Tag Hochschule

  • Unerwartete Konsequenzen am Klo

    Ich bin ein großer Fan von Geschichten, in denen Leute etwas tun, das über ein paar verwinkelte Ecken noch was ganz anderes bewirkt, das zumindest nicht offensichtlich erwartbar ist, so etwa wie bei den Akazien, die verkümmerten, weil sie mit Elektrozäunen vor Elefanten geschützt wurden.

    Ganz erheblich profaner ist die Geschichte rund um die Handtuchspender bei uns am Institut. Bis April diesen Jahres hatten wir dazu Geräte, die mit einem recht raffinierten Mechanismus sehr lange waschbare Stofftücher abrollten. Das war einerseits prima, weil die Hände so wirklich trocken wurden und nicht viel Papier nach einfachem Gebrauch weggeworfen wurde. Andererseits wurde jedes Handtuch-Äquivalent effektiv nur ein Mal benutzt, so dass die Rollen häufig gewechselt werden mussten. Mit Logistik, Waschen und Trocknen wird die Ökobilanz der Stofftücher vermutlich nicht nennenswert besser gewesen sein als die der üblicheren Papierhandtücher.

    Um die Ökobilanz am CO₂-Fußabdruck einzuordnen: Händetrocknen ist eines der Paradebeispiele von Mike Berners-Lee[1] für Handlungsweisen, die viele Menschen für wichtig halten, die aber für ihren tatsächlichen Fußabdruck fast keine Rolle spielen. Für ein Mal Händetrocknen schätzt er je nach Methode:

    3 g CO2e Dyson Airblade [obwohl so eine Airblade eher zu den Geräten gehören wird, bei denen der Herstellungsaufwand relativ zum Energieverbrauch während des Betriebs verschwindet, hätte ich gerade bei der Hi-Tech-Lösung gerne was zu vergegenständlichten Emissionen gelesen]

    10 g CO2e one paper towel

    20 g CO2e standard electric drier

    Wenn ich im Jahr 600 Mal meine Hände im Institut abtrockne (also rund drei Mal pro Arbeitstag), ist das so oder so schlimmstenfalls das Äquivalent von einem Kilo Käse (das Berners-Lee auf 12 kg CO₂e schätzt). Mit der Kopfzahl der BRD-Emission (2/3 Gt/a) ist zum Vergleich der mittlere Footprint pro Einwohner auf etwas wie 8000 kg abzuschätzen. Die Handtücher sind also für Normalos weit unterhalb von einem Promille, und selbst Ökos müssten sich hier im Land schon ganz schön bösen chronischen Durchfall zuziehen, um mit betrieblichem Händetrocknen auch nur auf ein halbes Promille ihres Fußabdrucks zu kommen.

    Wie auch immer: die schönen Stoffhandtuchspender sind inzwischen verschwunden, vielleicht aus Kostengründen, vielleicht, weil der Lieferant sie nicht mehr anbietet, vielleicht wirklich, weil sie alles in allem eher beim Fußabdruck von Berner-Lees „standard electric dryer“ rausgekommen sind. Stattdessen hat die Uni ziemlich flächendeckend das hier beschafft:

    Ein Papierhandttuchspender mit einer aufgeklebten zweisprachigen Nachricht: „Wegen Verstopfungsgefahr: Nur Toilettenpapier KEIN Handtuchpapier und ähnliches herunterspülen! Danke!

    Neue Handtuchspender an der Uni Heidelberg mit liebevollem Denglisch. Ich weiß nicht, wer es geschrieben hat, aber „constipation“ (Verstopfung im Darm, statt clogging) und „Wash down“ (ein Getränk kippen, statt flush) riecht durchaus nach subtilem Insider-Humor mit Fäkalhintergrund. Ich vermute Kommunikationsguerilla.

    Wie der aufgeklebte Zettel schon vermuten lässt, hatte der ökologisch vielleicht zweitrangige Schritt ernsthafte und jedenfalls von mir unerwartete Konsequenzen an anderer Stelle: Keinen Monat nach der Abschaffung der Stoffrollen drückte es übelriechendes Abwasser aus der Toilette im Erdgeschoss, und für 24 Stunden musste, wer musste oder Teewasser wollte, ins Nebengebäude gehen.

    Diagnose: heruntergespülte Papierhandtücher hatten das Abwasserrohr komplett dicht gemacht. Mit den alten Stoffhandtüchern wäre das nicht passiert. Also: Es ist nicht passiert.

    Ich habe übrigens auch eine Konsequenz gezogen, selbst wenn mein CO₂-Fußabdruck leider so oder so praktisch unbeeinflusst ist. Dafür liefert meine Konsequenz jede Menge Hitchhiker-Bonuspunkte. Ich habe nämlich ein privates Handtuch ins Büro gehängt, das ich nun viele Male verwende und dazu jeweils zum Klo trage („every day is Towel Day“). Weil ich das Handtuch schon hatte, trockne ich meine Hände damit fast CO₂-frei.

    Nur: wo soll in einem Büro ein Haken zum Aufhängen von Handtüchern herkommen? Nun, ich hatte irgendwann während einer schrecklich langweiligen Telecon eine alte Festplatte aus der SATA-Ära zerlegt. Schmeißt die Dinger auf keinen Fall weg, bevor ihr die Magnete der Schrittmotoren erbeutet habt, denn die sind großartig. Zum Beispiel können sie zusammen mit einer Büroklammer und einem Heizkörper einen prima Handtuchhaken machen, der mir bereits seit zwei Monaten taugt:

    Foto des im Fließtext beschriebenen Murkses.
    [1]Berners-Lee, M. (2011): How Bad Are Bananas, Vancouver: Greystone, ISBN 978-1-55365-832-0
  • Unglückliche UI: Wenn Haken unausweichlich sind

    Derzeit finden bei uns an der Uni Gremienwahlen statt. Dabei wird (u.a.) der ein wenig den Reichsständen ähnliche Senat gewählt, ein Gremium, das (spätestens) seit dem unglücklichen Hochschulurteil des BVerfG aus dem Jahr 1973 („Wissenschaftsfreiheit ist, wenn die Profenmehrheit immer garantiert ist“) eine ziemlich fragwürdige Veranstalung ist. Effektiv bedeutungslos wurde er in Baden-Württemberg zudem im LHG von 2003, als im Namen der „unternehmerischen Hochschule” (aus der glücklicherweise nichts wurde) praktisch alle wesentlichen Entscheidungen im Rektorat („Vorstand“ würde das Gesetz gerne dazu sagen) konzentriert wurden.

