Tag Tiere

  • Von Tullymonstren und den Geschwistern der Wirbeltiere

    Als in den Meldungen der Deutschlandfunk-Sendung Forschung aktuell am 17.4. ab Minute 3:02 vom „Tullymonster“ (zoologisch Tullimonstrum gregarium, was auch nicht so viel schmeichelhafter klingt) die Rede war, wurde ich schon deshalb neugierig, weil ich wissen wollte, ob das arme Tier wohl die Bezeichnung „Monster“ verdient.

    Nachdem ich den zugehörigen Wikipdia-Artikel überflogen und die dort gezeigte Lebendrekonstruktion mit einer Art Augenstange[1] und einem Rüssel mit einer stilettbesetzen Spitze betrachtet hatte, fand ich die Bezeichnung zumindest naheliegend, um so mehr als die Viecher nur mal kurz im Oberkarbon (also vor ca. 300 Megajahren) und damit näher an der nachgerade außerirdischen Ediacara-Fauna als an uns lebten. Vermutlich gibt es nicht mal mehr Nachkommen, die die Monster-Rede beleidigen könnte. Trotzdem will ich hier lieber von Tullytier sprechen, vor allem zu meiner eigenen Tippfreude.

    Drei Grafiken des gleichen Fossils: ein Farbfoto mit etwas erkennbaren Strukturen, eine Höhenkarte aus einem 3D-Scan, bunt aber für Laien unzugänglich, sowie eine Skizze mit einer Erklärung der erkennbaren features.

    Um eine Vorstellung zu bekommen, warum sich ernsthafte Menschen über Jahrzehnte hinweg streiten können, ob die Tullytiere Rückgrat hatten oder nicht, lohnt sich ein Blick auf die Abbildung 1 im Mikami-Paper; oben ein Farbfoto eines vermutlich recht gut erhaltenen Tieres, darunter ein 3D-Scan, auf dem ich noch weniger erkenne (Rechte: Wiley).

    Aus Sicht der Biologie sind die Tiere jedenfalls monströs, weil niemand so recht weiß, was sie sind, auch wenn in Nature schon 2016 überoptimistisch verkündet wurde: „Scientists Finally Know What Kind of Monster a Tully Monster Was“. Die Ansage war, es sei ein Wirbeltier gewesen, fast schon ein modernes. Eingestanden: die Leute haben damals methodisch schweres Geschütz aufgefahren, etwa Augenuntersuchungen mit Röntgen-Spektroskopie, und zwar mit extrateuerem Synchrotron-Röntgen. Wer Anträge für Zeit an so teuren Geräten durchbringt, mag durchaus Grund zu Selbstvertrauen haben (Beweis durch Förderung: „How could three different funding agencies be wrong?“).

    3D-Scans aus der Lagerstätte

    Nature hin, Edel-Röntgen her: Dem Schluss von 2016 widerspricht – wie im DLF berichtet – mit einiger Zuversicht Tomoyuki Mikami vom Japanischen Nationalmuseum für Natur und Wissenschaft, der mitsamt Kollegen von verschiedenen japanischen Geo- und Bio-Instituten das Paper „Three-dimensional anatomy of the Tully monster casts doubt on its presumed vertebrate affinities“ im Wiley-Blatt Paleontology untergebracht hat (doi:10.1111/pala.12646; die DOI-Ankunftsseite (um mal was für „landing page“ vorzuschlagen) ist leider eine schlimme Javascript-Hölle, was es um so trauriger macht, dass es das Paper noch nicht zu libgen geschafft hat).

    Hauptsächliche Datenbasis der Untersuchungen waren 3D-Scans von 153 Tullytier-Fossilien und 75 anderen Fossilien aus der einzigen Tullytier-Fundstelle, der „Lagerstätte“ (ein süßer wissenschaftlicher Teutonizismus) Mazon Creek ein Stück südwestlich von Chicago. Insgesamt sind in dem Schiefer dort deutlich über 1000 Tullytiere gefunden worden. Dazu kommen noch ein ganzer Haufen weiterer Tiere, die jetzt nicht unmittelbar ins Wortfeld „Versteinerung“ gehören: 42% der tierischen Mazon Creek-Fossilien sind Quallen.

    Die Scans sollen eine Auflösung von beachtlichen 150 μm haben (in unseren furchtbaren Computereinheiten rund 180 dpi). Ich wollte wissen, wie viele Gitterpunkte bei so einem Scan rauskommen werden. Grob ist das die Oberfläche des Fossils geteilt durch die Größe eines Pixels, also für ein grob kugeliges Gebilde von rund 2r = 30  cm Größe (jaja: das ist auch keine schmeichelhafte Beschreibung eines Tullytiers) 4πr2 ⁄ ρ2. Mit der Auflösung ρ = 1.5 × 10 − 4  m liefert das etwas wie 12 Millionen Mesh-Punkte. Danke, liebe GamerInnen, dass ihr die Entwicklung von Systemen finanziert habt, die sowas in annehmbarer Zeit visualisieren.

    Obendrauf haben Mikami et al für einen Rüssel mit „Stiletten“ – von „Zähnen“ reden sie lieber nicht, weil das sehr nach Kiefern und damit nach Wirbeltieren klingt – vornedrin ein hochauflösendes CT (10 μm) gewonnen, um dieses mundähnliche Ding mit unstrittigen Kiefern vergleichen zu können. Ich spoilere: die Autoren finden, dass das schon von der Form her (wiederum haben sie mit 3D-Visualisierung operiert, um das zu belegen) was ganz anderes ist als jedenfalls die Kreatinraspeln, die Schecken haben, so dass sie diese Verwandtschaft für die Tullytiere ausschließen.

    Was versteinert wie? Hauptachsen!

    Der methodische Teil des Papers geht vor allem bei so marginalen Spuren zentralen Frage nach, welche Strukturen sich in dem Schiefer wie gut erhalten, und versuchen, dem eine etwas quantitativere Basis zu geben. Dabei – und sie glauben, damit paläontologisches Neuland zu betreten – schreiben sie eine Matrix mit neun möglicherweise erhaltenen Körperteilen (die Augenstange, die Schwanzflosse, der Halbmond im Kopfbereich usf) auf der einen Achse und ihre 153 Proben auf der anderen. Wo sie so ein Körperteil sehen, steht in der Matrix eine Eins, wo nicht, eine Null, wo das Fossil gar nicht so weit geht, eine Fehlmarkierung. Über diese Matrix nun lassen die Autoren eine Hauptkomponentenanalyse laufen.

    Das ist ein relativ cleveres Verfahren aus der linearen Algebra, das die Matrix als Körper in einem 153- (das ist die Zahl der Proben) -dimensionalen Raum auffasst und dann möglichst viele Dimensionen so zusammenzwingt, dass maximal viel Volumen übrig bleibt. Die (bei vielen Problemen nachweislich gute) Vorstellung ist, dass mensch die „wesentlichen“ Eigenschaften, die in 153 Dimensionen nie erkennbar sind, in zwei oder drei Dimensionen sehen kann und in den zusammengequetschen Dimensionen vielleicht eher so Rauschen war. Im vorliegenden Paper lassen Mikami et al zwei Dimensionen übrig und haben also ein neue Matrix, in der jedem Körperteil zwei Zahlen zugeordnet sind.

    Per Draufgucken sind diese Zahlen zwar nicht unbedingt leicht zu interpretieren. Es ist aber glaubhaft (wenn auch nicht offensichtlich), dass Körperteile, deren zwei Zahlen nahe beieinander liegen, auch ziemlich ähnlich versteinern. Deshalb gibt es Abbildung 3 der Studie:

    Plot mit Caption; die Punkte im Plot sind mit Abkürzungen von Körperteilen versehen; ein wirklich auffälliges Muster ist nicht zu erkennen.

    Rechte: Wiley

    „Taphonomically“ in der Caption bedeutet „was das Versteinern angeht“. Wirklich sehr auffällige Strukturen sind in der Grafik kaum zu erkennen, und aus meiner Sicht ist auch die Einsicht, dass die Schwanzflosse und das Rechteck hinter den Augen ziemlich ähnlich versteinern, weder sonderlich aufschlussreich noch arg naheliegend.

    Vielleicht doch lieber qualitativ arbeiten

    Leider wird die eben formulierte Erwartung, dass ähnlich versteinernde Körperteile in so einem Graphen an ähnlichen Stellen liegen sollten, sofort unvernünftig, wenn andere Organe bei anderen Tieren dazukommen, denn es ist vermutlich fast unmöglich, die auf diese Weise eingeführten „verschiedenen“ Dimensionen so zusammenzuquetschen, dass die sich ergebenden gequetschten Dimensionen in einen gemeinsamen Plot gemalt werden können.

    So taugt die Methode also wahrscheinlich nicht wirklich, um etwa zu argumentieren: „Eine ordentliche Wirbelsäule liegt bei (20,-15), das axial band beim Tullytier aber bei (10,23), und drum hat das Tullytier keine Wirbelsäule.“ Die Autoren sagen (glaube ich) nirgends, dass sie das vorhatten, und sie zeigen auch nirgends entsprechende Plots von anderen Spezies. Aber ich hätte probiert, irgendwas zu basteln, damit ich sowas machen kann. Ich wäre (wie vielleicht die Autoren) ziemlich sicher gescheitert.

    Dennoch überzeugt mich am Paper, dass sie 75 weitere Fossilien anderer Spezies aus der Fundstätte gescannt haben, und zwar insbesondere bekannte Wirbeltiere. Auf diese Weise können sie dann eben qualitativ argumentieren, beispielweise, dass eine rechteckige Struktur hinter den Augen wohl eher nicht ein Hirnlappen sein wird, da sich dieser ja dann auch bei den bona fide-Wirbeltieren hätte erhalten müssen – was nicht der Fall ist.

    Ein ähnliches Vergleichs-Argument funktioniert für Kiemen:

    However, we found no evidence for gill pouches or other pharyngeal arch-associated structures in our comprehensive 3D dataset. Branchial structures are otherwise clearly preserved in specimens of the stem lampreys [Neunaugen] Mayomyzon and Pipiscius, from Mazon Creek, which is incompatible with the mode of preservation in Tullimonstrum.

    Die Erhaltung der Segmentierung des Körpers vergleichen die Autoren mit Gliederfüßern und finden, dass deren Chitin-Exoskelette schärfer und weniger plattgedrückt erhalten sind. Das Tullytier wird also auch nichts in der weiteren Umgebung von Insekten gewesen sein.

    Kurz nach der Erfindung der Knochen: Schädellose und Manteltiere

    An dieser Stelle habe mich mich begeistert in die Taxonomie ein wenig oberhalb der Wirbeltiere gestürzt: Dort sind die Chordatiere. Wikipedialogisch finde ich es bemerkenswert, dass irgendwer ein ganzes Kapitel zur internationalen Begriffsgeschichte in diesen Artikel geschrieben hat und damit fast ein Drittel seiner Gesamtlänge bestreitet.

    Vermutlich ist so eine textkritische Herangehensweise in diesem Geschäft kein Fehler, worauf auch Mikami et al am Ende ihrer Arbeit hinweisen:

    Die einzigartige Morphologie von Tullimonstrum ist kaum vergleichbar mit der irgendeines anderen bekannten Tieres und ruft uns so ins Bewusstsein, dass in der Erdgeschichte viele weitere interessante Tiere existiert haben, die nicht als Fossilien erhalten sind, die jedoch für ein Verständnis der vollen Evolutionsgeschichte der Metazoa [ich musste auch nachsehen: das sind die vielzelligen Tiere] unverzichtbar sind.

    Chordatiere haben jedenfalls bereits einen Haufen der Dinge, die wir für Tiere ziemlich normal finden (Herz, irgendwas wie einen Darm) und haben angefangen, eine Struktur auszubilden, die ich als Laie auch für eine Wirbelsäule halten könnte, die aber bei den Geschwisterstämmen der Wirbeltiere anders rausgekommen sind.

    Diese Geschwister sind einerseits die extragruselig benannten Schädellosen (deren überlebende Vertreter normale Menschen wohl für Fische halten würden) und andererseits die Manteltiere, die aus meiner Sicht erheblich bizarrer sind, schon, weil sie in ihrem Körper Zelluose verbauen, also …

  • Iberische Schwertwale gegen Segelboote 50:0

    Größenvergleich eines Schwertwals zu einem Menschen (der vielleicht ein Drittel der Länge hat)

    Bei der Lektüre dieses Posts sollte mensch den Größenvergleich zwischen Menschen und Schwertwalen im Kopf haben (CC-BY Chris Huh).

    Wer meinen Beitrag zu menschenverzehrenden Pelztieren gelesen hat, wird nicht überrascht sein, dass mich ein Post auf Fefes Blog gestern auf Anhieb fasziniert hat. Er hat berichtet von „Angriffen“ von Orcas (auf Deutsch: Schwertwale; sachlich sind das besonders große Delfine, was Free Willy und Fortsetzungen geschickt kommerzialisiert haben) auf Boote im Atlantik vor Spanien, Portugal und noch ein bisschen Frankreich. Was immer da nun ganz aktuell passiert: Schon nach ein paar Klicks bin ich bei einem ordentlichen wissenschaftlichen Artikel gelandet, den ich mit einiger Faszination gelesen habe.

    Es handelt sich um die 2022 im Wiley-Blatt Marine Mammal Science erschienene Studie „Killer whales of the Strait of Gibraltar, an endangered subpopulation showing a disruptive behavior“, geschrieben Ende 2021 von Ruth Esteban vom Walmuseum in Madeira sowie KollegInnen aus einer beeindruckenden Menge verschiedener Institute aus den „betroffenen“ Ländern (doi:10.1111/mms.12947; leider gepaywallt und noch nicht bei libgen).

