Tag Überwachung

  • Lesetipp: Der Grundrechte-Report 2024

    Ein Buch liegt auf einem Tischchen eines Regionalzugs: „Grundrechte-Report“ in Rot, „2024“ in Schwarz, auf weißem Grund mit einem Foto einer Aktion zur Verteidigung des Asylrechts.

    1a Reiselektüre: Der Grundrechte-Report 2024 zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland, herausgegeben von Peter von Auer und anderen, Fischer 2024.

    Jedes Jahr veröffentlicht eine breite Koalition von in der BRD aktiven Menschenrechtsorganisationen den Grundrechte-Report. Er enthält, numerisch sortiert nach den betroffenen Artikeln des Grundgesetzes, wahre Geschichten zu aktuellen Angriffen auf Grundrechte. In diesem Jahr wurden das 44 Kurz-Essays, die eigentlich alle dokumentieren, wie wenig die <hust> Verteidigung der Freiheit mit Waffen und Militär – oder, wie in der Erzählung von der „wehrhaften Demokratie“, mit Geheimdienst und Polizei – zu tun hat und wie viel mit der alltäglichen Wachsamkeit von ZivilistInnen. Jahr um Jahr belegt der Grundrechte-Report aber auch, wie alle Staatsgewalt (sowie ihre nähere Umgebung) ständig der autoritären Versuchung ausgesetzt ist, und wie sie ihr nur zu oft nachgibt.

    Für meinen Geschmack deutlich zu staatstragend, aber doch hinreichend antiautoritär und im Bewusstsein defizitärer Realität bringt das Friedrich Zillessen in seiner im 2024er Report enthaltenen Abschätzung der Folgen von relativen AfD-Mehrheiten in diversen Legisla- und Exekutiven auf den Punkt:

    Eine tatsächlich »wehrhafte« Demokratie ist vor allem eine vorbereitete Demokratie mit einer informierten Zivilgesellschaft und demokratischen Parteien, die einen autoritär-populistischen Zug erkennen, wenn er gemacht wird.

    Wehrhaft durch Folter

    Wie das „wehrhaft“ demgegenüber in der berüchtigten Verfassungswirklichkeit aussieht, diskutieren Hannah Espin Grau und Tobias Singelnstein im Report am Beispiel von polizeilichen Schmerzgriffen. Anwendung und Androhung dieser, so die beiden eher zurückhaltend, können

    im Einzelfall […] eine unmenschliche Behandlung darstellen und damit gegen das Folterverbot aus Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen.

    Wenn, wie im Report dargestellt, ein Polizist knurrt, sein Opfer werde „die nächsten Tage, nicht nur heute, Schmerzen beim Kauen und beim Schlucken haben“, wenn er mit seinem Griff fertig sei, ist in so einer Aussage jede Modalität, jede Einzelfallabwägung fehl am Platz.

    Neu ist das indes nicht; in meinem engeren politischen Umfeld empörte mich schon vor rund 20 Jahren, wie eine Handvoll PolizistInnen eine schmerzhafte Fesselung anwandte, um einen Freund zur Kooperation bei der Abnahme von Fingerabdrücken zu zwingen.

    Empörender noch als der eigentliche, für polizeierfahrene Menschen nicht sehr überraschende Vorgang war die nonchalante Selbstverständlichkeit, mit der die Polizei diese klare Folter im – gerichtsoffiziellen! – eigenen Bericht eingestanden hat. Die BeamtInnen zeigten sich darin sogar erstaunt, dass auch nach weiterem Anziehen der Fesselung, das „erfahrungsgemäß“ ausgesprochen schmerzhaft sei, keine Kooperationsbereitschaft zu erkennen gewesen sei.

    Hintergrund der Nonchalance ist, so erläutern Espin Grau und Singelnstein, die Behauptung der deutschen Polizei, nicht vom Folterverbot erfasst zu sein, da dieses für Bagatellfolter – unterhalb eines „minimum level of severety“, so die europäische Menschenrechtskonvention – nicht greife. Bagatellfolter ist eingestandenermaßen mein Wort, und ich wünschte, ich hätte es nicht erfinden müssen.

