engine Optimisation gerade noch die Bundesland-Kürzel ausschreiben:

    BW:Baden-Württemberg
    BY:Bayern
    BE:Berlin
    BB:Brandenburg
    HB:Bremen
    HH:Hamburg
    HE:Hessen
    MV:Mecklenburg-Vorpommern
    NDS:Niedersachsen
    NRW:Nordrhein-Westfalen
    RLP:Rheinland-Pfalz
    SA:Sachsen-Anhalt
    SH:Schleswig-Holstein
    SL:Saarland
    SN:Sachsen
    TH:Thüringen
  • Von der größten Demo in Heidelberg seit Jahrzehnten und der autoritären Versuchung

    Jemand hält eine mit Edding handbeschriebene Pappe for dem Körper: „Wer von der AfD redet, darf von Kretschamann nicht schweigen/Abschiebestopp jetzt!“

    Bei der größten Demo in Heidelberg seit Menschengedenken wollte ich mit „Abschiebestopp jetzt!“ daran erinnern, dass wir ja bereits ein großes Deportationsprogramm am Laufen haben. Auch ein grüner Ministerpräsidente lässt zum Beispiel über Baden-Baden Roma ins Kosovo deportieren (wogegen sich dann und wann Protest regt; siehe auch Grüne Positionen in der Opposition).

    Eigentlich meide ich Demonstrationen, die sich recht offen an die Seite aktueller oder historischer Obrigkeiten stellen. Das gilt um so mehr, wenn die fragliche Obrigkeit praktisch gleichzeitig zu den Demos de facto faschistoide Gesetze (das Grundrechtekomitee dazu) verabschiedet. Allzu schnell kommt mensch dabei in die Grauzone zur Huldigung oder gar zum Aufmarsch.

    Gestern aber habe ich trotz dieser Bauchschmerzen an der wirklich beeindruckend großen Anti-AfD-Demo in Heidelberg teilgenommen. Solange es glaubhaft auch gegen „Remigration“ – besser bekannt unter dem konventionellen Namen Abschiebungen – geht, kann ich unter dem imaginierten Blick der Nachwelt nicht daheimbleiben.

    Und es ist ja wirklich großartig, dass da geschätzt 18'000 Menschen auf der Straße waren. Die letzte Demo zu dem Thema – genauer zum entsetzlichen Gemeinsamen Europäischen Abschiebesystem[1] GEAS – in Heidelberg im November war ja leider eher weniger gut besucht:

    In etwa 100 Menschen in einer breiten Reihe vor der Heidelberger Stadtbücherei.

    Außerdem stellt sich in aller Regel auch bei regierungsfreundlichen Demonstrationen heraus, dass sich dort erstaunlich viele Menschen guten Willens sammeln. So war das auch gestern. Es gab viel Zuspruch für meine eingestandenermaßen möglicherweise leicht spalterische Botschaft. Allerdings war von den Regierungsparteien in Baden-Wüttemberg in der Demo auch nicht viel zu sehen.

    Verbote fürs Gute?

    Auch der gute Wille ändert aber nichts daran, dass ausgerechnet auf einer (letzlich) Antifa-Demo die autoritäre Versuchung breit zu spüren war. Manches „Nazis raus“ mag augenzwinkernd gerufen worden sein und im Bewusstsein, dass es wirklich fies wäre, wem anders die deutschen FaschistInnen überzuhelfen, zumal ja die meisten „anderen“ inzwischen schon genug eigene FaschistInnen haben.

    Mein Eindruck war aber, dass doch eine breite Mehrheit der Demonstrierenden ein Verbot der AfD befürwortete. Die Frage vorerst beiseite, ob das irgendeine positive Wirkung hätte: Es ist eben selbst schon autoritär, wenn rechte Gesinnung ausgerechnet über Verbote, Strafen, Zwang, und klar, durch die Obrigkeit geheilt werden soll. Ich habe versucht, das auf der Rückseite meiner Pappe auszudrücken:

    Eine Person hält vor dem Hintergrund einer Demo eine Pappe: „Faschist:innen verbieten ist wie Schnaps gegen Suff“.

    Ich habe mich mit meiner Nachricht, dass Verbote gegen Faschismus stark nach einer Schnapskur für Alkoholkranke klingen, ziemlich zurückgehalten. Mag sein, dass mich dabei übermäßiges Harmoniebedürfnis zurückhielt.

