Weil ich wartungsarme Technik schätze, war in allen meinen Fahrrädern eine Schaltnabe verbaut, zunächst ein Sachs-Dreigang, dann über einige Jahrzehnte hinweg die Zweizug-Fünfgang-Nabe des gleichen Herstellers (dämlicherweise „Pentasport“ genannt), zumal bei denen mit damals noch reichlich verfügbaren Ersatzteilen aus Torpedo-Naben (das war der auch nicht allzu erfreuliche Handelsname der Dreigang-Teile) oft noch einiges zu retten war.
Vor sechs Jahren, im November 2017, bin ich dann auf eine Acht-Gang-Nabe von Shimano („Nexus“) umgestiegen, insbesondere, weil die Ersatzteilversorgung für die Sachs-Naben kritisch wurde und ich das Elend mit SRAM nicht mehr ansehen wollte – SRAM hatte zwischenzeitlich die Sachs-Nabenfertigung übernommen und nach einhelliger Meinung hingerichtet. Ich hatte dabei die naive Hoffnung, mit einer fabrikneuen Nabe könnte das werden wie bei meinem SON-Nabendynamo: Montieren und vergessen; beim SON hat das seit 2007 gut geklappt, das Teil ist wirklich beeindruckend wartungsfrei.
Der Fußabdruck von YOLO
Meine Nexus hingegen hat während der letzten paar Monate immer unangenehmere Geräusche – ich möchte fast von distress signals sprechen – von sich gegeben. Ich war hin- und hergerissen zwischen „Nachschauen und dann ärgern, weil du keine Ersatzteile kriegst“ und YOLO. YOLO hat gewonnen, wodurch das Knacken und Gangverlieren immer schlimmer wurde. Letzte Woche war es dann endgültig nicht mehr tragbar, weshalb ich gestern ein neues Laufrad montiert habe. Der Wechsel des ganzen Laufrads statt nur der Nabe lag nahe, weil auch die Felge schon ziemlich runter war[1] – aber klar: ich war durchaus auch dankbar, dass ich mir die Umspeicherei sparen konnte.
Ich verspreche, vom Postmortem der alten Nabe zu berichten, wenn es soweit ist. Jetzt hingegen ist das eine gute Gelegenheit, meine größte Kritik am hier schon oft zitierten Fußabdruck-Standardwerk How Bad Are Bananas von Mike Berners-Lee loszuwerden. Zum Thema des CO₂-Fußabdrucks einer Fahrradmeile heißt es in der US-Ausgabe nämlich:
Cycling a mile
65 g CO2e powered by bananas
90 g CO2e powered by cereals with milk
200 g CO2e powered by bacon
260 g CO2e powered by cheeseburgers
2,800 g CO2e powered by air-freighted asparagus
> If your cycling calories come from cheeseburgers, the emissions per mile are about the same as two people driving an efficient car.
Auch wenn ich nichts einzuwenden habe gegen die Demo, wie CO₂-relevant vernünftiges (also pflanzliches, saisonales und eher regionales) Essen ist, gehört die ganze Abschätzung deutlich zu den zweifelhafteren des Buches. Zunächst rechnet Berners-Lee schon mal „50 calories per mile“[2]. Gemeint sind natürlich Kilokalorien, so dass das (mit ungefähr 4 Kilojoule auf die kcal und 1.6 Kilometern auf die Meile) in ordentlichen Einheiten 125 kJ auf den Kilometer sind.
Gegenrechnung: AlltagsradlerInnen leisten, wenn sie sich anstrengen, etwa 100 Watt und fahren dabei einen Kilometer in, sagen wir, 150 Sekunden. Die mechanische Arbeit, die sie über diesen Kilometer leisten, beläuft sich also auf rund 15 kJ (ich würde auch alles zwischen 5 und 30 glauben). Um auf die Fußabdruck-relevante Eingangsenergie zu kommen, muss das noch durch den Wirkungsgrad geteilt werden. Es ist nicht ganz einfach, das für den menschlichen Organismus anzugeben oder auch nur sinnvoll zu definieren[3], aber viel weniger als ein Drittel sollte bei keiner sinnvollen Methodik rauskommen. Damit würde ich gegen Berners-Lees 125 kJ/km eher 50 kJ/km setzen.
„Equipment“ fürs Radfahren?
Natürlich hängt diese Größe stark von Wind und Steigung ab und ein wenig von Reifendruck, Getriebe und so fort. Außerdem streite ich in solchen Fragen nie über einen Faktor zwei. Dennoch würde ich die Emissionen aus dem Essen bei Berners-Lee wegen „braucht weniger“ gleich mal mindestens halbieren[4].
Aber das ist ohnehin nicht mein wirkliches Problem mit seinen Abschätzungen. Das nämlich ist das hier:
All my figures include 50 g per mile to take into account the emissions that are embedded in the bike itself and all the equipment that is required to ride it safely.