    Beste Bedingungen also für eine Online-Wahl – wenn wirklich wer gegen den neuen Wahlmodus klagen sollte, taugt als Gegenargument, es gehe ja eh um nichts. Als guter Demokrat habe ich natürlich dennoch meine Stimme abgegeben. Dabei stellte sich rasch heraus, dass die Uni ein Rundum-Sorglos-Paket bei polyas gebucht hat, einem Laden also, der gegen Bezahlung allerlei Online-Wahlen für allerlei KundInnen abwickelt. In deren Marketing klingt das so:

    • Einfaches Wahlmanagement
    • Höchste Sicherheit und Datenschutz
    • Rechtsverbindliche Wahlergebnisse per Klick

    Dem mag so sein.

    Allerdings ist das polyas-System augenscheinlich nicht allzu flexibel. Offenbar nämlich ist hart kodiert, dass WählerInnen irgendeine Einwilligung erteilen müssen, bevor sie ihre Stimme abgeben können. Wer immer das für die Uni Heidelberg angepasst hat, fand aber nichts, für das er/sie nach einer Einwilligung hätte fragen können.

    Das Ergebnis ist leider ein Text, der selbst in Zeiten von Cookie-Bannern alles eher tut als eine Einwilligung erheischen:

    Screenshot eines stark gestylten HTML-Formulars: Eine Quadrat vor einem Text „Herzlich Willkommen zur Gremienwahl“, ein grüner Weiter-Button.

    Ein Quadrat vor einer Willkommensnachricht und ein grüner Weiter-Knopf – nun, ich habe die wenig informative Nachricht überlesen und auf den grünen Knopf gedrückt. Ihr ahnt es: ohne Erfolg.

    Da die polyas-Leute leider die Knöpfe und Checkboxen wie wild stylen (statt sie einfach zu zu lassen, wie der/die NutzerIn das vielleicht global konfiguriert hat), ist die pragmatische Panne, eine Einwilligungsbedingung durch eine Null-Nachricht zu ersetzen, beonders störend. Es ist eben nicht offensichtlich, dass mensch in irgendein gammliges Quadrat klicken soll, damit ein grüner (!) Knopf mit der Aufschrift „Weiter zur Stimmabgabe“ auch wirklich funktioniert.

    Doch tatsächlich, wenn ich in das Quadrat klicke, kommt ein Häkchen da rein und der Weiter-Knopf wird auch faktisch bedienbar:

    Wie eben, nur ist in dem Quadrat jetzt ein Haken und der Weiter-Button ist etwas grüner.

    Beachtet die dezente Änderung im Grün des Weiter-Knopfes: ja, das ist der Unterschied zwischen einem deaktivierten und einem klickbaren Knopf. Warum können diese Leute nicht einfach hinnehmen, wie ich meine Knöpfe im System gestylt habe? Grumpf.

    Darf ich ein elftes Gebot vorschlagen? Es wäre: die Größe von Widgets dürft ihr ändern, Farben, Relief und Interaktions-Effekte nicht.

    Aber klar, noch besser wär es in diesem speziellen Fall, wenn die (zumindest hier) dämliche Einwilligung in der Software von polyas wegkonfigurierbar wäre.

  • Bologna: Die universell gescheiterte Verschwörung

    Foto eines Plakats mit dem Claim: „Tschüss Notengrenze Hallo Master!  Bei den meisten Masterstudiengängen an der Hochschule Coburg gibt es keine Notengrenze mehr!”

    Dieses Plakat ist mir am 2. April in Fürth aufgefallen, und es ist eine schöne Illustration der Tatsache, dass der Bologna-Prozess sogar für die Ministerien komplett in die Hose gegangen ist.

    Meine längere Diatribe über Verschwörungstheorien neulich war inspiriert von dem Plakat auf dem Eingangsbild zu diesem Post, denn es illustriert eine von vielen Weisen, in denen der Bologna-Prozess – Arbeitsdefinition: ungefähre Verfünffachung der Prüfungslast an Hochschulen, mehr dazu gleich – krachend gescheitert ist. In diesem Scheitern ist er wiederum eine besonders schlagende Illustrationen für meine Behauptung gegen Ende des Verschwörungsposts: Verschwörungen – im Sinne von „verabredete Differenzen zwischen öffentlichen und privaten Äußerungen“ – sind zwar tatsächlich allgegenwärtig im politischen Prozess. Paranoid und unzutreffend ist aber die Annahme, diese Verschwörungen würden auch funktionieren, den Verschworenen also die Vorteile bringen, die sie sich erwartet haben.

    Beim Bologna-Prozess und seinen Vorläufern war ich als kleines Rädchen live dabei und hatte sogar eine eigene kleine Seiten-Verschwörung am Laufen: Ich habe nämlich bei der Einführung eines der ersten Bachelor-Studiengänge an der Uni hier mitgewirkt und habe allerlei positive Äußerungen zu Bologna durch meine Mitverschworenen wider besseren Wissens nicht korrigiert. Weil: wir wollten Studis eine Gelegenheit geben, ohne Latinum einen Abschluss zu bekommen, was mit dem alten Magister aussichtslos, mit dem neuen Bachelor jedoch leicht schien. Zu meiner Verteidigung: Ich bin nie so tief gesunken, dass ich den Bologna-Quatsch selbst gelobt hätte.

