Tag Demo

  • Von der größten Demo in Heidelberg seit Jahrzehnten und der autoritären Versuchung

    Jemand hält eine mit Edding handbeschriebene Pappe for dem Körper: „Wer von der AfD redet, darf von Kretschamann nicht schweigen/Abschiebestopp jetzt!“

    Bei der größten Demo in Heidelberg seit Menschengedenken wollte ich mit „Abschiebestopp jetzt!“ daran erinnern, dass wir ja bereits ein großes Deportationsprogramm am Laufen haben. Auch ein grüner Ministerpräsidente lässt zum Beispiel über Baden-Baden Roma ins Kosovo deportieren (wogegen sich dann und wann Protest regt; siehe auch Grüne Positionen in der Opposition).

    Eigentlich meide ich Demonstrationen, die sich recht offen an die Seite aktueller oder historischer Obrigkeiten stellen. Das gilt um so mehr, wenn die fragliche Obrigkeit praktisch gleichzeitig zu den Demos de facto faschistoide Gesetze (das Grundrechtekomitee dazu) verabschiedet. Allzu schnell kommt mensch dabei in die Grauzone zur Huldigung oder gar zum Aufmarsch.

    Gestern aber habe ich trotz dieser Bauchschmerzen an der wirklich beeindruckend großen Anti-AfD-Demo in Heidelberg teilgenommen. Solange es glaubhaft auch gegen „Remigration“ – besser bekannt unter dem konventionellen Namen Abschiebungen – geht, kann ich unter dem imaginierten Blick der Nachwelt nicht daheimbleiben.

    Und es ist ja wirklich großartig, dass da geschätzt 18'000 Menschen auf der Straße waren. Die letzte Demo zu dem Thema – genauer zum entsetzlichen Gemeinsamen Europäischen Abschiebesystem[1] GEAS – in Heidelberg im November war ja leider eher weniger gut besucht:

    In etwa 100 Menschen in einer breiten Reihe vor der Heidelberger Stadtbücherei.

    Außerdem stellt sich in aller Regel auch bei regierungsfreundlichen Demonstrationen heraus, dass sich dort erstaunlich viele Menschen guten Willens sammeln. So war das auch gestern. Es gab viel Zuspruch für meine eingestandenermaßen möglicherweise leicht spalterische Botschaft. Allerdings war von den Regierungsparteien in Baden-Wüttemberg in der Demo auch nicht viel zu sehen.

    Verbote fürs Gute?

    Auch der gute Wille ändert aber nichts daran, dass ausgerechnet auf einer (letzlich) Antifa-Demo die autoritäre Versuchung breit zu spüren war. Manches „Nazis raus“ mag augenzwinkernd gerufen worden sein und im Bewusstsein, dass es wirklich fies wäre, wem anders die deutschen FaschistInnen überzuhelfen, zumal ja die meisten „anderen“ inzwischen schon genug eigene FaschistInnen haben.

    Mein Eindruck war aber, dass doch eine breite Mehrheit der Demonstrierenden ein Verbot der AfD befürwortete. Die Frage vorerst beiseite, ob das irgendeine positive Wirkung hätte: Es ist eben selbst schon autoritär, wenn rechte Gesinnung ausgerechnet über Verbote, Strafen, Zwang, und klar, durch die Obrigkeit geheilt werden soll. Ich habe versucht, das auf der Rückseite meiner Pappe auszudrücken:

    Eine Person hält vor dem Hintergrund einer Demo eine Pappe: „Faschist:innen verbieten ist wie Schnaps gegen Suff“.

    Ich habe mich mit meiner Nachricht, dass Verbote gegen Faschismus stark nach einer Schnapskur für Alkoholkranke klingen, ziemlich zurückgehalten. Mag sein, dass mich dabei übermäßiges Harmoniebedürfnis zurückhielt.

    Ich will keinesfalls ausschließen, dass der Zweck im Einzelfall mal Mittel heiligen mag. Insofern ist es schon statthaft, darüber nachzudenken, ob mensch nicht doch etwas verbieten möchte, wenn die Machtverhältnisse das zulassen. In diesem Fall mag es sogar (aber nur kurz) erlaubt sein, im Hinblick auf den Zweck voll aufzudrehen und in gefährliche Nähe einer Shoah-Relativierung zu gehen. Aber hätte ein Parteiverbot der NSDAP die Shoah verhindert?

    Nation, Volk, Konkurrenz, Hierarchie, Militär: Problem

    Ich bin so gut wie sicher, dass das nicht der Fall gewesen wäre, um so weniger, als zwischen 1922 und 1925 die NSDAP (in leicht wechselnden Varianten) verboten war. Anfang der 1930er jedenfalls hätten Hindenburg, Schleicher und Co gewiss alternative Wege zur Machtübergabe gefunden – oder es hätte halt einen Putsch gegeben.

    Aber hypothetisch die Eignung von Verboten zur Abwendung faschistischer Verhältnisse unterstellt, würde es im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit an der Notwendigkeit fehlen. Für die Verhinderung der Shoah hätte dann bereits gereicht, dass der ganz „normale“ Reichspräsident Hindenburg die NS-Regierung nicht ernannt hätte („milderes Mittel“); er hätte reichlich alternative Wege gehabt. Es hätte vermutlich immer noch gereicht, wenn die Vorgängerorganisationen von CDU, FDP und AfD (letztere wäre im Augenblick bei mir noch die DNVP) Gewaltenteilung und Rechtsstaat nicht mit voller Absicht abgewickelt hätten. Es sind Einsichten wie diese, die die autoritäre Rede von der „wehrhaften Demokratie“ bei ihrer Erfindung verhindern sollte.

    Natürlich wussten Hindenburg und die ihn unterstützende informelle Koalition recht genau, was sie da taten. Sie waren nur selbst von der Verehrung für Nation, Volk, Konkurrenz, Hierarchie, Militär und nicht zu vergessen Antikommunismus durchdrungen. Inhaltlich lagen sie auf einer Linie mit der NSDAP, auch wenn ich gerne glaube, dass viele von ihnen die Methoden des NS-Apparats (also damals vor allem der SA) nicht schätzten. Ich gebe ihnen sogar, dass nennenswert viele von ihnen jedenfalls anfangs weder mit den Verhältnissen in den frühen Konzentrationslagern einverstanden waren noch mit dem Massenmord in Auschwitz, Treblinka und Co oder seinem Vorgänger etwa in Grafeneck oder Hadamar (Beleg).

    Von Nazi-Gewehren und Antifa-Pfefferspray

    Auch Menschen, die meine Einschützung teilen, ein Verbot bewirke allenfalls ein tieferes Einsinken in den autoritären Morast, mögen einwenden: „Aber irgendwas muss man doch machen!“ Ich würde dem „irgendwas“ darin heftig widersprechen. Wenn dieses „irgendwas“ nämlich autoritärer Grundrechtsabbau ist, ist es allemal besser, nichts zu tun. Grundrechte, die weg sind, sind sehr schwer wiederzubekommen, ganz zu schweigen davon, dass Maßnahmen „gegen rechts“ erfahrungsgemäß wenig später mit zehnfacher Wucht nach links durchschlagen.

    Ein schönes Beispiel dazu ist, dass die Behörden in den letzten zwei Jahren jede Menge kleiner Waffenscheine von Menschen aberkannt haben, die sie für Antifas hielten. In den mir bekannten Fällen ging es dabei darum, legal Pfefferspray zur Abwehr von Naziübergriffen mitnehmen zu können. Die ganze Aktion lief in direktem Fallout der rechten Schießerei von Georgensgemünd und der folgenden Verschärfung des Waffenrechts unter der Flagge einer klaren Kante gegen Rechts.