    Sechs von sechs Versuchen verfassungswidrig

    Zu solch zweifelhaften Rechtskonstrukten tritt ein entschiedener Wille der Parlamente oder jedenfalls der die Mehrheitsfraktionen kontrollierenden Regierungen, autoritäre Herrschaftsmittel wie Bagatellfolter – oder Vorratsdatenspeicherung, oder Ewigkeitsgewahrsam, zu dem sich auch ein Beitrag findet im Grundrechte-Report – zu legalisieren oder vielleicht besser: zu verrechtlichen. Zu diagnostizieren bleibt die Bereitschaft „der Politik“, den Erzählungen und Forderungen der reaktionären Polizeimehrheit so weitgehend zu folgen wie Zivilgesellschaft und (fortschrittliche Teile der) Justiz sie jeweils lassen.

    Ein besonders groteskes Beispiel für die Unfähigkeit des Bundestags, menschenrechtliche Maßstäbe an seine Gesetzgebung anzulegen, erwähnen Kalle Hümpfner und Tuuli Reiss eher nebenbei in ihrem Beitrag zum – was für eine Bezeichnung! – Transsexuellengesetz. Schon dessen Erlass im Jahr 1980 war der Legislative nur durch Dauernörgeln der Judikative und jede Menge zivilgesellschaftlichen Druck abzuringen. Es gibt aber sicher keine freundliche Erklärung dafür, dass seine Iterationen seit 1981 atemberaubende sechs Mal vorm BVerfG scheiterten; angesichts der Verfahrensdauern bis zum BVerfG ist davon auszugehen, dass gegen das Transsexuellengesetz immer mindestens eine (später) erfolgreiche Verfassungsbeschwerde lief und dass der Bundestag nie einen glaubhaften Versuch gemacht hat, ein menschenrechtskonformes Gesetz zu schreiben.

    Klar, ein Mal mag mensch, gerade in einem in der Mehrheitsgesellschaft so tabubesetzten Thema wie Queers, danebengreifen; Menschenrechte sind zwar eigentlich einfach, aber im Machtkalkül leicht zu übersehen. Zwei Mal übergreifen, na ja. Aber wer ein Gesetz sechs Mal so schreibt, dass das Verfassungsgericht eingreifen muss, macht das mit Absicht und entscheidet sich offensichtlich bewusst für (in diesem Fall) Ressentiment und gegen Menschenrechte.

    Amazon. Menschenrechte?

    Auf eine ganz eigene Art bedrückend ist der Beitrag von Andreas Engelmann über Beschäftigtendatenschutz. Diese Geschichte beginnt, als die niedersächsische Datenschutz-Aufsichtsbehörde Amazon untersagt, die Handlungen seiner MitarbeiterInnen engmaschigst zu analysieren. Krass ist, wie ehrlich die Amazon-Manager bei der Angabe ihrer Motivlage sind. Sie wollen „produktivere Arbeitskräfte […] zielgenau einsetzen“, die Daten für „Feedbackgespräche“ nutzen und dabei vor allem die „produktivsten und unproduktivsten Mitarbeitenden“ ansprechen, etwa durch „Qualifizierungsangebote“.

    Das ist eine so dystopische Horrorshow, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, welche SchurkInnen sich das ausgedacht, wer die Software dafür geschrieben hat. Aber siehe da, das VG Hannover hat das ja nun wirklich völlig offensichtlich gebotene Verbot der Datenverarbeitung durch die LfDI aufgehoben; die Verarbeitung, also der schwerwiegende Eingriff in die Grundrechte der Beschäftigten, sei notwendig, um Amazons Liefergarantien einhalten zu können. Engelmann kritisiert die Entscheidung mit den schönen und eigentlich hoffnungsfrohen Worten:

    Renditeerwartungen unterliegen, anders als die Persönlichkeitsrechte, keinem grundrechtlichen Schutz.