    Die große Bolognaverschwörung

    Das, was später „Bologna-Prozess“ genannt wurde, muss irgendwann Anfang der 1990er in Gütersloh seinen Ausgangspunkt genommen haben. Eingestandenermaßen war ich da nicht dabei. Ich habe aber genug der sonstigen erzreaktionären („neoliberalen“) Diskurse, die damals in den Mainstream drängten, mitbekommen, um mit großer Zuversicht behaupten zu können, dass sich die in der ostwestfälischen Provinz residierenden Bertelsmann-Manager ungefähr zu dieser Zeit Geschichten dieser Art erzählten:

    Der Bildungsmarkt ist tausend Milliarden Dollar im Jahr [inzwischen viel mehr] schwer. Als moderner Medien- und Dienstleistungskonzern müssen wir einen größeren Anteil davon erobern. Schulbücher sind lukrativ, aber guckt nach Harvard. 25'000 Dollar [inzwischen viel mehr] für ein paar Kurse und Gelegenheiten zum Netzwerken! Zwei Mal im Jahr! Das ist Geschäft![1]

    Der sehnsüchtige Blick nach Harvard war damals eher noch üblicher als er es heute ist. Und so haben sich die Bertelsmänner ans Werk gemacht und überlegt, was es für die Eroberung des Bildungsmarktes wohl bräuchte. Ich paraphrasiere weiter:

    Was die deutschen Universitäten machen, verhindert alle sinnvollen Business-Modelle: Erstmal verschenken sie den Kram, sogar ihre Abschlüsse und Zertifikate! Und dann macht jede ein bisschen andere Kurse mit jeweils ein bisschen anderen Kriterien. Dafür Produkte [dass dieses Wort auf Briefzustellung oder Investment-Glücksspiele oder Vorlesungen anwendbar wurde, ist auch der damaligen Zeit zu… na ja: verdanken] zu entwickeln, ist ökonomisch nicht darstellbar [na gut: das Geschwätz von „darstellbar“ ging glaube ich erst etwas später los].

    Für Bertelsmanns künftiges Geschäft mit „Courseware“ war es also erstens wichtig, das „Produkt“ Studium kostenpflichtig zu machen, zweitens, das „Produkt“ Vorlesungsschein (heutzutage: ECTS-Punkte) zu standardisieren und zu kommodifizieren (meint: zu einer massenproduzierbaren, marktfähigen Ware zu machen). So klar sagten sie das natürlich nicht öffentlich. Zu sehr verbrämten sie es aber auch nicht, was die GEW in einem post-mortem von 2014 schön herausgearbeitet hat:

    Denn [ungefähr im Jahr 2000] forderte Müller-Böling [ein Bertelsmann, vgl. in einem Moment] von der Hochschule als „Dienstleistungsunternehmen“ eben dies: Dienstleistungen in Forschung und Lehre zu produzieren, diese in „Konkurrenz zu anderen Hochschulen“ anzubieten, „auf die Anforderungen des ‚Marktes‘“ möglichst rasch zu reagieren, wobei der Staat sich in diesen Markt nicht einmischen dürfe (so viel zum neoliberalen Theorierahmen des Modells), Leistungen werden aufgrund von Input-Output-Rechnungen beurteilt usw.

    „Marktentwicklung“ umschreibt ganz ausgezeichnet die Mission des Zentrums für Hochschulentwicklung (CHE), das Bertelsmann 1994 aus der Taufe hob. Mit dem Urheber des Zitats im GEW-Zitat, Detlef Müller-Böling, (dessen private Seite mit einer Crapicity von 161 ordentlich vorlegt) fanden sie auch gleich einen hyperaktiven Chef, der die Klaviatur der Medien – egal ob von Bertelsmann selbst (z.B. RTL und Gruner & Jahr) oder von der Konkurrenz – meisterhaft spielte.

    Dass die Bertelsmänner ihren Bildungs-„Thinktank“ ausgerechnet einem Diplom-Kaufmann unterstellten, ist aus verschwörungstheoretischer Warte bemerkenswert ehrlich.

    Wer war mit dabei? Die HRK!

    Mit von der Partie beim CHE war die Hochschulrektorenkonferenz (HRK), was nicht nur rückblickend als suizidal auf Lemmingniveau zu werten ist. Das schon, weil die Rankings, die das CHE wenig später rauszupumpen begann, die RektorInnen unter heftigen Druck setzten, dem jeweils neuesten Bullshit (häufig geliefert vom CHE selbst) hinterherzurennen.

    Rankings oder nicht: Die verheerenden Auswirkungen des vom CHE geschaffenen „Wettbewerbs“ hätten die (damals fast ausschließlich) Herren Rektoren auch so unschwer vorhersehen können, denn in jedem Wettbewerb zwischen N KonkurrentInnen gibt es (maximal) eineN GewinnerIn – und mithin N − 1 VerliererInnen.

    Zumindest die Figuren jedoch, die die HRK damals dominierten, glaubten, genau sie würden gewinnen, oder (bei realistischer veranlagten Charakteren) es würde wenigstens so viele Titel zu gewinnen geben, dass einer davon schon für sie abfallen würde. Ich glaube, sie glaubten das, weil sie sich eingeredet hatten, sie würden auch mindestens Harvard, wenn sie nur erst Studiengebühren nehmen und gemäß ihrer brillianten „Strategien“ ausgeben könnten. Ein Vertreter der Spezies Rektor, der sich sehr erkennbar mit solchen Gedanken trug, war der Heidelberger Amtsträger Peter Ulmer (zuvor Juraprof), gegen dessen Gebührenpläne schon 1993 zu protestieren war.

    Mit der Gründung des CHE ein paar Jahre später wuchs sich dann der vorher nur sehr allmählich anschwellende Bocksgesang um „Langzeitstudis“ zum ohrenbetäubenden Getöse aus. Er heulte über Menschen, die mehrere Fächer hintereinander studierten – zumeist nur gelegentlich mit Abschlüssen – oder im dreißigsten Fachsemester noch darüber nachdachten, ob sie sich allmählich zur Prüfung anmelden sollten.

    So unsinnig das Getöse war – die „Langzeitstudis“ haben damals niemandem weh getan, und jene von ihnen, die sich irgendwie in die heutige Zeit rübergetrickst haben, tun es immer noch nicht –, es sorgte für haufenweise Akzeptanz für das, was einige Jahre später in Baden-Württemberg Trotha-Tausi hieß, nämlich Strafgebühren von zunächst 1000 Mark, später dann 500 Euro im Semester für Studis ab dem vierzehnten Fach- oder auch mal Hochschulsemester.

    Damit konnten der damalige baden-württembergische Wissenschaftsminister Klaus Trotha (blaublütig und CDU) und sein das Ganze parallel betreibender niedersächsischer Kollege Thomas Oppermann (SPD) einen Einstieg in die Studiengebühren (ihre erinnert euch: Voraussetzung von Teil eins der Bertelmann-Verschwörung) hinbekommen, zumal nennenswerte Teile der Studischaft den Unsinn von den die Unis schädigenden Langzeitstudis selbst zu glauben glaubten.