    Ich will keinesfalls ausschließen, dass der Zweck im Einzelfall mal Mittel heiligen mag. Insofern ist es schon statthaft, darüber nachzudenken, ob mensch nicht doch etwas verbieten möchte, wenn die Machtverhältnisse das zulassen. In diesem Fall mag es sogar (aber nur kurz) erlaubt sein, im Hinblick auf den Zweck voll aufzudrehen und in gefährliche Nähe einer Shoah-Relativierung zu gehen. Aber hätte ein Parteiverbot der NSDAP die Shoah verhindert?

    Nation, Volk, Konkurrenz, Hierarchie, Militär: Problem

    Ich bin so gut wie sicher, dass das nicht der Fall gewesen wäre, um so weniger, als zwischen 1922 und 1925 die NSDAP (in leicht wechselnden Varianten) verboten war. Anfang der 1930er jedenfalls hätten Hindenburg, Schleicher und Co gewiss alternative Wege zur Machtübergabe gefunden – oder es hätte halt einen Putsch gegeben.

    Aber hypothetisch die Eignung von Verboten zur Abwendung faschistischer Verhältnisse unterstellt, würde es im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit an der Notwendigkeit fehlen. Für die Verhinderung der Shoah hätte dann bereits gereicht, dass der ganz „normale“ Reichspräsident Hindenburg die NS-Regierung nicht ernannt hätte („milderes Mittel“); er hätte reichlich alternative Wege gehabt. Es hätte vermutlich immer noch gereicht, wenn die Vorgängerorganisationen von CDU, FDP und AfD (letztere wäre im Augenblick bei mir noch die DNVP) Gewaltenteilung und Rechtsstaat nicht mit voller Absicht abgewickelt hätten. Es sind Einsichten wie diese, die die autoritäre Rede von der „wehrhaften Demokratie“ bei ihrer Erfindung verhindern sollte.

    Natürlich wussten Hindenburg und die ihn unterstützende informelle Koalition recht genau, was sie da taten. Sie waren nur selbst von der Verehrung für Nation, Volk, Konkurrenz, Hierarchie, Militär und nicht zu vergessen Antikommunismus durchdrungen. Inhaltlich lagen sie auf einer Linie mit der NSDAP, auch wenn ich gerne glaube, dass viele von ihnen die Methoden des NS-Apparats (also damals vor allem der SA) nicht schätzten. Ich gebe ihnen sogar, dass nennenswert viele von ihnen jedenfalls anfangs weder mit den Verhältnissen in den frühen Konzentrationslagern einverstanden waren noch mit dem Massenmord in Auschwitz, Treblinka und Co oder seinem Vorgänger etwa in Grafeneck oder Hadamar (Beleg).

    Von Nazi-Gewehren und Antifa-Pfefferspray

    Auch Menschen, die meine Einschützung teilen, ein Verbot bewirke allenfalls ein tieferes Einsinken in den autoritären Morast, mögen einwenden: „Aber irgendwas muss man doch machen!“ Ich würde dem „irgendwas“ darin heftig widersprechen. Wenn dieses „irgendwas“ nämlich autoritärer Grundrechtsabbau ist, ist es allemal besser, nichts zu tun. Grundrechte, die weg sind, sind sehr schwer wiederzubekommen, ganz zu schweigen davon, dass Maßnahmen „gegen rechts“ erfahrungsgemäß wenig später mit zehnfacher Wucht nach links durchschlagen.

    Ein schönes Beispiel dazu ist, dass die Behörden in den letzten zwei Jahren jede Menge kleiner Waffenscheine von Menschen aberkannt haben, die sie für Antifas hielten. In den mir bekannten Fällen ging es dabei darum, legal Pfefferspray zur Abwehr von Naziübergriffen mitnehmen zu können. Die ganze Aktion lief in direktem Fallout der rechten Schießerei von Georgensgemünd und der folgenden Verschärfung des Waffenrechts unter der Flagge einer klaren Kante gegen Rechts.

    Dabei würde ich noch nicht mal dem (letztlich ohnehin eher zwecklosen) Pfefferspray nachweinen, aber im Nebeneffekt entstanden zumindest gelegentlich, vielleicht sogar grundsätzlich, Einträge in der PIAV-Tabelle zu Waffen- und Sprengstoffkriminalität. Wenn die vielleicht bei einem Grenzübertritt oder im Rahmen der ja für die fremde Polizei häufig überhaupt nicht kontextualisierbaren Prüm-Transfers auftauchen, kann das bei einem Polizeikontakt den Unterschied machen zwischen einem „Guten Tag, der Herr“ und einem „das SEK knallt dich auf die nächstbeste Motorhaube“.

    Wie baue ich mir Untertanen?

