Tag Antisprache

Sprache, so würde ich das zumindest für die in Anspruch nehmen, die ich so produziere, soll Information übertragen. Gerade in hierarchischen Systemen, in denen die in den Hierarchien oben stehenden Personen gerne Informationsgefälle aufrecht erhalten, kommt routinemäßig das Gegenteil zum Einsatz: Antisprache. Wie Antimaterie und Materie im Wesentlichen rückstandsfrei zerstahlen, soll Antisprache zuvor durch normale Sprache (oder gar Klarsprache) übertragene Information auflösen.

Unter dem Tag krame immer mal wieder einzelne Bestandteile von Antisprache hervor und versuche vor allem zu argumentieren, auf welche Sorte von Information Wörter wie „Innovation“ oder „Extremismus“ zielen – und was mensch stattdessen sagen sollte.

  • Antisprache: Arbeitsplätze

    Unter all den eigenartigen Ritualen des politischen Diskurses verwundert mich so ziemlich am meisten, dass „gefährdet Arbeitsplätze“ fast universell als Argument gegen eine Maßnahme, als ultimativer Warnruf gilt. Lasst mich einige der befremdlicheren Zitate den DLF-Presseschauen des vergangenen Jahres anführen:

    …ganze Branchen wegen ihres hohen Gasverbrauchs in Existenznot, tausende Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel.

    —Rheinische Post (2022-10-11)

    In diesem Sinne ist es ein Ansporn, schnell gute, neue Produkte zu entwickeln, die den großen Teil der Arbeitsplätze sichern.

    —Badische Zeitung (2023-02-15)

    Die Politik muss aufpassen, dass sie nicht deutsche Arbeitsplätze opfert…

    —Reutlinger General-Anzeiger (2023-02-15)

    …wie einst bei der Solarbranche der Ausverkauf der deutschen Wärmepumpenindustrie bevorsteht und Arbeitsplätze sowie hoch spezialisiertes Wissen abwandern.

    —Rhein-Zeitung (2023-04-27)

    Was da in einen negativen Kontext gestellt wird, ist nüchtern betrachtet: Leute müssten weniger arbeiten, und das meist ohne erkennbar negative Folgen. Ist das nicht ganz offensichtlich eine gute Sache?

    Es schimpfen doch fast alle Menschen mehr oder weniger deutlich über ihre Lohnarbeit, oder? Obendrauf habe ich schon zu oft gehört, Leute würden ja den Rest der Welt schon gerne vor ihrem Auto verschonen, aber die Lohnarbeit zwinge sie, sich jeden Morgen in ihren Blechkäfig zu setzen. Und das muss dringend geschützt und gehegt werden?

    Obendrauf gibts allerlei Wunder, die Arbeit sparen: Staubsaug- und Rasenmähroboter, Lieferdienste und vielleicht irgendwelche Apps. Die wiederum gelten als „Innovation“ und damit irgendwie gut (mehr Antisprache dahingestellt). Wie geht es zusammen, dass einerseits Leute weniger arbeiten möchten, andererseits aber Möglichkeiten, wie sie weniger arbeiten könnten, an Bedrohlichkeit über dem Weltuntergang stehen („Klimaschutz darf keine Arbeitsplätze kosten”, „Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie“)?

    Ein Minimum an Lohnarbeit

    Die Antwort: Gar nicht. „Arbeitsplatz“ ist ein klassischer Fall von Antisprache, also Wörtern und Phrasen, die Information nicht übertragen, sondern annihilieren. Der Antisprache von den Arbeitsplätzen gelingt es, die Information zu annihilieren, dass wir längst die Technologie und wahrscheinlich auch die soziale Reife hätten, um allen Menschen mit einem Minimum an Lohnarbeit[1] ein ökologisch vertretbares Leben ohne Existenzsorgen zu ermöglichen. Dass der Lebensunterhalt an „Arbeitsplätze“ gebunden ist, ist mithin eine überflüssige, grausame und gefährliche Konvention, die durch ehrlichere Wortwahl sichtbar gemacht werden könnte.

    Ein „Minimum an Lohnarbeit“ hat übrigens fast nichts mit der drei- oder vier-Tage-Woche zu tun, die die taz gestern mal wieder erwähnt hat, denn diese bleibt dem alten Mechanismus des Kapitalismus verhaftet. Dabei werden Waren produziert oder Dienstleistungen erbracht, weil manche Leute („Unternehmer“) reich werden wollen und nicht etwa, weil Menschen sie brauchen und das Zeug nicht allzu schädlich ist. So kommt es, dass wir schockierende Mengen von Arbeitskraft und Natur verschwenden auf jedenfalls gesamtgesellschaftlich schädliche Dinge wie Autos, andere Waffen, Einfamilienhäuser, fast fashion, Zwangsbeflimmerung und das rasende Umherdüsen in überengen fliegenden Röhren.

    Es ist die Konvention, Menschen durch Drohung mit dem Entzug ihres Lebensunterhalts[2] dazu zu zwingen, all den unsinnigen Krempel herzustellen, die auch dafür sorgt, dass „wir“ uns eine überflüssige Lohnarbeit nach der anderen einfallen lassen. Meist sind das „Dienstleistungen“ (auch so ein schlimmes Wort), was dann immerhin manchmal nicht ganz so schädlich ist wie der ganze überflüssige Quatsch (Autobahnen, Konferenzzentren, Ultra-HD-Glotzen) auf der Produktionsseite[3].

    Ein eher harmloser Nebeneffekt des Ganzen beschäftigte übrigens Casper Dohmen und Hans-Günther Kellner im Deutschlandfunk-Hintergrund vom 23.6., der sich ebenfalls an weniger Arbeit trotz Kapitalismus abarbeitete:

    In den neunziger Jahren betrug die Produktivitätssteigerung in Deutschland im Schnitt noch mehr als zwei Prozent jährlich, seitdem weniger als ein Prozent. Die Entwicklung ist typisch für hoch entwickelte Industriestaaten. Das liegt daran, dass es schon länger keine wesentlichen Innovationen gab, mit denen sich die Produktivität erhöhen ließe.

    Schon die Antisprache von den „Innovationen“ lässt ahnen, dass das in der ganz falschen Richtung sucht – auch wenn das Rationalisierungspotenzial durch Rechner im Bürobereich tatsächlich drastisch überschätzt ist (Bob Solow: „You can see computers everywhere except in the productivity statistics“).

    Aber den eigentlich notwendigen Kram kriegen wir mit wirklich beeindruckend wenig menschlichem Aufwand und also atemberaubender Produktivität hergestellt. Letztes Wochenende etwa hat ein Mensch das Getreidefeld neben meinem Gärtchen (grob „ein Morgen“ oder ein halber Hektar) in der Zeit abgeerntet, in der ich fünf Codezeilen geschrieben habe. Natürlich muss mensch noch die Arbeitszeit dazurechnen, die im Mähdrescher und dessen Sprit steckt, aber auch die wird sich, auf die Flächen umgelegt, die mit der Maschine bearbeitet werden, zwanglos in Minuten messen lassen.

    Nein, der Grund für die mehr oder minder stagnierende Produktivität der Gesamtgesellschaft (kurzerhand definiert als Bruttoinlandsprodukt pro Arbeitsstunde) ist die Ausweitung des Niedriglohn-Sektors, sind Jobs wie Lieferdienste, „Juicer“ (dass Menschen für sowas Lebenszeit opfern müssen, beschämt mich zutiefst), Wachdienste, also das gesamte Jobwunder im Gefolge von Hartz IV: Wer für eine Handvoll Euro viele Stunden arbeiten muss, senkt natürlich den Durchschnitt von BIP/Zeit, und wenn das erschreckend viele sind, wird das auch nicht mehr von den paar Leuten mit Salären im 104 Euro/Stunde-Bereich ausgeglichen[4]. So erklärt sich übrigens das „neunziger Jahre“ versus „seitdem“ aus dem DLF-Beitrag ganz natürlich: Die Schröder-Regierung hat die Hartzerei zwischen 2002 und 2005 eingephast.

    Es sind also gerade all die „Innovationen“ vom Schlage zu juicender Elektroroller, die die Produktivität drücken. Natürlich wird das nichts mit BIP/Arbeitsstunde, wenn ein wesentlicher Teil der Menschen in privatwirtschaftlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen stecken, für die jetzt wirklich niemand viel Geld bezahlen will.

    In Klarsprache übersetzt

    Wozu also führen wir die Tragikomödie mit dem Lohnarbeitszwang auf? Sachlich, damit sich ein paar Grobiane gut fühlen, weil das Bruttoinlandsprodukt ihres Landes steigt, und ein paar andere, weil ihr Kontostand wieder ein paar Milliarden ihrer bevorzugten Währung mehr zeigt.

    Letzteres ist wiederum besonders verdreht, denn so viel Geld könnten diese Leute nie für tatsächliche Waren ausgeben, schon, weil es gar nicht so viel zu kaufen gibt außerhalb von mondbepreisten Kunstwerken, Aktien und Immobilien, deren Kosten in überhaupt keinem Verhältnis mehr stehen zur in ihnen vergegenständlichten Arbeit.

    Die Antisprache von den Arbeitsplätzen wirft in Summe einen dicken Nebel rund um etwas, das schlicht ein hässliches Erbe der trüben Verangenheit ist. Wie so oft bei Antisprache lichtet sich der Nebel um groteske Sachverhalte schon, wenn mensch einfach die Antisprache ersetzt durch Wörter mit der jeweils zutreffenden Bedeutung. Ich habe das mal mit ein paar der Presseschau-Texte gemacht:

    In diesem Sinne ist es ein Ansporn, schnell gute, neue Produkte zu entwickeln, die viel Arbeit machen.

    —nicht Badische Zeitung (2023-02-15)

    …wie einst bei der Solarbranche der Ausverkauf der deutschen Wärmepumpenindustrie bevorsteht und sich danach andere Menschen als wir plagen müssen sowie hoch spezialisiertes Wissen abwandert.

    —nicht Rhein-Zeitung (2023-04-27)

    Die beiden Zitate könnt ihr im Original oben nachlesen. Vergleicht mal. Und dann ratet, wie die folgenden Zitate wohl wirklich ausgesehen haben werden:

    Kein Wunder, dass die Bevölkerung allmählich Existenzängste bekommt, wenn Heizen unbezahlbar zu werden droht und sie dann auch noch frei bekommen könnten.

    —nicht Dithmarscher Landeszeitung (2022-09-02)

    Entscheidend ist, alles zu tun, dass alle arbeitsfähigen Menschen auch arbeiten müssen und es sich lohnt zu arbeiten.