    Obendrauf gewann die Erzählung von den die Unis im Umkehrschluss „verbessernden“ Studiengebühren spätestens nach dem furchtbaren Ende des 97/98er-Streiks, dessen Agenda rasch vom CHE-Sprachrohr Zeit diktiert wurde, erschreckende Popularität in einer ganzen Generation von Studis. Es dauerte mindestens bis zum Bildungsstreik 2009, bis sich dieses Gift so halbwegs aus den Studihirnen rausgewaschen hatte.

    Eine Versammlung in Bologna

    Dass die Studiengebühren, statt allmählich auf harvardeske Höhen zu steigen, wieder sterben würden, war ziemlich sicher jenseits der Vorstellungswelt der Bertelsmänner, die sich auf der Zielgeraden zur Erschließung des Bildungsmarkts (ihr erinnert euch: Eine Billion Dollar!) wähnten. So begannen sie munter mit dem zweiten Teil ihres Programms: der Kommodifizierung von Hochschulbildung, also der möglichst einheitlichen Strukturierung von Studiengängen in separat handelbare Pakete („Module”).

    Der CHE-Chefideologe Müller-Böling war sich völlig bewusst, dass er mit seinem Gesamtprogramm gegen die Interessen aller Beteiligten handelte:

    Im CHE standen dreißig Leute 36 000 Professoren und zwei Millionen Studenten an achtzig bis hundert Universitäten und rund 260 Fachhochschulen gegenüber, außerdem 16 Landesministerien mit jeweils 300 Mitarbeitern

    – nun, dreißig Leute sowie das Kapital, die Pressemacht und die Netzwerke von Bertelsmann, wenn mensch ganz ehrlich ist; dass sich gerade die willfährigsten Claqueure der Reichen und Mächtigen damals so ein offensichtlich quatschiges Rebellenimage ankleben wollten, fasziniert mich bis heute.

    Angesichts des hinter ihm stehenden ganz großen Bruders Bertelsmann jedenfalls ist Müller-Bölings Jubel von „Ich habe nie gedacht, dass man mit dreißig Leuten Dinge direkt durchsetzen kann” schon zu relativieren. Dennoch ist ihm zu bescheinigen, dass sein Laden die klassische Machttaktik des divide et impera schon sehr geschickt eingesetzt hat. Das allerdings – verschiedenen Gruppen verschiedene Dinge zu versprechen und sie so am Aufbau einer gemeinsamen Gegenwehr zu hindern – hat am Schluss das ganze Projekt ruiniert. Womit ich endlich zum Kern der Verschwörungsgeschichte komme.

    Nachdem nämlich das CHE das Bologna-Programm schon zwei Jahre vor der Erklärung formuliert hatte, haben sie sich zunächst keine Mühe mit Parlamenten oder ProfessorInnen gemacht, sondern sind gleich zu den BildungsministerInnen gegangen. Wie genau es dazu kam, dass diese am 19. Juni 1999 im Rahmen eines Treffens von RektorInnen sich für wichtig haltender europäischer Universitäten in Bologna versammelt waren, weiß ich nicht. Tatsache ist: Sie unterschrieben dort eine allenfalls notdürftig getarnte Fassung des Bertelsmann-Programms (also: Studiengänge sollen aus frei handelbaren Modulen aufgebaut werden).

    Ein Raum mit unfassbar dichten Wandmalerreien, davor moderne Bestuhlung.

    Eine der zwei Aulae Magnae im Archiginnasio in Bologna. Ich glaube, dass in dieser wirren Kulisse die MinisterInnen die Bertelsmann'sche Erklärung unterschrieben haben.

    Dieses Papier geisterte in den folgenden Jahren als Bologna-Erklärung durch die Hochschullandschaft, ganz besonders durch die deutsche, die sich in der Folge von 68 im Vergleich zu vielen anderen recht liberal und wenig gängelig zeigte und deshalb aus Bertelsmann-Sicht besonders viel „Reformbedarf“ hatte.

    Zu vielen zu viel versprochen

    Dass die BildungsministerInnen-Versammlung, die die Forderung damals abgenickt hat, keinerlei politische Funktion hatte – einen „Rat der für Hochschulen zuständigen MinisterInnen“ auf EU-Ebene gab es damals nicht –, war …

  • PSA: Grobe Schnitzer beim Trauern

    Gestern um halb eins ist in Heidelberg ein Mann in einen Uni-Hörsaal gelaufen und hat mit einem Gewehr eine Frau erschossen, ist danach wieder rausgegangen und sich irgendwie selbst mit seiner Waffe umgebracht So ein Geschehen in einem Hörsaal, in dem ich vor vielen Jahren auch mal „Mathematische Methoden der Physik“ gehört habe, überhaupt, Leute mit Gewehren im botanischen Garten, in dem ich auch regelmäßig rumlaufe: Das lässt mich natürlich nicht kalt.

    Den bundesweiten Aufschrei, der folgte, finde ich allerdings angesichts der Wurstigkeit, wenn etwa Menschen überfahren werden, sich ohne Ballerei umbringen oder auf der Straße an genereller Verwahrlosung sterben, ziemlich unangemessen. Ich will mich jedenfalls nicht hinstellen und entscheiden, welcher Tod „überflüssiger“ oder „entsetzlicher“ war.

    Zum Glück muss ich das nicht. Ich könnte dazu den Mund halten. Der Rektor der Uni Heidelberg, das will ich gerne zugestehen, kann sich diesen Luxus nicht erlauben. Und so hat er rund fünf Stunden nach dem Ereignis eine Art Trauermail über den uniweiten Verteiler verschicken lassen. Es ist diese, die mich zu diesem Public Service Advisory bringt, denn der Rektor hat zwei Dinge getan, die in solchen Trauermails wirklich niemand haben will:

    1. Die Thoughts-And-Prayers-Phrase verwendet („Das Rektorat ist in Sorge um die Opfer und in Gedanken bei ihnen, ihren Freunden und Angehörigen”). Mal ehrlich: alle wissen, dass die Gedanken eines Rektorats, in dessen Uni gerade ein riesiger Polizei- und Presseauflauf stattfindet, überall sein werden, aber fast sicher nicht bei Freunden und Angehörigen von Opfern. Das ist wahrscheinlich noch nicht mal schlimm, denn die Betreffenden hätten auch dann nichts von diesen Gedanken (zum Glück hat das Rektorat auf „Gebete“ verzichtet), wenn sie bei ihnen wären. Klar ist ein wenig Lügen zum Trost erlaubt, aber bitte nicht mit einer Phrase, die so abgedroschen ist, dass sie sogar für Memes verbrannt ist.
    2. Die Mail von der Adresse kum@uni-heidelberg.de abgeschickt (ok, ich kann nicht genau sagen, ob das der Absender war, denn die Liste hat die Header weitgehend umgeschrieben, aber das Reply-to ist kum@). Kum wie „Kommunikation und Marketing“. Die Nachricht ist: Das ist ein Problem für unser Marketing, und da müssen wir mit Kommunikation Schaden begrenzen. Niemand erwartet, dass der Rektor Mail an rektor@ oder vielleicht eitel@ selbst liest – aber es würde die ganze Nachricht doch ein wenig authentischer wirken lassen, hätte er einen dieser Absender verwendet.