    Dabei würde ich noch nicht mal dem (letztlich ohnehin eher zwecklosen) Pfefferspray nachweinen, aber im Nebeneffekt entstanden zumindest gelegentlich, vielleicht sogar grundsätzlich, Einträge in der PIAV-Tabelle zu Waffen- und Sprengstoffkriminalität. Wenn die vielleicht bei einem Grenzübertritt oder im Rahmen der ja für die fremde Polizei häufig überhaupt nicht kontextualisierbaren Prüm-Transfers auftauchen, kann das bei einem Polizeikontakt den Unterschied machen zwischen einem „Guten Tag, der Herr“ und einem „das SEK knallt dich auf die nächstbeste Motorhaube“.

    Wie baue ich mir Untertanen?

    So versuchend der autoritäre Weg des Verbots sein mag: Nach solchen Überlegungen scheint es mir aussichtsreicher, zunächst so tiefschürfend wie möglich die Frage zu beackern, was eigentlich die Ursachen sind für den fast globalen Trend zur autoritären bis durchgeknallten Zivilreligion von Nation, Volk, Konkurrenz, Hierarchie, Militär – bei hinreichend konsequenter Umsetzung also zum Faschismus.

    Dazu haben, ja, schon viele Menschen sehr viel geschrieben, zumeist mit Betrachtungen über erodierende Mittelschichten, Männer (bzw. moderner Baby-Boomer) mit Bedeutungsverlust, dem Abendland an und für sich (in schlechtester Tradition), imaginierten Identitätsverlusten usf. Das ist jedenfalls teilweise bestimmt nicht falsch. Als unbelehrbarer Antiautoritärer (und zumal Klaus Theweleit leider Fußballfan geworden ist) möchte ich aber dafür werben, etwas allgemeiner über Herrschaft nachzudenken, also darüber, wie Obrigkeiten es eigentlich schaffen, ihre Untertanen zur Unterordnung zu bringen.

    Die halbe Politologie stellt diese Frage, wenn auch häufig mit aus meiner Sicht ethisch fragwürdiger Betonung: „wie schaffen wir das?“ statt „wie schaffen die das?“. Auch zur Einordnung solcher Arbeiten fand ich meine Variante der Klassifikationen von Herrschaftstechniken eigentlich immer recht nützlich. Danach kann eine Obrigkeit setzen auf:

    • göttliche Bestimmung oder eventuell besondere Brillianz („du gehorchst, weil du dazu bestimmt bist“)
    • Angst vor der Obrigkeit („du gehorchst, weil ich dir sonst wehtue“)
    • Wohlstandsversprechen („du gehorchst, weil es dann dir oder spätestens deinen Kindern dann besser geht“)
    • Angst vor der Nicht-Obrigkeit („du gehorchst, weil ansonsten [Wölfe | Japaner | Chinesen | Russen | Griechen | Clans | Arme | Kinderschänder] kommen und dich [fressen | ausnehmen | beherrschen]”).

    In realen Machtverhältnissen mischen sich natürlich die einzelnen Techniken in verschiedenen Verhältnissen, die zudem durchweg stark abhängen davon, welche Untergruppe der Untertanen gerade adressiert wird: Höheren Klassen wird mensch als guter Herrscher eher etwas versprechen, niedrigen Klassen oder leicht rassifizierbaren Gruppen eher mit Schmerz und Pein drohen. Welche Mixtur dominiert und wie sehr sie gleichmäßig über die Untertanenschaft ausgebracht wird, bestimmt ganz wesentlich, wie so eine Gesellschaft funktioniert und wie angenehm Menschen in ihr leben können.

    Lasst mich deshalb die vier Szenarien etwas ausführlicher betrachten, bevor ich wieder auf den Zusammenhang mit der AfD komme.

    Göttliche Bestimmung

    Ich fand die These, Religion sei als Mittel erfunden worden, Machtausübung zu legitimieren, schon immer attraktiv. Empirisch hat das augenscheinlich prima funktioniert, etwa bei all den FürstInnen „von Gottes Gnaden“, dem göttlichen Kaiserhaus (das ist das IHDD auf allen möglichen römischen Inschriften) oder auch bei den (fast) frühesten schriftlichen Überlieferungen von Herrschaft überhaupt, dem Codex Hammurapi, dessen einschlägigen Inhalt einE Wikipedia-AutorIn so wiedergibt:

    [Es] wird zunächst erklärt, dass der babylonische Stadtgott Marduk durch Anu und Enlil, die höchsten Götter des sumerisch-akkadischen Pantheons, zur Herrschaft über die Menschheit berufen worden sei. Dementsprechend sei Babylon als seine Stadt auch zum Zentrum der Welt bestimmt worden. Damit eine gerechte Ordnung im Land bestehe, Übeltäter und Unterdrückung von Schwachen ein Ende fänden und es den Menschen gut gehe, sei dann Hammurapi zur Königsherrschaft über die Menschen erwählt worden.

    Bemerkenswert daran ist bereits, dass schon in dieser ganz frühen Fassung der Claim göttlicher Bestimmung wohl doch nicht als ausreichend empfunden wurde, denn sonst hätte Hammurapi kaum noch verweisen lassen auf „Menschen gut gehe“ (Wohlstandsversprechen) und die „Übeltäter“ (Angst vor der Nicht-Obrigkeit).

    Andererseits lässt die moderne Verehrung für <hust> Führungsfiguren zwischen (aktuell) Franz Beckenbauer, (etwa genauso aktuell) Elon Musk oder (seit gefühlt schon immer) Lady Di …

  • Zum Antikriegstag: Von Aretha Franklin zu antipatriotischen Gedanken

    Ein Gazebo mit einem Transparent dran: „Internationaler Antikriegstag 1. September 2001.  Wir bleiben dabei: Nein zum Krieg“, dahinter eine Fußgängerzonenszene.

    Als PazifistIn kommt mensch aus dem Told-you-so-Sagen gar nicht mehr raus: Kaum zwei Wochen nach der überschaubaren Heidelberger Kundgebung zum Antikriegstag 2001 – heute vor 22 Jahren – erklärten weltweit viele Herrschende den „Krieg gegen den Terror“. Ich denke, niemand wird bestreiten, dass die Welt jetzt viel besser wäre, wenn sie das gelassen hätten.

    Im Deutschlandfunk-Kalenderblatt vom 16. August 2023 erinnerte Andrea Klasen an den zehnten Todestag von Aretha Franklin. Im Beitrag heißt es:

    Aretha Franklins Weg zum Ruhm ist steinig. Sie wird im März 1942 in Memphis, Tennessee, geboren, hinein in ein Elternhaus voller Musik.

    Als Klasen gegen Ende sagte:

    Am sechzehnten August 2018 stirbt die Soul-Diva mit 76 Jahren in ihrer Heimatstadt Detroit.

    habe ich zuerst gedacht: „Holla, aber es hieß doch am Anfang, Franklin sei in Memphis geboren worden? Hat Klasen nicht aufgepasst?“

    Dann aber kam mir, dass der Text vielleicht eine fortschrittlichere Interpretation des ja wahrlich bestenfalls grenzwertigen Begriffs „Heimat“ anwenden wollte, namentlich weniger Blut und Boden, Eltern und Geburtsort, stattdessen mehr „Wo gefällt es dir eigentlich und wo wohnst du?“

    Das wäre ein sehr erheblicher Fortschritt gegenüber der Sorte von Heimat, die beispielsweise im Namen der (zum Glück stark sklerotischen) Verbände der „Heimatvertriebenen“ lauert. Die dort gewählte Interpretation führt(e) zum Glauben, der Geburtsort lege fest, wo allein auf der Welt ein Mensch glücklich werden könnte, weshalb er oder sie auch dringend Anspruch darauf hat, dort Grund besitzen zu können. Für die „Heimatvertriebenen“ kam dazu, dass die Leute, die seit den jeweiligen Befreiungen der diversen „Heimaten“ von der deutschen Herrschaft dort wohnten, ihnen, also den Rückkehrenden, gefälligst hätten weichen sollen.