    —nicht Mediengruppe Bayern (2022-11-23)

    Vielleicht bietet der jetzige Kahlschlag [bei Karstadt], der erneut Tausende Mitarbeiter von stupider Arbeit an der Kasse und im Lager erlöst und daher äußerst bitter ist, die Chance auf ein Gesundschrumpfen.

    —nicht Badische Zeitung (2023-03-14)

    Menschlich ist es verständlich, dass auch Politiker eine möglichst angenehme Atmosphäre schätzen, wenn sie sich schon plagen müssen.

    —nicht Schwäbische Zeitung (2023-05-04)

    Nur, falls sich wer schlimm ärgert über diese Klarstellungen: Ja, mir ist klar, dass es unter den Bedingungen des Lohnarbeitszwangs jedenfalls sozial und möglicherweise auch materiell wirklich bitter ist, gefeuert zu werden.

    Aber es hilft ja nichts: wir müssen uns so oder so um den Übergang in eine Gesellschaft kümmern, die maximale Existenzsicherheit mit minimaler Belastung für Menschen (also vor allem: Arbeit) und Umwelt (also vor allem: Dreck) zusammenbringt, und das bei maximaler Partizipation bei der Aushandlung dessen, was „Existenz” eigentlich bedeutet. Das Gerede von Arbeitsplätzen steht dem klar im Weg, schon, weil es den Betroffenen Willen und Möglichkeit raubt, zu diesem Übergang beizutragen.

    Unterdessen verspreche ich, gelegentlich Constanze Kurz' Beitrag zu dieser Debatte zu lesen. Dass der jetzt auch schon zehn Jahre alt ist und die Presseschau immer noch voll ist mit Arbeitsplatzprosa, illustriert mal wieder, dass mensch bei der Verbesserung der Gesellschaft langen Atem braucht.

    [1]Gleich vorneweg: In vernünftigen Szenarien ist „Lohnarbeit“ kein sehr nützlicher Begriff. Die bessere Rede von „gesellschaftlich notwendiger Arbeit“ würde aber sicher auch Kram umfassen, der im Augenblick massiv nicht durch Lohnarbeit abgedeckt wird, ganz vorneweg Reproduktion oder etwas moderner Care-Arbeit. Insofern ist die Schätzung der Fünf-Stunden-Woche (die im aktuell lohnarbeitigen Sektor über die Lebenszeit integriert und für eine global vertretbare Produktion wohl schon realistisch wäre) so irreführend, dass ich sie im Haupttext nicht erwähne.
    [2]Ich kann nicht anders: Auch das ist ein Beispiel dafür, wie unsere Vorfahren einer autoritären Versuchung nachgegeben haben: Statt Menschen zu überzeugen, dass eine Arbeit gemacht werden soll oder muss, haben sie diese durch Drohung mit Hunger oder Erfrieren zur Arbeit gezwungen. Einfach, aber mit schlimmen Konsequenzen, wie wir nicht nur auf unseren Straßen sehen.
    [3]Es gibt aber auch Beispiele für extrem schädliche Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor. Beispielsweise hat die Finanzbranche ganz verheerende reale Auswirkungen (ein hübsches Stück Mainstream-Literatur dazu ist “Eine Billion Dollar“ von Andreas Eschbach …
  • Antisprache: Verschwörungstheorie

    Ob Corona oder Reichsbürger: Die Bezeichnung „Verschwörungserzählung“ oder „-geschwurbel“ oder „-theorie“ ist inzwischen zumindest in der breiten Mehrheit eher fortschrittlich orientierter Menschen ausreichend, um eine Position zu delegitimieren. Es mag insofern etwas gewagt sein, aber: Ich halte die gesamte Figur für Antisprache, also in Analogie zur Antimaterie für ein Mittel zur Verhinderung sinnvoller Kommunikation.

    Aus aktuellem Anlass will ich mit einem vielleicht etwas untypischen Beispiel aufmachen: Vorgestern hat Josephine Schulz im Deutschlandfunk den Linken-Kochef Martin Schirdewan interviewt und in einer Frage von „Verschwörungsanhängern oder Rechten“ geredet, um irgendwie Distanzierungen aus Schirdewan herauszukitzeln. Schirdewan lavierte da ganz geschickt drumrum, und trotzdem kam dann nachher in den Nachrichten etwas wie „Schirdewan warnt vor Verschwörungstheoretikern bei Ostermärschen”.

    Ich werde hier versuchen, den Verschwörungsvorwurf als ein Update des Extremismusbegriffs zu beschreiben, nur eben ohne dessen üblen Geruch nach Verfassungsschutz: Er abstrahiert vom Gesagten, immunisiert die ja häufig selbst eklige, grausame, rassistische oder massenmörderische „Mitte“, indem Aussagen schon und allein verurteilbar sind, weil sie vom Konsensnarrativ abweichen. Das ist bequem – jedenfalls für die, die das Konsensnarrativ mitbestimmen können –, hat aber mit Diskurs, Antifaschismus oder auch nur fortschrittlichem Denken nichts zu tun.

    Fallbeispiel Ostermarsch

    Das Schirdewan-Beispiel ist zur Illustration dieser Behauptung zunächst nicht so gut geeignet, weil ist der Dissens in dem Themenfeld gar nicht so sehr bei der Erzählung als solcher liegt. Von eher zweitrangigen Details („wer hat die Pipeline gesprengt?“) abgesehen, ist beispielsweise fast vollständig unstrittig, dass die anderen die Bösen sind. Strittig ist dagegen, ob wir deshalb die Guten sind. Wer munter „Verschwörungstheorie“ in den Raum stellt, immunisiert sich gegen diesen Streit, der ansonsten unbequeme Teile des Konsensnarrativs aufstöbern würde.

    Dass etwa auch „wir“ imperiale Ambitionen haben, ist kaum bestreitbar, wenn „unser“ Militär in aller Welt steht und auf allen Meeren schwimmt, im Hinblick auf die EU ganz speziell in Nordafrika, bis hin zur Organisation von Kolonialpolizei.

    Dass „wir“ in die Genese des Krieges verwickelt sind, liegt auf der Hand, wenn der unmittelbare Anlass des Umsturzes in der Ukraine von 2014, das EU-Assoziierungsabkommen (bzw. dessen Notstopp durch das damals auf Russland orientierte Klientelregime), vorsah, die Ukraine solle bei der GASP der EU mitmachen – wie sich die Designer dieses Abkommens das angesichts der russischen Flottenbasis auf der Krim vorstellten, ist mir bis heute nicht klar.

    Wer es ganz deutlich haben will, kann sich im geleakten Telefonat von US-Außenamtsmitarbeiterin Victoria Nuland (ihr Mantra: „Wir haben 5 Milliarden Dollar in eine sichere, blühende und demokratische Ukraine investiert“ – das war 2013) und ihrem damaligen Botschafter in Kiew, Geoffrey Pyatt, überzeugen, dass „wir“ insbesondere das Personal des neuen Regimes bestimmen konnten („nicht Klitsch“).

    Dass „wir“ einen Friedensschluss im März 2022 torpediert haben, kann spätestens seit Naftali Bennetts entsprechenden Äußerungen (auch in deren relativierter Form) nicht mehr als umstritten gelten, und dass auch „wir“ Schurken sind, die im Hinblick auf Angriffskriege im Glashaus sitzen, na ja, das ist spätestens seit 1999 offensichtlich, und da habe ich mit mangelndem Geschichtsbewusstsein noch gar nicht angefangen.

    Jedenfalls soweit ich erkennen kann, bestreitet niemand auch nur einen dieser Punkte in mehr als vielleicht Nuancen der Fomulierung. Wer dennoch weiterhin auf einem Siegfrieden in der Ukraine besteht, muss das folglich eher mit einer Mischung aus autoritärer Moral und Patriotismus begründen – wie das übrigens auch die DurchhalteparoliererInnen auf der anderen Seite tun.

    Es sind also diese Sentimente, mit denen sich auseinandersetzen muss, wer der Bevölkerung der Ukraine (und nebenbei hoffentlich auch der Russlands) helfen will. Dass die Antisprache „Verschwörungstheorien“ die Benennung dieser selbst schon unangenehmen Erwägungsgründe erspart, verhindert sinnvollen Diskurs. Das ist schade, denn Kritik von sowohl autoritärer Moral als auch von Patriotismus (und schon gar von gewalttätiger Weltpolitik, denn als noch ehrlicheres Motiv steht ja auch die noch im Raum) wäre weit über den aktuellen Krieg hinaus wirklich nützlich.

    Echte Verschwörungstheorien

    Aber der Verschwörungstheorie-Vorwurf ist auch dort, wo wirklich Verschwörungen behauptet werden, so untauglich zur Beurteilung politischer Interventionen wie der Extremismusbegriff. Betrachten wir dazu ein paar Beispiele:

    • Die Protokolle der Weisen von Zion oder das Gerede von der „Umvolkung” sind schlicht antisemitischer oder rassistischer Faschokram und deshalb zu verurteilen.
    • Die These von mit Computerchips von Bill Gates versetzten Impfstoffen ist nicht nur mit ein paar schlichten Argumenten wahlweise aus Physik, Informatik oder Biologie auszuschließen, sie brachte auch Menschen davon ab, sich trotz sonnenklarer Risikobewertung impfen zu lassen. Sie ist also zu verurteilen, weil sie Leute umbrachte (und in kleinem Rahmen auch noch umbringt).
    • Die These der gefakten Mondlandung ist einfach wurst; der Glaube etwa, „Borussia Dortmund“ (in welcher Bedeutung auch immer) müsse am nächsten Wochenende dringend im Fußball gewinnen, richtet (schon allein wg. Verkehr) weit mehr Schaden an. Es lohnt sich nicht, über sowas mit irgendwem zu streiten. Klar sind Leute, die sich an der Mondlandung abarbeiten, nicht allzu sehr ernstzunehmen. Aber mal ehrlich: eine naturwissenschaftlich begründete Meinung dazu haben, mangels naturwissenschaftlicher Kenntnisse, auch die meisten anderen Menschen nicht. Mir wär es viel wichtiger, mit der naturwissenschaftlichen Verankerung des Mehrheitsnarrativs voranzukommen als Leute, die da nicht mitwollen, von ihren Fantasien über gefakte Mondlandungen zu heilen.
    • Die These, ein sachsen-anhaltinischer Polizist habe Oury Jalloh angezündet, hat zumindest deutlich mehr Plausibilität als alternative (aber von den meisten Teilen der Staatsgewalt vertretene) Narrative. Wer da „Verschwörungstheorie“ murmelt, vergrößert jedenfalls schon mal das Problem der Polizeigewalt, das gerade Menschen haben, über die das Konsensnarrativ allenfalls abwertend („mehr nutzen, weniger ausnutzen“) spricht.
    • Hätte sich die These, dass die USA in Vietnam nicht die Angegriffenen waren und auch nicht (in einem operationalisierbaren Sinn) die Freiheit verteidigen wollten (vgl. Pentagon Papers und besonders den Tonkin-Zwischenfall), früher im Konsensnarrativ verankert, hätten vielleicht hunderttausende Menschenleben und Millionen Hektar Wald gerettet werden können – wenig wirkt so gut wie Ehrlichkeit bei Kriegszielen, um wieder zu Frieden zu kommen.

