Bevor deren 75. Jubiläumsjahr vorbei ist, möchte ich an eine der ganz großen zivilisatorischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts erinnern: 1948 löste der damalige Präsident José Figueres Ferrer das Militär in Costa Rica auf, und es hat kein Rezidiv gegeben, obwohl die Nachbarstaaten diesen, ach ja, Fort-Schritt nicht hinbekommen haben – vom Rest der Welt ganz zu schweigen.
Ich brauchte auch erst eine Erinnerung daran und bekam die im Deutschlandfunk-Kalenderblatt am 1.12.2023. Der 1. Dezember ist der Jahrestag von Ferrers Inititative und ist seit 2020 in Costa Rica ein Feiertag („abolió el ejército“ – take that, „Volkstrauertag“). Peter B. Schumann erwähnte in seinem kleinen Beitrag gute Gründe zum Feiern:
Die Kaserne wurde zum Nationalmuseum und der Wehretat zum Entwicklungsbudget. Damit konnten das Bildungssystem, das Gesundheitswesen und die Infrastruktur ausgebaut […] werden. […] Costa Rica hat es auch nie bereut. Während die hochgerüsteten Nachbarländer von einem autoritären Regime ins andere und von einer Krise in die nächste taumelten, konnte das kleine Land sich jahrzehntelang zu einer stabilen, prosperierenden Demokratie entwickeln.
Sehr bemerkenswert fand ich auch die Analyse des Autors zu den Bedingungen für den Erfolg der Abrüstung in Mittelamerika:
[Costa Rica] war viel kleiner [als seine Nachbarn], weniger kapitalkräftig, die Elite relativ arm […] Die Regierungen hatten [die Armee] allerdings oft vernachlässigt, so dass sie schlecht ausgebildet und schlecht bewaffnet war, eine schwache Institution.
Also: geringe soziale Stratifikation, wenig physische Basis der Regierung, anderen Regierungen etwas aufzwingen zu können und eine schlecht finanzierte Armee haben in dieser (m.E. glaubwürdigen) Erzählung geholfen, das Militär loszuwerden. Praktischerweise sind das Politiklinien, die wenigstens mir auch unabhängig von Friedenspolitik im engeren Sinn attraktiv erscheinen – angefangen vom Ende der Kriegskredite (Verzeihung, „Sondervermögen“; soll keineR sagen, es habe sich gar nichts getan in Berlin über die letzten 110 Jahre hinweg).
Nun will ich gerne eingestehen, dass mein traditionell zuversichtlicher Blick in eine militärfreie Zukunft ohne Strammstehen, Tschingdarassabum, bunte Kappen und Orden in nur wenigen Momenten meines Lebens nicht bei vielen ZeitgenossInnenen auf ungläubige bis schnappatmende Einwände gestoßen wäre: anfangs „aber… die Russen?!“, dann rasch „aber… die Moslems?!“ und jetzt wieder (meist) „aber… die Russen?!“
Ganz unabhängig davon, ob Tschingdarassabum und Menschentotschießen geeignet, notwendig und angemessen sind, um Konflikte zwischen den Entietäten zu lösen, denen sich die verschiedenen ZeitgenossInnen zugehörig fühlten: Costa Rica ist tatsächlich gut ohne ausgekommen, und das, obwohl sich recht schnell ein deutliches Wohlstandsgefälle zu den militärbesetzten Nachbarstaaten einstellte[1].
Zu den qualitativen Effekten der Auflösung des Militärs lohnt ein Blick in die (vermutlich für Mittelamerika stark unvollständige) Liste der Putschversuche in der englischen Wikipedia[2]. Wie der DLF-Autor Schumann schon andeutet, fanden in den Nachbarstaaten – wenn nicht wie in Nicaragua ohnehin über Jahrzehnte das Militär faktisch an der Macht war – alle paar Jahre mal Militärputsche statt (für Honduras verzeichnet: 1956, 1963, 1972, 1975, 1978 und 2009).
Für Costa Rica hingegen ist nach dem 1.12.1948 nur ein Putschversuch notiert, und der ist gescheitert. De facto war das sieben Jahre nach der Auflösung der Armee ein Versuch der alten Garde, sich wieder die Lizenz zum Schießen und Töten sowie die Alimentierung für dieses Treiben zu verschaffen. Es handelte sich nämlich um eine vom Somoza-Regime in Nicaragua gestützte Rebellion, in der „Calderonistas“, Ex-Soldaten aus der Zeit des vorherigen Potentaten Rafael Calderón, versuchten, wieder einen „normalen“ Staat zu bekommen. Das ist durchaus auch eine Erinnerung daran, dass, wer jetzt Militär macht, eben auch ein schweres Erbe für später schafft.
Los gings Anfang Januar 1955, als diese Truppen mit Ölgeld aus dem damals ebenfalls erzreaktionär regierten Venezuela vom Herrschaftsgebiet des später in der sandinistischen Revolution untergegangenen Somoza-Clans aus in die costaricanische Kleinstadt Ciudad Quesada einfielen; venezuelanische Militärflugzeuge beschossen derweil verschiedene Städte in Costa Rica. SpielerInnen des Klassikers Junta kennen das Szenario.
Die Regierung in San José rief daraufhin die OAS an, die (eingestandenermaßen überraschenderweise) Druck auf Nicaragua ausübte; dazu mobilisierte die Regierung in San José ihre Polizei, stellte Milizen auf und widmete vorübergehend Zivilflugzeuge um, was angesichts hinreichender Popularität der Regierung genug war, um die Invasion zusammenbrechen zu lassen.
Klar wärs schöner gewesen, wenn der versuchte Putsch etwa durch einen zünftigen Generalstreik beendet worden wäre statt durch doch ziemlich paramilitärisches Gedöns. Klar ist aber auch, dass erstens Militärquatsch deutlich weniger Schaden anrichtet, wenn es insgesamt weniger davon gibt, und zweitens, dass auch ohne Militär Grobiane von außen nicht einfach tun und lassen können, was sie wollen.
Es wird nur für die Grobiane von innen schwieriger, sich richtig grob zu benehmen und bei ihren Streitigkeiten mit den Grobianen von außen halbe Regionen zu verwüsten. Und vielleicht ist entsprechend radikale Abrüstung ja auch mal von unten statt wie in Costa Rica von oben zu bewerkstelligen? Das wäre besser, denn auf eine Figur wie Ferrer werden wir im Land von Clausewitz wahrscheinlich noch lang warten müssen.
[1] | Wie immer ist es schwierig, „Wohlstand” zu definieren und noch mehr zu quantifizieren. Wer an Metriken wie den HDI glaubt, wird Costa Rica 2018 bei 0.78 finden, gegenüber Nachbarstaaten wie El Salvador bei 0.68 oder Honduras bei 0.62 (zum Vergleich sieht das UNDP die BRD bei 0.94); aber dass der Billigflaggen-Staat Panama bei 0.79 und damit gleichauf mit Costa Rica steht, sagt wohl mehr über die Metrik als über reale Verhältnisse im Hinblick auf gutes Leben aus. |
[2] | In der Liste der Putsche in der deutschen Wikipedia hat sich noch niemand den beängstigend großen Schuh angezogen, solche Aktivitäten in Mittelamerika zu sammeln. |
Zitiert in: Von der größten Demo in Heidelberg seit Jahrzehnten und der autoritären Versuchung