    Tja: Leider habe ich Klasens Intention wohl überinterpretiert. Auf meine Frage nämlich, was Franklin wohl in die post-autoindustrielle Wüste Detroit gezogen haben könnte, antwortet die Wikipedia, dass bereits ihre Eltern dorthin gezogen waren, und zwar als es noch eine autoindustrielle Wüste war. So lässt sich aus dem Beitrag eher kein entspannteres Konzept von Heimat belegen.

    Aber natürlich auch nicht sein Gegenteil, zumal ein identitätsreduzierter Heimatbegriff keineswegs neu ist: „Ubi bene ibi patria“, meine Heimat ist, wo immer es mir gut geht, war schon im republikanischen Rom eine Parole gegen auch damals grassierendes Blu-Bo-Säbelrasseln. 1848 drehten Marx und Engels die heimatfeindliche Aufklärung etwas weiter, als sie im Kommunistischen Manifest schrieben: „Die Arbeiter haben kein Vaterland“.

    Nach weiteren 170 Jahren, in denen sich Menschen abgemetzelt haben, weil irgendwelche Grobiane ihnen erzählt haben, sie müssten irgendwelche Heimaten oder Vaterländer „verteidigen” (realistisch: in Schutt und Asche legen), möchte ich zum heutigen Antikriegstag eine Fusion vorschlagen. In Küchenlatein wäre das „ubi patria ibi stupor“, in zeitgenössischem Deutsch Vaterland ist für Deppen.

    Ich habe versucht, diesen entschlossenen FriedensdemonstrantInnen bei der Heidelberger Antikriegstag-Kundgebung 2023 meinen neuen Spruch nahezubringen:

    Ein gutes Dutzend Playmobil-Figuren mit Pace-Fahnen in den Händen.

    Ich hatte keinen Erfolg. Was sind eigentlich die aktuellen PISA-Ergebnisse für Latein? Bestimmt ganz schlimm!

  • Deutsch- und Abendland: Vaterlandslosigkeit leider nicht in der taz

    Foto: Jemand hält ein handgeschriebenes Pappschild „Töten fürs Vaterland?  Scheiße.  Immer.  Überall.“

    Mit diesem Pappschild stehe ich derzeit öfters bei den Kundgebungen von „Heizung, Brot und Frieden“ (z.B. nächster Montag). Tatsächlich bin ich überzeugt, dass der Kampf gegen Patriotismus oberhalb der Ebene von Blockseiten durch 2%-Ziele und Haubitzendiskussionen nochmal einen Schwung Priorität gewonnen hat.

    Am letzten Montag erschien in der taz ein Kommentar von Jan Feddersen zum Schwarzer-Wagenknecht'schen „Manifest für den Frieden“ mit dem pompösen Titel „Ruiniertes Lebenswerk“. Auf die Gefahr hin, wie ein zorniger Zeitungsleser zu wirken: Ich fühlte mich aufgerufen, dazu einen Leserbrief unter dem Titel „Ruinierter Kommentar“ zu schreiben. Jedoch…

    …nicht, weil Feddersen ohne erkennbare Skrupel voraussetzt, es sei in Ordnung, Menschen zu erschießen, solange nur „die anderen angefangen haben“. Wenn ich jeweils sowas kommentieren wollte, müsste ich auch jetzt noch in eine dickere Internetverbindung investieren.

    …nicht, weil Feddersen unterstellt, Waffenlieferungen – und gar aus Deutschland – könnten irgendwo „helfen“. Dabei jeweils eine Perspektive zu geben von dem, was Bomben, Gewehre, Streubomben und Haubitzen in Wirklichkeit anrichten, und wie sehr ihr „Einsatz” in den realen Kriegen der letzten 500 Jahre jeweils geschadet statt geholfen hat (zumal im Vergleich zu späterem politischen und noch besser sozialem Umgang), wäre zwar auch jetzt gerade verdienstvoll, doch nicht unterhalb eines Vollzeitjobs hinzubekommen.

    …nicht, weil Feddersen die schlichte Wahrheit, dass Staaten auch dann wiederauferstehen werden können, wenn sie mal überrannt wurden, erschossene Menschen aber nicht[1], als obszön, trist oder Folge von „nicht mehr alles beisammen“ bezeichnet. Es hilft ja nichts, wenn sich Leute die Vorwürfe, obszönes, trauriges oder wirres Zeug zu reden, gegenseitig um die Ohren hauen. Das sind größtenteils Geschmacksfragen und mithin argumentativ nicht zu entscheiden[2].

    …nicht, weil er einem Staat oder „Volk“ so viel Identität zuspricht, dass er oder es ein Selbst habe, dem es zu helfen gelte (und zwar durch Intensivierung des Tötens realer Menschen). Dagegen hat schon Brecht gepredigt, und der Erziehungauftrag, statt „Volk“ einfach mal „Bevölkerung“ zu sagen und zu denken, wird auf unpatriotischere Tage warten müssen.

    …noch nicht mal, weil er eine Parallele zwischen dem heutigen Russland und dem Deutschland unter der Regierung der NSDAP zieht. Das ist zwar speziell von einem Deutschen, der vermutlich nicht viel mehr als 25 Jahre nach der Befreiung von dieser Regierung geboren wurde, schon sehr schlechter Geschmack, aber, ach ja, wenn ich Willy Brandt seinen schönen Ausbruch „Er ist ein Hetzer, der schlimmste seit Goebbels”[3] nicht verübele, hätte ich irgendein „seit dem 24.2.2022 wird zurückgeschossen“ schon noch weggelächelt.

    Nein, was auch nach den eingestandenermaßen schon heruntergekommeneren Maßstäben der Zeitenwende immer noch nicht geht, ist, die Höhepunkte der deutschen Kriegs- und Massenmordzüge unter der NS-Regierung irgendwie in Relation zu setzen zu heutigen Handlungen, schon gar von den RechtsnachfolgerInnen derer, die diesem Treiben damals wesentlich ein Ende gesetzt haben.

    Tatsächlich hat die taz am vergangenen Mittwoch (nach „Meinungsfreiheit“ suchen) auch einen Platz für den antifaschistischen Teil meines Leserbriefs gefunden. Da sich aber für den vaterlandslosen Teil kein Platz fand und ich auch diesen für wichtig und, wenn ich das selbst sagen darf, gelungen halte, will ich euch die Vollversion nicht vorenthalten:

    Ruinierter Kommentar

    Jan Feddersens Kommentar über einen Aufruf zu Verhandlungen im Ukrainekrieg wäre „selbstverständlich durch das hohe Gut der Meinungsfreiheit“ gedeckt, wie er sagt, wäre da nicht der letzte Satz, der Russlands Agieren in der Ukraine mit dem Nazi-Wüten gegen das Warschauer Ghetto gleichsetzt. Warum das grundsätzlich nicht geht und für Deutsche schon zwei Mal nicht, haben Nolte, Habermas und Stürmer 1986/87 abschließend geklärt (Wikipedia: Historikerstreit).

    Anstandsfragen beiseite: auch rein praktisch würde ein durchaus zulässiger Vergleich zum ersten Weltkrieg einiges an Verwirrung aufklären können. Es lohnt sich, die damaligen Attacken der Verfechter eines Siegfriedens nachzulesen[4], die vaterlandslosen Gesell_innen vorhielten, sie wollten, je nach Geschmack, das idealistische Deutsch- oder gleich das Abendland an, je nach Geschmack, das materialistische Albion oder die barbarischen Horden aus der asiatischen Steppe verfüttern. Welche Seite scheint aus heutiger Sicht attraktiver?

    —Anselm Flügel (Heidelberg)

    Geständnis: In der Einsendung hatte ich die antipatriotische Vorlage „Deutsch- oder […] Abendland“ übersehen und nur „Deutschland oder […] Abendland“ geschrieben, was eingestandenermaßen die literarische Qualität erheblich beeinträchtigt. Bestimmt hätte die taz das ganz abgedruckt, wenn ich da nur rechtzeitig dran gedacht hätte…

    Nachtrag (2023-02-27)

    Ein paar Tage später kam die taz übrigens mit einer Art Kundenbindungs-Massenmail rüber, in der Sie wörtlich schrieben:

    Sie muten sich mit der Zeitungslektüre jeden Tag Nachrichten und Meinungen außerhalb Ihrer so genannten Komfortzone zu. Wie halten Sie das nur aus? Wir wissen es nicht.