    So versuchend der autoritäre Weg des Verbots sein mag: Nach solchen Überlegungen scheint es mir aussichtsreicher, zunächst so tiefschürfend wie möglich die Frage zu beackern, was eigentlich die Ursachen sind für den fast globalen Trend zur autoritären bis durchgeknallten Zivilreligion von Nation, Volk, Konkurrenz, Hierarchie, Militär – bei hinreichend konsequenter Umsetzung also zum Faschismus.

    Dazu haben, ja, schon viele Menschen sehr viel geschrieben, zumeist mit Betrachtungen über erodierende Mittelschichten, Männer (bzw. moderner Baby-Boomer) mit Bedeutungsverlust, dem Abendland an und für sich (in schlechtester Tradition), imaginierten Identitätsverlusten usf. Das ist jedenfalls teilweise bestimmt nicht falsch. Als unbelehrbarer Antiautoritärer (und zumal Klaus Theweleit leider Fußballfan geworden ist) möchte ich aber dafür werben, etwas allgemeiner über Herrschaft nachzudenken, also darüber, wie Obrigkeiten es eigentlich schaffen, ihre Untertanen zur Unterordnung zu bringen.

    Die halbe Politologie stellt diese Frage, wenn auch häufig mit aus meiner Sicht ethisch fragwürdiger Betonung: „wie schaffen wir das?“ statt „wie schaffen die das?“. Auch zur Einordnung solcher Arbeiten fand ich meine Variante der Klassifikationen von Herrschaftstechniken eigentlich immer recht nützlich. Danach kann eine Obrigkeit setzen auf:

    • göttliche Bestimmung oder eventuell besondere Brillianz („du gehorchst, weil du dazu bestimmt bist“)
    • Angst vor der Obrigkeit („du gehorchst, weil ich dir sonst wehtue“)
    • Wohlstandsversprechen („du gehorchst, weil es dann dir oder spätestens deinen Kindern dann besser geht“)
    • Angst vor der Nicht-Obrigkeit („du gehorchst, weil ansonsten [Wölfe | Japaner | Chinesen | Russen | Griechen | Clans | Arme | Kinderschänder] kommen und dich [fressen | ausnehmen | beherrschen]”).

    In realen Machtverhältnissen mischen sich natürlich die einzelnen Techniken in verschiedenen Verhältnissen, die zudem durchweg stark abhängen davon, welche Untergruppe der Untertanen gerade adressiert wird: Höheren Klassen wird mensch als guter Herrscher eher etwas versprechen, niedrigen Klassen oder leicht rassifizierbaren Gruppen eher mit Schmerz und Pein drohen. Welche Mixtur dominiert und wie sehr sie gleichmäßig über die Untertanenschaft ausgebracht wird, bestimmt ganz wesentlich, wie so eine Gesellschaft funktioniert und wie angenehm Menschen in ihr leben können.

    Lasst mich deshalb die vier Szenarien etwas ausführlicher betrachten, bevor ich wieder auf den Zusammenhang mit der AfD komme.

    Göttliche Bestimmung

    Ich fand die These, Religion sei als Mittel erfunden worden, Machtausübung zu legitimieren, schon immer attraktiv. Empirisch hat das augenscheinlich prima funktioniert, etwa bei all den FürstInnen „von Gottes Gnaden“, dem göttlichen Kaiserhaus (das ist das IHDD auf allen möglichen römischen Inschriften) oder auch bei den (fast) frühesten schriftlichen Überlieferungen von Herrschaft überhaupt, dem Codex Hammurapi, dessen einschlägigen Inhalt einE Wikipedia-AutorIn so wiedergibt:

    [Es] wird zunächst erklärt, dass der babylonische Stadtgott Marduk durch Anu und Enlil, die höchsten Götter des sumerisch-akkadischen Pantheons, zur Herrschaft über die Menschheit berufen worden sei. Dementsprechend sei Babylon als seine Stadt auch zum Zentrum der Welt bestimmt worden. Damit eine gerechte Ordnung im Land bestehe, Übeltäter und Unterdrückung von Schwachen ein Ende fänden und es den Menschen gut gehe, sei dann Hammurapi zur Königsherrschaft über die Menschen erwählt worden.

    Bemerkenswert daran ist bereits, dass schon in dieser ganz frühen Fassung der Claim göttlicher Bestimmung wohl doch nicht als ausreichend empfunden wurde, denn sonst hätte Hammurapi kaum noch verweisen lassen auf „Menschen gut gehe“ (Wohlstandsversprechen) und die „Übeltäter“ (Angst vor der Nicht-Obrigkeit).

