Der 18.3. hat eine lange Tradition als Tag der politischen Gefangenen, anfänglich in Erinnerung an den Beginn der Pariser Commune vor 150 Jahren; die Erinnerungsfeierlichkeiten in diesem Zusammenhang waren in den Jahren der Weimarer Republik regelrechte politische Festivals. Das hatte nach der Machtübergabe an die NSDAP ein Ende, doch seit genau 25 Jahren begehen Menschen auch in der BRD wieder den Tag der politischen Gefangenen, vor allem im Umfeld der Roten Hilfe.
In Heidelberg gab es dazu heute eine Kundgebung, deren Hauptziel war, den politischen Gefangenen in der BRD eine Stimme zu geben. Deshalb bestand ein großer Teil der Kundgebung auch schlicht draus, Briefe und andere Äußerungen der Gefangenen vorzulesen. Das wiederum schien den Veranstalter_innen wichtig, weil der_die durchschnittliche Passant_in in der Fußgängnerzone (die Kundgebung fand am Marktplatz statt) schon die Behauptung, in ihrem Staat gebe es politische Gefangene, für eine Zumutung hält. Tatsächlich erinnere ich mich an Gerichtsverfahren in den späten 1980er Jahren, in denen Menschen für die Forderung, die politischen Gefangenen in der BRD sollten freigelassen werden, mit schwerem strafrechtlichem Geschütz verfolgt wurden und zum Teil sogar Bewährungsstrafen kassierten. Das, immerhin, hat es nach meiner Kenntnis in den letzten Jahren nicht mehr gegeben.
Aber dann würden vermutlich nicht viele Menschen glauben, dass es im Strafgesetzbuch im Jahr 2021 noch einen ganzen Abschnitt gibt zu „Hochverrat“, unterteilt in „gegen den Bund“ (§81), „gegen ein Land“ (§82) und „Vorbereitung“ (§83), wozu dann noch ein Kronzeugenparagraph §83a tritt. Und natürlich klingen auch etwa §90 und §90a („Verunglimpfung des Bundespräsidenten“ bzw. „des Staates und seiner Symbole“) oder §94 („Landesverrat“) durchaus nach ziemlich politischer Justiz.
Die real exisitierenden politischen Gefangene in deutschen Knästen werden allerdings weit überwiegend verfolgt nach der 129er-Paragraphen-Familie, bestehend aus §129 (normale Banden, Provenienz: Kaiserreich), §129a (inländischer „Terrorismus“, Provenienz: Schmidt-Regierung) und §129b (ausländischer „Terrorismus“, Provenienz: Schröder-Regierung). Im Bereich der Antisprache „Terrorismus“ wirds natürlich immer etwas haarig mit den Vorwürfen, und drum nehme ich als Definition von „politische_r Gefangene_r” ganz pragmatisch: „hätten sie ohne politisch missliebigen Hintergrund gehandelt, wären sie nie eingefahren oder jedenfalls längst wieder draußen“.
Um da mal das Spektrum aufzumachen zwischen „Fällen“, bei denen sich die bürgerliche Öffentlichkeit wahrscheinlich nur schwer wird empören können auf der einen und offensichtlichen moralischen Bankrotterklärungen des Staates auf der anderen, würde ich gerne kurz einen Blick auf die Gefangenen werfen, deren Kontaktadressen die RH in ihrer 18.3.-Zeitung auf Seite 15 druckt (zu den meisten sind auch Artikel in der Zeitung).
Da hätten wir zunächst Yilmaz Acil, Hüseyin Açar, Gökmen Çakil, Mustafa Çelik, Salih Karaaslan, Agit Kulu, Veysel Satilmiş, Özkan Taş, Mazhar Turan und Mustafa Tuzak, die in verschiedenen Gefängnissen der Republik sitzen, weil... nun, weil sie mit der PKK in Verbindung gebracht werden. Soweit ersichtlich, wird keinem von ihnen irgendeine konkrete Straftat vorgeworfen – aber klar, die PKK als Organisation tut natürlich schon Sachen, die Menschen, die die türkische Obrigkeit als NATO-Verbündeten schon ok finden, für verwerflich halten könnten. Nach welchem Rechtsstaatsprinzip daraus abzuleiten ist, Leute mit schlichten Sympathien für PKK-Kämpfe sollten eingesperrt werden, ist natürlich noch eine andere Frage, zumal, wie Gökmen Çakıl richtig anmerkt, entsprechende „Aktivitäten [...] in der Schweiz oder in Belgien nicht sanktioniert“ werden.