    Ach – wenn es nur um die Komfortzone ginge… Derzeit allerdings sind die Fragen: Beschleunigte Remilitarisierung der deutschen Gesellschaft? Oder können wir das der Welt doch noch eine Weile ersparen? Dass die Antworten für unsere Nachbarn weit mehr als Komfortverluste bedeuten, das zumindest sollten wir aus dem 20. Jahrhundert mitgenommen haben.

    [1]Es sei denn, Jesus käme vorbei und schöbe massiv Überstunden. Aber soweit ich das übersehe, ist das zumindest innerhalb der letzten 10'000 Jahre nicht passiert.
    [2]Na gut, das mit dem „wirr“ lässt sich im Prinzip schon entscheiden, aber nur, wenn mensch sich darüber einigt, ob die in der Fußnote eben erwähnte Jesus-Option irgendwie realistisch ist. Und das lassen wir mal lieber, denn nur der Patriotismus hat zu noch mehr blutiger Uneinigkeit geführt als die Jesus-Frage.
    [3]Ca. 1985 in einer Nachwahl-„Elefantenrunde“ über den späteren Stuttgart 21-Vermittler Heiner Geißler.
    [4]Ergänzung fürs Blog: Ich denke da insbesondere an Lenard vs. Einstein.
  • Velorution Aber Hallo

    Demo-Impressionen: Fahrrad mit Pappschild "Velorution jetzt", Fahrraddemo fährt auf eine Autobahnauffahrt

    Weil mir mein Pappschild „Velorution Aber Hallo“ im Fridays-for-Future-Stil so gut gefiel (bis auf die Klettbänder war alles recyclet), muss ich kurz von der Demo für den Fahrradschnellweg zwischen Heidelberg und Mannheim erzählen.

    Diese hat eine lange Tradition von inzwischen fast einem Jahrzehnt. Eine noch längere Tradition hat allerdings das Thema, nämlich (mindestens) eine Verbindung zwischen Heidelberg und Mannheim, auf der RadlerInnen nicht entweder ein einem Fort von rasenden Autos gequält werden oder im Übermaß Schnitzeljagd- und Querfeldein-Qualitäten benötigen. Seit größenordnungsmäßig 20 Jahren wird an dem Thema herumdiskutiert und -geplant, ohne dass etwas passiert wäre.

    Um die Sache etwas in Bewegung zu halten, veranstalten ADFC und Co jedes Jahr im Juli eine Raddemo von Heidelberg nach Mannheim. Ganz ehrlich ist es eigentlich immer darum gegangen, die bestehende A656 zu verwenden – diese Straße ist zwar nicht besonders schön, würde aber die technischen Voraussetzungen an einen Radschnellweg durchaus erfüllen. Soweit es mich betrifft, könnten sie das Ding für Autos sperren und es als Radschnellweg deklarieren: Wäre fürs Erste ok.

    In der Realität sind diese Demos natürlich nie auf einer, schauder, Bundesautobahn gefahren, jedenfalls nicht den ganzen Weg. Dieses Mal aber waren wir immerhin ein kleines Stück auf einer leibhaftigen Autobahn unterwegs, für vielleicht 500 Meter auf der A656 vor Mannheim, mit offiziellem Segen und von der begleitenden Polizei zelebriert wie ein Hochamt.

    Jaja, Velorution, der Übergang von einer Auto- in eine Fahrradgesellschaft, in der der Wahnsinn aus der Dystopie des Herrn Benz durch entspannte Mobilität und selbstbestimmten Umgang mit Verkehrstechnik ersetzt würde: die sieht anders aus. Aber vielleicht hat die Standpauke[1], die eine Vertretrin des Radentscheid Heidelberg den mitfahrenden Offiziellen (ja, der Heidelberger OB und der Mannheimer „Verkehrsbürgermeister“ sind tatsächlich die ganze Strecke mitgefahren) bei der Abschlusskundgebunge gehalten hat, diese ja vielleicht doch so weit beeindruckt, dass wenigstens zwei oder drei Parkplätze im nächsten Jahr verschwinden werden. Und das wäre ja schon mal ein Gewinn.

    Fahrräder auf einer autobahnähnlichen Straße, ein Anhänger mit Blumen

    So sieht Velorution aus: Menschen und Blumen auf der Autobahn.

    [1]Es war großartig: Während die Bürgermeister wieder davon geredet haben, dass es nur noch ein paar „Lückenschlüsse“ brauche, beschrieb die Rednerin die Untätigkeit der Verwaltungen und die düstere Realität, in der nicht ein Parkplatz weichen darf, während die Bürgermeister im Stil gescholtener Schulbuben danebenstanden. Sehr charmant und mit viel Applaus bedacht. Wenn das dem Apparat nicht etwas mehr Realitätssinn vermittelt…
  • „Sackgasse Aufrüstung“ mit Jürgen Wagner

    Modern anmutendes Plakat: "Gold gab ich zur Wehr, Eisen nahm ich zur Ehr"

    Dass auch avantgardistisch orientierte Menschen im ersten Weltkrieg die große Knochenmühle mit ihrer Kreativität unterstützten, zeigt, so finde ich, dieses im Technischen Museum Wien ausgestellte zeitgenössische Plakat. Aber dazu später.

    Gestern war Jürgen Wagner von der großartigen Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Heidelberg und hat über „Krieg gegen die Ukraine – Russlands Krieg, die westliche Rolle und die Sackgasse Aufrüstung“ referiert (Ankündigung). In einer Zeit, in der praktisch keine öffentliche Äußerung ohne Schaum vorm Mund auskommt, war der im Groben ruhige Verlauf der Veranstaltung eine sehr willkommene Abwechslng. Aber gut, es konnten auch die meisten der (praktisch durchweg grauhaarigen) Anwesenden mit gutem Gewissen sagen: Wir waren gegen die Angriffskriege gegen Serbien, Afghanistan, den Irak, Libyen oder Efrîn auf der Straße – klar sind wir auch gegen den Angriff auf die Ukraine auf der Straße. Wer so viel Routine hat bei der Empörung gegen das staatliche Töten, hat vielleicht wirklich bessere Voraussetzungen, allzu überschäumender Erregung zu entgehen.

    Ich nehme ich an, dass Jürgens Online-Vortrag vom 28.3.2022 ziemlich genau dem entspricht, was er gestern erzählt hat, und so empfehle ich das jetzt mal ungesehen. Lohnend ist das unter anderem, weil Jürgen recht überzeugend eines der hässlicheren Narrative der letzten paar Wochen zerlegt: Dass es nämlich eine Appeasement-Politik gegeben habe und diese gescheitert sei, weshalb nun die Aufrüstung (und in der Konsequenz das Niederringen und -werfen des Feindes) alternativlos sei.

    Es hat seit 1990 keine „Appeasement“-Politik gegeben.

    Beide Teile dieses Narrativs sind Quatsch. Es hat nämlich schon mal keine Appeasement-Politik gegeben. Mal ganz davon abgesehen, dass eine Diffamierung von Entspannungs- und Kompromisspolitik als „Appeasement“ (und damit des Feindes als „Hitler“) an sich schon stark nach übler Demagogie schmeckt: „Der Westen“ hat seit der Niederlage der Sowjetunion konsequent die berühmten „roten Linien“ seiner (nicht nur russischen) Feinde überschritten und hat entsprechende Signale von diesen nonchalant ignoriert. Wer nicht Video gucken will, findet auch auf der Ukraine-Seite der IMI viel Material zu diesem Thema.