    Bekannte Täterinnen

    Vorneweg: Die Tiere heißen auf Englisch „killer whale“, nicht, weil sie gerne Menschen umbringen – tatsächlich hat sich offenbar noch kein wildlebender Orca für Menschen als Nahrung interessiert –, sondern weil sie ihre Beute gerne in einem recht blutigen Spektakel zerlegen. Dennoch fand ich die Vorstellung, dass da ein fast zehn Meter großes Tier mit jedenfalls sehr variablen Nahrungspräferenzen etwa an meinem Schlauchboot rumuntersucht, ganz entschieden gruselfilmtauglich.

    Meine erste Überraschung in dem Paper war nun, dass die „Täterinnen“ der Übergriffe auf die Boote wohlbekannt sind: Beim letzten Zensus im Jahr 2011 bestand die fragliche Population überhaupt nur aus 39 Individuen. Aufgrund von reichlichen Film- und Fotoaufzeichnungen konnten nun Esteban et al identifizieren, welche von denen sich an den Booten zu schaffen machten. Es stellte sich heraus: Die 50 „Interactions“ im Zeitraum von (im Wesentlichen) Mai bis Oktober 2020 gingen auf zwei Gruppen aus nur ingesamt 9 Tieren zurück.

    Eine sorgfältig zusammengestellte Tabelle der tierischen Kampagnen im Paper zeichnet recht deutlich das Bild, dass die Schwertwale spätestens ab August 2020 angefangen haben, praktisch täglich Bootfahrende zu belästigen. Mensch könnte den Eindruck gewinnen, sie hätten ein neues Hobby entdeckt.

    Ein Faible für Segelyachten

    Esteban et al schlüsseln das Walspielzeug nach Bootstypen auf. Populär sind vor allem Segelboote, was ich gut verstehen kann, denn ohne rotierende Schiffschraube sind die Dinger aus Orcasicht deutlich weniger gefährlich. Immerhin haben sie aber drei Mal auch Zodiacs untersucht, also etwas bessere Schlauchboote – hoffenlich hatten die Leute in den Nussschalen (die ja vermutlich deutlich kleiner waren als jeder einzelne der Wale) stahlharte Nerven.

    Zumindest im von Esteban beobachteten Zeitraum haben die Schwertwale die Boote aber erkennbar nicht kaputt machen wollen; sie haben eher für eine halbe Stunde oder so an ihnen rumgespielt, wobei sie fast immer das Steuerruder besonders interessierte. „Rumspielen“ ist mein Wort, aber die Beschreibung aus dem Paper legt das Wort schon sehr nahe:

    Wenn die Wale engeren Kontakt aufnehmen, üblicherweise am Steuerruder, drücken sie entweder mit ihren Köpfen und machen eine Hebelbewegung mit ihren Körpern, um das Blatt zu drehen. In manchen Fällen haben sie das Boot dabei um fast 360° gewendet. Je höher die Geschwindigkeit des Bootes oder je stärker die Besatzung um die Kontrolle des Steuerrades rang, desto mehr und stärker drückten die Wale in der Regel.

    Angefangen haben sie üblicherweise bei guter Fahrt des Bootes (gerne was wie 15 km/h, was für so einen Schwertwal kein großes Problem ist). Wenn das Schiff angehalten hat, ist es ihnen langweilig geworden und sie sind weitergezogen. Die Ausgänge „kaputt“, „beschädigt“ und „kein Schaden“ (jeweils im Hinblick auf das Steuerruder) sind dabei so in etwa gleich verteilt.

    Ich finde ja schon bemerkenswert, dass gerade mal neun Individuen so ein Bohei die Küste rauf und runter verursachen können, auch wenn es schon ziemlich große Tiere sind. Tatsächlich haben ihre Exploits die staatlichen Autoritäten zur Sperrung von Seegebieten gebracht:

    The Spanish Maritime Traffic Security authorities prohibited the coastal navigation for small (<15 m) sailing vessels where interactions were concentrated at the time.

    Vorboten des Schwarm-Szenarios?

    Eine wirklich gute Erklärung dafür, was den Walen das Interesse an den Steuerrudern beibrachte, haben auch Esteban et al nicht. Die Möglichkeit, sie würden damit ein unangenehmes Erlebnis etwa mit Fischern verarbeiten (die iberischen Schwertwale klauen gerne Thunfische aus menschlichen Fanggeräten), finde ich jedenfalls nicht plausibel, denn Fischerboote scheinen sie nur aus Versehen mal angerempelt zu haben.

    Hier hätte ich mal eine Geschichte, die ich gerne glauben würde: die Wale fanden die Ruhe während der Corona-Lockdowns zwischen März und Mai total klasse und dachten sich, sie könnten das wieder haben, wenn sie den FreizeitskipperInnen genug auf die Nerven fallen; die Fischerboote würden sie schon hinnehmen, solange die ihnen Thunfische fangen.

    Der Charme dieser Geschichte: Wenn die spanischen Behörden in der Folge das Meer sperren, wenn die Wale irgendwo auftauchen, wäre das nette eine positive Konditionierung: die Spiele der Wale würden wirklich für mehr Ruhe am Wasser sorgen. Das aber würde schön erklären, warum sich das Verhalten ausbreitet – wenn es das denn wirklich tut.

    Ob das gegenüber dem Stand vor anderthalb Jahren wirklich so ist: Mal sehen, was Esteban et al demnächst so veröffentlichen. Ich habe trotz meines generellen Grusels vor ORCID (keine Verwandschaft mit Orca) kurz einen Blick auf Ruth Estebans ORCID-Seite geworfen. Jetzt gerade ist das besprochene Paper die letzte Publikation. Aber angesichts des Medienrummels um ihre Schwertwale wirds dabei sicher nicht bleiben.

    Unterdessen: Ebenfalls von 2021 ist dieser Vortrag von Ruth Esteban, in dem sie Videos der Walbegegnungen zeight. Wie viel nützlicher wäre der, wenn sie eine vernünftigte Lizenz draufgemacht hätten!

    Nachtrag (2023-06-25)

    In Forschung aktuell vom 26. Mai gab es eine schöne Fortsetzung dieser Geschichte, die den Score auf 500:0 legt. Gegen Ende werden Verhaltenstipps diskutiert. Vor allem: Einfach nicht dort segeln, wo die Orcas sind. Wenn die Leute das wirklich machen, wäre ich neugierig, was die Reaktion der Orcas ist…

  • Pelztiere vs. Menschen: Die letzten 70 Jahre

    Unter einem Gebüsch schauen Beine und Schwanz eines Tigers raus.

    2010 habe ich, ich muss es gestehen, den Heidelberger Zoo besucht. Und mich ordentlich vor dem Tiger gegruselt, der hier im Bambus ruht.

    Neulich ging es in der taz tatsächlich mal um einen Fachartikel, nämlich um „A worldwide perspective on large carnivore attacks on humans” von Giulia Bombieri vom Naturkundemuesum[1] in Trento, Vincenzo Penteriani vom Naturkundemuseum in Madrid sowie KollegInnen aus aller Welt (doi:10.1371/journal.pbio.3001946), vorbildlich unter CC0 publiziert in PLOS Biology.

    Der taz-Artikel liefert eigentlich eine ganz schöne Zusammenfassung des narrativen Teils der Studie, und vor allem ordnet er das Thema das Artikels gut ein relativ zu Bedrohungen durch andere Tiergruppen und echte Gefahren für Menschenleben:

    Knapp 2.000 tödliche Angriffe [durch wilde Säugetier-Karnivoren] in 70 Jahren – das sind weniger als 30 im Jahr. Weltweit. Da steht die Angst in keinem Verhältnis zum Risiko […] Höchste Zeit, den Wolf zu entlasten und die richtigen Fragen zu stellen: Großmutter, warum hast du so große Räder?

    So sehr das mit der Angst qualitativ sicher stimmt, ist das Argument so quantitativ formuliert allerdings nicht haltbar. Schon die Unterüberschrift in der taz, „Eine Studie wertet die Fälle der letzten 70 Jahre aus.“ (Hervorhebung ich), weckt nämlich völlig falsche Erwartungen. Bombieri et al lassen keine Zweifel:

    Wir räumen ein, dass unser Datensatz nicht die Gesamtheit der Tierangriffe umfasst, die es weltweit gab. Er repräsentiert eine Untermenge dieser Fälle. In der Tat fehlen trotz unserer Bemühungen, gleichmäßig über Arten und Regionen zu sammeln, zahlreiche Fälle speziell für Löwen, Leoparden und Tiger.

    Wacklige Zahlen, robuste Ergebnisse

    Der numerische Abstand allerdings zwischen dem Gemetzel im Straßenverkehr und den Opfern bepelzter Wildtiere ist so groß, dass auch einige Größenordnungen Unterschätzung nichts am in der taz dargestellten qualitativen Befund ändern werden.

    Bombieri et al überdehenen ihre Zahlen aber auch selbst, etwa wenn sie zunächst

    erwarten […], dass die Zahl der Angriffe in Regionen mit niedrigem Einkommen wächst. Dort findet viel Subsistenzwirtschaft statt, und viele Gemeinden leben in engem Kontakt mit Wildtieren inklusive Großkatzen.

    Die Zunahme als solche sehen sie dann auch in ihren Daten. Dass diese aber an Subsistenzwirtschaft und Landnahme liegt, bräuchte schon stärkere Unterstützung als platt mit der Zeit wachsende Zahlen, denn die werden sehr plausiblerweise einfach daran liegen, dass sich die Anbindung größerer Teile des globalen Südens an das Nachrichtensystem des globalen Nordens über die letzten 70 Jahren hinweg ganz erheblich verbessert hat. Denn wie zählen Bombieri et al?

    Berichte über Angriffe wurden gesammelt aus persönlicher Datenhaltung der KoautorInnen, der wissenschaftlichen Literatur, Doktor- und Masterarbeiten, Webseiten und öffentlicher Berichterstattung (eine Liste der wesentlichen Veröffentlichungen zum Thema stellen wir in Tabelle S2 zur Verfügung). Wir haben die erwähnten Quellen mit den Suchmaschinen Google und Google Scholar durchsucht. Um den Datensatz zu vervollständigen, haben wir auch eine systematische Suche nach Zeitungsartikeln auf Google durchgeführt. Dabei haben wir für alle Länder/Regionen jährlich gesucht nach einer Kombination der folgenden Begriffe „Name der Art“ oder „wissenschaftlicher Name der Art“ + „attack“ oder „attack“ + „human“.

    Diese Methode führt natürlich überwältigende und praktisch nicht zu kontrollierende Auswahleffekte ein, so dass ich jedem quantitativen Ergebnis, das aus diesem Datensatz gewonnen wird, sehr skeptisch gegenüberstehen würde. Das aber ändert nichts daran, dass er eine großartige Quelle für qualitative Betrachtungen ist.

    CC0 sei Dank: Aus Excel befreit

    Weil das alles – wie mein Blog auch – unter CC0 verteilt wird, kann ich die furchtbare Excel-Datei, in der Bombieri et al ihre Datensammlung publizieren, hier als aufgeräumte CSV-Datei republizieren – vielen Dank an die AutorInnen! Zum Aufräumen habe ich ad-hoc ein Python-Skript geschrieben, das in einem mit Libreoffice erzeugten CSV-Export der Excel-Datei insbesondere die geographischen Koordinaten, die in einer munteren Mischung verschiedener Formate kamen, vereinheitlicht. Dabei gingen ein paar Koordinaten verloren, deren Format ich nicht erraten konnte (so etwa 10).

    Zusammen mit dem großartigen TOPCAT und dessen Classify by Column-Feature (in Views → Subsets) kann mensch auf die Weise recht unmittelbar den folgenden Plot der erfassten Säugetierangriffe nach Spezies erzeugen (TOPCAT ist eigentlich für die Astronomie gedacht, weshalb die Koordinaten etwas ungeographisch daherkommen):

    Bunte Punkte in einem Mollweide-Plot: Es gibt extrem auffällige Cluster etwa auf Kamtschatka, in Japan oder an der indischem Malabarküste.  Der größte Teil des Plots hat gar keine Punkte

    Geographische Verteilung der Tierangriffe aus Bombieri et al, für die am häufigsten angreifenden Arten farblich aufgeschlüsselt. Beachtet, dass nur knapp 50% der Fälle in ihrem Datensatz hinreichend georeferenziert sind.

    Wenn ihr das selbst versucht: Macht auch gleich einen Tabellen-View auf. Ihr könnt dann nämlich auf die Punkte klicken und in der Observations-Spalte oft die zugehörigen Geschichten lesen. Einiges bewegt sich im Dumb Ways to Die-Spektrum, und ich kann nicht leugnen, dass ich mich manchmal wie einE Bild-LeserIn fühlte, während ich an den Daten herummachte. Tja: wer in der Hinsicht ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein.

    Wölfe fütternd oder Futter für Wölfe?

    Manchmal sind schon die Activities in der Tabelle halbe Geschichten: „sleeping outside the tent in sleeping bag” zum Beispiel (im kanadischen Algonquin National Park, mit Species Wolf). Conflict_end ist hier glücklicherweise 1 („Injury”) und nicht 2 („Death“). So ging es auch für die Activity „feeding the wolf“ aus, Observation: „Frau hielt an und bot dem Wolf Futter an“. Ich kann der Versuchung nicht widerstehen und muss fragen: War das eine oder waren das zwei Handlungen?