    Diese fünf Themen haben nichts miteinander zu tun, außer dass sie dem Konsensnarrativ mehr oder weniger deutlich widersprechen oder widersprochen haben; das ist, was sie zu „Verschwörungserzählungen“ macht. Diese Gemeinsamkeit hilft jedoch ersichtlich nicht dabei, die jeweiligen Thesen im Hinblick auf ethische, politische oder faktische Vertretbarkeit zu prüfen.

    Nein, aus dieser Betrachtung folgt in einem Schlagwort: faschistische Verschwörungstheorien sind grässlich nicht, weil sie Verschwörungen behaupten, sie sind grässlich, weil sie faschistisch sind.

    Verschworene KleintierzüchterInnen

    Verschwörungstheorie-Anwürfe sind nicht nur kritikwürdig, weil sie wenig mehr sind als ein Werkzeug zur Immunisierung derer, die jeweils die Diskurshoheit in Anspruch nehmen können.

    Ein zweiter problematischer Aspekt des Begriffs liegt darin, dass die Verschwörung – im Sinne einer vertraulichen Verabredung – tatsächlich ein konstitutiver Bestandteil von Politik zumindest in hierarchischen Systemen ist. Wer schon mal in Gewerkschaften, Kleintierzüchtervereinen, Ministerien oder Standardisierungsgremien aktiv war, wird gemerkt haben: Praktisch alle wesentlichen Entscheidungen werden hinter verschlossenen Türen oder gleich auf dem Gang getroffen. Klar heißt das, was da ausgehandelt wird, „vertrauliche Vereinbarung“, aber netto ist das Ergebnis ein organisierter Unterschied zwischen Verlautbarungen der beteiligten Personen und deren realen Motiven oder Handlungen. Das ist die Definition von „Verschwörung“.

    Dieser politische Prozess verstärkt das Machtgefälle zwischen denen „drinnen“ und denen „draußen“. Die Öffentlichkeit von Gerichtsprozessen und Parlamentsdebatten war deshalb eine große Errungenschaft in Richtung eines partizipativen Staats, in dem die Beherrschten eine reale Chance haben, in Entscheidungsprozesse einzugreifen. Je leichter die Kritik an (fast immer bestehenden) internen Absprachen als „Verschwörungstheorie“ diffamierbar ist, desto mehr verlieren diese Errungenschaften an Wert.

    Klar: In der Praxis finden die spannendsten Teile von Gerichtsverandlungen dann doch oft genug ohne Publikum statt – etwa das Aushandeln von mehr oder minder formalen Vergleichen –, und die Öffentlichkeit der Parlamentssitzungen hat dafür gesorgt, dass im Plenum im Wesentlichen nichts entschieden wird. Die öffentliche Dokumentation des Geschehenen ist aber dennoch höchst wertvoll für Interventionen der Zivilgesellschaft. Doppelt gilt das natürlich, wenn Menschen aus dem Apparat mit der Presse reden dürfen und dann und wann Sprachregelungen (im Klartext: Verschwörungen) aufklären. Der Niedergang genau solcher Praktiken auf EU-Ebene ist neulich auf netzpolitik bedauert worden.

    Insofern ist da viel zu verteidigen (z.B., was immer weiter ausufernde Geheimhaltungsregeln angeht) und viel zu gewinnen, etwa die Einrichtung und den Ausbau von Informationsfreiheitsgesetzen. Ein spannendes Nahziel fände ich ja die Auflösung der staatlichen Institutionen, deren Programm schon dem Namen nach die Verschwörung ist, nämlich der Geheimdienste. Als zwei schöne Beispiele aufgeflogener Verschwörungen aus dieser Ecke möchte ich an das Celler Loch und den Plutoniumschmuggel des BND (ach nee, des Bayrischen LKA, zwinkerzwinker) erinnern. Ein netter, partizipativer Staat sollte so etwas nicht nötig haben.

    Wenn es einfach wurst ist

    Im Übrigen hilft nach meiner Erfahrung im Umgang mit Menschen, die halbwegs guten Willens sind, sich aber an Verschwörungserzählungen abarbeiten, manchmal (langfristig) die Frage, was sich denn ändern würde, würden sich die in Frage stehenden Erzählungen als wahr erwiesen.

    Das klassische Beispiel ist die Trutherei rund um die Verwicklung westlicher Geheimdienste in die Anschläge vom 11.9.2001 – alles, was zu einer politischen Beurteilung nötig ist, ist öffentlich, sogar in der Popkultur verankert (ich empfehle dem Film Rambo III): „Wir“ haben uns im Kampf gegen „die Russen“ (jaja, das war damals auch schon das Thema) der finstersten, reaktionärsten Kräfte bedient, die wir in Afghanistan finden konnten – die, die dann später Taliban wurden, und ein paar durchgeknallter Warlords obendrauf. Um die Lehre …

  • Antisprache: Innovation, Teil 1

    Foto: Jede Menge Autofelgen

    Alufelgen für Autos: Ist das Innovation oder kann das weg?

    Mag „Chancengleichheit“ auch der Klassiker der Antisprache sein: „Innovation“ verdient jedenfalls einen Großpreis fürs Lebenswerk. Der Grundtrick dabei ist, menschenfeindlichen Quatsch gegen Kritik zu immunisieren, indem er als neu und schon von daher nützlich und gut – das ist der antisprachliche Subtext der „Innovation“ – hingeredet wird. Kritisiert dennoch jemand, kann im Wesentlichen jeder Mumpitz verteidigt werden mit dem Argument, ewig Gestrige hätten ja schon das Rad oder das Buch oder Antibiotika verdammt.

    Das ist Antisprache, denn natürlich ist es vernünftig, bei irgendwelchen Plänen oder Techniken erstmal zu überlegen, ob sie überhaupt einem nachvollziehbarem Zweck dienen könnten und dann, ob dieser Zweck in einem irgendwie erträglichen Verhältnis zum Dreck steht, den das Zeug macht. Dass es gelegentlich wirklich nützliche Erfindungen gibt (Rad, Buch, Antibiotika, LED-Scheinwerfer am Fahrrad), bedeutet nicht, dass solche Überlegungen irgendwie rückwärtsgewandt sind. Im Gegenteil. Ohne sie bekommen wir noch regelmäßiger Mist wie, sagen wir, Stuttgart 21 oder gar die Autogesellschaft. Ich gebe zu, dass „Technikfolgenabschätzung“ klingt wie ein sonnengebleichter Bürokratenfurz. Aber es ist trotzdem keine schlechte Idee.

    Demgegenüber kann „Innovation” auf eine etwas befremdliche Weise durchaus unterhaltsam werden, etwa wenn mit ernstem Gesicht so offensichtlich absurdes Zeug vorgetragen wird, dass ich den Verdacht von Kommunikationsguerilla kaum vermeiden kann. Ein gutes Beispiel für diese Kategorie (vielleicht unfreiwillig) kenntlicher Antisprache war Teil der CES-Berichterstattung in Forschung aktuell vom 8. Januar.

    Darin versucht Mary Barra, Vorstand von General Motors, ab Minute 4:20 ihr „softwaredefiniertes“ Auto mit folgenden Beispielen schmackhaft zu machen (Übersetzung DLF):

    Das macht es Kunden möglich, die Software ihres Fahrzeuges zu aktualisieren und neue Inhalte drahtlos herunterzuladen. [...] Die Technik ermöglicht es beispielsweise, eine Softwareoption herunterzuladen, um die Beschleunigung des Fahrzeugs zu erhöhen.

    Wow. Die Updateritis muss, wenn mein weiteres soziales Umfeld nicht komplett exotisch ist, so in etwa der unpopulärste Aspekt der „Digitalisierung“ überhaupt sein. Das zu ermöglichen (und damit: zu verlangen, denn was ins Netz kann, muss für rasche Bugfixe geplant werden) soll jetzt ein Argument sein, sich eine „Innovation“ einzutreten?

    Der zweite Teil von Barras Sales Pitch ist eigentlich noch wilder: GM hat ja meine Sympathie, wenn es seine Fahrzeuge per Computer runterregelt. Aber so offen zugeben, dass sie planen, künstlich verschlechterten Kram zu verkaufen – denn mal ehrlich: solange mensch keinen neuen Motor runterladen kann, sind die Extra-PS, die ein Download liefern kann, in einem bereits ab Werk ordentlich designten System eher dürftig –, um obendrauf den KundInnen Freischaltungen für Krempel anzudrehen, den sie eigentlich schon bezahlt haben: das ist schon stark.

    Hätte Frau Barra das in einem Beichtstuhl gesagt, hätte ihr nach so offenen Bekenntnissen Absolution erteilt. Wenn sie hinreichend viel Reue gezeigt hätte.

  • Antisprache: Chancengleichheit

    Foto: Schriftzug

    Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit am Rathaus des fünften Pariser Arrondissements. Ok, die „Brüderlichkeit“ sollte heute besser „Solidarität“ sein. Klar ist aber: Mit „Chancengleichheit“ in der Losung wäre das 1789 nichts geworden.

    Ein Klassiker der Antisprache – Wörtern, die von normalen Wörtern übertragene Information zerstrahlen wie Antimaterie normale Materie – ist „Chancengleichheit”. Seit meinem Schurken und Engel-Post, der eine reale Chancengleichheit modelliert hat, hatte ich immer mal diskutieren wollen, warum das eine sehr unrealistische Annahme war. Jetzt ist ein guter Anlass dafür da – siehe unten.

    Zunächst aber will ich meine Fantasie loswerden, wie zwei gewissenlose Werbefuzzis die Chancengleichheit ausgekocht haben:

    A: „Die Leute finden es irgendwie doof, dass ein Vorstand so viel kostet wie 1000 Leute, die die Arbeit machen [ok: Als dieses Gespräch stattgefunden haben könnte, war der Faktor vielleicht 100]. Wir müssen was tun.“

    B: „Da springen wirklich ein paar Knallköpfe rum, die finden, alle sollten gleich viel verdienen. Haha. Wo kämen wir denn da hin? Also: Erstmal müssen wir denen klarmachen, dass Gleichheit totaler und fieser Quatsch ist.”