    Diese Frage ist durchaus relevant, denn: Zur Abwechslung mal nicht blind die eigenen nationalen Interessen durchsetzen wäre durchaus ein Modell für eine antiapokalyptische Außenpolitik nach dem jüngsten Krieg in Europa, gerade auch im Hinblick auf ein Einbremsen der zahlreichen vergleichbaren Gemetzel im globalen Süden.

    Was im Übrigen vom Appeasement-Narrativ zu halten ist, zeigt die Entwicklung der deutschen Kriegskasse:

    Seit der Eskalation um das Assoziationsabkommen der EU mit der Ukraine stieg das Budget der Bundeswehr von 32,5 Mrd. Euro (2014) auf 46,9 Mrd. (2021) steil an – und das sind nur die offiziellen Zahlen, hinter denen sich noch einmal etliche Milliarden versteckte Militärausgaben verbergen (siehe IMI-Standpunkt 2019/058).

    Jürgen Wagner am 28.2.

    An gleicher Stelle macht Jürgen auch einen weiteren Punkt aus dem Vortrag gestern, und zwar einen, der eigentlich allem Aufrüstungsgerede ohnehin sofort den Boden entziehen sollte:

    Die NATO-Militärausgaben sind also heute bereits rund 18mal höher als die Russlands. Augenscheinlich haben die militärischen Ausgabensteigerungen bislang in keiner Weise zu mehr Sicherheit geführt, wie derzeit leider offensichtlich wird.

    Wer also immer meint, jetzt als Folge der Empörung über Putins Töten die „eigenen“ Fähigkeiten zum Töten ausbauen zu sollen, dürfen oder müssen, sollte besser glaubhafte Geschichten liefern, wie genau der russische Angriff auf die Ukraine nicht stattgefunden hätte, wenn „wir“, sagen wir, 20-mal mehr oder 30-mal mehr oder 100-mal mehr als „die Russen“ fürs Töten ausgegeben hätten. Szenarien, die mehr als 100-mal mehr fürs Militär ausgeben wollen als Russland, gelten nicht, denn das würde wahrscheinlich selbst unsere Volkswirtschaften überlasten, von den verheerenden Wirkungen auf den Rest der Welt ganz zu schweigen.

    Allerdings dreht sich die Spirale logisch und moralisch fragwürdiger Erzählungen im patriotischen Taumel weiter und lässt die behaupteten Sachzwänge der Tötungsmittelspirale inzwischen hinter sich.

    Die Auszeichnungen für das aktuell krummste „Argument“ muss wohl an Dominic Johnson gehen, der gestern in der taz in einem Kommentar mit dem eigenartig selbstbezüglichen Titel „Putins verquere Logik“ ein Aufrüstungsargument versucht, das, nun, verquer ist:

    Vielleicht hofft der russische Präsident, dass im Westen die üblichen Mahner weiter davor warnen, Russland zu „provozieren“ – so als ob Russland nicht schon unprovoziert schlimm genug agiert. Zu befürchten ist aber eher, dass diese Entwicklung gewollt ist. Putin zeichnet gegenüber dem russischen Volk ein Zerrbild des Westens als aggressive Kraft, die die russische Zivilisation im Namen der europäischen Liberalität zerstören will. Mit seiner Gewalt will er jetzt den Westen dazu bringen, diesem Zerrbild zu entsprechen – damit Russland als Führungsnation eines aggressiven „Antiwestens“ auftreten kann. Die Ukraine ist dafür Putins Fußabtreter.

    Gerade deswegen aber ist der Kurs, die Nato zu stärken, richtig und alternativlos.

    Kurz: „Unsere Aufrüstung ist gut für Putin. Lasst uns mehr aufrüsten!“ Und ich dachte, „wir“ sollten „Putin stoppen“?

    Vielleicht missverstehe ich Johnson aber auch. Ich komme ja schon bei der konventionelleren Begeisterung für Waffen und HeldInnen nicht recht mit, etwa wenn heute morgen in der DLF-Presseschau der Vorwurf des Münchner Merkurs wiederholt wurde:

    Schwere Waffen [...] will der Kanzler den heldenhaft gegen Putins Vernichtungsarmee kämpfenden Ukrainern weiterhin nicht liefern.

    Woher kommt so eine Denke, so eine Schreibe bei Leuten, die doch vor gerade mal acht Jahren mit einer Haltung von „bedauernswerte, verwirrte Schlafwandler” dem Kriegsgejubel und -kreditieren von 1914 gedacht haben?

    Wenn wir uns heute empören dürfen, jeden Kompromiss und jede Verhandlung ablehnen, dann durften es die Kaiser, Zaren, Könige und Präsidenten damals auch. Nicht vergessen: Die Zaren, Könige und Präsidenten waren mit Terroristen im Bund, die die geliebte Thronfolgerin für erhebliche Teile der heutigen Ukraine feige und brutal ermordet haben – von den imperialen Politiken überall in der Welt, die uns von unserem verdienten Platz an der Sonne fernhalten, mal ganz zu schweigen.

    Die Kaiser wiederum haben furchtbare Massaker bei ihren eigenen imperialen Abenteuern angerichtet und hielten große Teile ihrer Bevölkerung in bitterer Armut, während sie selbst in Saus und Braus lebten. Klar, dass das die Könige, Präsidenten und Zaren nicht hinnehmen konnten.

    Bullshit? Jaklar. Aber warum hören dann so viele Menschen bis hinein in die Linkspartei – für die ja der Burgfrieden quasi der Gründungsmythos ist – den heutigen Varianten solcher Erzählungen zu?

  • Nicht schon wieder!

    Ich habe heute an einer Kundgebung, nun, gegen den Krieg in der Ukraine auf dem Heidelberger Uniplatz teilgenommen, und zwar so:

    DemoteilnehmerIn mit Schild: „1914 – 2022 – Nicht schon wieder Kriegskredite”

    Ich kann leider nicht sagen, dass ich mich in der großen Menge – es werden so um die 1000 Menschen gekommen sein – sonderlich wohl gefühlt hätte, schon, weil fast alle, die da waren, es im Januar 2020 nicht für nötig befunden hatten, gegen den unfassbaren, thematisch natheliegenden, jedoch die eigene Regierung angehenden Skandal auf die Straße zu gehen, dass „wir“ Nuklearwaffen einsetzen wollen. Jedenfalls waren wir bei der Demo damals vielleicht 20 Leute. Mir wäre schon etwas wohler, wenn zu beiden Anlässen je 500 gekommen wären.

    Unschön war aber vor allem, dass in den Redebeiträgen durchweg von der „Solidarität mit der Ukraine” die Rede war. „Solidarität” wird, auf Länder gerichtet, ein gefährliches Konzept, ganz genau wie bei einer Mischung mit „Volk“, zu dem Bertolt Brecht (der 1914 selbst noch patriotische, kriegsbegeisterte Gedichte geschrieben hatte – Besinnung ist wichtig) einst ausführte:

    Wer in unserer Zeit [ok, das war 1935] statt Volk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt unterstützt schon viele Lügen nicht. Er nimmt den Wörtern ihre faule Mystik. Das Wort Volk besagt eine gewisse Einheitlichkeit und deutet auf gemeinsame Interessen hin, sollte also nur benutzt werden, wenn von mehreren Völkern die Rede ist, da höchstens dann eine Gemeinsamkeit der Interessen vorstellbar ist. Die Bevölkerung eines Landstriches hat verschiedene, auch einander centgegengesetzte Interessen, und dies ist eine Wahrheit, die unterdrückt wird.

    Solidarisch will mensch also sein mit den Menschen in der Ukraine, und diese sollten im Augenblick vernünftigerweise mindestens ein gemeinsames Interesse haben: Der Krieg muss möglichst schnell aufhören. Ein im Wesentlichen unausweichliches Korollar davon ist: die Waffen müssen raus. Wer die Regierung stellt, ist demgegenüber ganz sicher sehr zweitrangig (und zudem Brechts entgegengesetzten Interessen unterworfen). In jedem Fall bleibe ich dabei, dass für eine Regierung kein einziger Mensch sterben sollte.