    Denn es geht nach Rechnung der AutorInnen den Wölfen schon recht oft darum, die Leute, die sie angreifen, dann auch zu verzehren. Dazu hilft es, sich kurz die Bedeutung der Zahloide in der Scenario-Spalte anzusehen, die ich erst manuell aus dem blöden XSLX-XML rausfummeln musste:

    1:defensive reaction by a female with offspring
    2:animal and human/s involuntarily encounter at a close distance
    3_4:food related: eg animal food conditioned/habituated or feeding on anthropogenic food (eg crop) or feeding on a wild or domestic animal carcass at the moment of the attack.
    5:predatory/unprovoked/investigative attack
    6:animal wounded/trapped
    8:dog presence
    10_12:animal intentionally approached/provoked/chased attack the people involved or other people on its way while fleeing

    Bei Wölfen sind immerhin 377 von 414 Fällen mit der 5 klassifiziert. Das hätte ich ehrlich gesagt anders eingeschätzt. Und noch mehr bin ich überrascht, dass es die Wölfe in über 250 dokumentierten Fällen auch geschafft haben (sollen), die beteiligten Menschen zu töten. Ich habe mir diese Fälle mal rausgefiltert (in TOPCAT definiert mensch dafür ein algebraisches Subset mit equals(species, "wolf") && conflict_end==2 – ja, SQL ist schöner). Fast alle dieser 268 Fälle kommen aus Indien (259), sechs aus dem Iran, und dann noch je einer aus der Türkei, aus Alaska und Saskatchewan.

    Die Geschichte aus der Türkei ist die von einem Schäfer:

    Shepherd's father found him death [sic]. Then took him to hospital and doctors determined he was killed by wolves.

    – es ging den Wölfen hier also ziemlich sicher nicht darum, den Schäfer zu verzehren, denn sonst wäre schon das mit dem Ins-Krankenhaus-Bringen schwierig geworden. Ich würde hier die 5 ziemlich in Frage stellen, muss ich sagen; für mich klingt das stark nach 3_4, food related, weil die Wölfe einfach die Tiere des Schäfers essen wollten und der Schäfer im Weg war.

    Die Fälle in Nordamerika sind jeweils den Wintermonaten zugeordnet, wobei Wolfsrudel vermutlich weniger hinter dem Fleisch der Menschen her waren als vielmehr hinter den Resten der Tiere, die die Menschen vorher getötet hatten. Sehr hässlich klingen dagegen die Activities aus dem Iran: children playing lese ich da – und noch schlimmer in Indien, wo das allein 183-mal vorkommt (mit anderen Worten: mehr als die Hälfte aller hier verzeichneten tödlichen Begegnungen mit Wölfen weltweit). Das werde ich unten nochmal etwas genauer betrachten, aber zunächst sollen auch die Katzen etwas Aufmerksamkeit bekommen.

    Großkatzen lassen zweifeln

    Bei Leoparden lese ich etliche Mal das gruselige „attacked at the neck and dragged away“, einmal darunter mit der Activity „toilet/bathing/washing clothes outside“ und dem Ausgang, dass der Mensch …

  • Spatzen sehen den Mond als Fleck

    Ein etwas bedröppelt aussehender grüner Papagei mit langen Schwanzfedern.

    Dieser Halsbandsittich sieht so mitgenommen aus, weil es regnet, nicht, weil er mit Glas kollidiert ist.

    Eine Hochrechnung der Staatlichen Vogelschutzwarten in Deutschland hat ergeben, dass jährlich alleine in diesem Land ca. 100–115 Millionen Vögel an Glas verunglücken. Das sind über 5 % aller Vogelindividuen, die in Deutschland im Jahresverlauf vorkommen.

    Dieses Zitat kommt aus der Broschüre „Vogelfreundliches Bauen mit Glas und Licht” der Schweizerischen Vogelwarte Sempach[1], die vor ein paar Tagen auf der Webseite des BUND erschienen ist. Meine erste Reaktion war: „Das kann nicht sein“. Aber andererseits: Ich habe auch schon mehrfach gehört, wie Vögel gegen Fensterscheiben geprallt sind, zum Teil auch gesehen, wie sie sich dann zusammengerappelt haben – oder eben auch nicht.

    Wenn ich alle drei Jahre Zeuge eines Vogel-Glas-Unfalls bin, gut zwei Drittel davon ohne ZeugInnen ablaufen (plausibel: der durchschnittliche befensterte Raum ist bestimmt weniger als ein Drittel der Zeit bemenscht) und ich relativ typisch bin, dann gibt es in der Tat ungefähr einen Vogelunfall pro BürgerIn, und das sind halt so um die hundert Millionen.

    Oh, Grusel. Lest euch die Broschüre mal durch (Trigger Warning: Bilder von verunglückten Tieren). Ich suche gleich mal nach wetterfesten, selbstklebenden Punkten von mindestens neun Millimeter Durchmesser, mit denen ich zumindest die Balkontür an meinem Arbeitsplatz (wo es wirklich viele Vögel gibt) markieren kann. Spoiler: hinreichend dicht und an die Außenseite geklebt, helfen die Vögeln zuverlässig, das Glas zu vermeiden.

    Kein Fall für die Ethikkommission

    Schön an der Broschüre finde ich, dass sie recht sorgfältig erklärt, wie mensch eigentlich misst, ob eine bestimmte Sorte Markierung an Glasscheiben die Vögel wirklich abhält (z.B. weiße oder schwarze Klebepunkte) oder nicht (z.B. die Greifvogelsilhoutten oder Kram, der nur im Ultravioletten sichtbar ist). Dazu beschreiben sie ein Flugtunnel-Experiment, bei dem Vögel aus einem Beringungsprojekt nicht direkt wieder freigelassen werden, sondern zunächst in einen ein paar Meter langen dunklen Raum mit einem großen, hellen Ausgang gesetzt werden. Vögel fliegen in so einer Situation sehr zuverlässig zum Licht.

    Am hellen Ende des Tunnels sind nun zwei Glasscheiben angebracht, eine konventionelle und eine markierte. Wenn die Vögel halbwegs zuverlässig die markierte Seite meiden, ist die Markierung glaubhaft wirksam. Aber natürlich will mensch die Vögel, die vom Beringen eh schon gestresst sind, nicht noch gegen eine Glasscheibe krachen lassen, weshalb es ein für Vögel unsichtbares Sicherheitsnetz gibt, das sie (relativ) sanft abhält. Und dann dürfen sie auch gleich weiterfliegen.

    Ich finde das ein bemerkenswert gut designtes Experiment, weil es auf Dauer mit untrainierten Wildvögeln arbeitet, also genau mit der Population, um die es in der Realität auch geht. Und im Vergleich zur Beringung ist die zusätzliche Belastung der Tiere durch das kurze und vergleichsweise naturnahe Tunnelexperiment vernachlässigbar. Gut: Mensch mag über die Beringung als solche diskutieren – aber da halte ich mich zurück.

    Ganz besonders begeistern mich Beschreibungen von Experimenten zudem, wenn systematische Fehler von Vorgängerexperimenten besprochen werden. In diesem Fall etwa war eine Systematik, dass Vögel am Vormittag deutlich lieber die linke Scheibe wählten und am Nachmittag deutlich lieber die rechte. Die Erklärung: die Vögel wollten nicht aus dem dunklen Tunnel in die Sonne hineinfliegen (auch wenn sie nach dem Beringen gleich in den Tunnel gelassen wurden, also noch helladaptiert waren). Deshalb bogen sie am Vormittag lieber nach Westen, am Nachmittag lieber nach Osten ab – was natürlich die Wirksamkeitsmessung ganz furchtbar störte.

    Die Lösung des aktuellen Experiments, um diese Systematik zu vermeiden: Der ganze Tunnel ist drehbar montiert und wird der Sonne nachgeführt. Wow.

    Scharfsichtigkeiten

    Die Broschüre war für mich auch Anlass, mich einiger Kopfzahlen zu bedienen. So zitiert sie etwa aus Martin, G. (2017): The sensory ecology of birds, das

    Auflösungsvermögen des menschlichen Auges [sei] etwa doppelt so hoch wie das eines Turmfalken, vier Mal höher als das einer Taube und 14-mal so hoch wie das eines Haussperlings.
    Ein männlicher Sperling sitzt auf der Strebe eines Biergartenstuhls und blickt seitlich an der Kamera vorbei.

    Was er wohl über den Mond denkt? Ein Spatz im Berliner Botanischen Garten, 2008.

    Um das einzuordnen, habe ich mich erinnert, dass ein normalsichtiges menschliches Auge zwei Bogenminuten auflöst[2], und um eine Vorstellung zu bekommen, was wohl zwei Bogenminuten seien, ist die Ur-Kopfzahl für Winkel gut: Mond und Sonne sind jeweils etwa dreißig Bogenminuten (oder ein halbes Grad)[3] groß. Wenn also so ein Spatz etwa fünfzehn Mal schlechter auflöst als der Mensch, ist für ihn der Mond nur so ein heller, unstrukturierter Punkt. Today I learned…

    Will ich lieber fliegen oder lieber den Mond wie gewohnt sehen können? Hm.

    Fledermäuse und Lichtverschmutzung

    Erfreulich aus AstronomInnensicht ist der Exkurs zur Lichtverschmutzung mit einem Punkt, den ich noch gar nicht auf dem Schirm hatte:

    Fledermäuse meiden die Helligkeit, weil sie sonst leicht von Beutegreifern wie Greifvögeln und Eulen gesehen werden können. Besonders problematisch ist das Beleuchten der Ausflugöffnungen von Fledermausquartieren, wie sie beispielsweise in Kirchendachstühlen zu finden sind. Dies erschwert den Tieren den Ausflug aus den Quartieren und verringert damit die Zeit der aktiven Nahrungssuche, was wiederum den Fortpflanzungserfolg vermindern kann.

    Ich weiß nicht, wie lange das schon bekannt ist. Wenn das jetzt nicht brandneue Ergebnisse sind, bekomme ich schon wieder schlechte Laune, weil die Kirchenturmilluminationen, auf die für Fledermäuse offenbar nicht verzichtet werden konnte, im Herbst 2022 aus patriotischen Gründen plötzlich doch abgeschaltet werden konnten. Hmpf.

    Der ganze Werbe- und Touriklimbim ist übrigens alles andere als im Mittel vernachlässigbar. Nochmal die Vogelwarten-Broschüre:

    Eine Untersuchung der Wiener Umweltanwaltschaft hat gezeigt, dass in Wien 2011 zwei Drittel der Lichtverschmutzung von Schaufensterbeleuchtungen, Anstrahlungen und anderen Effektbeleuchtungen und nur ein Drittel von der öffentlichen Beleuchtung verursacht wurden, obwohl letztere zwei Drittel der Lichtpunkte betreibt.

    Ich stelle unter Verweis auf meinen Rant gegen die Dauerbeflimmerung schon wieder fest: Vernünftiges Konsumverhalten ist eigentlich selten Verzicht. Es ist viel öfter Befreiung von Mist, der den Nutzenden oder jedenfalls anderen Tieren (häufig übrigens der eigenen Spezies) das Leben eh nur schwer macht.

    Nachtrag (2023-02-13)

    Ich hätte vielleicht gleich sagen sollen, dass ich auf die Broschüre durch einen Artikel im BUNDmagazin 1/2023 aufmerksam geworden bin. Ein paar Seiten weiter hinten steht da eine Ergänzung zum Thema schlechte Laune, denn in der Tat hat Baden-Württemberg offenbar seit 2020 ein recht durchgreifendes Beleuchtungsrecht in §21 Naturschutzgesetz, in dem zum Beispiel drinsteht:

    Es ist im Zeitraum

    1. vom 1. April bis zum 30. September ganztägig und
    2. vom 1. Oktober bis zum 31. März in den Stunden von 22 Uhr bis 6 Uhr

    verboten, die Fassaden baulicher Anlagen der öffentlichen Hand zu beleuchten, soweit dies nicht aus Gründen der öffentlichen Sicherheit erforderlich oder durch oder auf Grund einer Rechtsvorschrift vorgeschrieben ist.

    oder gar:

    Werbeanlagen sind im Außenbereich unzulässig. Unzulässig sind auch Himmelsstrahler und Einrichtungen mit ähnlicher Wirkung, die in der freien Landschaft störend in Erscheinung treten.

    Naturschutzrecht ist offenbar ein wenig wie Datenschutzrecht. Mensch staunt regelmäßig über die Dissonanz zwischen Recht und Praxis – nicht zuletzt, weil es dann doch immer allerlei interessante Ausnahmen gibt, im Fall von §21 NatSchG vor allem Artikel 5.

    Kopfzahlen: Beleuchtungsstärken

    Während ich bei den Scharfsichtigkeiten mit Kopfzahlen auskam, die ich schon parat hatte, sammele ich die zu Beleuchtungsstärken jetzt gerade aus der Broschüre (die sie wiederum aus der Wikipedia hat). Die Beleuchtungsstärke ist dabei ein Maß, wie viel Licht pro Flächeneinheit auftrifft. Es ist nicht falsch, sich vorzustellen, dass sie misst, wie hell ein Stück Papier wirkt, wenn ihr es in dem entsprechenden Licht anguckt.

    Und da will ich mir merken: An einem Sommertag draußen ist die Beleuchtungsstärke 90'000 Lux; ein ordentlich ausgeleuchtetes Büro („Pfui, ist das ungemütlich“) hat nur ein verblüffendes halbes Prozent davon (also etwa 500 Lux), ein fernsehgerechter Wohnraum („endlich keine doofe Arbeit mehr”) gar nur ein halbes Promille.