    A: „Das ist einfach: Lass uns von Mao-Einheitskleidung erzählen. Das wird unser claim: Gleichheit ist eintönig!“

    B: „Genau! Und nicht die Gewalt, die die krassen Eigentumsunterschiede aufrechterhält, ist Zwang, nein, es wäre total fieser Zwang, wenn die Reichen nicht mehr die anderen für sich arbeiten lassen dürften. Gleichmacherei! Das wäre die üble Bevormundung, das ist mal klar.“

    A: „Aber… die Leute werden es immer noch doof finden, dass der Vorstand hässliche Protzbauten bauen lässt und endlos in der Welt rumjettet, während die Zeitungsausträger noch nicht mal Mindestlohn [ups: den hat es in der Geburtsstunde der Chancengleichheit in der BRD noch nicht gegeben] kriegen.“

    B: „Ah bah. Denen müssen nur eben bescheidstoßen, dass sie selbst schuld sind. Wäre der Zeitungsausträger halt auch Vorstand geworden. Er hätte ja die Chance gehabt. Vor allem die Chance, sich andere Eltern auszusuchen.“

    A: „Chance… Chance… Ich habs: Wir sagen »Chancengleichheit«. Damit ist ein bisschen von der Gleichheit drin, die die Leute ja immer irgendwie gerecht finden, aber noch der letzte Hirni versteht, dass es ihm nur deshalb dreckig geht, weil er seine Chancen verplempert hat.“

    B: „Brilliant. Mit ein bisschen Glück glauben sie sogar so arg dran, dass sie versuchen, ihren Kindern die Chancen, haha, wirklich zu geben, und wir können noch einen 1a Bildungsmarkt aufmachen. Heia Bruttosozialprodukt!“

    Also gut, ich kann jetzt nicht versprechen, dass das Gespräch genau so stattgefunden hat, vielleicht irgendwann in den 70ern. Ich finde das aber ziemlich plausibel. „Chancengleichheit“ ist jedenfalls ein zutiefst reaktionäres Konzept, das einerseits Ungleichheit legitimiert und andererseits Armen die Schuld an ihrer Situation zuschiebt.

    Ein Moment der Überlegung entlarvt diesen Begriff sofort: Niemand kann sich irgendwelche Verhältnisse vorstellen, in denen die Tochter eines armen, strukturell analphabetischen Paars auch nur irgendwie vergleichbare „Chancen“ hat wie der Sohn des Klischee-Paares aus Prof und Anwältin. Nicht auf Bildung, nicht auf ordentlich bezahlte oder gar halbwegs befriedigende Jobs, nicht auf eine Machtposition und auch nicht auf einen Sitzplatz in der Oper. Und selbst wenn sie die Chance hätte: würde das die dramatischen Unterschiede bei Existenzsicherheit, Lebenserwartung, Stinkigkeit der Jobs rechtfertigen, die wir in unserer Gesellschaft haben?

    Für mich ganz zweifellos: Würde es nicht. Die Ungleichheit ist das Problem, nicht irgendwelche Gemeinheiten, die ein paar Privilegierten ein Abo auf die Sonnenseiten (für irgendwelche vielleicht seltsamen Begriffe von Sonne) geben. Die zentrale Antisprachlichkeit von Chancengleichheit besteht im Versuch, das Gleichheitsgebot zu diskreditieren und zu demontieren. Demgegenüber fast schon verzeihlich wäre der innere Widerspruch, dass eine Gleichheit von Chancen überhaupt nur bei halbwegs gleicher gesellschaftlicher Teilhabe, also mindestens sozialer Gleichheit, vorstellbar ist. Etwas gedrechselt: die Chancengleichheit hat paradoxerweise die Gleichheit, deren Fehlen sie legitimieren würde, zur Voraussetzung.

    Natürlich bin ich nicht der erste, dem das auffällt, und so ist übers letzte Jahrzehnt oder so die „Chancengerechtigkeit“ populär geworden, vermutlich zunächst aus dem Gedanken heraus, Arme müssten gerechtigkeitshalber halt mehr Chancen bekommen als Reiche, damit es am Schluss „gerecht“ zugeht, ein wenig im Stil der affirmative action.

    Leider hilft das fast nichts. Auch die Chancengerechtigkeit legitimiert jede Ungleichheit („du hattest deine gerechte Chance und hast sie nicht genutzt“) und schiebt die Schuld für individuelles Elend nur noch mehr den Armen zu („wir haben dich ja sogar extra gefördert, aber dann hast du nur handygedaddelt und RTL 2 geschaut“).

    Nein: die richtige Forderung ist die nach Gleichheit, und erfreulicherweise hat die GEW im Gastkommentar der Erziehung und Wissenschaft 11/2021 Christian Baron das auf den Punkt bringen lassen:

    Die Formel muss also lauten: Erst die Umverteilung, dann die Bildung. Oder anders gesagt: Ein Goethe-Gedicht kann Wunder bewirken. Essen kann man es aber nicht. Anstatt Bildung als Weg aus der Armut zu verkaufen und ihr damit einen rein nutzenmaximierenden Ballast aufzuladen, sollte die Politik lieber dafür sorgen, dass kein Mensch mehr in Armut leben muss.

    Nur wäre die GEW nicht die GEW, wenn nicht in der gleichen Ausgabe das kritisierte Konzept im Titel eines Artikels auftauchen würde: „20 Jahre PISA: Schlusslicht in Sachen Chancengleichheit“. Nee: Nur, weil ein Hochamt der Metrik- und Marktreligion wie PISA für eine Weile mal Argumente für eigenen Interessen liefert (oder zu liefern scheint), ist das noch lang kein Grund, den Mist zu verwenden. Oder gar, die damit transportierte Antisprache gegen die eigenen LeserInnen einzusetzen.

  • Ad hominem

    Die Ideenwelt der repräsentativen Demokratie hat etliche Ungereimtheiten – was an sich nicht notwendig katastrophal[1] ist, siehe RiwaFiw. Speziell zu Wahlkampfzeiten muss ich aber doch manchmal meinen Kopf bis an die Grenze zum Schleudertrauma schütteln.

    Derzeit ist in Heidelberg etwa das hier plakatiert:

    Wahlplakat mit eigenartigem Brustportrait und einem Slogan

    Klar, mensch könnte das einfach mit „selbst schuld“ wegnicken und weiterfahren. Aber für mich will diese Sorte Plakat einfach nicht zusammengehen mit der öffentlichen Ächtung von Attacken auf die Person von KandidatInnen und PolitikerInnen („ad hominem“), und das nicht nur, weil das Plakat recht unbestreitbar eine ad hominem-Selbstattacke ist.

    Schön, das ad hominem-Tabu war schon immer mehr deklariert als gelebt (was gerade die zugeben müssen, die sich gerne öffentlich nach Herbert Wehner und Franz Josef Strauß sehnen), aber als normative Richtschnur des Handelns ist es im Wesentlichen unbestritten. Wenn also Kritik ad hominem nicht statthaft ist: Warum zeigt dann die Mehrheit der Wahlplakate „ernstzunehmender“ Parteien die Portraits der KandidatInnen und nicht etwa, sagen wir, eine politische Position oder wenigstens ein hübsches Bild zur Aufwertung des Straßenraums, Dinge jedenfalls, die anzugreifen nicht Tabu ist?

    Der „Digitalturbo“ im Plakat oben zählt übrigens mangels Bedeutung nicht als politische Position. „Digitalisierung“ ist Antisprache, versucht also aktiv, nichts zu sagen. „Turbo“ hingegen ist eine dämliche Autometapher, der positiv nur die radikale Selbstentlarvung zuzurechnen ist. Der Kluge führt unter dem Lemma Turbine aus:

    1. turbo (-inis) m. „Wirbel; alles, was sich im Kreis dreht“

    Ich erfinde das nicht.

    Eine politische Position, die tatsächlich etwas bedeutet, wäre etwa public money, public code gewesen, oder vielleicht „hohe Hürden bei Zugriff auf Tk-Bestandsdaten“ (cf. Post vom 2021-01-31). Doch, sowas passt auf ein Plakat, und mit etwas Mühe kriegt mensch auch Muggels erklärt, was das jeweils bedeutet. Allerdings müsste ich bei einem „Master of Public Policy“ (was Nusser ausweislich seiner Online-Biografie ist) zunächst noch überzeugt werden, dass der Kandidat tatsächlich Einsicht hätte in das, was er da sagen würde.

    Da seine Parole leer ist: was eigentlich soll mensch kritisieren als das Restplakat, also das Bild? Wenn das Bild nur die Person zeigt, wird die Kritik notwenig ad hominem. Das ist besonders bitter, wenn der Kandidat aussieht, als habe er starke Schwierigkeiten bei der Ablösung von der Mutter (oder jedenfalls bei der Impulskontrolle). Hand aufs Herz: Wer hatte bei Nussers Foto nicht gleich das Bild im Kopf vom pummeligen Einzelgänger in der Schule, der Verachtung und Hänselei der Mitschülis jetzt durch Dampfplaudern im Machoclub FDP kompensiert? [Mitschülis von Nusser: wie irrig ist diese Fantasie?]

    Wer solche, eingestandermaßen üblen, Reflexe nicht haben will: Wie gesagt, thematische Bilder statt Köpfe auf Plakaten würden sich anbieten, bei der selbsternannten Wachstumspartei FDP vielleicht viele Autos und viel Beton oder so. Weniger ansprechend als die Portraits der KandidatInnen wird das in der Regel auch nicht sein, solange nicht gerade Rana Plaza oder Union Carbide in Bhopal als Symbole für die Segnungen des Freihandels herhalten müssten.

    Besser wärs aber wahrscheinlich, ganz auf Fotos zu verzichten, etwa nach US-Vorbild:

    Vorgarten mit Wahlschildern, auf denen nur Namen stehen

    Um euch die Arbeit zu ersparen, anhand der Namen herauszubekommen, wann und wo die Szene spielt: Das Foto entstand 2002 in Massachussetts, und die schon etwas extreme Botschaftsdichte mag damit zusammenängen, dass der Vorgartenbesitzer im liberalen Jamaica Plain Werbung für alle möglichen Kandidaten der Republicans machte. Mensch sieht: Rechte Trolle sind keine Erfindung des facebook-Zeitalters.

    So oder so: Wahlwerbung in den USA ist, soweit ich das sehe, immer noch, wenn Leute die Namen ihrer LieblingskandidatInnen in den Vorgarten stellen (ok, und am Straßenrand mit Namenschildern winken). Keine Fotos, keine leeren Slogans.