    Nun: Was mensch zum ersten Mal macht, vermurkst mensch. Hoffen wir, dass das Rektorat keine Übung in dieser Sorte Prosa bekommen muss.

  • Ich bin auch Hanna

    Seit ein paar Wochen schreiben zahlreiche Uni-Beschäftigte auf befristeten Verträgen über ihren alltäglichen Wahnsinn unter dem Twitter-Hashtag #ichbinhanna. Nun ist mir zwar ein offenes Netz wichtiger als diese eingestandenermaßen erfolgreiche Mobilisierung, und so werde ich nicht mittwittern. Aber ich finde es natürlich klasse, dass ein Thema, das mich seit Jahrzehnten umtreibt, mal wieder etwas Öffentlichkeit bekommt. Deshalb will ich hier ein paar vielleicht nicht ganz offensichtliche Aspekte beisteuern.

    Comic eines Beratungsgesprächs

    So stellt sich das BMBF den Umgang mit Befristungen vor. Links die „Hanna“, die im Befristungs-Werbevideo aus dem Hause Karliczek froh ihre „Karriere“ plant.

    Zunächst bin auch ich Hanna: meinen ersten Vertrag mit der Universität Heidelberg hatte ich 1993, damals als studentische Hilfskraft. Seit ich 2001 von meinen akademischen Wanderjahren zurückgekehrt bin, habe ich dort ununterbrochen jeweils dreijährige Arbeitsverträge als das, was heute in Baden-Württemberg akademischer Mitarbeiter heißt; zusammen komme ich auf ein gutes Vierteljahrhundert befristeter Verträge mit der Uni.

    Und auch wenn ich in all den Jahren mit wechselnder Intensität anstank dagegen, dass weniger als jedeR fünfte MitarbeiterIn in Forschung und Lehre an deutschen Unis einen ordentlichen (also unbefristeten) Arbeitsvertrag hat, versuche ich derzeit mit einiger Intensität, nicht verdauert zu werden. Klingt komisch, ist aber so, und Schuld hat: Der Rechnungshof von Baden-Württemberg, eine Festung von durch keinerlei Sachargumente zu erschütternden festen Glauben an das ganze Spektrum marktradikalen Unsinns.

    Dieser Rechnungshof hat nämlich vor Jahren festgestellt, dass an den Unis im Land viele akademische MitarbeiterInnen mit geringen Lehrverpflichtungen (oder, Gottseibeiuns, gar keinen) beschäftigt waren, während gleichzeitig Hilfskräfte aus den Reihen der Studierenden für Geld rekrutiert wurden, um Teile der Lehre – in Physik und Mathematik vor allem Übungsgruppen – abzudecken. Was ein gestandener Rechnungshöfer ist, kann da nicht zusehen, selbst wenn es nach Maßstäben der deutschen Akademia eigentlich ein prima System war: Die Übungsgruppen waren entspannte (weil normalerweise durch „Peers“ gehaltene) und produktive (weil die Leute, die den Kram erklärt haben, ihre eigenen Schwierigkeiten noch gut vor Augen hatten) Veranstaltungen, die engagierten Studis gleichzeitig die Möglichkeit gaben, erste Erfahrungen in der Lehre zu sammeln und ihr Studium fachnah zu finanzieren. Derweil konnten WissenschaftlerInnen auch an Unis relativ konzentriert forschen, wenn sie das wollten und es ansonsten mit der Lehre reichte (was in Heidelberg mit all den Forschungsinstitutionen in der Umgebung in vielen Fachbereichen nie ein Problem war).

    All das interessierte den Rechnungshof wenig, zumal ungefähr zu dieser Zeit die Urkatastrophe über die Unis hinwegrollte: Die autoritäre Umgestaltung, die reaktionäre WissenschaftspolitikerInnen gemeinsam mit den „Think Tanks“ diverser Content-Hersteller (allen voran natürlich Bertelsmann) unter dem Label „Bologna-Prozess“ vermarktet und durchgesetzt haben – ich habe damals so vergeblich wie eifrig dagegen gepredigt. Damit einher ging ein intensives Kontroll- und Prüfungsregime, dem auch die Übungsgruppen zum Opfer fielen: Was Studis darin tun, beeinflusst jetzt direkt ihre Abschlussnote (während es früher in der Praxis egal war; den Schein hat jedeR bekommen, der/die ihn wirklich wollte). Das hat die Veranstaltungen komplett umgedreht: Von realer und oft hocheffektiver Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten zu einem Instrument schulhafter Büttelei und intensiven Feilschens um halbe Punkte.

    In dieser Situation hat der Rechnungshof dem Wissenschaftministerium sehr nahegelegt, doch all die Leute, die es (also: aus Landesmitteln) bezahlt, für die Büttelei einzusetzen, für die Studis – es geht ja um, wow, Noten! – nicht mehr gut genug waren. Weil ich aber nicht bütteln will, nicht umsetzen, was ich jahrelang bekämpft habe, muss ich sehen, dass ich von Bundes- oder Europamitteln lebe, und weil aus solchen immer noch niemand feste Verträge machen will, heißt das: ich muss die Verdauerung dringend vermeiden. Irre? Klar. Nur, finde ich, nicht von meiner Seite.

    Andererseits bilde ich mir ein, dass ich als Computer-Zauberer mit Rücklagen auch dann keine materiellen Probleme haben werde, wenn das mit den Drittmitteln mal nicht klappen sollte. Das ist für viele andere anders, insbesondere, wenn plötzlich weitere Menschen materiell von ihnen abhängen. Diese Leute werden nicht lange in meinen Projekten arbeiten. Das, zusammen mit wild fluktuierenden Mitteln, die mich immer wieder zwingen würden, Leute, die dennoch bleiben wollen, gerade dann zu feuern, wenn sie gerade richtig angekommen sind (was ich eigentlich nicht kann – und so muss ich aufpassen, dass ich immer gerade genug Drittmittel nur für mich bekomme), ist das eigentliche Problem, das ich mit der Befristeritis habe: Mensch arbeitet fast permanent mit AnfängerInnen, und das tut keinem Projekt im Wissenschaftsumfeld gut.