    Zu bedenken ist dabei allerdings, dass unsere Helligkeitswahrnehmung, wie fast alle unsere Sinne, logarithmisch funktioniert. Die Wahrnehmung von Intensitäten geht also wie der Logarithmus der einkommenden Energie (vgl. etwa Dezibel). Mithin wäre es vielleicht sinnvoller, sich 5 (plusminus der dekadische Logarithmus von 90'000), 2.5 (Büro) und 1.5 (Wohnraum) zu merken. Andererseits ist diese Sorte von Kopfzahl vielleicht auch relevanter, wenn mensch abschätzen will, ob – sagen wir – ein Solarlader was tun wird oder nicht. Sowas geht aber bei unverändertem Spektrum weitgehend linear mit der einkommenden Energie.

    Bei genaueren Betrachtungen sind photometrische Einheiten übrigens immer ein Graus – als Astronom könnte ich davon viele Lieder singen, von Jansky, AB-Magnituden (gibts noch nicht in der deutschen Wikipedia) versus Vega-Magnituden (gibts noch nicht mal in der englischen Wikipedia) und vielem mehr. Immerhin kann ich mir traditionell merken, dass ein ordentlicher Beamer für Besprechungsräume 2000 Lumen Lichtstrom erzeugt. Dieser Lichtstrom ist so in etwa ein Maß dafür, wie viele Photonen (bei gegebener Frequenz und damit Energie pro Photon) pro Zeiteinheit aus so einer Lampe kommen[4]. Und ich kann mir gerade noch so merken, dass

    1  lux = (1  lm)/(1 m2)

    ist. Wenn ihr ein wenig rechnet, heißt das: Damit ein A5-Blatt (faul idealisiert auf 15 mal 15 Zentimeter) genauso hell scheint wie im Sommersonnenschein, braucht ihr das ganze Licht eines ordentlichen Beamers auf diesem Stück Papier. Das hätte ich per Bauchgefühl ganz anders geschätzt.

    Noch was gelernt heute.

    [1]Schweizer Provenienz heißt auch: Nicht ein blödes scharfes s im ganzen Text. Fantastisch! Können wir dießen Quatsch hier auch abschaffen?
    [2]Die englische Wikipedia …
  • Sympathie für myrmekophile Falter: Schwierig

    Foto eines blauen Schmetterlings

    Unsympath vom Dienst für diesen Post: Ein (Quandel-) Ameisenbläuling. CC-BY-SA PJC&Co

    Im Dezember letzten Jahres lief in der DLF-Sendung Forschung aktuell zur Begleitung der Weltnaturschutzkonferenz in Montreal eine großartige Miniserie mit Geräuschen von Tieren, deren Arten demnächst ziemlich wahrscheinlich aussterben werden. Ihr ebenfalls großartiger Titel: „Letzte Rufe“. Soweit ich sehe, haben die Deutschlandfunk-Leute keine eigene Seite für die Miniserie. Lasst mich geschwind einspringen:

    Ich finde, das ist ein sehr audiophiles Format. Und ich habe in jeder Folge etwas gelernt.

    Nur… nun, nennt mich einen Naturromantiker, aber speziell beim Ameisenbläuling fällt mir allzu viel Empathie schwer, auch wenn ich weiß, dass Parasiten in den meisten Ökosystemen stark stabilisierende Funktionen haben. Es klingt einfach zu garstig, was die Viecher treiben.

    Sie sind nämlich Myrmekophile. Ich habe das Wort auch erst eben gelernt. Es bezeichnet Organismen, die an Ameisen „gebunden“ (Wortwahl des/der Wikipedia-AutorIn) sind. Bei Ameisenbläulingen heißt das etwas weniger beschönigend gesprochen, dass sie sich von Ameisen in deren Bau tragen lassen – etwa, indem sie durch abscheuliches Krächzen vorgeben, sie seien Königinnenlarven – und sich dort von diesen füttern lassen beziehungsweise gleich die Eier und Larven der Ameisen aufessen. In den Worten des Wikipedia-Artikels zum Quendel-Ameisenbläuling:

    Dennoch kommen viele Raupen [im Ameisennest] um, weil sie entweder in Gegenwart der Königin von den Arbeiterinnen angegriffen werden, oder weil sie das Ameisennest leer plündern und sich so selbst die Nahrungsgrundlage entziehen.

    Beim Lungenenzian-Ameisenbläuling ist es deutlich harmloser:

    Für die betroffenen Ameisenarten kann der Parasitenbefall zu einer Verkleinerung der Kolonie führen, da die bevorzugte Fütterung der Schmetterlingslarven den eigenen Nachwuchs gefährdet.

    Aber immerhin sind diese speziellen Falter relativ wenig manipulativ:

    Nach dem Schlüpfen bleibt den Faltern nicht viel Zeit für die Flucht, denn sie besitzen keine Duftstoffe, die sie vor den Ameisen schützen.

    Zum Hellen Wiesenknopf-Ameisenbläuling weiß die Wikipedia zu berichten:

    Etwa 98 % der Biomasse der Puppe (und des späteren Falters) stammt so von den Ressourcen des Ameisenvolkes. Es wurde geschätzt, dass bei den räuberisch lebenden Phengaris-Arten (P. teleius, P. arion und P. nausitous) etwa 350 Arbeiterinnen mittelbar nötig sind, um eine Phengaris-Larve zu ernähren. Diese Zahl wird benötigt, um die Nahrung für die Ameisenbrut zu beschaffen, die von den Phengaris-Larven gefressen wird.

    Sagt, was ihr wollt: Als Sympathieträger gegen das Insektensterben würde ich mir eine andere Art aussuchen. Jedenfalls solange, bis auch Menschen wie ich deutlich mehr Instinkt entwickelt haben für Ökosysteme und die Rolle, die auch Tiere mit nach menschlichen Maßstäben nicht so feinen Manieren darin spielen. Bis dahin kann ich die spontane Reaktion einer Freundin gut nachvollziehen: „Die Biester sollen ruhig aussterben“.

  • Vögel von unten betrachten

    Grüne Papageien sitzen herum, einer davon lüftet seine Flügel

    VertreterInnen von Heidelbergs Halsbandsittich-Population im Dezember 2018. Beachtet, wie die Unterseite der Schwingen deutlich stärker gemustert ist als die Oberseite.[1]

    Schon im Juli hat Forschung aktuell im Deutschlandfunk kurz ein Paper erwähnt, das mein Amateurinteresse an Zoologie geweckt hat: In den Wissenschaftsmeldungen vom 6.7. hieß es ungefähr 2 Minuten in das Segment rein, die oft wilden Muster auf den Unterseiten von Vogelflügeln könnten der Vermeidung von Kollisionen zwischen den fliegenden Tieren dienen.

    Die zugrundliegende Arbeit ist „Contrasting coloured ventral wings are a visual collision avoidance signal in birds“ von Kaidan Zheng und KollegInnen von der Sun Yat-sen-Uni in Guangzhou[2] und der Uni Konstanz, erschienen in den Proceedings B der Royal Society, Vol. 289, doi:10.1098/rspb.2022.0678. Forschungsziel dieser Leute war, Risikofaktoren für Kollisionen – also etwa große Schwärme, Bedarf an hektischen Manövern (sagen wir: Paviane überfallen Flamingos), eingeschränkte Manövierfähigkeiten (z.B. bei großen, schweren Vögeln) – mit auffällig gemusterteten Flügelunterseiten zu korrelieren.

    Mich hat das wahrscheinlich vor allem deshalb angesprochen, weil im Garten von meinem Institut regelmäßig kleine Schwärme der oben abgebildeten Halsbandsittiche waghalsige Flugmanöver vollziehen, und dabei zwar viel Krach machen, aber erstaunlicherweise nie ineinander oder gar in die Äste der Bäume fliegen. Und ich bin jederzeit dafür, dass Wissenschaft sich solcher Alltagsrätsel annimmt.

    Die Studie hat auch meine Sympathie, weil sie ein Beispiel ist für Archive Science, also Wissenschaft, die auf der geschickten Nachnutzung bereits bestehender Daten basiert. Das macht fast immer weniger Dreck als neu erhobene Daten, spart besonders im Bereich der Biologie der Ethikkommission Arbeit, und, davon bin ich jedenfalls fest überzeugt, sie hat das Zeug dazu, unerwartete Zusammenhänge aufzudecken, die im üblichen Beantragen-Messen-Publizieren-Zyklus schwer zu finden sind.[3]

    Hunderttausend Blicke

    Wobei: Ganz ohne Leid ging auch diese Studie nicht ab. Die AutorInnen haben Bilder von 3500 Unterseiten von Vogelflügeln aus drei verschiedenen Archiven im Netz gezogen und dabei 1780 Spezies abgedeckt. Um den gesuchten Zusammenhang zu finden, mussten sie zunächst bestimmen, wie konstrastreich oder markant die jeweiligen Flügel eigentlich sind. Dazu haben sie vor allem 30 Studis der Sun Yat-Sen-Uni rekrutiert, die jeweils alle diese Bilder als „starker Kontrast“ oder „eher nicht“ klassifizierten. 3500 Bilder sind viel, wenn mensch sie beurteilen soll. Ich frage mich, wie sich wer nach so einer Sitzung fühlt.

    Um mal eine grobe Abschätzung einzuwerfen: Wenn die Leute schnell waren und alle 10 Sekunden so eine Klassifizierung hinbekamen, reden wir über 30 × 3500 × 10  s ≈ 106 Sekunden oder knapp zwei Wochen (nämlich: 1/30 Jahr) konzentrierter Bildbeurteilung, die in die Arbeit geflossen sind. Whoa.

    Daraus jedenfalls kommt der Score, mit dem das Paper vor allem arbeitet: Wie viele der KlassifiziererInnen haben den Flügel als kontrastreich klassifiziert? Der Score ist auch mal nicht-ganzzahlig, wie etwa beim Sperber in Abbildung 1, der auf 0.4 kommt; das passiert, wenn mehrere Bilder einer Spezies gemittelt werden.

    Für kontrolliert aufgenommene Bilder aus Museumssammlungen berechnet das Paper weiter als eine Art „objektiver“ Größe Standardabweichungen über die Grauwerte der Pixel der Schwingen. Zu dem Teil der Arbeit hätte ich einiges Rumgemäkel. Ganz vornedran gefällt mir nicht, dass dieses Maß kleinräumiges Rauschen, das plausiblerweise nicht gut als mittelreichweitiges Signal taugt (und das sie in ihren Anweisungen für ihre Studis auch wegfiltern wollten), genauso behandelt wie großräumige Strukturen. Mit etwas Glättung und Segmentierung wäre das sicher viel besser gegangen, und da sie eh schon opencv verwenden, hätten es dazu auch nicht schrecklich viel Aufwand gebraucht.

    Eigenartig finde ich auch, dass sie die Bilder in Grauwerte umgerechnet haben, während sie im Paper öfter über Farben reden. In der Tat muss mensch Vögel nur ansehen, um stark zu vermuten, dass sie (und ganz besonders die Vogelfrauen) sehr wohl Farben wahrnehmen. In der Tat sehen manche sogar UV und dürften in jedem Fall eher besser Farbwahrnehmung haben als wir.

    Ich hätte also die „objektiven“ Kontrastscores doch zumindest mal separat nach Farbkanälen ausgewertet – das wäre nicht viel Arbeit gewesen und hätte das Hedging in der Artikelzusammenfassung überflüssig gemacht. Aber dann: es spielt für den Rest des Papers nur eine eher untergeordnete Rolle, weil sie diese Standardabweichungen eigentlich nur dazu verwenden, ihre „manuellen“ Scores zu validieren, indem nämlich (für mich offen gestanden etwas überraschend) die beiden Typen von Scores recht stark korrelieren.

    Zu diesen Scores kamen schließlich aus anderen Archiven – vor allem wohl dem trotz Javascript- und local storage-Zwang bezaubernden Birds of the World – Merkmale wie Masse, Schwarmgröße oder „Koloniebrüterei“ für 1780 Spezies, wobei letzteres einfach wahr oder falsch sein konnte.

    Monte Carlo Markov Chain

    Und jetzt mussten die AutorInnen nur noch sehen, welche dieser Merkmale mit ihren Kontrast-Scores korrelierten. Dazu fuhren sie recht schweres Geschütz auf, nämlich über MCMC-Verfahren geschätzte Verteilungen – erfreulicherweise unter Verwendung der Freien Software R und MCMCglmm. Ich kann nicht sagen, dass ich verstehen würde, warum sie da nicht schlichtere Tests machen. Vermutlich würde es helfen, wenn ich wüsste, was „the phylogenetic relatedness among species was included as a random effect in these models“ praktisch bedeutet und warum sie das überhaupt wollen.

    Aber solche Fragen sind es, wozu mensch FachwissenschaftlerInnen braucht, und ich bin, was dieses Fach angeht, kompletter Laie (erschwerend: ich habe noch nicht mal in meinem Fach wirklich was mit MCMC gemacht). So will ich gerne glauben, dass das methodisch schon in Ordnung geht.

    Vielleicht ist das aber auch wurst, denn die nach den Modellen richtig überzeugende Korrelation ist auch in Abbildung 3 des Papers mit einer großzügigen Portion Augenzusammenkneifen zu erkennen:

    In klaren Worten: Bei Vögeln, die in Kolonien brüten, geht die Strukturierung der Flügelunterseiten deutlich stärker mit der Masse des einzelnen Vogels nach oben als bei Vögeln, die das nicht tun. Wer etwa die Pelikane von Penguin Island vor Augen hat:

    Foto: Pelikane und andere Vögel stehen in loser Gruppe, zwei landen in ziemlicher Nähe

    oder, viel näher und mit kleineren Vögeln, die Insel der Möwen in der Wagbach-Niederung:

    Foto: Insel mit sitzenden und brütenden Möwen

    mag schon ein Bild entwickeln von einem gewissen evolutionären Druck auf, sagen wir, Pelikane, Mechanismen zu entwickeln, die es leichter machen, nicht ineinander zu fliegen.