    Ich glaube ja, das ist weit mehr im Geist der repräsentativen Demokratie, bei der Menschen ja genau nicht etwa die wählen sollen, die aussehen wie sie selbst; von Lookismus-Prävention will ich gar nicht anfangen. Der größte Vorteil aber: ästhetische Tiefschläge wie der folgende aus dem Jahr 1998 unterbleiben:

    Wahlplakat von Karl A. Lamers
    [1]Nur zur Vorsicht sollte ich wohl sagen, dass ich damit natürlich mitnichten repräsentative Demokratie befürwortet haben will; eine dahingehende Beurteilung aus informationstheoretischer Sicht verspreche ich schon mal für demnächst.
  • Klarsprache: Private Gewaltanbieter

    Beim Fegen heute morgen habe ich die DLF-Hintergrund-Sendung vom 26.6. über die Verschiebung vor allem westlicher Kriegsführung in private Unternehmen gehört. Und dabei ist mir aufgefallen, dass ich vielleicht gelegentlich mal auch über „Klarsprache“ schreiben sollte. Wo Antisprache Bedeutung annihiliert, bringt Klarsprache die Dinge auf den Punkt. In diesem Fall:

    Derzeit gibt es auf internationaler Ebene zwei Ansätze, das Verhalten privater Gewaltanbieter zu regulieren: Eine Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen bemüht sich schon länger um eine Konvention, die den Einsatz von Militärdienstleistern generell verbieten möchte. [Der andere ist das Montreux-Dokument]

    Mensch vergleiche: „privater Gewaltanbieter“ versus „Militärdienstleister“.

    Zugegeben, „Gewalt“ ist auch kein besonders klares Wort, es wird ja nun wirklich für alles und jedes eingesetzt, und insofern wäre etwas wie „Mordkommandovermittlung“ vielleicht noch etwas besser. Aber verglichen mit „Dienstleister“ – in dessen Wortfeld sich auch „haushaltsnahe Dienstleistung“ (wozu selbst Menschen in meinem Alter „Perle“ sagen und nicht peinlich finden, dass sie ihre Wohnung nicht selbst staubsaugen können) und „modernes Dienstleistungsunternehmen“ (so sah sich das Heidelberger Studierendenwerk) tummeln – doch von beeindruckender Deutlichkeit.

  • Antisprache: Extremismus

    „Extremismus“ ist sozusagen die Mutter aller Antisprache, Sprache also, die entworfen ist für Kommunikation, die bei gelungenem Sprechakt bei den EmpfängerInnen Information zerstört statt bildet.

    Entsprechend viele haben sich um Abrüstung des Begriffs (und der verwandten „Hufeisentheorie“) bemüht. Schon 2007 etwa schloss sich die Grüne Jugend der damals populären Strömung „gegen jede Extremismustheorie“ an (Abschnitt 9.1 im damaligen Selbstverständnis) – gerade bei denen bemerkenswert, denn 14 Jahre später werden die Leute, die das damals geschrieben haben, allmählich in die Parlamente gekommen sein, die die Etats der Inlandsgeheimdienste („Verfassungsschutz“, VS) abnicken.

    Das ist relevant, denn ohne den VS gäbe es ziemlich sicher gar keinen „Extremismus“. Diese These ist weniger steil als sie klingt. Als ersten Hinweis biete ich mal, dass zu keiner Zeit mehr Gerede über „Extremismus“ im Blätterwald raunt als gerade jetzt, wo der Bundes-VS mal wieder seinen „Bericht“ (ich wollte nicht „Kampfschrift“ schreiben, aber Bericht ohne Anführungszeichen fand ich jetzt auch nicht treffend) vorgestellt hat.

    Tatsächlich haben mich schon neulich zwei Nachrichten inspiriert, endlich mal einen Antisprache-Post über das E-Wort zu schreiben. Erstens hatte der Deutschlandfunk am 9. Juni:

    Die russische Justiz hat mehrere Organisationen des inhaftierten Kremlkritikers Nawalny endgültig verboten. Ein Gericht in Moskau stufte die Vereinigungen als extremistisch ein.

    und dann, am 10. Juni:

    Das [hessische] Landeskriminalamt durchsuchte die Wohnungen und Arbeitsplätze von sechs Mitgliedern des Spezialeinsatzkommandos. [...] Ermittler waren den Angaben zufolge im Rahmen einer anderen Untersuchung zufällig auf die rechtsextremen Handynachrichten gestoßen.

    Was haben Nawalny und die hessischen Polizisten mit Nazineigungen gemeinsam? Gemeinsam mit, sagen wir, den Leuten, die den Weiterbau des offensichtlichen Irrsinnsprojekts A49 im Dannenröder Forst verhindern wollten und die auch unter dem Label „Extremismus“ in den Fokus der Geheimdienste wie unter Polizeiknüppel kamen?

    Nur eines: Sie sind den jeweiligen Regierungen ernsthaft unangenehm. Das, und nichts anderes, ist die eigentliche (für weiter unten: „wissenschaftliche“) Bedeutung von „Extremismus“.

    Gut, die meisten Leute, die von „Extremismus“ reden, geben sich große Mühe, von dieser Bedeutung abzulenken. Die sinnzerstörende Wirkung entfaltet das Wort tatsächlich nur, wenn das diffuse Grauen im Angesicht von Nazi-Polizisten, die quälen, wen sie als „Ausländer“ oder Linke einschätzen gegen die netten Leute vom Danni eingesetzt werden kann (oder halt, wenn ihr Putin seid, gegen Querulanten wie Nawalny). Und das ist wichtig, denn gerade die Danni-Leute (und in Russland wahrscheinlich eben auch eine Figur wie Nawalny) werden von allen außer den betonköpfigsten Schurken geliebt. Ohne den Aufruf von Bildern blindwütig mordender IS-Gläubischer (oder muttermordender Nazispinner aus Hanau) ist robuste staatliche Reaktion – sagen wir, wochen- (Danni), monate- (auch Danni) oder jahrelanges (Nawalny, nochmal Danni) Wegsperren – in solchen Situationen in der Öffentlichkeit schwierig zu verkaufen.

    Nettes und Fortschrittliches mit Fiesem und Reaktionärem verrühren und damit diskreditieren: Das ist die Nettowirkung des Extremismusbegriffs. Wenig überraschend kommt er genau aus der fiesen und reaktionären Ecke, nämlich aus den damals noch intensiv von Altnazis durchsetzten Verfassungsschutzbehörden. Anfang der 1970er Jahre machten sie sich erkennbar Sorgen, weil die allgemeine Sympathie für die unter anderem durch die aufkommenden Berufsverbote gepeinigten „Radikalen“ (so hießen die damals; vgl. Radikalenerlass) in dem Maß zunahm, wie die Avantgarde von 68 gesellschaftlicher Mainstream wurde. Da musste was Neues her, zumal der ähnlich verrührende „Totalitarismus“, der gegen realsozialistische Umtriebe noch prima – und noch dazu mit erheblicher Plausiblität – zog, für kiffende Blumenkinder und wenig später bunte HausbesetzerInnen offensichtlich nicht passte.

    Und so wurde der „Extremismus“ im Bericht des BfV von 1973 geboren – wobei ich vermute, dass es international Vorbilder gegeben haben wird. Wenn nicht, würde inzwischen sogar Wladimir Putin dem deutschen Inlandsgeheimdienst nachplappern. Ich kann gar nicht so genau sagen, warum ich diesen Gedanken besonders furchtbar finde.

    Bis heute wird „Extremismus“ als Konzept wie als Wort vom VS genährt. Die scheinbare Glaubwürdigkeit eines so eindeutig antisprachlichen und breit kritisierten Begriffs in der heutigen Zeit wird erzeugt von Männern wie Armin Pfahl-Traughber, Eckhard Jesse und Uwe Backes, die aus dem Umfeld von Geheimdienst und politischer Polizei in die Akademia aufgestiegen sind und dort VS-Berichte durch Zitate adeln – VS-Berichte, deren krudes politisches Gerüst sich umgekehrt auf die aggressive Scheinwissenschaft der genannten Herren (und noch einer Handvoll weiterer) aufbaut. Diese zirkuläre Legitimation funktioniert immerhin so gut, dass taz-Autor Volkan Ağar in der taz von heute dem Bundesinnenministerium vorwirft, der Bundeszentrale für politische Bildung vorgeschrieben zu haben, eine „wissenschaftliche Linksextremismusdefinition“ durch eine des VS zu ersetzen. Der „Wissenschaftler“, zu dessen Produkten übrigens BMI und Bildzeitung selbst die bpb zuvor genötigt hatten: Armin Pfahl-Traughber. Au weia.

    Wie geht es besser? Nun, wie immer: Hinschauen und sagen, worum es wirklich geht. Die PolizistInnen des Frankfurter SEK sind eklig nicht, weil sie der Regierung peinlich sind, sondern weil sie RassistInnen sind, autoritäre Positionen vertreten, vielleicht AntisemitInnen sind – wer weiß, nachdem ja statt konkreter Information bisher nur „Rechtsextremismus“ im Raum steht? Wäre es nicht wirklich hilfreich, wenn klar wäre, ob es da auch groben Sexismus geht, ob nur um den üblichen Autoritarismus („die Polizei sind die Guten“) oder ob dort auch preppermäßige Putschpläne ausgeheckt wurden?

    Fängt mensch an, solche Fragen zu stellen, zeigt sich auch bald, warum das autoritäre Establishment den „Extremismus“ so sehr präferiert gegenüber dieser Sorte von Hinschauen: Jemand wie Seehofer vertritt offensichtlich erznationalistische Positionen (wenn er sich etwa über Abschiebungen zum Geburtstag freut), Leute, die 2% des Bruttoinlandsprodukts fürs organisierte Töten ausgeben wollen, sind klar MilitaristInnen („Lasst uns Menschen töten, um meine Interessen durchzusetzen“), und wer meint, „Hasskriminalität“ durch mehr Befugnisse für die Polizei beikommen zu können, dürfte sehr offen für autoritäre Gedankengänge sein (eine wirksamere Alternative wäre z.B., die Bildzeitung unrentabel zu machen, die, soweit ich als Vertreter offener Standards das sehe, weit mehr für die Verbreitung von Hass tut als alle Facebook-Trolle zusammen). All diese Dinge sind kritikabel, sogar unappatitlich, führen bei konsequenter Umsetzung in gefährliche Nähe von Faschismus – und nichts davon bewegt sich irgendwo dort, wo der VS „Extremismus“ sieht.

    Die Leute im Danni hingegen wollen glaubhaft größtmögliche Befreiung vom Auto. Sowohl Befreiung als auch weniger Autos sehe wohl nicht nur ich sehr gerne. Und so geht das auch mit vielen anderen „Linksextremismen“: Von Deutsche Wohnen-Enteignung über die Auflösung von NATO und VS über entschlossenere Schritte gegen den Klimawandel und das Massensterben im globalen Süden bis zu grundsätzlicherer Kritik an unseren Produktionsweisen sind die meisten Anliegen sehr gut nachvollziehbar, immer mit dem Herz, sehr oft auch mit dem Hirn. Ohne „Extremismus“ bräuchte es Argumente gegen diese Anliegen. Und die sind entweder schwer zu ersinnen oder entlarvend für die Anliegen der Gegner.