    Ich wünsche also den #ichbinhanna-Leuten alles Gute. Auf ein paar großväterliche Feststellungen kann ich aber dennoch nicht verzichten:

    • Ohne eine entscheidende Rückverlagerung von wettbewerblich vergebenen Mitteln in verlässliche Etats der Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen wirds nicht gehen. Aus nur temporär verfügbaren Mitteln entstehen auch nach TzBfG keine Dauerstellen; dieses Gift ist längst aus den Hochschulen in die Restgesellschaft durchgesickert.
    • Würde diese Grundfinanzierung einfach nur an „die Unis“ gehen wie sie jetzt sind, würde sie genau an die Profen gehen, die die derzeitige Misere recht weitgehend zu verantworten haben und das Gewäsch aus dem Hanna-Video in ihrer breiten Mehrheit exakt so vertreten. Mit anderen Worten: um die Befristeritis zurückzudrängen, braucht es auch eine grundlegende Hochschulreform, die insbesondere Profen aus den Leitungsfunktionen nimmt und durch Menschen ersetzt, die wenigstens basale arbeitsrechtliche Instinkte haben. Extrapunkte, wenn dabei auch etwas Demokratisierung (also: Abbau von Leitungsfunktionen an sich) rauskommt.
    • KeineR der OrganisatorInnen des bestehenden Systems dürfte sich viele Illusionen gemacht haben darüber, wie beschissen das für die Betroffenen aussieht und wie kontraproduktiv für die Wissenschaft das alles ist. Wenn sich etwas ändern soll, wird es also mit freundlichen Petitionen und Hinweisen über Twitter nicht getan sein.

    Dieser letzte Punkt verdient noch eine Handvoll Worte mehr: Die klassische Aktionsform abhängig Beschäftigter ist der Streik, und ich behaupte kühn, dass es auch für uns Uni-Prekariat kaum ohne gehen wird. Sage keineR, es merke sowieso niemand, wenn er/sie streike: Allein das entschiedene Nein, das eine organisierte Arbeitsverweigerung den Hochschulen vorhält, wird diese – und in der Folge auch die Ministerien – bereits in Gang setzen. Sicher nicht beim ersten Mal, aber wenn so eine Mobilisierung über ein paar Jahre nicht verschwindet, wird die Hierarchie das nicht ignorieren – es geht ja schließlich um relevante Teile ihres eigenen Nachwuchses.

    Ein Streik gegen das WissZeitVG, gegen die Drittmittelisierung der Wissenschaft, gegen die autoritär geführte Profenhochschule: Das wäre ein politischer Streik, der in Deutschland verboten ist (kein Scheiß). So ein Verbot (mit der Folge u.a. fehlender gewerkschaftlicher Unterstützung) muss natürlich kein Hindernis sein, aber angesichts der totalen politischen Agonie des Uni-Mittelbaus in den letzten dreißig Jahren wäre es schon ein ziemlich großer Sprung von Null auf wilden Streik („accountancy to lion taming“).

    Vielleicht wäre ein vernünftiger erster Schritt doch erstmal der Beitritt zur GEW (auch wenn die manchmal nervt) und dann ein ganz ordentlicher, amtlicher Streik in Tarifangelegenheiten. Schon seit Jahrzehnten gibt es den Gedanken, für befristet Beschäftigte eine tarifliche Risikozulage von 10% herauszuverhandeln, was verglichen mit Hochschulreform, Bologna-Ende und Umsturz der Wissenschaftsförderung ein ganz realistisches Ziel ist – und vermutlich die Zahl allzu obszöner Befristungen schon ein wenig reduzieren würde. Das einzige, was es dafür braucht: Hinreichend viele streikbereite Mitglieder an den Hochschulen. Ohne die lachen die TVL-VerhandlerInnen der Gegenseite unsere TarifunterhändlerInnen nur aus.

    Also: Unsere Kraft ist die Gewerkschaft. Ganz klassisch.

  • Immerhin gegen Ende

    Wer Mitglied einer DGB-Gewerkschaft ist – und trotz allem rät schon Immanuel Kant dazu –, wird es kennen: Zähneknirschen, wenn wieder mal ganz schlimm reaktionäre Äußerungen von DGB („für die Nation!“), IGM („für das Wachstum!“), BCE („Mehr Kohle!“) oder GdP („ohne Taser für uns seid ihr den Horden mit häufig wechselndem Aufenthaltsort ausgeliefert!“) durch die Öffentlichkeit gereicht werden – wobei die Auswahl nicht andeuten soll, andere Mitgliedsgewerkschaften seien ohne Schuld.

    Ich selbst bin in der GEW, und auch die treibt mir manchmal die Tränen in die Augen, so etwa schon beim Titel der Presseerklärung Solidarisch und verantwortungsbewusst prüfen vom vergangenen Dienstag.

    Da tun sich also GEW und fzs zusammen, um zentral an die Hochschulen zu appellieren,

    unter den derzeitigen Pandemiebedingungen grundsätzlich auf Präsenzprüfungen zu verzichten und stattdessen alternative Formate anzubieten.

    Der schwerste Anwurf folgt sogleich:

    Zu Beginn der Krise war es noch nachvollziehbar, doch dass ein Jahr später immer noch keine digitalen kompetenzorientierten Prüfkonzepte existieren [...] ist unverständlich und hochgradig gefährlich

    Bevor ich den letzten Absatz des Textes gelesen hatte, war ich entschlossen, einen wilden Verriss der Erklärung zu schreiben, doch immerhin fand ich dort, wenn auch recht verzagt, etwas, das in die richtige Richtung geht:

    Zukunftsorientierter wäre es, die Zahl der Prüfungen zu reduzieren [und was dann weiter kommt, tut schon wieder weh]

    Bei allem Verständnis für die Zwänge der wettbewerbs-infundierten Öffentlichkeit: Zumindest mit dieser zahmen Feststellung hätte die Erklärung anfangen müssen, und wenn es geht mit „Mindestforderung“ statt des wortklingeligen und inhaltsleeren „zukunftsorientierter“. Oder besser: „Es braucht Corona nicht, um den Bologna-Prozess als menschenfeindlichen Zirkus kenntlich zu machen, aber was normalerweise nur ärgerlich ist, bringt jetzt jedenfalls potenziell Oma um.“

    Nota bene: Auch das wäre eine zutiefst reformistische Position, verglichen mit dem eigentlich angesagten „Prüfungen sind insgesamt autoritärer Quatsch.“ Aber dass eine GEW sowas nicht sagen kann, erkenne ich gerne an; den sich an so eine Deklaration anschließenden Exodus der Lehrer_innen in den Beamtenbund will eingestandenermaßen niemand haben.

