Von der größten Demo in Heidelberg seit Jahrzehnten und der autoritären Versuchung

Jemand hält eine mit Edding handbeschriebene Pappe for dem Körper: „Wer von der AfD redet, darf von Kretschamann nicht schweigen/Abschiebestopp jetzt!“

Bei der größten Demo in Heidelberg seit Menschengedenken wollte ich mit „Abschiebestopp jetzt!“ daran erinnern, dass wir ja bereits ein großes Deportationsprogramm am Laufen haben. Auch ein grüner Ministerpräsidente lässt zum Beispiel über Baden-Baden Roma ins Kosovo deportieren (wogegen sich dann und wann Protest regt; siehe auch Grüne Positionen in der Opposition).

Eigentlich meide ich Demonstrationen, die sich recht offen an die Seite aktueller oder historischer Obrigkeiten stellen. Das gilt um so mehr, wenn die fragliche Obrigkeit praktisch gleichzeitig zu den Demos de facto faschistoide Gesetze (das Grundrechtekomitee dazu) verabschiedet. Allzu schnell kommt mensch dabei in die Grauzone zur Huldigung oder gar zum Aufmarsch.

Gestern aber habe ich trotz dieser Bauchschmerzen an der wirklich beeindruckend großen Anti-AfD-Demo in Heidelberg teilgenommen. Solange es glaubhaft auch gegen „Remigration“ – besser bekannt unter dem konventionellen Namen Abschiebungen – geht, kann ich unter dem imaginierten Blick der Nachwelt nicht daheimbleiben.

Und es ist ja wirklich großartig, dass da geschätzt 18'000 Menschen auf der Straße waren. Die letzte Demo zu dem Thema – genauer zum entsetzlichen Gemeinsamen Europäischen Abschiebesystem[1] GEAS – in Heidelberg im November war ja leider eher weniger gut besucht:

In etwa 100 Menschen in einer breiten Reihe vor der Heidelberger Stadtbücherei.

Außerdem stellt sich in aller Regel auch bei regierungsfreundlichen Demonstrationen heraus, dass sich dort erstaunlich viele Menschen guten Willens sammeln. So war das auch gestern. Es gab viel Zuspruch für meine eingestandenermaßen möglicherweise leicht spalterische Botschaft. Allerdings war von den Regierungsparteien in Baden-Wüttemberg in der Demo auch nicht viel zu sehen.

Verbote fürs Gute?

Auch der gute Wille ändert aber nichts daran, dass ausgerechnet auf einer (letzlich) Antifa-Demo die autoritäre Versuchung breit zu spüren war. Manches „Nazis raus“ mag augenzwinkernd gerufen worden sein und im Bewusstsein, dass es wirklich fies wäre, wem anders die deutschen FaschistInnen überzuhelfen, zumal ja die meisten „anderen“ inzwischen schon genug eigene FaschistInnen haben.

Mein Eindruck war aber, dass doch eine breite Mehrheit der Demonstrierenden ein Verbot der AfD befürwortete. Die Frage vorerst beiseite, ob das irgendeine positive Wirkung hätte: Es ist eben selbst schon autoritär, wenn rechte Gesinnung ausgerechnet über Verbote, Strafen, Zwang, und klar, durch die Obrigkeit geheilt werden soll. Ich habe versucht, das auf der Rückseite meiner Pappe auszudrücken:

Eine Person hält vor dem Hintergrund einer Demo eine Pappe: „Faschist:innen verbieten ist wie Schnaps gegen Suff“.

Ich habe mich mit meiner Nachricht, dass Verbote gegen Faschismus stark nach einer Schnapskur für Alkoholkranke klingen, ziemlich zurückgehalten. Mag sein, dass mich dabei übermäßiges Harmoniebedürfnis zurückhielt.

Ich will keinesfalls ausschließen, dass der Zweck im Einzelfall mal Mittel heiligen mag. Insofern ist es schon statthaft, darüber nachzudenken, ob mensch nicht doch etwas verbieten möchte, wenn die Machtverhältnisse das zulassen. In diesem Fall mag es sogar (aber nur kurz) erlaubt sein, im Hinblick auf den Zweck voll aufzudrehen und in gefährliche Nähe einer Shoah-Relativierung zu gehen. Aber hätte ein Parteiverbot der NSDAP die Shoah verhindert?