    Ohne „Extremismus“ leben heißt mithin zu fragen, was Leute wirklich wollen und nachzudenken, wie weit das Freiheit, Gleichheit und Solidarität (oder was immer mensch nun als Leitplanken annimmt) voranbringt – oder die jeweiligen Gegenteile.

    Klar, das ist im Regelfall viel mehr Arbeit (insbesondere auch als der schlichte Verweis „vom VS beobachtet“), aber so ist das mit der intellektuellen Ehrlichkeit. Und genauso klar, häufig sind die Ergebnisse nicht so ganz eindeutig, wie etwa bei Alexei Nawalny. An sich mag mensch ja Sympathien hegen für Menschen, die Herr Putin anstrengend findet; ich fürchte aber, angesichts von Nawalnys tatsächlichen Überzeugungen, die kaum weniger autoritär wirken als die der KremlparteigängerInnen, bleibt allenfalls generelle Solidarität gegen Repression übrig als Motivation, ihm irgendwie beizuspringen.

    Nach diesen Worten ist ein Blick in die DLF-Presseschau von heute besonders ernüchternd: Selbst der Süddeutsche, deren Heribert Prantl sich nach dem Auffliegen des NSU den Forderungen nach Auflösung des VS angeschlossen hatte, gelingt allenfalls milder Spott im Angesicht überkritschen Masse von Antisprache im „Bericht“ des Inlandsgeheimdienstes. Alle anderen extremisieren („rechts wie links“ die beim Verbreiten von VS-Material unvermeidliche NOZ, „die Demokratie [und natürlich nicht wie schon seit Jahrzehnten Nichtkartoffeln, Punker und Penner] angegriffen“ beim Tagesspiegel, „Facebook, Telegram & Co [und selbstverständlich nicht Bildzeitung und VS selbst]“ als Jaucheschleudern bei der Südwest-Presse, „Militanz nimmt auch in der linksextremistischen Szene zu“ bei der Mitteldeutschen Zeitung) als gäbe es kein Morgen. Seufz.

  • Antisprache: gesperrt, parken, Unfall

    "Autos raus"-Graffiti auf Verteilerkasten

    Juni 2001 im Berliner Tiergarten: Visionäre Ansagen.

    Ich bilde mir ja ein, dass ich eine gewisse Sensibilität für Antisprache habe, also Wörtern und Fomulierungen, die Bedeutung annihiliern statt transportieren. Aber das schöne Interview mit Dirk Schneidemesser vom IASS in der taz von heute hat mich eines Besseren belehrt. Dass „parken“ eine rücksichtslose Okkupation öffentlichen Raumes verschleiert, „Unfall“ völlig gegen die Realität so tut, als sei Verkehrsgewalt (Schneidemessers Terminologie) Ausnahme und nicht Regel und „gesperrt“ bei einer Straße, die gerade für die Nutzung durch Menschen geöffnet wurde, komplett sinnwidrig ist: Das alles ist mir erst beim Lesen des Interviews klar geworden.

    Das ist für einen passionierten Autofeind und Antisprach-Beobachter wie mich schon ziemlich peinlich.

    Da hilft traditionell nur eins: öffentliche Selbstkritik!

  • Antisprache: Geistiges Eigentum

    taz-titelbild

    Der taz-Titel von gestern hat einen guten Teil der aktuellen Diskussion um „geistiges Eigentum“ nicht schlecht subsumiert.

    Ich mag ja hartherzig sein, aber mein größter Schmerz an der derzeit laufenden Diskussion um eine Aussetzung des Patentschutzes für SARS-2-Impfstoffe ist, dass mal wieder alle über „geistiges Eigentum“ (GE) reden. Das ist bitter, weil das Antisprache – also Sprache, die Bedeutung verschluckt statt trägt – ist, die selbst nach Maßstäben von Antisprache großflächig Schaden anrichtet, beginnend bei der Exklusion von Rechnerplattformen via DRM oder der Strom- und Bandbreitenverschwendung durch Streaming. Weit relevanter: ohne die durch den GE-Begriff angerichtete Verwirrung wäre das Massaker kaum vorstellbar, das unsere private Medikamentenproduktion vor allem außerhalb von Pandemiezeiten (ich erinnere nur kurz an den endlosen Skandal Tuberkulosetherapie) anrichtet.

    GE ist Antisprache, weil es so in etwa drei Rechtssysteme, die aus ganz unterschiedlichen Gründen geschaffen wurden, unter einem allgemein bekannten, aber unpassenden Begriff („Eigentum“) zusammenfasst und so zum Verschwinden bringt, wozu die drei Konzepte jeweils geschaffen wurden. Das wiederum ruiniert diese ursprünglich zumindest nachvollziehbaren Zwecke, bis praktisch nur noch „na ja, einer muss halt reich werden dabei“ übrig bleibt.

    Die drei Rechtsbegriffe sind Urheberrecht, Patentschutz und Markenschutz. Zumindest bei zwei davon fällt sofort auf, dass das mit dem „Eigentum“ nicht hinkommen kann, denn sie sind zeitlich befristet, während BGB-konformes Eigentum nur unter recht extremen Umständen verlorengeht, sondern per Erbrecht in gewissem Sinn perpetuiert wird (wozu auch einiges zu sagen wäre – aber es geht hier ja nicht um Eigentum). Beim Markenschutz sieht das anders aus – aber den können sie meinetwegen auch behalten, jedenfalls solange culture jamming nicht gleich ins Gefängnis führt.

    Urheberrecht

    Das Urheberrecht hat seine Wurzeln im 18. Jahrhundert, als sich Gesellschaften allmählich darüber verständigten, dass Kunst auch mal unabhängig von kirchlichen oder adligen MäzenInnen entstehen können soll. Dazu musste die Arbeit der KünstlerInnen in den damaligen (ja, na ja, leider auch den heutigen) Gesellschaften irgendwie entlohnt werden, was letztlich heißt: sie muss handelbare Waren hervorbringen. Bei Kultur, die in aller Regel mit relativ wenig Aufwand vervielfältigt werden kann, ist der übliche Weg zur Warenform die enge Kontrolle öffentlichen Zugangs. Das Urheberrecht ist nichts anderes als die staatliche Garantie auf die Durchsetzbarkeit so einer Kontrolle obwohl es einfach wäre, den Kram breiter verfügbar zu machen.

    Weil im 18. Jahrhunder noch keine Antisprache des Typs GE verwirrte, kam niemand auf die Idee, diese Garantie mit dem Eigentumsbegriff zu belasten. Im Gegenteil: Eben weil das Urheberrecht die Verfügbarkeit von Literatur, Musik und anderen Kulturgütern ohne physischen Grund beschränkt, war seine Befristung ganz zentral. Wenn der Zweck des Urheberrechts – die KünstlerInnen zu füttern – glaubhaft erfüllt war, wurden die Werke in die Gemeinfreiheit entlassen.

    Relativ klar sagt das die wohl älteste Urheberrechtsregelung, die noch in Kraft ist, nämlich Artikel 1, Abschnitt 8, Satz 8 der US-Verfassung. Danach hat das Parlament die Macht,

    To promote the Progress of Science and useful Arts, by securing for limited Times to Authors and Inventors the exclusive Right to their respective Writings and Discoveries.

    Die Antisprache GE versteckt, dass der Sinn des Urheberrechts einzig und allein war, den, na ja, „Fortschritt von Wissenschaft und nützlichen Künsten“ zu fördern, und dass sich die Zeit der Zugangsbeschränktung genau an der Erfüllung dieses Zwecks zu messen hatte.

    Dieser Gedanke ändert viel: Glaubt wirklich jemand, relevante Literatur würde geschrieben, hörbare Musik gemacht, weil jemand auf Gewinn in, sagen wir, fünf Jahren hofft? Hat Ray Davies das schöne Lied von der Village Green Preservation Society (das mir seit Tagen im Kopf herumspukt) aufgenommen, weil seine Töchter (und vor allem spotify) noch 70 Jahre nach seinem Tod die Einnahmen aus Zugangsbeschränkungen erhalten werden?

    Wer solche Fragen stellt, wird vermutlich auf vernünftige Schutzzeiten von fünf oder zehn Jahren kommen, aber ganz gewiss nicht auf die 70 Jahre nach dem Tod des/der SchöpferIn aus dem Micky-Maus-Schutzgesetz. Es ist dieser Diskurs, gegen den sich die Rechteverwerter und ihre ApologetInnen mit der Rede von GE immunisieren wollen.

    Patente

    Während Urheberrechte das Bruttosozialprodukt im Groben steigern (weil Leute Geld ausgeben müssen für Kram, den sie zumindest in Zeiten des Internet praktisch umsonst haben könnten), sind Patente in der Regel schlecht für die Möglichkeiten des individuellen Reichwerdens: wenn einE PatentinhaberIn auf den Rechten sitzt, wird irgendwas im Zweifel nur sehr eingeschränkt hergestellt und nur eine Person wird reich. Das mag diese Person beim Erfindungsprozess motivieren, aber langfristig geht das böse auf die Produktions- und damit Akkumulationsmöglichkeiten.

    Bei komplexen Produkten und Produktionsverfahren wären außerdem bei Schutzzeiten wie beim Urheberrecht so viele Patente zu berücksichtigen (heute noch etwa ein guter Teil dessen, was während des zweiten Weltkriegs erfunden worden ist – die ErfinderInnen sind ja oft noch keine 70 Jahre tot), dass der Kapitalismus zu einem knirschenden Halt kommen würde.

    Und so überrascht es nicht, dass Patente nur für 20 Jahre ab Anmeldung gelten. Warum das Copyright-„Eigentum“ viel heiliger sein soll als das Patent-„Eigentum“, ist nur durch Rekurs darauf erklärbar, dass es sich in keinem Fall um „Eigentum“ handelt, und ihre Grundlage ist genau nicht – wie beim Eigentum – ein staatlicher Schutz für die private Verfügungsgewalt über Gegenstände, die nicht einfach vermehrt werden können. Geht es beim Urheberrecht ums Füttern der AutorInnen, gehts es beim Patentschutz in erster Linie um die Veröffentlichung von Erfindungen, deren breiterer Einsatz sinnvoll sein könnte.

    Während aber viele (beileibe aber nicht alle) InhaberInnen von Urheberrechten diese befürworten, ist das bei Patenten ganz anders: Eigentlich alle, die mit Technik herumfuhrwerken und Dinge basteln, sind von Patenten schwer genervt. Und während das Urheberrecht mit dem Einkommen einiger der SchöpferInnen immer noch zumindest entfernt etwas zu tun hat, sind Patente jedenfalls in meinem Bereich heute klar schädlich für den „Progress of Science“ (oder meinetwegen „Technology“). Das mag im Kernbereichs des Maschinenbaus vielleicht etwas anders sein, aber generell wäre ohne die Antisprache über GE doch recht schnell die Frage nach einer massiven Einschränkung des Patentunwesens auf dem Tisch.