Ähnlich wird das Sentiment bei der Gefangenschaft von Musa Aşoğlu von der Einschätzung abhängen, von welcher Sorte Widerstand gegen verbündete Regierungen mensch sich dringend distanzieren muss, will mensch nicht ins Gefängnis kommen; in seinem Fall genügte die Mitgliedschaft in der DHKP-C (deren Erklärungen übrigens ein Fest sind für Liebhaber_innen realsozialistischer Prosa) für sechs Jahre und neun Monate Knast.
Milde Empörung im Fall von Thomas Meyer-Falk dürfte weniger internationalistischen Furor brauchen. Er nämlich sitzt nach jahrelanger Gefängnisstrafe wegen Banküberfällen (mit denen er linke Jugendzentren finanzieren wollte) nun in Sicherungsverwahrung, die ja schon als solche ein menschenrechtlicher Skandal ist. In seinem Fall ist unbestreitbar: er wäre längst draußen, wenn es da nicht den politischen Hintergrund gäbe – von dem er sich auch nicht distanzieren will. Immerhin gibt derweil sein Blog wertvolle Einblicke in die Realität der Sicherungsverwahrung.
Noch weiter im Spektrum klar politischer Justiz sind die Fälle von Lina, Jo und Dy – sie alle sind im Antifa-Bereich unterwegs und sind oder waren für Monate inhaftiert im Wesentlichen aufgrund vager Hinweise, sie könnten in, mal bewusst entpolitisierend gesprochen, Prügeleien mit Nazis verwickelt gewesen sein. Prügeleien dieser Art sind, weiter bewusst entpolitisierend, ohne SARS-2 Alltag auf jedem Volksfest und werden dann halt mit Strafbefehlen behandelt, die nur im Wiederholungsfall über dem Vorbestrafungs-Limit von 90 Tagessätzen liegen. Dass diese Leute monatelang im Knast schmoren, ist ausschließlich politisch bedingt. Was in diesem Fall angesichts des immer wieder hochblubbernden Faschismusproblems in Polizei und Staatsanwaltschaften nochmal ein ganz besonderes Hautgout hat.
Bei der „militanten Zelle” von Nicole Grahlow und Martin Eickhoff – die seit Oktober 2020 in in Haft sind – liegen noch Sachbeschädungsvorwürde durch versuchte Brandstiftungen vor, aber keinerlei Gefährung von Menschen mehr. Die Ziele, nämlich die ehemalige Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg und das Schlachtimperium von Tönnies, sind allerdings so nachvollziehbar, dass das inzwischen durch rechte Hasspost-Praktiken ziemlich desavouierte Topos „Drohbriefe an diverse Politiker_innen“ in der staatlichen Kommunikation dominiert. Ich will hier bestimmt nichts gleichsetzen, aber ein ähnlicher Verfolgungseifer bei Nazis, die Menschen abfackeln, würde der Verfolgung der beiden einiges vom Eindruck von Willkür nehmen.
Glasklar im Hinblick auf eine menschenrechtliche Bankrotterklärung ist schließlich der Fall von Ella („Unbekannte Person 1“): Ihr wird im Wesentlichen vorgeworfen, an der Besetzung des Dannenröder Walds teilgenommen zu haben und beharrlich die Aufklärung ihrer Identität zu verweigern. Ohne die Gewalttaten der Polizei bei der Räumung des Hüttendorfs, für deren wirklich empörendes Ausmaß der Staat rechtfertigende Narrative sucht, wäre sie ganz gewiss keinen Moment in Haft gekommen.
Nach all dem: Wer will, kann die Grenze zwischen politischen und, nun ja, sozialen Gefangenen etwas anders ziehen als die Rote Hilfe. Um die Einsicht, dass es auch in Justizvollzugsanstalten (was für ein urdeutsches Wort!) politische Gefangene gibt, kommt mensch aber nicht herum.
Zitiert in: Quatsch + Quatsch = Nichtzuglauben