Nation, Volk, Konkurrenz, Hierarchie, Militär: Problem

Ich bin so gut wie sicher, dass das nicht der Fall gewesen wäre, um so weniger, als zwischen 1922 und 1925 die NSDAP (in leicht wechselnden Varianten) verboten war. Anfang der 1930er jedenfalls hätten Hindenburg, Schleicher und Co gewiss alternative Wege zur Machtübergabe gefunden – oder es hätte halt einen Putsch gegeben.

Aber hypothetisch die Eignung von Verboten zur Abwendung faschistischer Verhältnisse unterstellt, würde es im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit an der Notwendigkeit fehlen. Für die Verhinderung der Shoah hätte dann bereits gereicht, dass der ganz „normale“ Reichspräsident Hindenburg die NS-Regierung nicht ernannt hätte („milderes Mittel“); er hätte reichlich alternative Wege gehabt. Es hätte vermutlich immer noch gereicht, wenn die Vorgängerorganisationen von CDU, FDP und AfD (letztere wäre im Augenblick bei mir noch die DNVP) Gewaltenteilung und Rechtsstaat nicht mit voller Absicht abgewickelt hätten. Es sind Einsichten wie diese, die die autoritäre Rede von der „wehrhaften Demokratie“ bei ihrer Erfindung verhindern sollte.

Natürlich wussten Hindenburg und die ihn unterstützende informelle Koalition recht genau, was sie da taten. Sie waren nur selbst von der Verehrung für Nation, Volk, Konkurrenz, Hierarchie, Militär und nicht zu vergessen Antikommunismus durchdrungen. Inhaltlich lagen sie auf einer Linie mit der NSDAP, auch wenn ich gerne glaube, dass viele von ihnen die Methoden des NS-Apparats (also damals vor allem der SA) nicht schätzten. Ich gebe ihnen sogar, dass nennenswert viele von ihnen jedenfalls anfangs weder mit den Verhältnissen in den frühen Konzentrationslagern einverstanden waren noch mit dem Massenmord in Auschwitz, Treblinka und Co oder seinem Vorgänger etwa in Grafeneck oder Hadamar (Beleg).

Von Nazi-Gewehren und Antifa-Pfefferspray

Auch Menschen, die meine Einschützung teilen, ein Verbot bewirke allenfalls ein tieferes Einsinken in den autoritären Morast, mögen einwenden: „Aber irgendwas muss man doch machen!“ Ich würde dem „irgendwas“ darin heftig widersprechen. Wenn dieses „irgendwas“ nämlich autoritärer Grundrechtsabbau ist, ist es allemal besser, nichts zu tun. Grundrechte, die weg sind, sind sehr schwer wiederzubekommen, ganz zu schweigen davon, dass Maßnahmen „gegen rechts“ erfahrungsgemäß wenig später mit zehnfacher Wucht nach links durchschlagen.

Ein schönes Beispiel dazu ist, dass die Behörden in den letzten zwei Jahren jede Menge kleiner Waffenscheine von Menschen aberkannt haben, die sie für Antifas hielten. In den mir bekannten Fällen ging es dabei darum, legal Pfefferspray zur Abwehr von Naziübergriffen mitnehmen zu können. Die ganze Aktion lief in direktem Fallout der rechten Schießerei von Georgensgemünd und der folgenden Verschärfung des Waffenrechts unter der Flagge einer klaren Kante gegen Rechts.

Dabei würde ich noch nicht mal dem (letztlich ohnehin eher zwecklosen) Pfefferspray nachweinen, aber im Nebeneffekt entstanden zumindest gelegentlich, vielleicht sogar grundsätzlich, Einträge in der PIAV-Tabelle zu Waffen- und Sprengstoffkriminalität. Wenn die vielleicht bei einem Grenzübertritt oder im Rahmen der ja für die fremde Polizei häufig überhaupt nicht kontextualisierbaren Prüm-Transfers auftauchen, kann das bei einem Polizeikontakt den Unterschied machen zwischen einem „Guten Tag, der Herr“ und einem „das SEK knallt dich auf die nächstbeste Motorhaube“.

Wie baue ich mir Untertanen?