    So danke ich allen verfügbaren GöttInnen, dass meine Universität darauf verzichtet, „Erfindungen“ von mir patentieren zu wollen – das wäre nämlich ihr Recht, und gemessen an dem, was im Software- und Rechnerbereich patentiert wird, gäbe es da ganz gewiss auch genug (na gut: wenn nicht schon wer anders die naheliegende Idee des Tages mit einem breiten Patent erschlagen hätte). Diese Patentverfahren würden Unmengen an Zeit und Energie binden, ohne dass das irgendeinen (gesellschaftlichen) Nutzen hätte, ganz zu schweigen von der Mühe, die ich eigentlich auf die Prüfung verwenden müsste, ob irgendwas, das ich gerade schreibe, von irgendwem patentgeschützt ist; wenn Fortschrittsbalken und One-Click-Shopping patentfähig sind, könnte ich keine nichttriviale Funktion schreiben, ohne eine solche Prüfung durchzuführen.

    Was ich natürlich nicht tue, und daher kommt dann auch mein Dank an höhere Wesen sowie mein weites Umfeld für ihr Desinteresse an Patenten, ganz speziell den Leuten, die in den Ministerien über meine Projektförderung entscheiden. Die Zeitersparnis, den Patentquatsch komplett ignorieren zu können, wäre sicher allen Software-Menschen zu wünschen, und entsprechend ist mir keineE ProgrammierIn bekannt, der/die nicht z.B. die Kampagne gegen Softwarepatente der FSFE wenigstens wohlwollend zur Kenntnis nehmen würde.

    Im Pharmabereich ist der Schaden durch Patente vielleicht nicht ganz so gut erkennbar, wenn auch das Missverhältnis zwischen hunderten von Statinzubereitungen, die westliche KundInnen mit aller Gewalt übergeholfen bekommen, und dem oben erwähnten Massensterben an Tuberkulose ohne nennenswerte private Anstrengungen zu dessen Milderung nicht nur mich zornig macht.

    Da hilft die Gebetsmühle des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller, der Patentschutz sei notwendig zur Entwicklung neuer Medikamente, wirklich nicht. Zunächst lehrt ein kurzer Blick in PubMed – was zweifellos die Forschung im medizinischen Bereich besser abbildet als irgendetwas anderes –, dass publikationswürdige Forschung zu Krankheiten und ihrer Heilung fast ausschließlich mit öffentlichem Geld stattfindet. Sucht nach irgendeiner Krankheit und schaut euch die Affiliations der ersten paar Arbeiten an: Wenn da überhaupt irgendwo privates Geld vorkommt, sind es gemeinnützige Stifungen wie der Wellcome Trust, die die Forschungen ganz sicher nicht wegen der Aussicht auf künftige Patenteinnahmen finanzieren – oder vielleicht noch Leute, die aus der Privatindustrie über ihre letzten Forschungen an Unis und Instituten berichten.

    Erst bei den klinischen Studien kommen die Unternehmen ins Spiel, und auch dann wird in aller Regel noch reichlich öffentliches Geld zugeschossen, etwa über die Kliniken, die die Studien mittragen. Aber gerade dieses System ist besonders kaputt, da trotz öffentlich finanzierter Beteiligung (die dann nicht selten durch Schweigeabkommen – Non-Disclosure Agreements – gebunden ist) fast nur positive Studien veröffentlicht wurden (und eigentlich immer noch werden), was wiederum die Grundlagen der Testtheorie aushebelt und so selbst die gut gemachten Studien entwertet.

    Innerhalb des gegenwürtigen Systems versprechen Studienregister ein wenig Abhilfe. Viel besser wäre jedoch eine staatlich finanzierte Zentralstelle, die solche Studien mit gleichbleibender Abdeckung, Sorgfalt und Publikationsdichte durchführt. Und das gilt selbst dann, wenn diese Zentralstelle am Ende nach dem Vorbild von RKI oder PEI eher nur so halb funktionieren würde. Dann würde natürlich auch noch das letzte irgendwie glaubhafte Argument für die Alimentation der Pharma-Unternehmen durch Patente wegfallen.

    Die Antisprache vom GE ist eine Immunisierung der Industrie gegen solche wirklich nicht fernliegenden Ideen. Was für ein historischen Unglück, dass die Piratenpartei weiland mit dem Thema „geistiges Eigentum ist ein ekliger Kampfbegriff“ überhaupt nicht in die Öffentlichkeit gekommen ist. Das könnte natürlich durchaus mit dem Geschäftsmodell großer …

  • Quatsch + Quatsch = Nichtzuglauben

    Ich mache die Kasse unserer Selbsthilfe-Fahrradwerkstatt URRmEL schon länger als ich mir das eingestehen will. Etwas vergleichbar Absurdes wie heute jedoch habe ich in dieser Eigenschaft noch nicht erlebt: 13,01 Euro für die Hochzeit von Terrorquatsch und Privatisierungswahn.

    Genauer hat der Bundesanzeiger-Verlag dem Verein vor einer Weile eine Rechnung geschickt, und da ich zu Coronazeiten nicht sehr oft zu unserem Postfach komme, habe ich das erst heute gesehen:

    Scan einer Rechnung

    Zunächst hatte ich ja an eine mäßig gelungene Bauernfängerei gedacht, aber es stellt sich raus: Das Transparenzregister gibt es wirklich. Es ist im Zuge des Sicherheitsgesetz-Tsunamis 2017 zusammen mit Netzwerkdurchsetzungsgesetz, Videoüberwachungsverbesserungsgesetz, dem „Bullenschubsparagraphen“ 114 StGB und noch einem runden Dutzend weiterer schlecht gemachter Gesetze zur Einschränkung von Bürgerrechten durch den Bundestag gerutscht.

    Wir wirklich will, kann sich diesen spezifischen Unsinn bei der Wikipedia erklären lassen. Aber viel mehr als die Umschreibung „Terrorquatsch heiratet Privatisierungswahn“ von oben braucht mensch dazu eigentlich nicht zu wissen: Er ist wahrscheinlich immerhin nicht sehr schädlich, jedenfalls verglichen mit den anderen Gesetzen dieses Jahrgangs.

    Exkurs: „Terrorismus“ als Antisprache

    Das Wort „Terrorismus“, diese Gelegenheit kann ich mir nach der Vorlage neulich nicht entgehen lassen[1], ist natürlich destillierte Antisprache, also Sprache, die Informationen verstecken und nicht transportieren will. „Terrorismus“ hat nämlich aus Sicht der Obrigkeit schon immer bedeutet: „wir dürfen auf andere Leute schießen, weil hinreichend viele von unseren Leuten die hassen“. Nicht mehr und nicht weniger.

    Das ist die Bedeutung des Wortes für die Putschisten in Myanmar genauso wie für Lukaschenko in Belarus, ist sie gegenüber „Islamisten“, ob nun Taliban in Afghanistan oder Uiguren in Westchina, gegenüber der UCK (jedenfalls aus Sicht der serbischen Obrigkeit von 1999), landlosen Bauern in Brasilien oder fabrikbesetzenden Arbeiter_innen in Argentinien. Und natürlich sowieso für all die „Innenpolitiker_innen“, die Scheibe um Scheibe von der Menschenrechtssalami absäbeln.

    Was das Wort versteckt: Auch die „Terroristen“ haben meist Gründe für das, was sie tun, und diese Gründe sind oft gar nicht so verschieden von denen, die die Obrigkeiten selbst antreiben: Patriotismus, Frömmigkeit, Streben nach Reichtum dürften ganz vorne dabei sein. Aus dieser Symmetrie folgt dann ziemlich unmittelbar auch, dass Versuche, die zugrundeliegenden Konflikte mit Gewalt zu beseitigen, meist weitgehend aussichtslos sind – und so eine Schlussfolgerung will mensch natürlich weder als Obrigkeit noch als, na ja, Terrorist_in halt ziehen, so sehr sie nach 20 Jahren „Krieg gegen den Terror“ eigentlich unvermeidlich ist.

    Nur zur Sicherheit: Nichts davon will, klar, staatliche oder private Akteure rechtfertigen, die von Patriotismus pp. getrieben werden, und noch weniger die, die deswegen rumballern oder -bomben (lassen). Es heißt nur, dass, solange wir Patriotismus, Religion und Reichtum nicht überwunden haben, die Klassifikation der der anderen Patriot_innen, Religiösen und Armen als „Terroristen“ ganz gewiss nicht weiterhilft.

    Ich kann diesen kurzen linguistischen Exkurs nicht schließen ohne eine Extraportion Befremden zu äußern über die Leichtigkeit, mit der selbst deutschen Regierungen das Wort „Terrorismus“ über die Lippen kommt. Mindestens angesichts der ebenfalls unter dem Label „Terrorismusbekämpfung“ gelaufenen Massakern im von der Wehrmacht besetzten Jugoslawien sollte doch zumindest da etwas mehr Bedacht walten. Sollte. Aber fragt mal eure_n Bundestagsabgeordnete_n, ob er_sie auch nur irgendwas mit Kraljevo oder Kragujevac anfangen kann.

    Verkaufen ohne Bestellung

    Aber zurück zum Thema: In der Gesetzgebung zum Geldwäschegesetz, das das Transparenzregister eingeführt hat, traf nun das semantische schwarze Loch „Terrorismus“ auf die offensichtlich widersinnige, aber erstaunlich vielen irgendwie einsichtige Idee, alles sei besser, wenn es ein Privatunternehmen mache.

    Und deswegen führt das Transparenzregister der Bundesanzeiger-Verlag, ein Laden, der zwar seine ersten 40 Jahre als so eine Art Bundes-Tochter fristete, aber im Rahmen des marktradikalen Rauschs um die Jahrtausendwende (in ein paar Stufen) ausgerechnet an den DuMont Schauberg-Verlag ging, einen der ganz großen Spieler im Kölschen Klüngel. Dass das ohne Ausschreibung passierte, verdient kaum Erwähnung – und klar hätte es eine Ausschreibung auch nicht besser gemacht: Entweder, etwas ist Obrigkeit, dann solls gefälligst auch der Staat machen, oder es ist es nicht, dann muss ich es aber auch nicht bezahlen, wenn ich es nicht bestellt habe. Meint mensch.

    Der Netto-Effekt jedenfalls: Der Terror-Zirkus Transparenzregister, den jedenfalls unsere Fahrradwerkstatt nicht bestellt hat, soll jetzt durch Gebühren finanziert werden von denen, die er transparent zu machen vorgibt.