    Dennoch will ich hier ein wenig für eine wie ich glaube nicht-utopische, aber doch ansatzweise fortschrittliche Kritik an Bolognadingen argumentieren, die in etwa so aussieht: Die Prüfungsbulimie, bei der Studis Semester um Semester vor allem in Klausuren und ähnlich automatisierbaren, hust, Leistungskontrollen Punkte sammeln, bis sie ihren Abschluss haben, ist weder selbstverständlich noch sinnvoll. Der wirkliche Skandal ist, dass wir den Mumpitz in den 22 Jahren seit der Bologna-Erklärung vom – dies horribilis – 19.6.1999 nicht wenigstens haben erodieren können.

    Nicht selbstverständlich

    Überraschend viele Studis schütteln heute ungläubig den Kopf, wenn ich erwähne, dass ich in meinem ganzen Physikstudium nur vier abschlussrelevante Prüfungen hatte: Es gab vier mündliche Prüfungen zum Hauptdiplom. Dazu traten vier mündliche Prüfungen zum Vordiplom, aber die waren sozusagen zum Üben und spielten für die Abschlussnote keine Rolle. Keine einzige Klausur. Nicht eine. Im ganzen Studium. Und das war zwar im letzten Jahrtausend, ist aber noch keine 30 Jahre her.

    Im Vergleich dazu dürften inzwischen bis zum Master in Physik in Heidelberg um die 40 formale Prüfungen anfallen, von den in die Abschlussnote fließenden wöchentlichen Übungsblättern und Praktikumsgesprächen und Jodelwettbewerben ganz zu schweigen (eins davon habe ich erfunden).

    Das ist, so viel dürfte unstrittig sein, für Prüfende wie Geprüfte unschön. Dennoch wäre es vielleicht hinzunehmen, wenn daraus ein nennenswerter Nutzen entstünde. Jedoch: Weder anekdotisch noch vom Inhalt etwa von Abschlussarbeiten oder frühen Veröffentlichungen her gibt es auch nur den Hauch eines Hinweises, dass die Studis heute klüger (oder meinetwegen „kompetenter“) aus dem Studium rauskämen als damals.

    Wäre es also nicht vernünftiger, weit mehr der Zeit, die Lehrende und Lernende gemeinsam verbringen, für Vermittlung und Gespräch zuzulassen statt sie für tagelanges (bei den Lehrenden) und wochenlanges (bei den Lernenden) Bütteln, Betteln und Kontrollieren zu vergeuden?

    Ich sage nun nicht, dass das Diplom-System die Wucht in Tüten war. Klar, dass sich „das Schicksal [d.i. die Abschlussnote] in wenigen Stunden entscheidet“ ist auch Unfug, genauso wie schon die Grundidee, Leuten eine Zahl aufzudrücken, die ihre, ja was eigentlich, in diesem Fall vielleicht „Physizität“ (was immer das sein mag) bescheinigt. An dieser Idee hängt jedoch so viel, dass ihre Korrektur ein doch etwas größeres Projekt ist. Und so wärs doch schon mal ein Fortschritt, erstmal weniger zu prüfen und die Knute aufs letzte Vierteljahr des Studiums zu konzentrieren; immerhin ist dann dessen Rest deutlich freier.

    Im Übrigen stimmt bei einer halbwegs menschlichen Hochschulorganisation natürlich auch das mit den „entscheidenden Stunden“ nicht wirklich. Als jemand, der ein paar Dutzend Abschlussprüfungen abgenommen hat, kann ich versichern, dass zumindest an Läden, an denen die Lehrenden die tatsächlich studierenden Studis kennen, die Note einer mündlichen Prüfung in aller Regel eine Gesamtwürdigung der Person sein wird. Um das jetzt mal vorsichtig zu formulieren.

    Nicht sinnvoll

    Nun könnte mensch sagen: Andere Jobs stinken auch – sollen sich die Hochschullehrenden nicht so haben und halt die bescheuerte Prüferei machen. Die Studis haben eh nichts zu melden.

    Vielleicht. Aber es ist doch eine schreckliche Vergeudung von Lebenszeit und Kreativität, die Studis mit Dressur und Aufführung zu beschäftigen – und wiederum habe ich genug Klausuren selbst gestellt, um ein recht sicher sagen zu können: Mach eine Klausur, die nicht auf die Aufführung von Dressur rausläuft und du hast eine Durchfallquote, die du nicht haben willst.

    Dagegen hätte ich gewettet (und wie oben gesagt verloren), dass die notendruckbedingte Demontage der Übungsgruppen, die zumindest in Physik und Mathe letztlich Herz der Lehre waren, sich drastisch auf Habitus und meinethalben Kompetenzen der Studis in der Abschlussphase (da bekomme ich sie derzeit vor allem mit) hätte auswirken müssen. Vor Bologna konnten sich in solchen Übungsgruppen Studis, die Lust drauf hatten, ohne große Sorge um spätere Konsequenzen ausprobieren – und wer nicht wollte, hat halt abgeschrieben, was immerhin soziale Fertigkeiten trainierte.

    Nun hingegen, da jede Hausaufgabe sich irgendwo in der Abschlussnote wiederfindet, haben sich die Übungsgruppen zu bitterem Ernst gewandelt, Räume, in denen um jeden Punkt gefeilscht wird, denn er könnte ja den Unterschied zwischen 1.4 und 1.5 machen (oder was immer). Und das Gemeine ist: Das könnte er wirklich.