    Aber ganz ehrlich: so richtig schlagend finde ich das Paper nicht. Ein wenig mehr Betrachtung, warum zum Beispiel die Vögel, die den blauen Punkte rechts unten in der oben reproduzierten Abbildung 3 entsprechen, offensichtlich auch ohne wohlmarkierte Flügel relativ kollisionsfrei gemeinsam brüten können, hätte mir schon geholfen, etwas mehr Vertrauen zu den Schlüssen zu fassen.

    Oder umgekehrt: Koloniebrüter haben plausiblerweise auch andere zusätzliche Kommunikationsbedürfnisse als andere Vögel, z.B. beim auskaspern, wer wo brüten darf (cf. Kopffüßer in Octopolis). Vielleicht kommt der Extra-Aufwand bei der Gestaltung der Schwingen ja auch daher? Und die Korrelation mit der Größe hat vielleicht mehr was mit Beschränkungen bei der Strukturbildung zu tun? Hm.

    Referees, gebt euch etwas mehr Mühe

    Beim Lesen des Textes habe ich mir übrigens an ein paar Stellen gedacht, dass die GutachterInnen des Papers schon noch ein paar gute Ratschläge mehr hätten geben können. So schreiben die AutorInnen allen Ernstes „Birds are well known for their ability to fly, besides a few flightless lineages such as ratites and penguins“ – das kann mensch in einem Kinderbuch machen oder in GPT-3-generierten Textoiden, die die Aufmerksamkeit von Google gewinnen sollen; in einem Fachartikel in einer biologischen Fachzeitschrift wirkt es jedenfalls für einen Physiker ziemlich verschroben.

    Hätte ich das begutachtet, hätte ich weiter angemerkt, dass, wer Rocket Science wie verallgemeinerte lineare Modelle mit MCMC aufruft, besser nicht den Schätzer für die Standardabweichung (Gleichung 2.1) breit ausstellen sollte – und dann noch als einzige Gleichung im ganzen Paper. Das ist ein wenig wie bei dem Monty-Python-Sketch zur Kilimandscharo-Expedition: Wir fahren über die Gneisenaustraße zur B37, wechseln am Heidelberger Kreuz auf die A5 und dann fahren dann weiter zum Kilimandscharo.

    Natürlich ist Begutachtung von Fachveröffentlichung ein brotloser Job (auch wenn ich vermute, dass es fast jedeR macht wie ich und dafür jedenfalls mal eine gute Ecke Arbeitszeit verwendet; dann ist es eine weitere öffentliche Subvention für die Verlage). Aber trotzdem, Referees: Ratet zu weniger Text! Nicht zuletzt gibt es ja bei vielen Blättern noch (und im Zusammenhang mit Open Access gerade) Page Charges – Leute müssen also dafür bezahlen, dass ihre Artikel gedruckt werden, und um so mehr, je länger der Artikel ist. Weniger Text schadet also den Verlags-Geiern und ist mithin ein Gewinn für alle anderen! Ref: „Academic publishers make Murdoch look like a socialist“.

    [1]Disclaimer: Auch, wenn das hier anders aussehen mag, füttere ich mitnichten Papageien oder andere Wildtiere. Aber ich kann nicht lügen: Ich bin jenen dankbar, die es tun, weil ich ohne sie weit weniger hübsche Tiere zu sehen bekäme.
    [2]Stetige LeserInnen dieses Blogs sind der Stadt am Perlfluss zum letzten Mal in SARS-1 und das Zimmer 911 begegnet.
    [3]Noch ein Disclaimer: Ich werde dafür bezahlt, Archive Science zu ermöglichen. Es könnte also sein, dass ich in diesem Zusammenhang nicht mein übliches Neutralitätslevel „Salomon“ erreiche.
  • Religion vs. Wissenschaft: Null zu Eins gegen kleine Geschwister

    Detail aus einem gemalten Bild: Benedikt gestikuliert, Scholastika betet ihn an

    Geschwisterliebe – hier zwischen Benedikt und Scholastika von Nursia – in der Fantasie des Illustrators der Klosterkirche Elchingen (Dank an den Wikipedia-Fotografen).

    Am 22. September musste ich etwas früher als normal aufstehen, und so bekam ich die Morgenandacht im Deutschlandfunk mit. Thema war unter anderem die große Geschwisterliebe zwischen Benedikt von Nursia und seiner Schwester Scholastika von Nursia. Die Geschichte ist, wie wohl die meisten Heiligenlegenden, etwas Stulle. Gregor ruft die Pflicht, Scholastika will aber noch etwas Zeit mit ihrem Bruder verbringen, was im DLF-Andachtsduktus so klingt:

    Sie kann nicht genug bekommen. Sie hat noch so viel auf dem Herzen. Und so betet sie. Und kurz darauf tobt ein Unwetter los. Benedikt kann erstmal nicht ins Kloster zurückkehren. Zum Glück für Scholastika.

    Geschwisterliebe?

    Nun wäre viel zu diesem Stakkatostil zu sagen, doch kann ich, der ich am liebsten jeden zweiten Satz mit einem „und“ anfangen würde, da nicht hinreichend sicher mit Steinen werfen. Mich hat aber ohnehin eher die Einleitung zu dieser Passage gereizt:

    Papst Gregor der Große hat dieses Gespräch, das sich im Jahr 543 ereignet haben muss, aufgeschrieben. [Hervorhebung ich]

    Umm… Schon zu Benedikt selbst steht in der Wikipedia zur Zeit:

    Eine Minderheit von Forschern bezweifelt aufgrund der problematischen Quellenlage, dass Benedikt eine reale historische Persönlichkeit war. [...] Der Theologe Francis Clark legte 1987 eine zweibändige Untersuchung der Dialogi [der angeblich von Gregor dem Großen verfassten Hauptquelle zu Benedikt] vor, in der er die Hypothese vertritt, das Werk sei unecht. Der Verfasser sei nicht der 604 gestorbene Papst Gregor, sondern ein Fälscher, der im späten 7. Jahrhundert gelebt habe.

    Der Wikipedia-Artikel geht noch weiter auf die darauf folgende Kontroverse ein, die ich als Laie mit „mehr oder weniger offen im Hinblick auf die Existenz einer einzigen Person mit den wesentlichen Punkten von Benedikts Biografie“ zusammenfassen würde.

    Zu Scholastika nun finden sich außerhalb der frommen Legenden von Gregor oder einem Gregor-Fälscher überhaupt keine Spuren. Dass „Benedikt“ als (mutmaßlicher) Erfinder von Ora et Labora eine Schwester, gar Zwillingsschwester, haben soll, die irgendwas wie Gelehrsamkeit heißt: Also bitte! Das kann mensch 400 Jahre nach Gallilei und fast 200 Jahre nach Baur und seiner Schule gerne mit mildem Spott oder meinetwegen auch freundlicher Verspieltheit rezipieren – aber jedenfalls nicht als „ereignet haben muss“.

    Nichts als Stress

    Die fromme Legende von der innigen Geschwisterliebe hat mich jedoch immerhin daran erinnert, dass ich noch einer anderen Geschichte zur Geschwisterthematik aus dem Deutschlandfunk nachgehen wollte, und zwar einem Segment aus Forschung aktuell am 13. September.

    Hintergrund davon ist eine Arbeit von Verena Behringer vom Deutschen Primatenzentrum (DPZ) in Göttingen und einigen KollegInnen, „Transition to siblinghood causes a substantial and long-lasting increase in urinary cortisol levels in wild bonobos“ (sagen wir: „Wilde Bonobos stresst es, kleine Geschwister zu kriegen“), die dieses Jahr in eLife erschienen ist, doi:10.7554/eLife.77227.

    Der Artikel hat mich schon deshalb interessiert, weil meine KollegInnen vom Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung, seit sie aus der niedersächsischen Provinz nach Göttingen gekommen sind, Nachbarn des DPZ sind und berichten, von dort seien öfter mal seltsame Geräusche zu hören. Insofern bin ich neugierig, was am DPZ so geforscht wird.

    Behringers Arbeit scheint allerdings kein Fall für die Ethikkommission zu sein, auch wenn da zweifelsohne eine draufgeguckt haben wird; dazu unten ein paar Worte. Als kleiner Bruder habe ich aber auch ein persönliches Interesse an den Ergebnissen, denn wir kleine Geschwister kommen in der Arbeit gar nicht gut weg. Grafisch dargestellt:

    Die Punkte in den Plots entsprechen Konzentrationen von Cortisol im Urin von jungen Bonobos. Cortisolspiegel gelten in vielen Spezies als Proxy dafür, wie gestresst ein Individuum gerade ist. Beachtet, dass die Ordinate logarithmisch aufgeteilt ist; auch wenn ein linearer Zusammenhang zwischen „gefühltem“ Stress und dem Spiegel ausgeschlossen werden kann, ist hier jedenfalls viel Dynamik im Graphen.

    Auf der Abszisse stehen die Jahre vor bzw. nach der Geburt des jeweils ersten kleinen Geschwisters. Der senkrechte Strich zwischen Null und Eins markiert fünf Monate nach der Geburt des Geschwisters. Schon ohne tiefergehende Analyse fällt auf, dass in diesen ersten fünf Monaten als Schwester oder Bruder die Bonobos nie entspannt waren und sich die Stresslevel (wenn mensch denn an den Cortisolproxy glaubt) durchweg stark am oberen Rand bewegen. Danach, immerhin, normalisiert sich die Situation erkennbar.

    Die Linien mit so einer Art Konfidenzintervallen drumrum sind Modellfits für den „typischen“ Verlauf des Cortisolspiegels, jeweils getrennt nach Jungen und Mädchen (die Bestimmung der Farbzuordnung ist dem/der LeserIn zur Übung anempfohlen). Der Schluss ist fast unausweichlich: kleine Geschwister sind Stress, jedenfalls für eine ganze Weile. TTS nennen das Behringer et al, Transition to Siblinghood.

    Alle zehn Tage ein paar Tropfen Urin

    Wer sich fragt, wie die Leute an die Urinproben gekommen sind: Nun, die Max-Planck-Gesellschaft betreibt im Kongo eine Einrichtung namens LuiKotale, die in der Openstreetmap als tourism:camp_site getaggt ist. Es lohnt sich, die Karte etwas rauszuzoomen, um ein Gefühl dafür zu kriegen, was für eine einsame Angelegenheit das ist und wie klein das Risiko, dass sich wirklich mal TouristInnen dorthin verirren könnten. In der Umgebung des Camps leben einige Stämme von Bonobos, die sich an urinsammelnde und zuguckende Menschen gewöhnt haben, ansonsten aber offenbar ihrem üblichen Leben nachgehen können.

    Die DPZ-WissenschaftlerInnen haben zwischen Juli 2008 und August 2018 – ich bin allein schon wegen der zehn Jahre beeindruckt – Urin vom Bonobonachwuchs gesammelt, wenn er (der Urin, nicht der Nachwuchs) auf Blättern gelandet ist und nicht verkotet war. Aus diesen Proben konnten sie offenbar Konzentrationen verschiedener Hormone – darunter Cortisol – bestimmen. Ich verstehe zu wenig von den Laborprozeduren, um beurteilen zu können, wie groß die Fehlerbalken an den Punkten im Plot oben wohl sein sollten. Alleine die Überlegung, dass die Blätter nicht immer trocken gewesen sein werden, schlägt schon sehr große statistische Fehler vor. Andererseits würden selbst Fehler von 50% in der logarithmischen Darstellung nicht besonders auffallen und jedenfalls nichts an den grundsätzlichen Ergebnissen ändern.

    Am Schluss kamen über die zehn Jahre 319 nutzbare Urinproben von passenden Kindern zusammen. Die Leute haben also weniger als alle zehn Tage eine Probe gewinnen können. Ihre Methode mag ethisch weitgehend unbedenklich sein, sie braucht aber ganz klar viel Geduld und Glück.

    Etwas verblüffend finde ich, dass im Sample 20 Mädchen, aber nur 6 Jungen vorhanden sind. Ein solches Ungleichgewicht ist – ohne das jetzt wirklich durchgerechnet zu haben – fast sicher kein Zufall. Sind die Jungen vielleicht scheuer? Sie hängen jedenfalls signifikant mehr an ihren Müttern (Abb. 2 D im Artikel). Gibt es in den beobachteten Stämmen vielleicht einfach weniger von ihnen? Wenn die Studie das kommentiert, habe ich es überlesen.

    Versuch einer Ehrenrettung

    Die Arbeit verwendet einige Sorgfalt darauf, herauszukriegen, was genau diesen Stress auslöst. Zusammengefasst sind die zentralen Ansätze in der Abbildung 2 im Paper, die betrachtet, was sich postnatal sonst noch so alles ändern könnte im Verhältnis von Mutter und großem Geschwister. Die zugrundeliegenden Daten wurden durch stundenweise Beobachtung der jeweiligen Kinder gewonnen. Ja, diese Leute kennen ganz offenbar ihre Affen.

    Es zeigt sich, dass weder beim Säugen (oder entsprechenden Ersatzhandlungen) noch beim Kuscheln oder der gemeinsamen Nahrungsaufname über die Geburt hinweg viel passert, denn die Mütter entwöhnen größtenteils schon vorher. Beim Rumschleppen („Riding“) der älteren Kinder tut sich tatsächlich etwas, jedenfalls, wenn diese älteren Kinder selbst noch jung und männlich sind (Abb. 2 D und E im Paper). Dieser Alterseffekt ist aber in den Cortisoldaten nicht nachweisbar, so dass „weniger getragen werden“ als Grund des starken Stresssignals wohl ausfällt.