So versuchend der autoritäre Weg des Verbots sein mag: Nach solchen Überlegungen scheint es mir aussichtsreicher, zunächst so tiefschürfend wie möglich die Frage zu beackern, was eigentlich die Ursachen sind für den fast globalen Trend zur autoritären bis durchgeknallten Zivilreligion von Nation, Volk, Konkurrenz, Hierarchie, Militär – bei hinreichend konsequenter Umsetzung also zum Faschismus.

Dazu haben, ja, schon viele Menschen sehr viel geschrieben, zumeist mit Betrachtungen über erodierende Mittelschichten, Männer (bzw. moderner Baby-Boomer) mit Bedeutungsverlust, dem Abendland an und für sich (in schlechtester Tradition), imaginierten Identitätsverlusten usf. Das ist jedenfalls teilweise bestimmt nicht falsch. Als unbelehrbarer Antiautoritärer (und zumal Klaus Theweleit leider Fußballfan geworden ist) möchte ich aber dafür werben, etwas allgemeiner über Herrschaft nachzudenken, also darüber, wie Obrigkeiten es eigentlich schaffen, ihre Untertanen zur Unterordnung zu bringen.

Die halbe Politologie stellt diese Frage, wenn auch häufig mit aus meiner Sicht ethisch fragwürdiger Betonung: „wie schaffen wir das?“ statt „wie schaffen die das?“. Auch zur Einordnung solcher Arbeiten fand ich meine Variante der Klassifikationen von Herrschaftstechniken eigentlich immer recht nützlich. Danach kann eine Obrigkeit setzen auf:

  • göttliche Bestimmung oder eventuell besondere Brillianz („du gehorchst, weil du dazu bestimmt bist“)
  • Angst vor der Obrigkeit („du gehorchst, weil ich dir sonst wehtue“)
  • Wohlstandsversprechen („du gehorchst, weil es dann dir oder spätestens deinen Kindern dann besser geht“)
  • Angst vor der Nicht-Obrigkeit („du gehorchst, weil ansonsten [Wölfe | Japaner | Chinesen | Russen | Griechen | Clans | Arme | Kinderschänder] kommen und dich [fressen | ausnehmen | beherrschen]”).

In realen Machtverhältnissen mischen sich natürlich die einzelnen Techniken in verschiedenen Verhältnissen, die zudem durchweg stark abhängen davon, welche Untergruppe der Untertanen gerade adressiert wird: Höheren Klassen wird mensch als guter Herrscher eher etwas versprechen, niedrigen Klassen oder leicht rassifizierbaren Gruppen eher mit Schmerz und Pein drohen. Welche Mixtur dominiert und wie sehr sie gleichmäßig über die Untertanenschaft ausgebracht wird, bestimmt ganz wesentlich, wie so eine Gesellschaft funktioniert und wie angenehm Menschen in ihr leben können.

Lasst mich deshalb die vier Szenarien etwas ausführlicher betrachten, bevor ich wieder auf den Zusammenhang mit der AfD komme.

Göttliche Bestimmung

Ich fand die These, Religion sei als Mittel erfunden worden, Machtausübung zu legitimieren, schon immer attraktiv. Empirisch hat das augenscheinlich prima funktioniert, etwa bei all den FürstInnen „von Gottes Gnaden“, dem göttlichen Kaiserhaus (das ist das IHDD auf allen möglichen römischen Inschriften) oder auch bei den (fast) frühesten schriftlichen Überlieferungen von Herrschaft überhaupt, dem Codex Hammurapi, dessen einschlägigen Inhalt einE Wikipedia-AutorIn so wiedergibt:

[Es] wird zunächst erklärt, dass der babylonische Stadtgott Marduk durch Anu und Enlil, die höchsten Götter des sumerisch-akkadischen Pantheons, zur Herrschaft über die Menschheit berufen worden sei. Dementsprechend sei Babylon als seine Stadt auch zum Zentrum der Welt bestimmt worden. Damit eine gerechte Ordnung im Land bestehe, Übeltäter und Unterdrückung von Schwachen ein Ende fänden und es den Menschen gut gehe, sei dann Hammurapi zur Königsherrschaft über die Menschen erwählt worden.

Bemerkenswert daran ist bereits, dass schon in dieser ganz frühen Fassung der Claim göttlicher Bestimmung wohl doch nicht als ausreichend empfunden wurde, denn sonst hätte Hammurapi kaum noch verweisen lassen auf „Menschen gut gehe“ (Wohlstandsversprechen) und die „Übeltäter“ (Angst vor der Nicht-Obrigkeit).