    Andererseits lässt die moderne Verehrung für <hust> Führungsfiguren zwischen (aktuell) Franz Beckenbauer, (etwa genauso aktuell) Elon Musk oder (seit gefühlt schon immer) Lady Di …

  • Unbesungener Held: Der Verkehrsberuhiger Otto Wicht

    Stadtszene mit Klinkerhäusern, vor denen Sträucher und Bäume stehen.  Dazwischen ein Weg, auf dem ein paar Leute laufen.

    Was alles geht, wenn Städte für Menschen und nicht für Autos gebaut werden: eine Straße als Garten in Husum, 2022. Otto Wicht hat den ersten Schritt in diese Richtung getan.

    Im Deutschlandfunk-Kalenderblatt vom 14.11.2023 habe ich zum ersten Mal von einem Menschen gehört, der ungezählte Menschenleben gerettet und ungezählte weitere im ganz großen Stil angenehmer gemacht hat: Otto Wicht, Stadtbaurat in Buxtehude[1]. Er hatte vierzig Jahre zuvor, am 14. November 1983, im Herzen der Bestie – in dem Land, in dem das ganze Elend anfing – die ersten Blumenkübel auf der Konopkastraße aufstellen lassen, um Autos auf wenigstens entfernt menschenverträgliche Geschwindigkeit einzubremsen.

    Herbst 1983. Buxtehudes Autofahrer sind genervt. Plötzlich stehen mal rechts, mal links, kreisrunde Blumenkübel am Fahrbahnrand. Es geht darum, langsamer zu fahren.

    Die niedersächsische Stadt hat am vierzehnten November 1983 die bundesweit erste Tempo-dreißig-Zone eingeführt. [...]

    Die umfunktionierten Betonringe sind eigentlich für den Bau von Kanalisationsleitungen gedacht und werden nach den ersten Unfällen mit Katzenaugen, später mit rot-weißen Verkehrsbaken nachgerüstet.

    Aber hört euch den ganzen Beitrag an; spektakulär finde ich ja vor allem die indignierten Schimpftiraden von AutofahrerInnen, die sich augenscheinlich in ein Grundrecht auf Rumrasen, auf Krach machen, stinken, Menschen verscheuchen, hineindeliriert haben. „Der Verkehr muss doch fließen,“ lässt sich eine vernehmen, als seien Autos „der Verkehr“ und als sei es irgendwie akzeptabel, tonnenweise Stahl mit 15 Metern pro Sekunde gerade mal einen Meter neben ziemlich weichen Zielen durch die Gegend zu ballern.

    Na ja: ich gebe zu, dass Ansichten dieser Art auch vierzig Jahre nach Otto Wichts großem ersten Schritt noch in manchen Köpfen herumspuken. Der DLF-Beitrag lässt ahnen, dass diese Zeitenwende alles andere als einfach war, selbst wenn sich inzwischen sogar ein CDU-Stadtrat – für seine Verhältnisse – einsichtig zeigt und eher kopfschüttelnd zurückblickt auf seine Sprüche aus den Achtzigern:

    Und deswegen haben wir immer gesagt, Herr Wicht, Herr Wicht, die Stadt ist dicht, wenn der Verkehr zum Stocken kam, ne?

    Tja: Schon wieder dieser „Verkehr“, der da stockt. Und nicht etwa im Wesentlichen Blechkäfige von Menschen, die mit hinreichend Empathie mit ihrer Umwelt Fahrrad gefahren und dann auch kein Stau wären.

    An Wichts HeldInnen-Status nagt im Übrigen auch nicht, dass Verkehrsberuhigung damals in der Luft lag:

    Kurz nach den Norddeutschen zogen Berlin-Moabit, Ingolstadt und Mainz, das ostwestfälische Borgentreich und das schwäbische Esslingen nach.

    Auch in Fällen von Zeitgeist braucht es schlicht Menschen, die den ersten Schritt tun und dafür dann die Flak der (in diesem Fall) Autofahrenden abbekommen, ohne auf „aber dort hat das doch prima funktioniert“ verweisen zu können.

    Obwohl Wicht so viele Menschen und Nerven gerettet hat und dafür haufenweise Hass aus der Klientel abbekommen hat, die heute in den schwelenden Resten von Twitter herumschimpft, hat er im Augenblick nicht mal eine Wikipedia-Seite. Ich sollte mich wirklich überwinden und eine schreiben, vielleicht auf der Basis dieses Nachrufs mit ein wenig Ausschmückung aus jenem. Oder findet sich vielleicht einE routinierteR WikipedianerIn, um einem großen Diener von Staat und Bevölkerung ein kleines Denkmal zu setzen?