    Und das sind rapide steigende Gebüren: es ging von 1.25 auf 4.80 Euro in vier Jahren. Sind wir großzügig, ist das eine Verdoppelungszeit von drei Jahren. Damit kostet der Eintrag in knapp dreißig Jahren 100 000 Euro. Auch wenn es nicht so weit kommt: Den Preis für etwas, das Leute zwangsweise kaufen müssen, in dieser Freiheit bestimmen zu können: das ist, soweit es mich betrifft, eine Lizenz zum Gelddrucken.

    Wobei, ehrlicherweise: von den 13 Euro wird wahrscheinlich erstmal nicht viel übrigbleiben, wenn Papier, Versand und Verrechnung bezahlt sind – aber das ist ja gerade der spezifische Wahnsinn: Mal angenommen, so ein Register hätte einen Nutzen, könnte mensch riesige Mengen Geld und Arbeit sparen, wenn dei Mittel nicht über Millionen von Briefen und Call Center und sonstwas eingetrieben werden müssten, sondern irgendwo aus dem BMI-Haushalt kämen. Das bisschen Zusammenführung verschiedener Register müsste dann eigentlich mit einer Million im Jahr drin sein – vermutlich vergleichbar mit den Portokosten des privaten Transparenzregisters.

    La-la-la Servicequalität

    Aber keine Sorge: Steuerbegünstigte Vereine wie unsere Fahrradwerkstatt „können gemäß §4 TrGebV bei der registerführenden Stelle eine Gebührenbefreiung ab dem Zeitpunkt der Antragstellung beantragen. Die Antragstellung kann nach Registrierung ausschließlich über die Internetseite des Transparenzregisters erfolgen.”

    Hab ich probiert.

    Ist nicht einfach.

    Immerhin geht die Webseite ohne Javascript. Das ist schon mal etwas, das ich mit all der Privatwirtschaft im Boot nicht erwartet hätte. Eine offensichtliche Möglichkeit, einen Verein als gemeinnützig zu melden, ist allerdings nicht erkennbar, und „steuerbegünstigt“ oder „gemeinnützig“ kommt bei den FAQ nicht vor.

    Ah: das ist eine Hotline. Ruf ich gleich mal an: „♪♪ ♪ ♪ Wir sind heute nur eingeschränkt für Sie da.“

    Das muss die Servicequalität (noch so ein Stück Antisprache: Qualität) im Privatsektor sein, von der mensch so viel hört.

    Ich habe mal eine Mail geschrieben. Wetten zu Dauer und Art der Antwort nehme ich an.

    [1]Auch wenn das Thema eigentlich schon oft behandelt wurde; vgl. etwa eine Abhandlung im Guardian von 2015
  • Antisprache: Digitalisierung

    Wenn Menschen miteinander reden, kann das verschiedene Gründe haben. Sie können gemütlich plaudern, sie können sich beschimpfen, sie können versuchen, sich Kram zu verkaufen – sie können aber auch einen Diskurs führen, also Ideen austauschen, entwickeln oder kritisieren. Für die letztere Funktion ist eine Sprache sehr hilfreich, die klar und präzise ist, in der insbesondere Begriffe nachvollziehbare „Signifikate“ (also Mengen von bezeichneten „Objekten der Anschauung oder des Denkens”) in der wirklichen Welt haben.

    Oft genug aber haben Sprecher_innen genau an Klarheit und Präzision kein Interesse – ganz besonders, wenn von oben nach unten kommuniziert wird. Herrschaft funktioniert besser, wenn den Beherrschten nicht ganz so klar wird, dass ihr Wille, ihre Interessen, im Hintergrund stehen. Dann sind plötzlich Begriffe hilfreich, die Gedanken verwirren, nicht klären, die Informationen nicht übertragen, sondern zerstreuen. „Globalisierung“ ist ein Beispiel oder auch „Arbeitgeber“, „Verantwortung“ „Terrorismus“ oder „Lernzielkontrolle“ sind weitere.

    Für Begriffe, die so funktionieren, bin ich irgendwann mal auf den Begriff Antisprache gekommen: So wie Antimaterie und Materie, zusammengebracht, zu Strahlung reagieren, reagieren Antisprache und Sprache zu... ach, ich hätte jetzt gerne „Verstrahlung“ gesagt, weil es so gut passt, aber nein: letztlich Verwirrung.

    Das Stück Antisprache, das (vielleicht gemeinsam mit „Populismus“) in den letzten paar Jahren die steilste Karriere genommen hat, ist „Digitalisierung”. Der Begriff ist fast nicht kritisiert worden, jedenfalls nicht aus der Perspektive, was das eigentlich sei und ob das, was da alles drunter fallen soll, überhaupt irgendwie zusammengehört. Ich kann mal wieder nicht lügen: eine Motivation für dieses Blog war, mal öffentlich dazu zu ranten.

    Tatsächlich gehören die unzähligen Dinge, die unter „Digitalisierung” subsumiert werden (die „Extension des Konzepts“ sagt der Semantiker in mir) nämlich schlicht nicht zusammen. Noch nicht mal „halt was mit Computern“ umfasst, sagen wir, Automatisierung in der Industrie, Habituierung der Menschen an extern kontrollierte Ausspielkanäle von Medien und Waren („smartphones“, „smart TVs“), Rechnernutzung in Bildung und Ausbildung, Ausweitung des Netzzugangs, Sensoren aller Art in politischer und sozialer Repression, die Wikipedia, Dauererfassung von Herzfrequenz und Körpertemperatur, Open Access in der Wissenschaft und „autonome“ Autos (was wiederum nur ein kleiner Ausschnitt von dem ist, was mit „Digitalisierung“ schon so bemäntelt wurde. Weil ja da eben auch tatsächlich freundliche und nützliche Dinge dabei sind, taugt auch nicht mein zeitweiser Versuch einer Definition: „Digitalisierung ist, wenn wer will, dass andere Computer benutzen müssen“.

    Wenn das alles nichts miteinander zu tun hat, warum würde jemand all diese Dinge in einen Topf werfen wollen, einmal umrühren und dann „Digitalisierung“ draufschreiben? Und warum kommt das Wort eigentlich jetzt, wo eigentlich so gut wie alles, was von Rechnereinsatz ernsthaft profitiert, schon längst computerisiert ist?

    Wie häufig bei Antisprache verbinden sich da verschiedene Interessen, und am Anfang steht meist ein letztlich politisches Interesse an Tarnung. Wer „Digitalsierung“ sagt, definiert Rechnereinsatz als Sachzwang, und das ist saubequem, wenn mensch mit Leuten redet, deren Arbeit dabei verdichtet wird, die enger überwacht werden, ihr Einkommen verlieren oder ganz schlicht keinen Lust haben, noch ein Gerät um sich zu haben, von dem sie nichts verstehen. „Digitalisierung“ klingt wie etwas, das passiert, nicht wie etwas, das wer macht.

    Ein Hinweis darauf, dass „Digitalisierung“ etwas mit der Durchsetzung von EDV-Einsatz gegen unwillige Untergebene zu tun haben könnte, liefert übrigens auch, dass der Begriff im deutschen Sprachraum so groß ist (und warum es etwa auf Englisch kein „digitisation“ in vergleichbarer Rolle gibt): es gibt hier ein vergleichsweise breites Bewusstsein für Datenschutz (gelobt sei der Volkszählungsboykott der 1980er!), und je klarer jeweils ist, was Leute jetzt mit Computern machen sollen, desto mehr Widerstand gibt es.

    Die Rede von „Digitalisierung“ kann also auch verstanden werden als die Reaktion der verschiedenen Obrigkeiten auf das (vorübergehende?) Scheitern von elektronischen Gesundheitskarten und Personalausweisen, auf regelmäßige Rückschläge bei Kameraüberwachung an der Bäckereitheke und Tippzählerei im Bürocomputer.

    Die Erleichterung der Durchsetzung „unpopulärer Maßnahmen“ (mehr Überwachung, mehr Komplikation, abstürzende Kühlschränke) durch Vernebelung der tatsächlichen Gründe und Interessen ist ein generelles Kriterium von Antisprache. Wo scheinbar kein realer Akteur etwas durchsetzt, sondern ein unerklärbarer Zeitgeist weht, müssen auch diese „Maßnahmen” nicht mehr begründet werden. Ganz besonders drastisch ist das derzeit in den Schulen, denn eigentlich weiß niemand so recht, was dort mit Computern in der Schule anzufangen wäre – jenseits von „wir machen in Physik einen Zeitlupenfilm und berechnen aus den Einzelbildern Momentangeschwindigkeiten“ habe ich da bisher noch nicht viel Glaubhaftes gehört. Na ja, ok, und dann halt noch jetzt gerade als Videotelefone, aber das hat natürlich außerhalb einer Pandemie für keine_n der Beteiligten Sinn.

    „Digitalisierung“ hat, wie viele andere Antisprache auch, einen Booster, nämlich die trojanische Semantik. Dabei wird Kram, den wirklich keine_r will, mit einer Hülle von Populärem umgeben. Beispielsweise ist „Digitalisierung“ in den Hirnen vieler Menschen mit dem (für sie) positiven Gedanken an ihr Mobiltelefon und die vielen schönen Stunden, die sie mit ihm verbringen, assoziiert.

    Wer nun offensiv stromkundenfeindliche Technik wie zeitauflösende Stromzähler („smart meter“) durchsetzen will, kann auf weniger Widerstand bei den künftigen Opfern hoffen, wenn sie diese „smart meter“ in einer Wohlfühl-Bedeutungswolke von TikTok und Tinder einhergeschwebt kommen. Sie sind nicht ein Datenschutz-Disaster, die kommen mit der Digitalisierung, sie sind doch nur ein kleiner Preis, den du für die tollen Möglichkeiten zu bezahlen hast, die dein Smartphone dir bietet.

    Das gehört auch etwas zur oben gestellten Frage, warum das Gerede von „Digitalisierung“ gerade dann so anschwoll, als eigentlich alles, was Rechner sinnvoll tun können, schon von ihnen erledigt wurde: Wenn die Branche weiter wachsen will, dürfen ihre Kund_innen noch weniger als zuvor danach fragen, wozu der autonom nachbestellende Kühlschrank eigentlich gut ist. „Digitalisierung“ wäre dann die schlichte Ansprache: Frage nicht nach dem Warum, denn alle machen jetzt Digitalisierung, und wenn du das nicht machst, bist du ein Bedenkenträger, der bald ganz furchtbar abgehängt sein wird.

    Ganz falsch ist das bestimmt nicht. Aber auch nicht die ganze Wahrheit, wofür ich neulich einen wunderbaren Beleg gefunden habe. Und der ist so toll, der ist Material für einen anderen Post.

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