    Immer weniger Recht auf Versammlung

    Beim linearen Lesen erstaunlich fand ich, dass in Clemens Arzts Übersicht über behördliche Angriffe auf das Versammlungsrecht durch Allgemeinverfügungen – diese leugnen Artikel 8 des Grundgesetzes gleich komplett und untersagen Versammlungen vollständig – zwar Corona, letzte Generation und Pali-Soli erwähnt sind, nicht jedoch der „Tag X“ in Leipzig (3.6.2023), also die Kundgebungen gegen das Skandalurteil im Antifa-Ost-Verfahren („Lina E.“).

    Dabei hatte das Gericht nicht nur in einem eklatant politischen Urteil eine Beschuldigte für absurde fünf Jahre in den Knast geschickt. Nein, im Anschluss hat die Justiz auch noch munter tagelang alle Kundgebungen zum Thema untersagt und eine in der Folge angemeldete Kundgebung gegen diesen atemberaubenden Verfassungsbruch von der Polizei unterdrücken lassen. Hunderte Menschen verbrachten eine sehr unangenehme Nacht in einem Polizeikessel. Wer unklug genug war, ein Mobiltelefon mit auf die Demo zu nehmen, war das dann auch los. Häufig liegen die Dinger bis heute bei der Polizei, die versucht, aus ihnen Daten rauszukramen – oder doch jedenfalls ihre BesitzerInnen zu ärgern.

    Diese fast schon provokativ zur Schau gestellte Missachtung der Menschenrechte hat indes ganz zu Recht einen eigenen Beitrag im Report. Wer ergänzend zu Peer Stolles Abhandlung über diese „Verselbstständigung polizeilicher Repression“ etwas mehr lesen will, findet in der Zeitung der Roten Hilfe 1/2024 zwei einschlägige Artikel (S. 28ff).

    Sollte jemand glauben, pauschale Demonstrationsverbote nach chinesischem Vorbild – und mögen sie auch als „Allgemeinverfügung“ technokratisch einen liberalen Mantel erhalten – würden wenigstens durch eine im Vergleich zu Beijing rechtsstaatlich gezähmte Polizei grundrechtsschonend durchgesetzt, kann sich in Tina Kellers Beitrag über die Räumung von Lützerath eines Schlechteren belehren lassen:

    Es wurde immer an mehreren Orten im Gelände gleichzeitig geräumt, und es wurden Menschen mit Hebebühnen aus Bäumen oder Hochsitzen geholt, während direkt daneben übereilt mit schwerem Gerät Häuser abgerissen oder Bäume gefällt wurden [beachtet die freundlichen Passivkonstruktionen!] Dies hatte zur Folge, dass […] mehrfach Geäst beinahe in Seile fiel, an denen noch Menschen gesichert waren. […]

    Zahlreiche Demonstrierende erlitten Verletzungen – auffällig dabei war die Häufigkeit von Verletzungen im Kopfbereich, was auf gezielte Schläge der Polizei schließen lässt.

    Und nein, das war gewiss nicht wegen schlechter Laune nach dem gelungenen Auftritt des Schlammpriesters:

    (Rechte: Keine Ahnung, also eher nicht CC0 wie hier sonst üblich)

    Kein Verlass auf Gerichte

    Ich habe damit aufgemacht, dass es bestimmt nicht das Militär ist, das unsere Grundrechte – und mithin das, was dem großen Wort „Freiheit“ irgendeinen nachvollziehbaren Inhalt verleiht – verteidigt. Der Grundrechte-Report zeigt, dass diesen Job weiter im Wesentlichen nie Parlamente machen und leider oft genug auch nicht Gerichte.