Andererseits lässt die moderne Verehrung für <hust> Führungsfiguren zwischen (aktuell) Franz Beckenbauer, (etwa genauso aktuell) Elon Musk oder (seit gefühlt schon immer) Lady Di schon ahnen, dass jedenfalls autoritär vorgeprägte Charaktere stark für Personenkult und Anbetung anfällig sind und wenigstens ihnen gegenüber die Behauptung von Auswerwähltheit ungefähr die preisgünstigste Unterwerfungsmethode ist.

Umgekehrt wird mit wachsender gesellschaftlicher Durchdringung der ersten Aufklärung von 1750f und der damit allmählich abnehmenden Bedeutung von Religion zumindest der Teil mit der Berufung auf Götter immer unwirksamer, auch wenn das gelegentlich im Gefolge ebenso blutiger wie gefälliger Diktaturen in Vergessenheit geraten mag.

Das heißt nicht, dass Unterwerfung durch Anbetung keine attraktive Herrschaftsoption bliebe. Die in diese Richtung weisende Forderung nach einer „Entkrampfung“ des Elitebegriffs in den deutschen 1990er Jahren (etwa durch den Versuch einer positiven Belegung des Begriffs „Elitehochschule“) darf allerdings für die BRD als vorerst gescheitert gelten. In den DLF-Presseschauen der letzten Jahre finden sich zum Stichwort nur Phrasen wie „die Elite um Putin“, „ein Großteil der politischen Elite des Landes über ihren Schatten gesprungen“ oder „nur noch als Mittel einer Elite zur Erziehung der vermeintlich ignoranten Mehrheit“. Bei solchen Konnotationen ist so bald nicht mit einer breiten Rückkehr von Aristokratie oder Elite als ideologische Basis von Herrschaft zu rechnen.

Gut also, dass es Alternativen gibt.

Angst vor der Obrigkeit

Diese Herrschaftstechnik heißt bei der deutschen Polizei „unmittelbarer Zwang“: Untertanen gehorchen, weil der Apparat der Obrigkeit ansonsten tötet, schlägt oder einsperrt. Ganz ohne das kommt (gegenwärtig) kein Staat aus, auch wenn einzelne immerhin darauf verzichten, Militär in Stellung zu bringen gegen eventuelle kollektive Erhebungen der Untertanen.

Sie ist die Herrschaftstechnik derer, die der autoritären Versuchung besonders weit nachgeben. Aufgrund dieser Urtümlichkeit hätte ich jederzeit auf unmittelbaren Zwang getippt für das, was Marx „ursprüngliche Akkumulation“ genannt hat, also den (vor-) historischen Übergang von mutmaßlichem Revierverhalten zu formaleren Begriffen von Nutzungsrechten. Marx und ich hatten da (ggf. vermutlich) im Kopf, dass irgendein Grobian frühen SubstistenzbäuerInnen gesagt hat, sie hätten ab jetzt ein Drittel ihrer Ernte an sie, die Grobiane, abzugeben („Schönen Bauernhof haben Sie da. Wäre doch schade, wenn wir den kurz und klein hauen müssten“).

Vielleicht ist die wahre Geschichte der Menschheit etwas heller als das, wenigstens, wenn mensch Frank Schlütz glaubt, der in doi:10.1073/pnas.2312962120 und etwas leichter zugänglich in in DLF Forschung aktuell vom 21.12.2023 von den mutmaßlich ersten größeren Städten (also: rund 5000 Menschen) erzählte. Diese seien (in seiner Darstellung) rund um StarDIT 4000 herum in der Schwarzmeerregion entstanden und hätten dank Erbsendiät und kluger Verwendung tierischen Düngers für einige hundert Jahre gut funktioniert.

Für meine Zwecke mag relevant sein, dass Schlütz am Beginn dieser Kultur viele Versammlungshäuser sieht und ihr Ende mit der Ausdünnung der Versammlungshäuser zusammenbringt. Das könnte darauf hindeuten, dass hier, wenn überhaupt, eher Herrschaft gegen äußere Feinde oder zur Wohlstandsmehrung stattfand – der archäologische Befund würde offenbar sogar eine gemütliche Anarchie nicht ausschließen. Wenn das so wäre, könnten sich entweder Hobbes oder Rousseau freuen, denn dann wäre an ihren Konzepten vom Gesellschaftsvertrag mehr historische Wahrheit als sie vermutlich selbst vermutet haben.