    Die AutorInnen spekulieren über weitere Gründe für das erhöhte Stressniveau, beispielsweise, dass die Geschwister mit dem Baby spielen wollen, aber nicht dürfen (yeah, right), oder dass sich die Mütter perinatal von der Gruppe absetzen und so auch die Geschwister isolierter sind. Stress könnten auch die üblichen Grobiane in den Stämmen machen, indem sie die älteren Kinder ärger quälen, während die Mutter anderweitig beschäftigt ist. Richtig überzeugend ist das alles nicht. Kleine Geschwister sind wohl einfach an und für sich stressig.

    Und es handelt sich klar um ein starkes Signal. Aus den Modell-Fits ergibt sich, dass sich bei der TTS die Cortisolniveaus verfünffachen. Demgegenüber kommen Menschen, wenn sie den Tieren im Labor Stress machen wollen, gerade mal auf eine Verdoppelung der Cortisolniveaus, bei Kämpfen zwischen Bonobo-Stämmen ist es kaum ein Faktor 1.5. Erst eine schlimme Lungenseuche, an der ziemlich viele Tiere starben – deutlich mehr als Menschen an SARS-2 – hat einen ähnlichen Effekt gehabt, so in etwa einen Faktor 10.

    Als Merksatz ließe sich also für die ersten fünf Monate des Große-Geschwister-Daseins feststellen: Kleine Geschwister sind ungefähr so schlimm wie Corona.

    Erstaunlicherweise gibt sich das alles nach den ersten fünf Monaten. Behringer et al machen den Scholastika-ErzählerInnen auch ein paar Friedensangebote.

    Alternatively, it has been suggested that early-life events of ‘tolerable stress’ [...] may serve to prime subjects to develop stress resistance later in life. Moreover, TTS may accelerate acquisition of motor, social, and cognitive skills [...] Having an older sibling may enhance the development and survival of the younger sibling that contributes to the inclusive fitness of both the older sibling and the mother.

    Würde ich die Dinge nur aus der …

  • Das ist keine Schlange

    In einem deutlich reptilienorientierten Blog wie diesem habe ich die unabweisbare Verpflichtung, ein paar Sekunden eines Mitschnitts einer Begegnung am letzten Samstag unterzubingen:

    Was das so anmutig züngelt und schlängelt, ist jedoch keine Schlange. Es ist eine Blindschleiche. Also eine Schleiche, womit ihre Beinlosigkeit eher ein Zufall ist.

    Ihr könntet jetzt einwenden, dass das mit Schleichen und Schlangen völlig wertloses Wissen ist. Das ist es aber nicht.

    Stellt euch vor, ihr begegnet so einer Blindschleiche auf der Straße, und sie ist nicht dazu zu bewegen, sich vor herankommenden Autos in Sicherheit zu bringen, vielleicht, weil sie noch nicht hinreichend warm geworden ist. Wäre sie eine Schlange, könntet ihr sie am Schwanz packen und wegtragen. Also gut: vielleicht gibt es bei manchen Schlangen weitere Erwägungen, die das immer noch als einen eher begrenzt cleveren Plan qualifizieren könnten, aber die sind hier nicht mein Thema.

    Schleichen jedenfalls solltet ihr so nicht anfassen, denn sie werden wie Eidechsen ihren Schwanz abwerfen, wenn sie den Eindruck haben, dass sie jemand daran wegtragen will. Das tun sie so gerne, dass Linné sogar ihren zoologischen Namen, Anguis fragilis, zerbrechlich, danach gewählt hat. Anders als Eidechsen lassen sie ihn zudem nicht nachwachsen. In den Worten der Wikipedia:

    In manchen Populationen hat mehr als die Hälfte der Erwachsenen keinen vollständigen Schwanz mehr.

    All das war mir neu. Danke, Wikipedia. Und sagt, was ihr wollt: Taxonomie ist alles andere als ein Orchideenfach.

  • Libellen aufs Kreuz gelegt

    Eine Königslibelle sitzt senkrecht an einem Stück Holz; seitlich hängt eine leere Hülle einer Libellenlarve.

    Diese Libelle – ausweislich der leeren Larvenhülle halbrechts unten wahrscheinlich gerade erst geschlüpft – ist hoffentlich Zeit ihres Lebens (ein paar Wochen im Sommer 2020) mit sehenden Augen in der Gegend vom Weißen Stein herumgeflogen.

    Als ich in den Kurzmeldungen in Forschung aktuell vom 16.5. (ab Minute 1:50) davon hörte, wie Leute Libellen auf den Rücken gedreht und dann fallen gelassen haben, habe ich unmittelbar Lausbuben assoziiert, die strampelnden Käfern zusehen. Das hörte sich nach einer vergleichsweise eher gutgelaunten Angelegenheit für meine fiktionale Ethikkommission an. Jetzt, wo ich die zugrundeliegende Arbeit, „Recovery mechanisms in the dragonfly righting reflex“, Science 376 (2022), S. 754, doi:10.1126/science.abg0946, gelesen habe, muss ich das mit der guten Laune etwas relativieren.

    Zunächst beeindruckt dabei der interdisziplinäre Ansatz. Hauptautorin ist Jane Wang, Physikerin von der Cornell University (kein Wunder also, dass im Paper eine Differentialgleichung gelöst wird), mitgeholfen haben der Luftfahrtingenieur James Melfi (auch von Cornell; kein Wunder, dass rechts und links Euler-Winkel gemessen werden) und der Neurobiologe Anthony Leonardo, der am Janelia Resarch Campus in Virgina arbeitet, augenscheinlich eine Biomed-Edeleinrichtung im Umland von Washington DC.

    Zusammen haben sie mit Hochgeschwindingkeitskameras eine Variante des Schwarzweiß-Klassikers „Wie eine Katze auf den Füßen landet[1] aufgenommen, dieses Mal eben mit Libellen. Dabei haben sie den Libellen einen Magneten auf den Bauch geklebt, sie mit diesem in Rückenlage an einem Elektromagneten festgeklemmt, gewartet, bis sich die Tiere beruhigt hatten und dann den Strom des Elektromagneten abgeschaltet, so dass die Libellen (im physikalischen Sinn) frei fielen.

    Libellen rollen präzise nach rechts

    Wenn das exakt so gemacht war, war offenbar sehr vorhersehbar, was die Libellen taten. Wang et al geben an, es sei ganz entscheidend, dass die Füße der Tiere in der Luft hängen, weil sonst einerseits eigene Reflexe von den Beinen ausgelöst würden und andererseits die Libellen selbst starten wollen könnten: „voluntary take-off via leg-kicks introduces a large variability“.

    Bis dahin regt sich meine Empathie nur wenig. Zwar schätzen es die Libellen ganz sicher nicht, auf diese Weise festgehalten zu werden. Aber andererseits ist das alles ganz gut gemacht, und die Ergebnisse der Studie sind soweit ganz überzeugend und beeindruckend. Die Tiere drehen sich konsistent um ihre Längsachse, um wieder auf den Bauch zu kommen, fangen mit der Drehung nach gerade mal 100 ms an (als Reaktionszeit für Menschen gelten so etwa 300 ms; aber ok, wir haben auch viel längere Nerven) und sind dann nach gut zwei Zehntelsekunden oder vier Flügelschlägen fertig, also bevor unsereins überhaupt beschlossen hätte, was zu tun ist.

    Für mich unerwarteterweise findet die Drehung sehr kontrolliert und offenbar vorgeplant statt. Ich lese das aus der Tatsache, dass die Winkelgeschwindigkeit der Drehung zwischen 170 Grad (fast auf dem Rücken) und vielleicht 40 Grad (schon recht gut ausgerichtet) praktisch konstant ist. Abbildung 2 B des Papers fand ich in der Hinsicht wirklich erstaunlich: nicht vergessen, das Tier bewegt derweil ja seine Flügel.

    Die AutorInnen betrachten weiter die Stellung der beiden Flügelpaare im Detail, um herauszubekommen, wie genau die Libellen die präzise Drehung hinbekommen. Das ist bestimmt sehr aufregend, wenn mensch irgendwas von Flugzeugbau versteht, aber weil ich das nicht tue, hat mich das weniger begeistert. Außerdem war ich zu dem Zeitpunkt bereits etwas voreingenommen, nachdem ich erfahren hatte, dass, um die Flügelstellung mit den Analyseprogrammen, die Wang et al hatten, rekonstruieren zu können, die Libellen mit Nagellack sechs Punkte auf die Flügel gemalt bekamen.

    Die Erzählung wird düsterer

    Für die Libellen noch unangenehmer dürfte, so denke ich mir, das kleines Y-förmige Plastikgestell gewesen sein, das ihnen die ExperimentatorInnen auf den Thorax geklebt haben. Sie sagen, es sei nötig, um das Bezugssystem der fallenden Libelle bestimmen zu können. Und dann gibts noch den Magneten, der die Libelle vor dem Abwurf hält: alles zusammen wiegt ungefähr 25 mg, bei einer Libelle, die selbst gerade mal ein Viertelgramm wiegt. Andererseits, und das will ich gerne glauben, nehmen heranwachsende Libellen bis zu 50 mg am Tag zu (sie haben ja auch nur ein paar Wochen Zeit als Imago), so dass sie Massenänderungen dieser Art vielleicht wirklich nicht belasten.

    Tote Königslibelle hängt in der Luft an einem Spinnfaden

    Wie es eine Spinne hinbekommen hat, diese Libelle zu erlegen, weiß nicht nicht. Aber immerhin sind ihre Augen und Ocellen nicht zugepinselt.

    Wirklich geregt hat sich mein Mitleid – unter der Maßgabe der letzten Absätze der Geschichte mit den Wespen – aber, als es um die Frage ging, woher Libellen eigentlich ihre Orientierung kennen, woher sie also wissen, ob sie gerade auf dem Rücken fliegen oder vielleicht auf der Seite.

    Die Arbeitshypothese von Wang et al war offenbar, dass das im Wesentlichen der Sehsinn ist. Moment: „Der Sehsinn“? Nein: „Die Sehsinne“. Libellen haben nämlich gleich zwei davon, einerseits ihre Facettenaugen, dazu jedoch noch einfache, nicht abbildende Sensoren, die Ocellen. Ich sags ganz ehrlich: Ich habe das Paper vor allem gelesen, weil ich wissen wollte, wie sie den Libellen die Augen und Ocellen verbunden haben.

    Da ich das jetzt weiß, kenne ich die Stelle, an der ich als Ethikkommission nein gesagt hätte, denn die Sinne der Tiere wurden mit einem bestimmt nicht mehr entfernbarem Pamp aus schwarzer Farbe vermischt mit UV-blockierendem Kleber zugekleistert. Die Versuchsreihe mit geblendeten Libellen haben Wang und ein lediglich in den Acknowledgements erwähnter Leif Ristroph unabhängig von der ersten durchgeführt, dramatischerweise im Courant-Institut, grob als „Angewandte Mathe“ zu klassifizieren, unangenehm nah an dem, wofür ich bezahlt werde.

    „Drei kamen durch“ ist kein Rezept für gute Wissenschaft

    Diese beiden haben also vierzehn Libellen in New York City gefangen und elf weitere von KollegInnen bekommen. Und jetzt (aus dem Supplementary PDF):

    Beim Bemalen der Augen und Ocellen ist es wichtig, einen feinen Pinsel zu verwenden, damit keine Farbe auf den Hals oder Mund [des Tieres] tropft.

    Aus dieser Sammlung von Libellen haben drei die vollständigen Experimente überlebt, zwei der Gattung Perithemis tenera, eine der Gattung Libellula lydia. Dies umfasste die Tests mit normalem Sehsinn und mit blockierten Sehsinnen. Alle waren präzise [? Original: rigorous] Flieger. Mit funktionierendem Sehsinn rollten sie nach rechts. Sie überlebten auch mindestens zwei Kältephasen im Kühlschrank, eine vor dem Ankleben des Magnets, eine weitere vor dem Bemalen der Augen.

    Nennt mich angesichts dessen, was wir täglich 108-fach mit Hühnern, Schweinen, Rindern und Schafen machen, sentimental, aber wenn ein Protokoll von 25 Tieren 22 tötet, bevor das Experiment fertig ist, ist es nicht nur roh, sondern fast sicher auch Mist. Es ist praktisch unvorstellbar, dass bei so einer Selektion nicht dramatische Auswahleffekte auftreten, die jedes Ergebnis mit Fragezeichen in 72 pt Extra Bold, blinkend und rot, versehen.

    In diesem Fall war das Ergebnis übrigens, dass die Libellen ohne Ocelli etwa 30% später mit dem Drehen anfingen und anschließend nicht mehr ins Gleichgewicht kamen, bevor die Kamera voll war (ich hätte es trotzdem nett gefunden, wenn Wang wenigstens anekdotisch berichten würde, ob sie es am Schluss geschafft haben). Mit zugepinselten Facettenaugen sind die Libellen ins Gleichgewicht gekommen, wenn auch langsamer und weniger kontrolliert. Waren Ocellen und Facettenaugen blockiert, sind die Libellen häufig einfach nur runtergefallen „like leaves“.

    Was aber, wenn – ja vielleicht im Einzelfall doch existierende – nichtoptische Gleichgewichtsorgane Libellen anfälliger dafür macht, die Torturen des Experiments nicht zu überleben? Was, wenn auch die überlebenden Libellen anfangs ein nichtoptisches Gleichgewichtsorgan hatten, das aber durchs Einfrieren oder eine andere überwiegend tödliche Prozedur kaputt gegangen ist?

    Hätte ich das Vorhaben ethisch begutachten müssen, wäre ich vermutlich eingestiegen auf Abschnitt 2.3 der ergänzenden Materialien (wenn etwas in der Art im Antrag gewesen wäre), in dem es heißt, „Dragonflies perform mid-air righting maneuvers often during their prey-capture maneuvers”.