    Im Grundrechts-Report stellt Benjamin Derin in einem Lamento über das Ewigkeitsgewahrsam – das BVerfG hat schon 2004 zwei Wochen grundloses Einsperren abgesegnet, seine bayrischen KollegInnen fanden inzwischen auch unbegrenztes Wegsperren Unschuldiger mit ein paar Klimmzügen vertretbar – klar:

    Die Hoffnung auf höchstgerichtliche Begrenzungen präventiver Gewahrsamsregelungen …
  • Tatort und Menschenrechte

    Ich bekenne, regelmäßiger Tatort-Konsument zu sein und rechtfertige das gerne mit einem Interesse an der Öffentlichkeitsarbeit der Polizei, auch wenn die Danksagungen an diverse Polizeien in den Abspannen seltener geworden sind (oder jedenfalls scheint mir das so). Aber lasst mir mal die Annahme, dass bei den Drehbüchern polizeiliche PressesprecherInnen dann und wann mitreden.

    Mit dieser Annahme verblüfft mich, in welchem Maße die Filme zu einer Demo für Überwachungstechnologie verkommen sind. Seht euch mal im Vergleich irgendeinen alten Derrick an, oder wegen mir auch einen Felmy-Tatort aus den 70ern: Nicht, dass die plausibler oder näher an der damaligen Realität gewesen sein werden, aber das äußerste, was dort an Technik aufscheint, ist vielleicht ein mal ein Fingerabdruck, und wenns ganz scary werden soll, ein Nachschlagen in einer Straftäterdatei über ein grün flimmerndes Terminal. Ansonsten: Verhöre, Zeugengespräche, ernst guckende Beamte in braunen Anzügen.

    Filmszene: ein eine gelbe Spur auf einem Stadtplan

    Aus dem Tatort „Dreams“ vom letzten Sonntag: die Ermittler diskutieren ein in der Erzählung retrograd (nämlich etwas wie drei Tage nach der mutmaßlichen Tat) abgerufenes „Bewegungsprofil“ einer Verdächtigen. Wie sich Tatort-AutorInnen das halt so vorstellen. Und vielleicht auch die Münchner Polizei? (Bildrechte bei der ARD)

    Natürlich ist in der Zwischenzeit auch der reale Polizeialltag deutlich techniklastiger geworden, und das muss ein Fernsehkrimi nicht unbedingt ignorieren. Aber: Im Wesentlichen jeden Fall um DNA-Abgleiche oder -Analysen, Telefon-Verbindungs- und Standortdaten, haufenweise Videodaten (übrigens: im Hinblick auf private Kameras hat das erst seit 2017 überhaupt eine Rechtsgrundlage in der StPO), mehr oder weniger legale Zugriffe auf allerlei weiteren Computerkram (den nächsten Tatort, in dem die Kommissäre scharfsinnig Passwörter raten, schalte ich ab) und etliche weitere forensische Methoden aus der dystopischen Zukunft herumzustricken, das reflektiert sicher keine Realität. Das kann ich schon allein in Kenntnis aktueller Klageschriften und den in (wenn auch vor allem politischen) Verfahren tatsächlich verwendeten Beweismitteln zuversichtlich sagen.

    Vor allem verblüfft dabei, was für völlig bürgerrechtsfeindliche Vorstellungen der durchschnittliche Tatort inzwischen transportiert. Da hängen überall aufzeichnende Kameras rum, die auch noch fröhlich öffentliche Räume abbilden[1] , da reicht ein Blick in den Computer für eine halbwegs vollständige Biographe offenbar beliebiger Personen, und dann gibts den ganzen Mythos rund um das, worum es bei der Vorratsdatenspeicherung wirklich geht.