Umgekehrt ist kaum zu leugnen, dass, wo Köpfe in Serie rollen, unmittelbarer Zwang eine zentrale Herrschaftstechnik ist, und das gilt im Augenblick sicher für die „wichtigsten“ Staaten, seien es die USA oder Mainland China („Volksrepublik“ war nie ein schönes Wort, aber hier passt es wirklich gar nicht). Letzteres spielt in dieser Liga besonders weit jenseits des transnationalen Medians – eine autoritäre Orientierung, die die OECD bei anderer Gelegenheit durch ausgezeichnete PISA-Ergebnisse belohnt.

Dennoch kann ich aus Interaktionen mit meinen chinesischen KollegInnen berichten, dass für die Legitimation der dortigen Obrigkeit das Versprechen, dass alle (außer Faulpelzen) mehr Konsummöglichkeiten und schönere Wohnungen erhalten, deutlich wichtiger ist als die Große Firewall und ubiquitäre Personenkontrollen. Ich nehme das als weiteren Beleg für meine Zweifel an der Nachhaltigkeit autoritärer Lösungen.

Aber klar: Die Versprechen ewiger Wohlstandsmehrung werden zwingend irgendwann mit der Realität kollidieren. Ich würde tatsächlich behaupten, dass wir so eine Kollision in der evangelikalen Trump-Krise in den USA in Zeitlupe bewundern können. Wie sieht es also aus damit?

Wohlstandsversprechen

Nicht erst Herbert Marcuse und Noam Chomsky et al haben die Eleganz und in einer ganz eigenen Weise panoptische Wirkung der Legitimation von Herrschaft durch das Versprechen materieller Besserstellung erkannt und kritisiert. Schon die Bismarck'schen Sozialgesetze waren frühe Meisterstücke dieser modernen und jedenfalls im Vergleich zu den Alternativen auch angenehmen Herrschaftstechnik. Ihre große Zeit jedoch waren in der BRD die Jahre in etwa zwischen 1950 und der „geistig-moralischen Wende“ von 1982.

Das hatte speziell in dieser Konstellation gut nachvollziehbare Gründe. Dass die alten Eliten fast durchweg die katatstrophale Nazi-Barbarei unterstützt hatten, war noch breit in Erinnerung, so dass Gottes Gnade nicht in Frage kam. Exzessiver Zwang hatte ebenfalls gerade eine Bauchlandung erlitten, und einige der neuen Herrschenden waren am falschen Ende dieses Zwangs gewesen. Die Angst vor den anderen musste schließlich als wacklige Angelegenheit erscheinen, konnten sich die Herrschenden doch nicht sicher sein, dass der real existierende Murks im Osten ihre eigenen Untertanen auf Dauer gegen die Versuchung einer rationaleren und am Ende gar weniger anstrengenden Ökonomie immunisieren würde.

Zu diesen aus obrigkeitlicher Sicht unerfreulichen Randbedingungen trat noch eine für heutige Verhältnisse traumhaft organisierte ArbeitstellerInnenschaft (also: die Leute, die die Arbeit gemacht haben, waren in großer Zahl in Gewerkschaften), und so blieb im Wesentlichen nur das Wohlstandsversprechen als Herrschaftserzählung.

Da im Rest dessen, was sich „erste Welt“ nannte, sich die Dinge vielleicht nicht ganz so drastisch, aber auch nicht völlig anders verhielten, legte diese erste Welt eine historisch weitgehend einmalige Umverteilung von oben nach unten hin, verbunden mit einer historisch fast ebenso einmaligen ökonomischen Expansion; Thomas Piketty hat vor ein paar Jahren einen Bestseller dazu gelandet, an dessen Metriken mensch gerne rummäkeln kann – wie an allen Metriken –, dessen qualitative Schlüsse aber allenfalls von den vertrocknetsten Marktradikalen bestritten werden.