Im Klartext: bis zu 70% der veranschlagten Emissionen beim vegetarischen Betrieb sind bei Berners-Lee Fahrradherstellung und „Equipment“. Das „safely“ lässt schon Böses ahnen, und in der Tat ist in einer Fußnote zu „safely“ zu lesen:
In our input–output model of the greenhouse gas footprint of U.K. industries (for the chapter entitled “Under 10 grams”), sports goods typically have a carbon intensity of around 250 g per pound’s worth of goods at retail prices. If we make the very broad assumption that cycling goods are typical of this, and if we say that Her Majesty’s Revenue and Customs (HMRC) is being roughly fair to reimburse you at 20p (31 cents) per mile for business travel on a bike, then we would need to add about 50 g CO2e per mile to take account of the wear and tear on your bike, your waterproof gear, lights, helmet, and so on.
Zum Thema „safely“ und „helmet“ verweise ich auf meine Ausführungen von vor einem Jahr, und das Licht gehört nun wirklich zu einem vernünftigen Fahrrad und braucht daher keine separate Betrachtung. Aber entscheidender: Berners-Lee will hier etwas wie einen Euro alle vier Kilometer für Fahrrad und Ausrüstung ausgeben (zur Frage, was das mit CO₂ zu tun hat, vgl. diese Fußnote von neulich). Wenn ich konservativ annehme, dass ich 4000 Kilometer im Jahr fahre, müsste ich demnach rund 1000 Euro im Jahr für Fahrradkram ausgeben.
Das ist rund eine Größenordnung daneben; mit dem neuen Hinterrad werden es in diesem Jahr zwar fast 300 Euro werden, aber die letzte Nabe hat doch immerhin sechs Jahre gehalten. Und vielleicht lerne ich aus dem Postmortem der alten Nabe genug, um die neue etwas länger am Laufen zu halten. Klar, wenn ihr regelmäßig neue Räder, Wurstpellen-Klamotten und Spezialschuhe kauft, wird Berners-Lees Rechnung gleich viel plausibler – aber das hat mit Fahrradfahren nicht mehr viel zu tun; das ist dann Sport.
Für vernünftige AlltagsradlerInnen, die logischerweise Alltagsklamotten tragen und ihre Räder überschaubar warten (meines habe ich jetzt schon 22 Jahre unterm Hintern), würde ich die 30 g CO₂e auf den Kilometer von Berners-Lee aus Produktion und Zubehör eher so auf 5 g korrigieren wollen. Mit ebenfalls entsprechend korrigierten 10 g aus dem Essen wären wir dann bei 15 g/km – wobei ich keine Sekunde bestreite, dass Radeln als Sport eher bei den 100 g/km liegen könnte, die Berners-Lee veranschlagt.
(Kaum) mehr als ein Epsilon
Einzuräumen bleibt, dass die ganze Betrachtung ziemlich irrelevant ist für den CO₂-Fußabdruck eines Durchschnittsmenschen in der BRD: In Wahrheit habe ich mich vor allem über Berners-Lees Präsupposition geärgert, mensch brauche „Ausrüstung“ zum Fahrradfahren (mal vom Fahrrad abgesehen). Jedenfalls: Wer 4000 km fährt, wird mit meiner Schätzung in einem Jahr 60 kg CO₂e verursachen, mit Berners-Lee dann halt 400 kg. Beides verschwindet praktisch vollständig in den 8 Tonnen pro Jahr, die wir in der BRD gegenwärtig pro Kopf so zu bieten haben.
Ob das ein starkes Argument ist, sich nicht um den Fußabdruck des Fahrrads zu kümmern, ist wieder eine andere Frage, denn für BewohnerInnen der Zentralafrikanischen Republik wäre selbst meine niedrige Schätzung mehr als eine Verdoppelung ihres Fußabdrucks, wenn die im Menschenstoffwechsel-Post zitierten Daten von Our World in Data irgendwie hinkommen sollten.
Und deshalb: Liebt euer Fahrrad! Repariert es und recycelt dabei alte Bauteile. Schande über meine Faulheit bei der neuen Nexus, ihren Speichen und ihrer Felge.
Kommentar 1 am 2023-09-07
Wer den Odenwald nicht als ordentliches Mittelgebirge (im Gegensatz zu Gehügel) zu würdigen weiß, braucht von meiner Seite keine Empathie für abrauchende Naben erwarten.
Außerdem: https://de.wikipedia.org/wiki/Berg
[1] | Wenn sich wer über runtergefahrene Felgen bei einer Rücktrittnabe wundert: Da ich doch ziemlich viel in den Bergen (also, na ja, im Odenwald halt, will sagen eher so zwischen 100 und 600 Metern) unterwegs bin, habe ich auch ans Hinterrad eine Felgenbremse gebastelt, damit mir die Rücktrittbremse bei längeren Abfahrten nicht abraucht. |
[2] | Ich verleihe hiermit feierlich den König Æþelbyrht-Preis für grässliche Alltags-Einheiten an „Kalorien pro Meile“. |
[3] | Vgl. dazu diese Fußnote. |
[4] | Warum das im Rahmen des menschlichen Stoffwechsels emittierte CO₂ nicht zählt, habe ich im November 2022 diskutiert. Es geht also wirklich nur um den Fußabdruck bei der Produktion der Nahrungsmittel, aus denen die 50 kJ kommen. |