    Der Screenshot oben aus dem Tatort vom Sonntag ist ein besonderes absurdes Beispiel. Da haben die Ermittler ein „Bewegungsprofil“ bestellt – wo genau, bleibt unklar – und bekommen dann tatsächlich etwas, das die Qualität eines GPS-Tracks hat. Das ist glücklicherweise Unfug. Noch nicht mal bei einem Live-Abruf von Standortdaten nach §100i StPO kämen Geodaten dieser Sorte heraus; im GSM-Netz schon gar nicht, und selbst mit LTE und 5G sind Zellen mindestens einige Hektar groß und eine Triangulation – so sie überhaupt gemacht wird – ist in der Stadt Glückssache. Klar, mit einem GPS-Tracker (für den gibt es, im Gegensatz zum Zugriff auf die GPS-Daten des Mobiltelefons außerhalb der „Online-Durchsuchung“, eine Rechtsgrundlage) ginge das, aber den gab es am Auto der Verdächtigen in dieser Geschichte nicht.

    Im Nachhinein, also wie in diesem Fall sagen wir nach drei Tagen, kann die Polizei allenfalls auf Verkehrsdaten nach §96 TKG hoffen. Da sind zwar auch Standortdaten dabei, aber eben nur zu „Beginn und […] Ende der jeweiligen Verbindung“ – die Herstellung einer solchen Verbindung war Zweck der „Ortungspulse“ der stillen SMS. Nun ist das mit der „Verbindung“ im Zeitalter von paketvermittelten Diensten ein etwas schwieriger Begriff, und ich gestehe, auch nicht aus erster Hand zu wissen, wie das in der Praxis interpretiert wird. Klar ist aber, dass nicht alle paar Sekunden so ein §96 TKG-Record entsteht, um so mehr, als die der Norm zugrundeliegende Vorratsdatenspeicherung ja ausgesetzt ist[2].

    Also: Warum erfinden die Tatort-AutorInnen eine Aluhut-Welt und warum rät ihnen die Polizei nicht davon ab, rechnend, dass die ZuschauerInnen es gruselig finden könnten, wenn die Polizei auf Knopfdruck noch nach Wochen ihre Wege so genau nachvollziehen könnte? Und wie ist das mit den ZuschauerInnen selbst? Haben die inzwischen so viel Angst, dass sie in der Breite so eine dystopische Vision als „na ja, wenns der Sicherheit dient“ gerne ansehen?

    Sachdienliche Hinweise werden bei der Kontaktadresse dankbar angenommen.

    [1]In jedem zweiten Fall wird das Videomaterial dann auch noch hochgezoomt, als wäre es die slippy map auf osm.org. Ich glaube, diese Albernheit hat sich inzwischen zu einem Meme entwickelt. Läuft das unter dem Label „Navy CIS”?
    [2]Die Frage von oben, „wo genau“ die Polizei das „Bewegungsprofil“ her hat, könnte hier interessant werden, denn es ist vorstellbar, dass Google bei hinreichend unvorsichtig konfigurierten Telefonen Daten dieser Genauigkeit vorhält. Wenn das so ist, wäre es wirklich spannend, Statistiken über den staatlichen Zugriff auf diese Bestände zu bekommen. Ich sollte dazu mal sorgfältig https://lumendatabase.org (so heißen die chilling effects von einst inzwischen) lesen.
  • Worse is manchmal better

    TL;DR: Radikalität ist wichtig, aber Freundlichkeit ist wichtiger.

    Seit einiger Zeit blättere ich öfter mal in Shoshana Zuboffs Age of Surveillence Capitalism und finde es immer wieder nützlich und gleichzeitig verkehrt. Dazu will ich etwas mehr schreiben, wenn ich es ganz gelesen habe, aber jetzt gerade hat mich ihr Generalangriff auf den Behaviorismus – auch der gleichzeitig richtig und falsch – wieder an einen Gedanken aus Bertrand Russells A History of Western Philosophy erinnert, der mich immer wieder beschäftigt – und den ich sehr profund finde. Im Groben: „In politischen Theorien ist Menschlichkeit wichtiger als Stringenz”. Oder: das „worse is better“ der Unix-Philosophie, das mensch trefflich kritisieren kann, ist zumindest fürs politische Denken in der Regel angemessen.