Die Angst vor den Anderen

Das Wohlstandsversprechen hat als Herrschaftstechnik ein paar Schwächen. Insbesondere ist es in einer Welt, in der die Selektion für politische und wirtschaftliche Macht auf Schurkigkeit hin erfolgt, höchst instabil, denn Schurken sind normalerweise schlecht im Teilen.

In dem Moment, in dem in den 1970er Jahren ein paar externe Krisen die Profitrate drückten und andererseits sich die konkurrierende Sowjetunion für fast alle offensichtlich als überhaupt kein Paradies der Arbeiterklasse herausstellte (übrigens: erst neulich war 50 Jahre Archipel Gulag), kam in der selbsterklärten ersten Welt das dominierende Herrschaftsmodell wieder in Bewegung.

Wahrscheinlich etwas irregulär begann dieser Umschwung in der (bestenfalls) anderthalbten Welt, nämlich im Pinochet-Chile von 1973 und zunächst sehr gewalttätig (also: Modell Angst vor der Obrigkeit). Sechs Jahre später spielten aber die großen Umsteuerer Thatcher und Reagan voll auf der Klaviatur der Angst vor der Nicht-Obrigkeit: „Lasst euch von den Gewerkschaften, den Iranern, den Kommunisten nicht auf der Nase herumtanzen. Verzichtet mal lieber auf Rechte und arbeitet mehr.“

Der so eingeläutete Abschied vom Wohlstandsversprechen schlug in den frühen 1980er Jahren auch hier im Lande durch; das „Wir müssen den Gürtel enger schnallen“ des sehr beleibten damaligen Kanzlers Kohl findet inzwischen sogar die Adenauer-Stiftung Kult.

Unterdessen sind irgendwelche „Gefahren“ der internationale Industriestandard in den Legitimationserzählen von Regierung wie Opposition: Die Russen kommen, der Westen kommt, die Ausländer nehmen dir die Wohnung weg, die Kinderschänder holen dein Kind, der generelle Niedergang deines Volkes ruiniert deine Rente, die Klimaschützer lassen den Krankenwagen nicht durch, die Wölfe holen dein Kind, die USA hängen uns bei der KI ab, Japan bei den Autos, China schon sowieso, und dann holen sich die auch noch Taiwan, die Ausländer hängen auf deine Kosten faul herum, die Grünen nehmen dir dein Einfamilienhaus weg, die Moslems zünden deine Kirche an, die Griechen stürzen uns alle in die Pleite, die Ausländer bekommen deine Frau, die Frauen deine Sprache undsoweiterundsofort.

Es dürfte ein Phänomen dritter Art – nicht geplant, aber auch nicht rein zufällig – sein, dass gerade in Zeiten, in denen Herrschaft ganz wesentlich durch Angst vor den anderen begründet wird, auch wissenschaftsähnliche Theorien Konjunktur haben, die im Gefolge von Hobbes und der Erbsünde darlegen, wie schlecht doch der Mensch an sich ist: Soziobiologie beispielsweise oder auch die eigenartig verdrehte Evolutions-Charade vom egoistischen Gen; das „außen“, vor dem die Obrigkeit die Untertanen beschützt, kann so ganz bequem auch der Untertan neben dir sein.

Oh: Zu viel Misstrauen gegen die Mit-Untertanen wäre allerdings auch verfehlt, denn schließlich muss mensch ja mit diesen früher oder später auf die Untertanen anderer Obrigkeiten schießen können.

Und die AfD?

Natürlich hat auch die deutsche Obrigkeit schon vor 1982 eifrig mit Angst vor der Nicht-Obrigkeit – besonders originell: „BaföG-Empfänger“ waren Ende der 1970er für eine Weile ein munteres Feindbild – und ohnehin mit unmittelbarem Zwang operiert. Doch weit mehr als heute war die Erzählung von der Wohlstandsmehrung die Basis der Loyalitätsansprüche.

Solange sich der Wohlstandsbegriff an welt- und menschenschädlichen Metriken wie dem Bruttosozial- oder noch schlimmer -inlandsprodukt orientiert, ist das Ende solcher Versprechen unausweichlich (und im Übrigen begrüßenswert). Dementsprechend ist heute zumeist nur noch die Rede von der „Verteidigung“ dieser Sorte Wohlstand. Verteidigung, versteht sich dabei, gegen all die Dinge, vor denen mensch prima Angst haben kann.