    Nur zur Klarheit, weil das Dementi des Putinverstehens ja derzeit zum guten Ton gehört: Mein Problem ist nicht das allgemeine Sentiment, dass Putin ein Schurke ist. Das ist er, und beileibe nicht nur, weil er einen Krieg angefangen hat. Um so mehr bleibt übrigens ein Imperativ, Edward Snowden die Rückkehr in eine etwas freiere Gesellschaft zu ermöglichen – dass „wir“ ihn in Russland verrotten lassen, ist niederschmetternde Undankbarkeit. Zum Krieg als Totalausfall der Zivilisation hatte ich mir in Töten und Massenschlachten schon einige Empörung von der Seele geschrieben, die ganz genau so natürlich auch russischen Potentaten und, igitt, Ex-Geheimdienstlern gilt.

    Mit dem durch die gegenwärtigen Medienlandschaft geprägten Gefühl, meine Pappe enthalte nicht genug derartiger Klarstellung, bin ich mit einigen Bedenken zur Kundgebung gegangen. Um so angenehmer war ich überrascht von der durchweg positiven Aufnahme meiner Parole vom „Nicht schon wieder Kriegskredite“: mehrere TeilnehmerInnen sind extra zu mir gekommen, um mir ihre Unterstützung auszusprechen, etliche haben Transpi-Portraits geschossen, einer hat sogar Szenenapplaus gegeben, nicht eineR hat nasegerümpft.

    Es ist beruhigend zu wissen, dass die Erinnerung an die Geschichte der Kriegskredite von 1914 noch vielfach wach ist, Und daran, wie sich SozialdemokratInnen (zu denen sich in der heutigen Wiederholung offenbar auch ziemlich viele LinksparteigängerInnen gesellt haben) diese damals durchaus nicht nur rein patriotisch zurechtlogen: „aber wir müssen uns doch wehren gegen das finstere, reaktionäre Zarenreich“, „…die Liberalen aus England, die uns unsere Sozialversicherungen wegnehmen wollen“. Das ist wieder ein Gesicht der autoritären Versuchung: „Wenns schon keine gute Lösung gibt, dann lasst uns wenigstens Gewalt versuchen“.

    Das ist, so viel lehrt die Geschichte, eigentlich immer falsch – Ausnahmen von dieser Regel sind so rar, dass sie wahrscheinlich niemand, der_die das hier liest, je erleben wird.

    [1]Ich kann der Beobachtung nicht widerstehen, dass sich „unsere“ und „ihre“ Operationen selbst im Timing ähneln. Wir: Separation des Kosovo mit dubiosen „Freiheitskämpfern“ 1999, diplomatische Anerkennung gegen den Willen der Gegenseite nach neun Jahren im Jahr 2008. Sie: Separation des Donbas mit dubiosen „Freiheitskämpfern“ 2014, diplomatische Anerkennung gegen den Willen der Gegenseite nach acht Jahren 2022.
  • Fortschritt statt Demokratie

    Demo-Szene: Die Polizei kickt Leute weg

    Meine bisher engste Begegnung mit Olaf Scholz: Ich bin der Mensch in Gelb mit dem Knüppel im Rücken. Die Herren mit den Helmen hat Olaf Scholz geschickt. Bildrechte: ARD.

    Der Vertrag, über den die künftigen Koalitionsparteien derzeit befinden, verballhornt das (ohnehin mit Glaubwürdigkeitsproblemen behaftete) Brandt-Motto „Mehr Demokratie wagen“ zu „Mehr Fortschritt wagen“ – das ist ohne großen Zwang zusammenziehbar zu „Fortschritt statt Demokratie“ als Motto der künftigen Scholz-Regierung.

    Das finde ich angesichts meiner bisherigen Erfahrung mit Scholz sehr naheliegend. Der körperlich eindrücklichste, quasi tuchfühlendste Teil dieser Erfahrungen ist im Bild oben zu sehen. Wir sind im Juli 2017, Hamburg wird von Olaf Scholz regiert. Im Wesentlichen die ganze Stadt ist gegen den von Scholz eingefädelten Gipfel der G20. Mag sein, dass er in dieser Situation keine andere Wahl hatte, als die willkürlichen und teilweise erschreckend gewalttätigen Einsätze der Polizei unter seinem Innensenator Andy Grote[1] bedingungslos zu unterstützen. Aber wahrscheinlich fand er sie gut. Bis heute jedenfalls war von ihm keine Distanzierung oder gar Entschuldigung zu hören.

    Bevor ich wie auf dem Bild oben Bekanntschaft mit einigen Scholz'schen Knüppeln machte, hatte die Polizei ein Protestcamp in Entenwerder geräumt, und zwar trotz eines diese Räumung untersagenden Gerichtsurteils. Gegen diesen dicken Stinkefinger in Richtung der G20-GegenerInnen ebenso in Richtung dessen, was sonntags als Rechtsstaat gelobt wird, hatten sich vielleicht tausend Leute auf einer Wiese versammelt, darunter ich und auch ein paar der aus Entenwerder Vertriebenen mitsamt ihren Zelten.

    Dann kam Polizei. Viel Polizei. Und prügelte die Leute vom Platz, ohne jeden erkennbaren Grund, sieht mensch davon ab, dass Scholz und Grote schlicht keine Störung ihrer Machtdemonstration dulden wollten. Und was als eine Machtdemonstration soll so ein Gipfel gleich neben einer, ach ja, Herzkammer des Linksradikalismus in der BRD – der Austragungsort Messehallen liegt gleich neben dem Karo-, und das wiederum gleich neben dem Schanzenviertel – denn wohl sein?

    So ging es weiter: Die Eröffnungsdemo („Welcome to Hell“) hat die Polizei von vorne in einer Straßenschlucht angegriffen – mit dem spätestens nach über anderthalb Jahren Maskenpflicht bei Versammlungen schier unfassbar dämlichen Vorwand, ein paar der TeilnehmerInnen hätten sich vermummt. Dass die zwischen drei Meter hohen Mauern und dem Rest der Demo eingeklemmten Menschen nicht angefangen haben, im Love-Parade-Stil panisch zu fliehen, finde ich bis heute bemerkenswert. Die Besonnenheit der Demonstrierenden hat, rückblickend betrachtet, die Köpfe von Scholz und Grote gerettet, denn Dutzende Zertrampelte wären nach dieser katastrophalen Polizeitaktik dann noch nicht durchgegangen.

    Diese Rettung dankten sie, indem sie am Folgetag am Rondenbarg nicht nur einen Demozug mit wirklich bemerkenswert brutaler Gewalt plattmachen ließen, sondern die Opfer des Einsatzes auch noch unter haarsträubenden Vorwürfen verfolgten und verfolgen – inklusive der Schikane, die auf viele Termine angelegten Verfahren selbst für Minderjährige in Hamburg laufen zu lassen, so dass Leute, die gerade noch in die Schule gegangen wären, mehrmals wöchentlich etwa auch aus Baden-Württemberg dorthin hätten fahren müssen. Immerhin ist aus der Schikane nicht viel geworden, wenn auch vor allem, weil die Justiz mit Corona nicht gut zurecht gekommen ist. Sollten die Rondenbarg-Prozesse nun doch wieder aufgenommen werden, dürften wohl auch die jüngsten Angeklagten mit der Schule fertig sein. Immerhin.

    Und damit sind wir zurück in der Gegenwart. In der ein Soldat den Corona-Krisenstab führen soll. Das hat, nach dem eben erzählten, aus meiner Sicht dem jede Menge innerer Logik. Der Menschenrechts-Record der kommenden Regierung wird jedenfalls absehbar kaum besser werden als der der Schröder-Administration.