    Was ist eigentlich eine Menge?

    Foto eines Computers

    Gegenstück zu worse is better: Eine LISP-Maschine im MIT-Museum.

    Dabei konnte Russell beeindruckend stringent denken, etwa auf den paar hundert Seiten, die er in den Principia Mathematica füllte, um sich der Richtigkeit von 1+1=2 zu versichern.

    Oder auch in der Russell'schen Antinomie, die ich in meinen Einführungsvorlesungen in die formalen Grundlagen der Linguisitk immer zur Warnung vor der naiven Mengendefinition – eine Menge sei ein Haufen von „Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens“ – gebracht habe. Wäre diese Definition nämlich ok, müsste es auch die Menge aller Mengen geben, die sich nicht selbst enthalten. Nennen wir sie mal Ξ (ich finde, das große Xi ist in Mathematik und Physik deutlich unterverwendet). Die wesentliche Frage, die mensch einer Menge stellen kann ist: Ist irgendwas in dir drin, also: „x ∈ Ξ“?

    Und damit kommt Russells geniale Frage: Ist Ξ ∈ Ξ oder nicht? Schauen wir mal:

    • Wenn Ξ ∈ Ξ gälte, enthält Ξ sich selbst, ist also nicht in der Mengen aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten, entgegen der Annahme in diesem Spiegelstrich.
    • Ist aber Ξ ∉ Ξ, so enthält sich Ξ nicht selbst, wäre es also in der Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten und müsste sich also selbst enthalten. Passt wieder nicht.

    Brilliant, oder? Die Lösung dieser „Russell'schen Antinomie“ ist übrigens, sich bei der Definition von „Menge“ etwas mehr Mühe zu geben.

    Wer das nachvollzogen hat, wird wohl die Weisheit von Russells Entscheidung erkennen, nach den Principia Mathematica eher konventionelle Philosophie zu betreiben. In diesem Rahmen hat er 1945 seine überaus lesbare Darstellung der „westlichen“ Philosophie veröffentlicht, in der er sich deutlich als Fan von John Locke outet, den „apostle of the Revolution of 1688, the most moderate and the most successful of all revolutions“, erfolgreichst, denn „no subsequent revolution has hitherto been found necessary in England.“ Über das „found necessary“ könnte mensch angesichts des Elends, das noch in den Werken von George Orwell – geschrieben, während Russell in den 1940ern an seiner History arbeitete – deutlich wird, sicher streiten, aber vielleicht ist das durch „most moderate“ noch hinreichend abgedeckt.

    Vernünftig vs. Widerspruchsfrei in der politischen Doktrin

    Viel wichtiger ist mir aber Russells Beobachtung: „Pragmatically, the theory was useful, however mistaken it may have been theoretically. This is typical of Locke's doctrines.“ Etwas später sagt er: „No one has yet succeeded in inventing a philosophy at once credible and self-consistent. Locke aimed at credibility, and achieved it at the expense of consistency. Most of the great philosophers have done the opposite.“

    Also in etwa: in der Philosophie – und da würde ich etwas hinter Russell zurückgehen wollen und sagen: Politik und Soziologie – gibt es nicht gleichzeitig „glaubwürdig“ (sagen wir lieber: menschlich) und widerspruchsfrei. Ich glaube, Russell kam zu diesem desillusionierten Einsichten aus Enttäuschung mit der russischen Revolution, deren Scheitern, jedenfalls im Sinne von Freiheit, Gleichheit und Solidarität für die Bürger_innen der Sowjetunion, er wahrscheinlich mit übermäßiger ideologischer Strenge erklärte; jedenfalls führte er Lockes gedankliche Geschmeidigkeit zurück auf dessen Erfahrungen des britischen Bürgerkriegs der 1640er Jahre.