    [1]Ich wittere schon wieder den Weltgeist am Werk, wenn bei epochale Ereignissen (nein, absolut keine Ironie hier) wie Verkehrsberuhigung Namen wie Buxtehude und Wicht eine zentrale Rolle spielen.
  • Feiertage in Baden-Württemberg für die Terminverwaltung remind

    Screenshot eines Terminals mit blauem Hintergrund. Gezeigt ist die Kommandozeile remind -cu+2 ~/.reminders 2024-03-24 und ein ASCII-Kalender, in dem Karfreitag und Ostermontag markiert sind.

    Gut: In der Realität sehe ich meinen remind-Kalender meist als Tk-Widget oder in HTML, aber im Zweifel geht auch ASCII, etwa, wenn ich wie jetzt meine Feiertage vorführen will.

    Als ich neulich zu Debian bookworm migriert bin, musste ich mich endlich vom GPE-Kalender[1] verabschieden, weil er nach langen Jahren als verwaistes Paket schließlich doch noch einen Konflikt mit was Wichtigem eingefangen hat. Es war aber ohnehin höchste Zeit, für die Terminverwaltung zu etwas Sinnvollerem zu migrieren. In meinem Fall: remind. Das nun fühlt sich – zusammen mit tkremind (auch Debian-paketiert) und einem:

    reminders = subprocess.run(["remind", "-pp", "-c+3",
        "/home/msdemlei/.reminders"],
      capture_output=True).stdout
    reminders_html = subprocess.run(["rem2html", "-tableonly"],
      capture_output=True, input=reminders).stdout
    

    in dem Python-Skript, das mir meine tägliche Zusammenfassung in HTML produziert – so an, als könnte das für die nächsten 20 Jahre halten.

    Mit diesem Gefühl wollte ich nun endlich die Anzeige von Feiertagen konfigurieren, etwas, das ich mit dem GPE-Kalender bis zu dessen bitterem Ende Jahr um Jahr prokrastiniert habe. Allein, zu einer Anfrage "remind" Feiertage "Baden-Württemberg" ist weder Google noch Duckduckgo etwas Brauchbares eingefallen.

    Um das zu ändern, schreibe ich diesen Post. Und zwar habe ich gerade die folgende remind-Datei mit den gesetzlichen Feiertagen in Baden-Württemberg geschrieben:

    # Feiertage in Baden-Württemberg (Stand 2024)
    #
    # Verteilt unter CC0.
    
    SET ostern EASTERDATE($Uy)
    
    REM Jan 1 MSG Neujahr
    REM Jan 6 MSG Epiphania
    REM May 1 MSG Kampftag
    REM Oct 3 MSG Nationalfeiertag
    REM Nov 1 MSG Allerheiligen
    REM Dec 25 MSG Weihnachten 1
    REM Dec 26 MSG Weihnachten 2
    REM [ostern-2] Karfreitag
    REM [ostern+1] Ostermontag
    REM [ostern+39] Himmelfahrt
    REM [ostern+50] Pfingstmontag
    REM [ostern+60] Fronleichnam
    

    Mit wenig Mühe sollte das auf die Verhältnisse in anderen Bundesländern anzupassen sein. Wer das tut, darf die Ergebnisse gerne hierherschicken. Als großer Freund des Feiertags an und für sich würde ich hier sehr gerne ein Repositorium von Feiertagsdateien pflegen.

    Wie verwende ich das? Nun, ich habe ein Verzeichnis für allerlei Kram, der längere Zeit irgendwo in meinem Home sein soll, aber nicht gerade in dessen Wurzel: ~/misc. Dort leben jetzt auch diese Feiertage als bawue.rem.

    Die eigentlichen Termine habe ich – wie aus dem Python oben schon ahnbar und mit großem Vergnügen XDG-unkonform – in einer Datei ~/.reminders. Und dort steht jetzt bei mir:

    INCLUDE /usr/share/remind/lang/de.rem
    DO misc/bawue.rem
    

    Die erste Zeile macht deutschsprachige Beschriftung, das DO (statt include) in der zweiten Zeile ist wichtig, damit remind den Pfad relativ zum Pfad der reminders-Datei auflöst.

    Und damit werde ich nie wieder dienstliche Termine auf Feiertage legen. So.

    [1]GPE steht hier für das längst vergessene GPE Palmtop Environment; demnach roch auch der GPE-Kalender schon seit einem Jahrzehnt ziemlich streng.

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