    Also… wenn die solche Manöver auch freiwillig fliegen, wäre es dann nicht besser gewesen, sie in solchen Situationen zu filmen? Klar, das wäre dann wahrscheinlich fies den Ködern gegenüber, die mensch ziemlich sicher fest positionieren (und damit ihrerseits festkleben) müsste, damit das mit dem Hochgeschwindigkeitsfilmen klappt. Aber trotzdem: Für mich wäre das das mildere Mittel gewesen.

    Außerdem hätten die Köder ja Mücken sein können.

    Nachtrag (2022-07-11)

    Meine Sorgen über ethisch grenzwertige bis unhaltbare Experimente mit Insekten liegen offenbar im wissenschaftlichen Trend. Am 10. Juli haben die Science Alerts einen Beitrag über die Schmerzwahrnehmung von Insekten veröffentlicht, der einige weitere beunruhigende Experimente anführt (etwa zu Phantomschmerzen bei Drosophilen). Immer mehr sieht es aber so aus, als fände bei vielen Insekten durchaus Schmerzverarbeitung statt, auch wenn diese im Detail etwas anders funktioniert als bei uns.

    [1]

    Das Genre „Wir drehen Tiere auf den Rücken und lassen sie fallen“ ist ausweislich des Papers beeindruckend fruchtbar. Zumindest heißt es …

  • Darf mensch Königinnen aufeinander hetzen?

    Nicht in meiner DLF-Lieblingssendung Forschung aktuell, sondern im Freistil vom 5.6.2022 bin ich auf den nächsten Fall meiner kleinen Sammlung von Fragen an die Ethikkommission bei Tierversuchen gestoßen. Im Groben: Ist es ok, Tiere bewusst und absichtlich gegeneinander kämpfen zu lassen? Und gibt es im Hinblick auf diese Frage Unterschiede zwischen Stieren und Regenwürmern?

    Aus meiner Sicht nicht weit von der Mitte der Wurm-Rind-Skala entfernt befinden sich die Papierwespen, für die die deutsche Wikipedia enttäuschenderweise auf die ordinäre Wespenseite weiterleitet. Speziell für die Stars dieses Posts, Polistes fuscatus – die biologische Normenklatur könnte mich der Physik abspenstig machen – gibt es immerhin einen Link auf der Feldwespen-Seite, doch hat sich noch niemand gefunden, der/die die zugehörige Seite angefangen hätte.

    Portraits von vier Wespen

    Fast noch spannender als die Frage, ob Wespen die Gesichtszeichnungen von Individuen auseinanderhalten können, finde ich ja die Frage, ob sie auch mal gut gelaunt aussehen können. Bildrechte: doi:10.1016/j.cub.2008.07.032 (bearbeitet).

    Bei Freistil klang es nun so, als habe jemand jeweils zwei Königinnen dieser Wespen miteinander bekannt gemacht; dass sie sich erkennen können, und zwar ziemlich sicher am Gesicht, ist offenbar spätestens seit den Arbeiten von Michael Sheehan und Elizabeth Tibbetts wohlbekannt. Unter den einschlägigen Artikeln, die ab den 2000er Jahren an der Uni von Michigan in Ann Arbor entstanden sind, ist viel zitiert „Specialized Face Learning Is Associated with Individual Recognition in Paper Wasps“ (viel zitiert vermutlich weil: Science 334 (2011), 1272, doi:10.1126/science.1211334). Das darin beschriebene Experiment ist erkennbar nicht das, von dem im Freistil die Rede war, wirft aber selbst eine ethische Frage auf:

    Darf mensch Königinnen elektroschocken?

    Sheehan und Tibbet gaben den Wespen nämlich eine T-förmige Flugzone, die überall Elektroschocks verabreichte, bis auf eine Stelle, die dann mit einem von einem paar von Bildern markiert war. Mithin war der Reiz, den die Leute zum Training der Wespen nutzten, die Abwesenheit von Elektroschocks, wenn es die Wespen richtig machten. Hm. Hrrmmmmmmmm! Wäre das nicht auch etwas freundlicher gegangen?

    Ausgangspunkt der Arbeit war die Vermutung, dass fuscatus-Wespen, die staatenbildend sind und deren Königinnen sich vor Gründung ihres Staates mit einem ganzen Haufen anderer Wespen raufen, zwei verschiedene Wespengesichter besser auseinanderhalten können („habe ich gegen die schon mal verloren?“) als metricus-Wespen, die meist allein leben und sich wenig prügeln. Um ein wenig sicherer zu sein bei der Frage, was da eigentlich beobachtet wird, haben Sheehan und Tibbetts auch Versuchstiere („healthy wild-caught adult female[s]“) auf Raupen (die die Wespen gerne essen), geometrische Zeichen (Kreuze, Dreiecke und sowas) und Wespenköpfe ohne Antennen trainiert.

    Das Ergebnis: Wespengesichter mit Antennen haben ausgelernte fuscatus-Wespen in 80% der Fälle vorm Elektroschock bewahrt (wobei der Nulleffekt 50% wäre), und sie haben die Gesichter schneller gelernt als die an sich viel einfacheren Zeichen. Waren die Antennen rausretuschiert, hat das Lernen länger gedauert, und bei 70% richtiger Wahl war Schluss.

    Wie viel Ausdauer braucht es für 10'000 Versuchsläufe?

    Und von wegen „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“: Wenn der Hinweis aus verschiedenen Raupensorten bestand, haben die Wespen nur in 60% der Fälle die trainierte Raupe gefunden, also fast nicht häufiger als durch Zufall zu erwarten. Und etwa genauso gut wie die einsiedlerischen metricus-Wespen, die mit den Gesichtern ihrer Artgenossinnen gar nichts anfangen konnten.

    Fleißbienchen am Rande: grob überschlagen müssen Sheehan und Tebitt die Wespen gegen 10'000 Mal haben fliegen lassen. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie viel Ausdauer es dafür gebraucht haben mag. Auf beiden Seiten. Aufgrund vorheriger Interaktionen mit Wespen vermute ich jedoch fast, dass für diese der repetetive Charakter der Unternehmung weniger problematisch gewesen sein dürfte. Ach ja, und ich würde gerne wissen, wie viele Stiche sich die beiden Menschen während der Arbeiten eingefangen haben.

    Wie ist es mit Kämpfen?

    Sheehan, der inzwischen an die Cornell-Universität in New York gewechselt ist, hatte schon zuvor (und hat noch weiter) mit den Wespen gearbeitet und berichtet darüber zum Beispiel in Current Biology 18 (2008), Nr. 18, R851 (doi:10.1016/j.cub.2008.07.032), „Robust long-term social memories in a paper wasp“. Für diese Studie haben die Leute ebenfalls einen Haufen fuscatus-Papierwespen gefangen, dieses Mal aber gezielt Begegnungen herbeigeführt. Dabei haben sie an Tag 0, 6 und 8 jeweils Wespen zusammengeführt, die sich nicht kannten, am siebten Tag dagegen nochmal die von Tag 0 vorbeigeschickt. Das fand ich schon mal ein recht cleveres Design: Wenn sich die Rauflustigkeit der Wespen generell geändert hätte, wäre das durch die Kontrollen an den Tagen sechs und acht aufgefallen.

    Aber das führt auf die Eingangsfrage: Ist diese Sorte Experiment nicht ziemlich eng verwandt mit Hahnenkämpfen, bei denen zwei Tiere, die, wären sie nicht in menschlicher Gefangenschaft, vermutlich friedlich vor sich hingelebt hätten, künstlich dazu gebracht werden, aufeinander einzuhacken? Wäre ich in einer Ethikkommission, müsste ich zumindest mal etwas nachdenken, ob ich Königinnenkämpfe eigentlich absegnen möchte, auch wenn es hier nicht um das Gaudium einer blutrünstigen Menge, sondern um die Förderung der Wissenschaft geht.

    Unter Bekannten doppelt so viele Begegnungen ohne Gewalt

    Immerhin scheinen die Kämpfe der Wespen relativ zivilisiert abzulaufen. Zumindest berichten Sheehan et al nicht davon, dass die Begegnungen an Tag 7 mal hätten ausfallen müssen, weil die Besucherinnen von Tag 0 inzwischen vielleicht totgestochen worden wären (Disclaimer: ich habe die Zusatzdaten nicht auf solche Vorkommnisse hin durchgesehen, denn ich war ja eigentlich auf der Suche nach etwas anderem).

    Das Ergebnis ist wieder recht beeindruckend; kannte sich ein Wespenpaar, gingen offenbar doppelt so viele Begegnungen ohne Gewalt aus wie andernfalls.

    Meine eingestandenermaßen oberflächliche Literaturrecherche hat aber leider kein Paper geliefert, bei dem jemand Wespen geschminkt hätte; ich hatte ich die Geschichte aus dem Freistil nämlich so verstanden, dass jemand zwei Wespen bekannt gemacht hat und dann das Gesicht einer der beiden verändert, um zu prüfen, ob es wirklich das ist, an das sich die Wespen erinnern und nicht etwa, sagen wir, der Geruch oder die Melodie des Summens. Auch wenn das Elektroschockexperiment das sehr nahelegt: Ich finde es völlig plausibel, so ein Schminkexperiment zu machen. Wer die dazugehörige Studie findet: das Antwortfomular gehört völlig euch.

    Empathietraining

    Wer die ganze Sendung hört, dürfte auf ein anderes ethisches Problem stoßen, eines, das mir, der ich nicht in einer Ethikkommission sitze, deutlich mehr Sorgen macht: Im O-Ton wird eingespielt, wie jemand eine Drosophile erst mit Wachs festklebt und dann immer weiter fesselt. „Drosophile“: Ihr merkt, ich habe rein emotional ein spezielles Verhaltnis zu Fruchtfliegen, weil ich in ihnen, die wie ich Obst nicht widerstehen können – je süßer, je besser – ganz entfernt Geistesverwandte sehe.

    Andererseits: Wenn ich den Kompostmüll leere, nehme ich, ehrlich gesagt, keine Rücksicht darauf, wie viele von ihnen ich dabei wohl zerquetsche. Die insgesamt vergleichbar menschenähnlichen Mücken und Zecken töte ich sogar gezielt, wenn ich kann. Und nun habe ich diesen Bericht gehört und musste mich sehr beherrschen, um mich nicht zu empören. Das mag ein wenig zu tun haben mit dem völlig überflüssigen Gag, Enrico Caruso durch das Drosophilenohr aufzunehmen, denn Folter[1] ist nochmal schlimmer, wenn irgendeine Sorte, ach ja, „Humor“ mitschwingt.

    Aber auch ohne das: Ist es verlogen, wenn ich mich über die Misshandlung von Lebewesen empöre, die ich andererseits ohne große Reue und ganz nebenbei – oder gar gezielt – töte?. Auf der anderen Seite will mensch, so glaube ich, diese Anflüge von Empathie auch nicht wirklich bekämpfen. Die Charakterisierung der Feinde als Ratten und Schmeißfliegen (der Namenspate des Münchner Flughafens, Franz Josef Strauß, war Meister dieses Genres), als Tiere also, mit denen Empathie zu haben wirklich schwerfällt, wenn sie sich erstmal ordentlich vermehrt haben, ist ein recht konstantes Feature so gut wie aller Kriege und anderer Massenmorde der Geschichte.

    Mit diesem Gedanken bin ich nach der Freistil-Sendung auf folgendes Fazit gekommen: Selbst wenn es nicht der Tiere selbst wegen geboten sein sollte, schon ganz speziezistische Humanität gebietet es, diese Sorte von Mitleid mit jeder Kreatur zu hegen und nicht zu kritisieren. Und vor den Feldzügen gegen die Nacktschnecken wenigstens noch ein wenig mit sich zu ringen.

    [1]Ja, ich behaupte, es ist Folter, wenn mensch so ein Lebewesen bei lebendigem Leibe immer weiter eingießt, bis es (nehme ich an) erstickt, weil die Tracheen alle dicht sind.
  • Hirsche im Zoo

    Foto: Hirsch, im Hintergrund radelnde PassantInnen

    Nicht weit vom Edersee – praktisch schon im Kellerwald-Nationalpark – laufen Hirsche auch mal bei Tageslicht über herbstliche Felder und bezaubern radelnde TouristInnen. Aber: was machen sie im Zoo?

    „Bikeshedding“ bezeichnet das in vielen Entscheidungsgremien zu beobachtende Phänomen, dass große und tiefgreifende Entscheidungen ohne große Kontroverse durchgewunken, Nebensächlichkeiten[1] jedoch in großer Breite diskutiert werden.

    Als ich heute morgen die DLF-Sendung Wissenschaft im Brennpunkt vom 15.5. hörte, hatte ich eine Art intellektuelles Bikeshedding. In der Sendung geht es um höchst raffinierte Verfahren der Metagenomik, bei der durch Sequenzierung von DNS in mehr oder minder blind aus der Natur entnommenen Proben tiefe Einsichten in Ökologie und Biologie gewonnen werden. Dass sowas geht, dass dabei etwas rauskommt, und teils schon, was dabei rauskommt: Das ist alles sehr beeindruckend.

    Doch mein Wow-Moment kam erst bei folgender Passage (bei ca. Minute 23; der Text auf der DLF-Seite ist leider nicht das Transskript der Sendung):

    Elizabeth Clair [...] berichtete in einer Vorveröffentlichung von einer DNA-Analyse der Luft in einem englischen Zoo. [...] DNA von 25 Arten konnte das Team aufspüren, darunter 17 Zootierarten [...], einige davon bis zu 300 m von der Untersuchungsstelle entfernt. Außerdem ein paar Wildtiere wie Igel und Hirsch.