    Immer wieder spottet Russell freundlich über Lockes, nun, Liberalität, so etwa, wenn Hume einen schlimmen Irrtum beging, weil er „a better intellect than Locke's, a greater acuteness in analysis, and a smaller capacity for accepting comfortable inconsistencies“ hat. Oder wenn er Lockes Methode so umschreibt:

    [Er ist] always willing to sacrifice logic rather than become paradoxical. He enunciates general principles which, as the reader can hardly fail to perceive, are capable of leading to strange consequences; but whenever the strange consequences seem about to appear, Locke blandly refrains from drawing them. To a logician this is irritating; to a practical man, it is a proof of sound judgement.

    Was ich daraus mache: Wenn du über die Gesellschaft nachdenkst und du kommst auf Menschenfresserei, müssen deine Ausgangsgedanken nicht unbedingt Quatsch sein – das kann schon mal passieren, wenn ein Haufen Leute sich streiten. Du solltest aber trotzdem nicht Menschenfresser_in werden.

    Freundlichkeit vs. Radikalität in der politischen Praxis

    Eine derzeit ganz naheliegende Anwendung: So sehr es scheiße ist, wenn Leute an eigentlich vermeidbaren Krankheiten sterben: Die autoritäre Fantasie, einfach alle einzusperren, bis die SARS-2-Pandemie vorbei ist, ist schon deshalb nicht menschenfreundlich, weil so ein Präzedenzfall zu inflationären Forderungen nach ähnlich autoritären Maßnahmen führen wird (alles andere mal beiseitegelassen). Umgekehrt führt das unbedingte Bestehen auf Grundrechten wie Freizügigkeit, die Zurückweisung staatlicher Autorität, auch wo diese nicht immer so richtig wissenschaftlich unterfüttert ist, zu einem schlimmen Gemetzel. Es bleibt, sich da irgendwie durchzumogeln (und das, ich gebs immer noch nicht gerne zu, hat die Regierung recht ordentlich gemacht), und das ist wohl, was was Russell an Locke mag.

    Also: Im realen Umgang mit Menschen ist Freundlichkeit oft wichtiger als Konsequenz. Dass Russell, obwohl er fast jeden Gedanken von Locke widerlegt, seine gesamte Lehre sehr wohlwollend betrachtet, ist eine sozusagen rekursive Anwendung dieses Prinzips.

    Leider, und da kommen wir beinahe auf die Russell'sche Antinomie zurück, bin ich aber überzeugt, dass auch die Mahnung, es mit den Prinzipien nicht zu weit zu treiben, dieser Mahnung selbst unterliegt. Folterverbot oder Ausschluss der Todesstrafe etwa würde ich gerne unverhandelbar sehen.

    Locke hätte mit dieser fast-paradoxen Selbstanwendung von Nicht-Doktrinen auf Nicht-Doktrinen bestimmt keine Probleme gehabt. Bei mir bin ich mir noch nicht ganz sicher.

    Aber ich versuche, Zuboff mit der Sorte von Wohlwollen zu lesen, die Russell für Locke hatte.

    Nachtrag (2021-04-10)

    Weil ich gerade über irgendeinen Twitter-Aktivismus nachdenken musste (bei dem jedenfalls für mein Verständnis allzu oft gute Absichten zu böser Tat werden), ist mir aufgefallen, dass meine Russell-Interpretation eigentlich zusammenzufassen ist mit: „Radikalität ist wichtig, aber Freundlichkeit ist wichtiger“. Das hat mir auf Anhieb gefallen, weshalb ich es auch gleich als TL;DR über den Artikel gesetzt habe.

    Dann habe ich geschaut, ob duckduckgo diesen Satz kennt. Erstaunlicherweise nein. Auch bei google: Fehlanzeige. Ha!

    Und je mehr ich darüber nachdenke, gerade auch im Hinblick auf ein paar Jahrzehnte linker Politik: RiwaFiw hätte vieles besser gemacht, und, soweit ich sehen kann, fast nichts schlechter.

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