    [1]Ja, genau der Grote, der neulich auch Menschen willkürlichen Hausdurchsuchungen unterworfen hat, ganz offenbar nur, um sein Mütchen zu kühlen („Pimmelgate“).
  • Ella: Fast ein Jahr im Gefängnis

    Gerade an dem Tag, an dem in meinen Überlegungen zu Wahlen und Informationstheorie anmerkte, bedeutender als Wahlen sei für die politische Partizipation „eine Justiz, die es häufig genug doch noch schafft, diesen wenigstens dann und wann ein wenig Schutz vor den Übergriffen der Exekutive zu geben“, fand eine verteilte Uraufführung eines Films statt, der Zweifel am „häufig genug“ ziemlich nachhaltig vertieft.

    Es geht darin um den Fall von „Ella“ oder auch „UP1“ für „Unbekannte Person 1“, die seit der brutalen Räumung des Dannenröder Forsts im letzten November im Gefängnis sitzt. Der Fall folgt dem von den Rondenbarg-Prozessen allzu bekannten Muster, bei dem die Polizei lebensgefährliche Einsatzmethoden – im Dannenröder Forst insbesondere das Durchtrennen lebenswichtiger Seile – durch absurd aufgeblasene Vorwürfe gegen die Opfer dieser Einsätze in irgendeinem Sinne zu rechtfertigen versucht; in Ellas Fall kommt sicher noch einiger Zorn über ihre erfolgreiche Personalienverweigerung dazu.

    Einsatzszene

    Ein Sequenz vom Anfang des Ella-Films: Ein Polizist wirft einen Aktivisten von einem Baum runter. Die öffentliche Zurückhaltung angesichts erschreckend gewalttätiger Räumungstechniken im Wald (na gut, inzwischen: Autobahnbaustelle) ist jedenfalls im Hinblick auf künftige Möglichkeiten politischer Partizipation schon ziemlich beunruhigend.

    Die erste Gerichtsinstanz hat dabei mitgemacht, und nun soll sie noch weitere 16 Monate im Gefängnis schmoren. Ohne große Öffentlichkeit wird das wohl auch so kommen, denn ein Landgerichtsprozess geht normalerweise nicht im Eiltempo. Und dann hilft auch ein Freispruch nichts mehr.

    Sowohl im Hinblick auf Ellas Schicksal als auch auf die Diskussion indiskutabler Polizeitaktiken finde ich den Film also höchst verdienstvoll. Wer ihn verbreiten kann, möge das tun, z.B. von youtube; wer das Ding ohne google bekommen will, möge sich per Mail rühren, dann lege ich es auf von mir kontrollierten Webspace (ich spare mir die 800 MB in der Erwartung, dass eh alle zu youtube gehen).

    Nachtrag (2022-05-10)

    Meine Spekulation, es sei bei der ganzen Einsperrerei im Wesentlichen um Ellas Weigerung gegangen, ihre Personalien abzugeben, gewinnt an Substanz. Die Staatsgewalt lässt Ella jetzt, da sie ihre Identität preisgegeben hat, frei, wie die taz berichtet. Die Entscheidung wird den mitredenden Behörden leicht gefallen sein, denn sie werden alle nicht wild sein auf eine weitere Klärung der inzwischen offizell gewordenen Tatsache, dass „die Beamten die Unwahrheit gesagt hatten“ (so die taz sehr staatsfreundlich) und des offensichtlichen Desinteresses beider Gerichtsinstanzen, die Polizei beim Lügen zu erwischen. Zumindest die zweite Instanz kannte ja (vermutlich) den hier besprochenen Film.

  • Zum Tag der politischen Gefangenen

    Der 18.3. hat eine lange Tradition als Tag der politischen Gefangenen, anfänglich in Erinnerung an den Beginn der Pariser Commune vor 150 Jahren; die Erinnerungsfeierlichkeiten in diesem Zusammenhang waren in den Jahren der Weimarer Republik regelrechte politische Festivals. Das hatte nach der Machtübergabe an die NSDAP ein Ende, doch seit genau 25 Jahren begehen Menschen auch in der BRD wieder den Tag der politischen Gefangenen, vor allem im Umfeld der Roten Hilfe.

    In Heidelberg gab es dazu heute eine Kundgebung, deren Hauptziel war, den politischen Gefangenen in der BRD eine Stimme zu geben. Deshalb bestand ein großer Teil der Kundgebung auch schlicht draus, Briefe und andere Äußerungen der Gefangenen vorzulesen. Das wiederum schien den Veranstalter_innen wichtig, weil der_die durchschnittliche Passant_in in der Fußgängnerzone (die Kundgebung fand am Marktplatz statt) schon die Behauptung, in ihrem Staat gebe es politische Gefangene, für eine Zumutung hält. Tatsächlich erinnere ich mich an Gerichtsverfahren in den späten 1980er Jahren, in denen Menschen für die Forderung, die politischen Gefangenen in der BRD sollten freigelassen werden, mit schwerem strafrechtlichem Geschütz verfolgt wurden und zum Teil sogar Bewährungsstrafen kassierten. Das, immerhin, hat es nach meiner Kenntnis in den letzten Jahren nicht mehr gegeben.

    Aber dann würden vermutlich nicht viele Menschen glauben, dass es im Strafgesetzbuch im Jahr 2021 noch einen ganzen Abschnitt gibt zu „Hochverrat“, unterteilt in „gegen den Bund“ (§81), „gegen ein Land“ (§82) und „Vorbereitung“ (§83), wozu dann noch ein Kronzeugenparagraph §83a tritt. Und natürlich klingen auch etwa §90 und §90a („Verunglimpfung des Bundespräsidenten“ bzw. „des Staates und seiner Symbole“) oder §94 („Landesverrat“) durchaus nach ziemlich politischer Justiz.

    Die real exisitierenden politischen Gefangene in deutschen Knästen werden allerdings weit überwiegend verfolgt nach der 129er-Paragraphen-Familie, bestehend aus §129 (normale Banden, Provenienz: Kaiserreich), §129a (inländischer „Terrorismus“, Provenienz: Schmidt-Regierung) und §129b (ausländischer „Terrorismus“, Provenienz: Schröder-Regierung). Im Bereich der Antisprache „Terrorismus“ wirds natürlich immer etwas haarig mit den Vorwürfen, und drum nehme ich als Definition von „politische_r Gefangene_r” ganz pragmatisch: „hätten sie ohne politisch missliebigen Hintergrund gehandelt, wären sie nie eingefahren oder jedenfalls längst wieder draußen“.

    Um da mal das Spektrum aufzumachen zwischen „Fällen“, bei denen sich die bürgerliche Öffentlichkeit wahrscheinlich nur schwer wird empören können auf der einen und offensichtlichen moralischen Bankrotterklärungen des Staates auf der anderen, würde ich gerne kurz einen Blick auf die Gefangenen werfen, deren Kontaktadressen die RH in ihrer 18.3.-Zeitung auf Seite 15 druckt (zu den meisten sind auch Artikel in der Zeitung).

    Da hätten wir zunächst Yilmaz Acil, Hüseyin Açar, Gökmen Çakil, Mustafa Çelik, Salih Karaaslan, Agit Kulu, Veysel Satilmiş, Özkan Taş, Mazhar Turan und Mustafa Tuzak, die in verschiedenen Gefängnissen der Republik sitzen, weil... nun, weil sie mit der PKK in Verbindung gebracht werden. Soweit ersichtlich, wird keinem von ihnen irgendeine konkrete Straftat vorgeworfen – aber klar, die PKK als Organisation tut natürlich schon Sachen, die Menschen, die die türkische Obrigkeit als NATO-Verbündeten schon ok finden, für verwerflich halten könnten. Nach welchem Rechtsstaatsprinzip daraus abzuleiten ist, Leute mit schlichten Sympathien für PKK-Kämpfe sollten eingesperrt werden, ist natürlich noch eine andere Frage, zumal, wie Gökmen Çakıl richtig anmerkt, entsprechende „Aktivitäten [...] in der Schweiz oder in Belgien nicht sanktioniert“ werden.