    Speziell dieser Aspekt von Bologna, die reale und permanente Drohung mit einer schlechten Abschlussnote, lässt sich mit noch so viel Open Book oder Take Home oder was immer nicht in Ordnung bringen, nicht mal durch die guten alten Hausarbeiten und Praktikumsgespräche. Solange die Abschlussnote zwischen Betreuer_in und Studi steht, ist die in der GEW-Erklärung beschworene „Solidarität“ nicht mal denkbar.

    Es wäre ein interessantes Forschungsprojekt, herauszufinden, warum hinreichend viele Studis aus diesem Prozess nicht als intellektuelle Regenwürmer – Schlucken, Klausur schreiben, hinter sich lassen – herauskommen, sondern doch ganz motiviert reizvolle Wissenschaft machen.

    Mir ewigem Optimisten scheint das ein starkes Zeichen für die Kraft von Wissenschaft zu sein: Es ist wahrscheinlich fast egal, wie der Kram vermittelt wird. Solange mensch den Leuten ein paar Bücher (in welcher konkreten Darreichung auch immer) in die Hand gibt und sie etwas Zeit mit ihnen verbringen lässt, solange mensch sie die Faszination empfinden lässt, durch Modelle und Theorien korrekt Verhalten von Menschen, Natur oder (inzwischen noch aufregender) Rechnern vorherzusagen oder wenigstens zu verstehen, finden sie schon ihren Weg.

    Warum dann?

    Nach diesen Beobachtungen stellt sich die Frage recht dringend, wie es überhaupt zu diesem komplett dysfunktionalen System kam. Im speziellen Fall von Bologna wäre es eine lange Geschichte, in der die Beteiligten – Profen, Bildungsminister, Bertelsmänner und leider auch Teile der GEW – ihre diversen Süppchen gegen die jeweils anderen kochen wollten. Niemand wollte die anderen in den eigenen Topf gucken lassen, und als endlich alle gemerkt hatten, dass alle anderen auch nur vor leeren Töpfen standen, könnte das auch niemand mehr zugeben.

    Es gibt aber ein viel allgemeineres Muster, auf das es mir hier ankommt: Die autoritäre Versuchung. Da ist ein Problem in einer Hierarchie, hier so in etwa „Meine Studis sind faul und hören mir nicht zu”. Eine Umgangsweise wäre, sich zu fragen, warum die Studis kein Interesse – oder hilfsweise Einsichten in Notwendigkeiten – haben und zu versuchen, Interesse oder Einsicht zu wecken. Das klingt gut und ist, davon bin ich überzeugt, auch gut.

    Aber dazu muss in der Hierarchie auf Augenhöhe geredet werden, und mensch entdeckt gerne auch eigene Fehler, eigene Faulheiten. Das ist für die Leute oben in der Hierarchie nicht sehr schön, was wiederum für die Popularität der Alternative sorgt: Der Ausübung von Zwang, sei es durch Drohung mit Noten, sei es durch Drohung mit Gewalt (was jetzt an der Uni schon sehr rar, im Strafrecht oder zwischen Staaten aber die Regel ist).

    Prüfungen sind aus dieser Perspektive nichts weiter als der Versuch, Aushandlung und auch Didaktik durch Zwang zu ersetzen – daran mag manches „digital“ (hmpf: Digitalisierung) sein, solidarisch ist jedenfalls nichts, und für eine Gewerkschaft gehören sich solche Methoden eigentlich auch nicht.

    Aber die Armen?

    Wenn ich Menschen – vor allem solche aus gewerkschaftsnahen Kreisen – in Diskussionen dazu gebracht habe, so viel zu konzedieren, kommt ziemlich verlässlich der Einwand, die Verschulung durch Bologna sei ja für Oberschicht-Kids vielleicht ärgerlich, für Leute aus „bildungsfernen Schichten“ hingegen ganz wichtig. Die hätten nie gelernt, selbstgesteuert Wissen zu erwerben, ihre Zeit zu managen, aus eigener Neugier zu handeln. Ohne Druck verkämen die vor der Playstation, und sie kämen spätestens …

  • Engelszüngeln?

    Über 20 Jahre nach dem ersten Blog – und ja, ich bin alt genug, um mich an die frühen Zeiten von slashdot zu erinnern – fange ich jetzt (vielleicht) ein Blog an. Warum?

    Nun, ich kann von mir behaupten, gebloggt zu haben, bevor es den Begriff gab. Ende 1996 habe ich angefangen, den UNiMUT aktuell zu schreiben, der ziemlich genau dem späteren Blog-Begriff entsprach: Artikel, die, na ja, online geboren wurden und in der Tat schon damals in ein Web-Form eingegeben wurden: Wow, ich habe ein CMS geschrieben! Das Ding hat im Laufe der Jahre viele tolle Features bekommen, von eingebauten Abkürzungserklärungen bis zu Backlinks, wie z.B. in meinem all-time-Lieblingsartikel Ideologieproduktion in der Prüfungsordnung oder in einem, wie ich ohne jede Bescheidenheit behaupte, hellsichtigen und vielzitierten Beitag zur Bologna-Katastrophe mit dem visionären Titel Attenti a la Rossa (2002) jeweils unten zu sehen ist.

    Kurz: Bis 2006 hatte ich so ein Spielfeld, in dem ich mich austoben konnte. Warum ich das dann gelassen habe, gehört in einen anderen Post. Aber ich mir aber seitdem öfter mal gewünscht, wieder einen Platz für Rants zu haben, zumal solche, die nicht recht auf datenschmutz passen.

    Beispiele dafür hoffe ich, in den nächsten Wochen dann und wann zu posten.

    Mal sehen.

    Derweil, Gedanke des Tages: In der taz von heute steht, dass Nico Semsrott aus der PARTEI ausgetreten ist (oder austreten will), weil Martin Sonneborn ein T-Shirt mit „Au Widelsehen, Amelika“ getragen hatte und auf die Kritik offenbar unpassend reagiert hat. Auch das war eine Erinnerung an meine Zeiten beim UNiMUT, denn 1994 habe ich für einen ziemlich ähnlichen Witz auch ordentlich Kritik eingefangen: Ein Artikel über die Verleihung eines „Landeslehrpreises“ bediente die gleichen Klischees. Wer den Artikel liest, mag verstehen, wie wir damals darauf gekommen sind. Und nun überlege ich, ob ich mit dem „der Kritiker, der meinte, UNiMUT könne ohne tendenziell diskriminierende Aufmacher auskommen, hat natürlich recht“ aus der nächsten Ausgabe zu recht davongekommen bin...

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