Die folglich dominierende Herrschaftstechnik durch Angst vor der Nicht-Obrigkeit bedient sich – ich habe oben einige aufgezählt – einer großen Zahl von Bedrohungserzählungen. Das jedoch hat dramatische Nebenwirkungen – wenn auch nicht ganz so dramatische wie der konsumbasierte Wohlstand. Wenn die Obrigkeit nämlich ständig Gefahren kommuniziert und sich diese Gefahren über den Verlauf von Jahrzehnten allenfalls verschärfen – die Rente ist ja in diesen Erzählungen immer bedrohter, die islamischen Anschlagspläne werden zugleich immer wahnsinniger und teuflischer –, werden die Untertanen früher oder später vermuten, dass die Rezepte der aktuellen Obrigkeit nicht wirken.

Da aber ebenfalls über Jahrzehnte der autoritäre Umgang mit den „Bedrohungen“ („Klimakleber? Einsperren und härter bestrafen! Andere Terroristen? Einsperren und härter bestrafen! Die Russen kommen? Wir müssen mehr schießen (lassen)!“) das zentrale Motiv der obrigkeitlichen Erzählungen war, werden sich auch nur halbwegs loyale Untertanen sagen, dass diese aktuelle Obrigkeit nicht autoritär genug ist.

Das, so behaupte ich, ist vor allem anderen, was derzeit trotz oder wegen des galloppierenden Grundrechteabbaus in vielen Staaten der Erde, und so eben auch in der BRD, passiert. Es ist auch gar nicht sooo weit von dem entfernt, was in den 1920er und 1930er Jahren über weite Teile der Welt schwappte[2].

Faulheit gegen den Faschismus

Nach dieser Betrachtung erscheint es mir ziemlich unplausibel, dass weitere autoritäre Maßnahmen – etwa ein Parteiverbot – die Rechtsentwicklung verlangsamen oder gar umkehren könnten. Was hingegen nach aller geschichtlichen Erfahrung fast sicher helfen würde: Eine Rückkehr zur Herrschaft durch Versprechen einer besseren Zukunft.

Das wäre gar nicht so furchtbar schwer. Kein vernünftiger Mensch würde bei der derzeitigen Entwicklung der Technik daran zweifeln, dass „wir“ problemlos mit (im Mittel über die Lebenszeit) ein paar Stunden Lohnarbeit die Woche all den Kram her- und bereitstellen können, der für eine gesicherte und glaubhaft angenehme Existenz aller Menschen hinreicht, ohne dass wir dafür die Welt planieren müssten. Doch selbst die, die dem zustimmen, werden fast durchweg einwenden, das Elend der Welt sei keine Frage der Technik, sondern eine der Natur des Menschen, der nun mal ohne Drohung nichts tue.

Wenn ich Illustrationen solcher Einschätzungen auseinanderpflücke, bleibt bei mir am Ende jedoch recht durchweg etwas ganz anderes übrig. Nämlich: Einer Gesellschaft, die freundlich mit Mensch und Natur umgeht, stehen im Wesentlichen Nation, Volk, Konkurrenz, Hierarchie und Militär im Weg.

Das zu benennen, und eine Welt ohne Existenzängste und ohne überflüssige Schufterei als ebenso positive wie erreichbare Zukunftsvision zu etablieren: Das wäre der nichtautoritäre Umgang mit dem weltweiten Rechtsruck.

[1]Bevor ihr das Akronym GEAS in der Öffentlichkeit so expandiert, guckt lieber nochmal nach, wie die ErfinderInnen das übersetzen.
[2]Wobei damals die Spätfolgen der schockierenden Knochenmühlen des ersten Weltkriegs die Sache sicher nochmal deutlich schlimmer machten. Allerdings: Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass so ab zwei, drei Kelvin Klimaerwärmung in unserer Welt Knochenmühlen anlaufen werden, für die selbst die des ersten Weltkriegs nur als Präludium durchgingen. Der milliardenfache Tod in Dennis Meadows' Modellen – von denen einzelne ja nicht weit von der Realität entfernt zu liegen scheinen – wird sich außerhalb der Simulation für wahrscheinlich alle Zeitgenossen nicht schön anfühlen. Selbst für uns Reiche.

Zitiert in: Zum Tag der politischen Gefangenen: Weimar und die wehrhafte Demokratie

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