    Ähnlich wird das Sentiment bei der Gefangenschaft von Musa Aşoğlu von der Einschätzung abhängen, von welcher Sorte Widerstand gegen verbündete Regierungen mensch sich dringend distanzieren muss, will mensch nicht ins Gefängnis kommen; in seinem Fall genügte die Mitgliedschaft in der DHKP-C (deren Erklärungen übrigens ein Fest sind für Liebhaber_innen realsozialistischer Prosa) für sechs Jahre und neun Monate Knast.

    Milde Empörung im Fall von Thomas Meyer-Falk dürfte weniger internationalistischen Furor brauchen. Er nämlich sitzt nach jahrelanger Gefängnisstrafe wegen Banküberfällen (mit denen er linke Jugendzentren finanzieren wollte) nun in Sicherungsverwahrung, die ja schon als solche ein menschenrechtlicher Skandal ist. In seinem Fall ist unbestreitbar: er wäre längst draußen, wenn es da nicht den politischen Hintergrund gäbe – von dem er sich auch nicht distanzieren will. Immerhin gibt derweil sein Blog wertvolle Einblicke in die Realität der Sicherungsverwahrung.

    Noch weiter im Spektrum klar politischer Justiz sind die Fälle von Lina, Jo und Dy – sie alle sind im Antifa-Bereich unterwegs und sind oder waren für Monate inhaftiert im Wesentlichen aufgrund vager Hinweise, sie könnten in, mal bewusst entpolitisierend gesprochen, Prügeleien mit Nazis verwickelt gewesen sein. Prügeleien dieser Art sind, weiter bewusst entpolitisierend, ohne SARS-2 Alltag auf jedem Volksfest und werden dann halt mit Strafbefehlen behandelt, die nur im Wiederholungsfall über dem Vorbestrafungs-Limit von 90 Tagessätzen liegen. Dass diese Leute monatelang im Knast schmoren, ist ausschließlich politisch bedingt. Was in diesem Fall angesichts des immer wieder hochblubbernden Faschismusproblems in Polizei und Staatsanwaltschaften nochmal ein ganz besonderes Hautgout hat.

    Bei der „militanten Zelle” von Nicole Grahlow und Martin Eickhoff – die seit Oktober 2020 in in Haft sind – liegen noch Sachbeschädungsvorwürde durch versuchte Brandstiftungen vor, aber keinerlei Gefährung von Menschen mehr. Die Ziele, nämlich die ehemalige Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg und das Schlachtimperium von Tönnies, sind allerdings so nachvollziehbar, dass das inzwischen durch rechte Hasspost-Praktiken ziemlich desavouierte Topos „Drohbriefe an diverse Politiker_innen“ in der staatlichen Kommunikation dominiert. Ich will hier bestimmt nichts gleichsetzen, aber ein ähnlicher Verfolgungseifer bei Nazis, die Menschen abfackeln, würde der Verfolgung der beiden einiges vom Eindruck von Willkür nehmen.

    Glasklar im Hinblick auf eine menschenrechtliche Bankrotterklärung ist schließlich der Fall von Ella („Unbekannte Person 1“): Ihr wird im Wesentlichen vorgeworfen, an der Besetzung des Dannenröder Walds teilgenommen zu haben und beharrlich die Aufklärung ihrer Identität zu verweigern. Ohne die Gewalttaten der Polizei bei der Räumung des Hüttendorfs, für deren wirklich empörendes Ausmaß der Staat rechtfertigende Narrative sucht, wäre sie ganz gewiss keinen Moment in Haft gekommen.

    Nach all dem: Wer will, kann die Grenze zwischen politischen und, nun ja, sozialen Gefangenen etwas anders ziehen als die Rote Hilfe. Um die Einsicht, dass es auch in Justizvollzugsanstalten (was für ein urdeutsches Wort!) politische Gefangene gibt, kommt mensch aber nicht herum.

  • Monströse Drohungen

    Titelseite des TPNW

    Heute ist ein historischer Tag. Denn endlich – nach über drei Jahren Ratifizierungsprozessen in verschiedenen Ländern – tritt der Atomwaffenverbotsvertrag TPNW in Kraft. Ab heute bricht Völkerrecht, wer Nuklearwaffen baut, besitzt oder mit ihrem Einsatz droht.

    Da sich die Bundesregierung nicht nehmen lässt, Atombomen werfen zu können („Nukleare Teilhabe“), denkt sie natürlich nicht dran, das auch zu unterschreiben. Der viel beschworene „Multilateralismus“ bedeutet aber, dass der Deutschlandfunk gerade nicht recht hat, wenn er heute meldet der TPNW sei in Kraft, „aber nicht in Deutschland“. Klar gilt er. Der Regierung ist nur der Bruch des Völkerrechts opportun.

    Wie furchtbar das wirklich ist, ist mir neulich wieder klar geworden, als ich nämlich „The Doomsday Machine“ von Daniel Ellsberg gelesen habe. Ellsberg, der mit den Pentagon Papers Anfang der 70er das dichte Propagandagebäude rund um den Vietnamkrieg zum Einsturz gebracht hat, hat in den 1950er und 1960er Jahren bei der RAND Corporation (quasi der originale „Think Tank“) für die US-Luftwaffe Atomkriegsplanung gemacht, und allein die Einblicke in die Ränke rund ums Pentagon lassen es wie ein Wunder erscheinen, dass der Atomkrieg noch nicht stattgefunden hat. Andererseits macht die Charakterisierung des damaligen Ministers Robert McNamara als zumindest im Vergleich eher besonnen Hoffnung, dass die politische Kontrolle des Militärs vielleicht nicht ganz so kaputt ist, wie mensch seit Eisenhowers Warnung vor dem militärisch-industriellen Komplex hätte meinen können.

    Was Ellsberg aber auch sehr gut macht: Er zeichnet nach, wie es überhaupt zu der selbst für Militärverhältnisse monströsen Idee gekommen ist, Städte des Kriegsgegners mitsamt all den dort wohnenden Leuten zu zerstören – einerseits aus der Kriegsführung verschiedener faschistischer Mächte, angefangen von italienischen Kolonialkriegen über Guernica bis Coventry. Und andererseits aus kühlen Sachzwängen, denen sich im Groben niemand mit auch nur ein wenig Herz oder Ethik entgegengestellt hat, denn auch im zweiten Weltkrieg stellte sich schon bald heraus, dass Präzisionsschläge eine Mär sind.

    Klar, es ist nicht viel netter, im Machtkampf (und was anderes sind Kriege halt ganz schlicht nicht) Soldat_innen zu töten. Aber von denen gibts schon mal viel weniger als vom Rest der Menschen, und die Soldat_innen könnten ja immerhin davonlaufen (was übrigens das Problem von Kriegen auf die denkbar eleganteste Weise lösen würde). Jedenfalls: Die Bombardierung gegnerischer Städte gehört schon so zu den ganz großen Widerlichkeiten (und nein, ich bin da nicht sehr über Dresden besorgt; speziell dazu empfehle ich aber Slaughterhouse Five des großartigen Kurt Vonnegut).

    Nuklearwaffen haben nun keinen plausiblen anderen Zweck als das Plätten von Städten und das Töten von deren Bevölkerungen – selbst in der verqueren Logik der Militärs gibt es kein militärisches Ziel, das Sprengkräfte im Megatonnenbereich brauchen würde. Der einzige ernsthafte Vorschlag, der da jemals vorgebracht wurde, war das Stoppen einer vorrückenden Armee, und das ist ganz offensichtlich etwas, das zuletzt so um die 1815 in den napoleonischen Kriegen ernstzunehmen war.

    Nein: Wer Atomwaffen hat, droht mit der Einäscherung gegnerischer Städte. So einfach ist das. Unsere Regierung tut das. Das ist ein Skandal. Und drum bin ich dankbar, dass der unermüdliche Friedensratschlag Heidelberg heute eine Demo für die Ratifizierung des TPNW in Heidelberg angemeldet hat. Ich war, trotz Regen, gerne dabei.

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