    Ein wilder Hirsch? Im Zoo? Wie bitteschön soll das denn zugehen? Setzen die elegant über den Zaun des Zoos? Um den gefangenen Tieren vielleicht eine lange Nase zu drehen? Ich gebe zu, dass das verglichen mit den Wundern von Massensequenzierungen doch eher trivial wirkt. Aber ich wüsste wirklich gerne, was der Hirsch dort wollte.

    Aufbauend auf dieser Erfahrung würde ich „behirschen“ als neues Verb vorschlagen, mit der Bedeutung „sich an einer (scheinbaren) Nebensächlichkeit in einer Forschungsarbeit aufhängen und damit deren AutorInnen auf die Nerven gehen“? Nur nebenbei: Ich vermute, wir behirschen in der modernen Wissenschaft fast alle deutlich zu wenig.

    Nachtrag (2022-07-01)

    Auf eine Nachfrage von @StephanMatthiesen hin hat mich die Sache doch nicht losgelassen, und ich musste mal nach dem Paper sehen, von dem im DLF-Zitat die Rede ist. Es scheint, als sei es bereits Anfang 2021 erschienen, und zwar als „Measuring biodiversity from DNA in the air“ von Elizabeth Clare et al, Current Biology (2021), doi:10.1016/j.cub.2021.11.064. Darin heißt es:

    Of special interest was the detection of the European hedgehog (Erinaceus europaeus) in three samples [...] As of 2020, the hedgehog was listed as vulnerable to extinction in the United Kingdom (https://www.mammal.org.uk/science-research/red-list/), making it vital to develop additional methods to monitor and protect existing populations. [...] One commonly cited application of eDNA approaches is the detection of invasive species. We detected muntjac deer (Muntiacus reevesi) in five samples. These muntjacs are native to China but became locally invasive after multiple releases in England in the 19th century. They are now well established in eastern England, the location of the zoological park, and are frequently seen on site. They are also provided in food for several species; thus, the detection of muntjacs may reflect either food or wildlife.

    (Hervorhebung von mir, um die Verbindung zu den Igeln und Hirschen aus der DLF-Sendung zu belegen). Mithin: Wir reden hier von keinem stattlichen Zwölfender, der majestitisch an den Gittern entlangschreitet. Wir reden von Muntjaks, die, so die Wikipedia, „zwischen 14 und 33 Kilogramm“ wiegen und offenbar nur mit Mühe die Größe von Damhirschen erreichen. Und obendrauf kann es gut sein, dass die DNS dadurch in die Luft kam, dass andere Tiere die Muntjaks vertilgt haben und dabei eher ruppig vorgegangen sind.

    Selbst wenn die DNS nicht von Futter, sondern von einem Wildtier abgesondert worden wäre, wäre ihr Vorkommen kaum erstaunlich, wenn mensch die Lage des Tierparks bedenkt. Manchmal (aber selten) verlieren die Dinge doch ein wenig von ihrem Zauber, wenn mensch näher nachsieht.

    [1]Der Begriff „Bikeshedding“ bezieht sich tatsächlich auf überdachte Fahrradstellplätze; dass gerade so eine zentrale und wichtige Einrichtung als Prototyp des Nebensächlichen herhalten muss, sagt natürlich schon einiges aus über unsere Gesellschaft und den weiten Weg, den wir bis zur Befreiung vom Auto noch vor uns haben.
  • Affen zählen ist schwer

    Nachdem mich gestern die Publikationen der Gruppe von Kathelijne Koops so gelockt haben, habe ich gleich eine durchgeblättert, und zwar „How to measure chimpanzee party size? A methodological comparison“ von Kelly van Leeuwen und KollegInnen (doi:10.1007/s10329-019-00783-4, Preprint).

    Bevor ich das lobe, muss ich etwas mosern. Erstens, weil das Ganze von unfreier Software nur so strotzt – die statistische Auswertung ist mit SPSS gemacht (geht ja auch anders), und das Paper wurde wohl in Word geschrieben, auch wenn die Metadaten des Preprints etwas verwirred aussehen (leicht redigiert):

    $ pdftk ZORA198831.pdf dump_data
    InfoKey: ModDate
    InfoValue: D:20220128142734+01&apos;00&apos;
    InfoKey: Creator
    InfoValue: Acrobat PDFMaker 17 f&#252;r Word
    InfoKey: CreationDate
    InfoValue: D:20220128142734+01&apos;00&apos;
    InfoKey: Producer
    InfoValue: GPL Ghostscript 9.25
    

    Warum da nacheinander ein „PDFMaker für Word“ und dann (?) nochmal ein Ghostscript drübergelaufen sind? Hm. Das PDF vom Verlag ist übrigens nochmal anders gemacht und meldet „Acrobat Distiller 10.1.8 (Windows)“ als die Software, die das PDF geschrieben hat. Uh. Ein wenig neugierig wäre ich nun schon, woraus das destilliert wurde.

    Zweitens ist nicht schön, dass die Open-Access-Webseite der Uni Zürich „You need to enable JavaScript to run this app.“ sagt. Das ist in diesem Fall um so weniger angebracht, als sie auch ohne Javascript eine ganz brauchbare Seite ausliefert. Allerdings fehlen in dem Word-generierten PDF die Abbildungen und Tabellen, und sie sind auch nicht erkennbar verlinkt. Immerhin sind beim Verlag (Springer) „Online Resources“ offen (während sie von Leuten, die nicht für hinreichend reiche Unis arbeiten, absurde 37.40 Euro fürs formatierte PDF haben wollen). Zumindest im Falle der ziemlich sinnlos gestapelten Ergebnisse der verschiedenen Methoden in Abbildung 1 ist das Fehlen der Abbildungen aber hier vielleicht sogar verschmerzbar.

    Ich würde noch nicht mal auf die Tests, die die AutorInnen so durchgeklickt haben, furchtbar viel geben, auch wenn sie immerhin ein wenig statistsiche Abbitte geleistet haben (das ist die realweltliche Bedeutung des dann und wann angerufenen hl. Bonferroni).

    Screenshot von Tabelle 1 aus dem bespreochenen Artikel

    Mein persönliches Highlight aus dem Artikel: Eine qualitative Betrachtung einiger systematischer Effekte. Rechte beim Japan Monkey Centre und Springer Japan KK (aus doi:10.1007/s10329-019-00783-4).

    Wirklich schade ist es aber um die Tabelle 1 (wenn die Abbildung hier nicht reicht: Libgen kann helfen). Sie liefert eine schöne Quintessenz der qualitativen Betrachtungen zu möglichen systematischen Fehlern, und die geben gute – und vor allem im Vergleich zu entsprechenden Betrachtungen in der Physik auch recht greifbare – Beispiele für das, von dem ich in meinem Lob von small data geredet habe. Van Leeuwen et al schätzen nämlich die Größe von umherziehenden Schimpansengruppen. Weil die Tiere nun in den Baumkronen umherturnen und noch dazu vielleicht nicht so gern gezählt werden, ist das nicht ganz einfach, und die Leute probieren vier verschiedene Verfahren:

    • Hingehen und Affen zählen
    • Eine Fotofalle aufstellen und sehen, wie viele Schimpansen auf den Bildern sind
    • Anrücken, wenn die Tiere weg sind und zählen, wie viele Tagesnester – leichte Konstrukte aus Blättern und Zweigen, in denen Schimpansen kleine Nickerchen halten – in den Bäumen sind
    • Anrücken, wenn die Tiere weg sind und zählen, wie viele Schlafnester – elaborierte Konstruktionen, in denen ein Schimpanse die Nacht (aber immer nur eine) verbringt – in den Bäumen sind.

    In einer idealen Welt würde für eine gegebene Gruppe immer die gleiche (kleine natürliche) Zahl rauskommen, also vielleicht 5. Und ich finde die erste wertvolle Einsicht schon mal: Selbst einer 5 kann mensch in vielen Bereichen der Wissenschaft nicht vertrauen. Na gut: Als Astronom sollte ich da nicht mit Steinen werfen, denn wir kommen ja auch mit acht, neun oder zehn (Planeten im Sonnensystem) ins Schleudern.

    Wenig überraschenderweise lieferten verschiedene Methoden tatsächlich verschiedene Ergebnisse, und zwar systematisch. Zur Erklärung schlagen die AutorInnen unter anderem vor:

    • Direkte Beobachtungen werden vermutlich große Gruppengrößen bevorzugen, da sich kleinere Gruppen noch scheuer gegenüber Menschen verhalten werden als große – und umgekehrt die Menschen größere Gruppen wegen mehr Geschrei auch leichter finden.
    • Umgekehrt werden direkte Beobachtungen eher einzelne Tiere übersehen, wenn diese besonders scheu sind, was zu einer systematischen Unterschätzung speziell bei besonders wenig an Menschen gewöhnten Gruppen führen wird.
    • Die Fotofallen könnten ähnliche Probleme haben, wenn die Schimpansen ihre Existenz spitzkriegen. Offenbar gibt es da Vermeidungsverhalten. Und natürlich haben Fotofallen nur ein endliches Gesichtsfeld, so dass sie bei realen Schimpansengrupen recht wahrscheinlich einzelne Tiere nicht erfassen werden.
    • Bei den Tagesnestern werden eher Tiere übersehen, weil einige sich gar keine Tagesnester bauen, etwa, weil sie gar kein Nickerchen halten. Und außerdem sind diese Nester häufig so locker gezimmert, dass Menschen sie übersehen. Das kann aber durchaus auch zu einer Überschätzung der mittleren Gruppengröße führen, weil kleinere Tageslager gar nicht auffallen; ähnlich würde es sich auswirken, wenn sich ein Tier zwei oder gar mehr Tagesnester baut.
    • Bei Nachtnestern könnte die Gruppengröße überschätzt werden, weil sich vielleicht mehrere Gruppen zur Übernachtung zusammentun (was dann den Übergang von systematischen Fehlern in interessante Ergebnisse markiert). Demgegenüber dürften die Probleme mit übersehenen kleinen Nachtlagern wie auch mit übersehenen Nestern bei Nachtnestern weniger ins Gewicht fallen als bei Tagnestern, einfach weil sie viel aufwändiger gebaut sind.

    Nun reichen die Daten von van Leeuwen et al nicht, diese Systematiken ordentlich zu quantifizieren, zumal sie sehr wahrscheinlich auch von allerlei Umweltbedingungen abhängig sind – im Paper geht es in der Hinsicht vor allem um die Verfügbarkeit von Obst (mit der die Gruppengröße wachsen könnte, weil mehr Tiere gleichzeitig essen können, ohne sich in die Quere zu kommen) und um die Anwesenheit fortpflanzungsbereiter Schimpansinnen.

    Dass systematische Fehler sehr wohl qualitative Ergebnisse ändern können, zeigt die Studie schön. So werden Gruppen laut Fotofallenmethode größer, wenn sie fortpflanzungsbereite Frauen umfassen; dieses Ergebnis verschwindet aber, wenn die Gruppengrößen durch direkte Beobachtungen geschätzt werden. Durch Nestzählung ist zu dieser Frage keine Aussage möglich, weil jedenfalls ohne viel Kletterei nicht herauszubekommen ist, wie es mit Geschlecht und Zykluslage der NestbauerInnen ausgesehen haben mag.

    Und auch wenn die Arbeit nicht auseinanderhalten kann, wie weit die größeren Gruppen, die sich bei Betrachtung der Nachtnester ergeben, Folge systematischer Fehler bei der Erfassung sind oder durch das Verhalten der Tiere verursacht werden: Klar ist jedenfalls, dass mensch bis auf Weiteres lieber keine Schlüsse von Nachtzählungen aufs Tagesverhalten zieht.

    Was ja auch ein schönes Ergebnis ist.

  • Steinzeit bei Schimpansen

    Foto: Krähe sitzt auf Wildschwein

    Ob diese Krähe überlegt, wie sie das Schwein lenken kann? Und wenn sie rauskriegt, wie das geht, könnte sie es ihren Kindern sagen? (Das ist übrigens im Käfertaler Wildpark)

    Auf meinem Mal-genauer-ansehen-Stapel lag schon seit der Forschung aktuell-Sendung vom 25. Januar die Geschichte von den Schimpansen und den Steinen. In aller Kürze: Irgendwo in Guinea leben zwei Schimpansengruppen (-stämme?), deren eine seit vielen Jahren mit großer Selbstverständlichkeit Nüsse mit Steinen knackt, deren andere aber das noch nicht mal tut, wenn mensch ihnen Steine und Nüsse frei Haus liefert. Der Clou: die beiden Gruppen wohnen nur ein paar Kilometer voneinander entfernt.

    Ich fand diese Geschichte sehr bemerkenswert, und zwar einerseits, weil ich Schimpansen grundsätzlich für kreativ genug gehalten hätte, um bei so viel Nachhilfe schnell selbst aufs Nüsseknacken zu kommen. Krähen zum Beispiel – jedenfalls die im Handschuhsheimer Feld – werfen Nüsse aus großer Höhe auf Teerstraßen, nicht aber auf normale Erde. Na gut, das mag auch soziales Lernen gewesen sein, aber ich will eigentlich schon glauben, dass so eine Krähe da auch selbst draufkommt. Und a propos „sozial“: Wer Möwen kennt, wird wohl wie ich sicher sein, dass deren Muschelknacktechniken, wenn überhaupt, nur durch antisoziales Lernen vermittelt werden könnten.

    Wenn jedoch die Schimpansen zu vernagelt sein sollten, um rasch selbst auf die Nutzung eines Steins zum Nüsseknacken zu kommen, finde ich es andererseits fast unglaublich, dass Gruppen, die nur ein paar Kilometer voneinander entfernt leben, so wenig Austausch haben, dass sich so eine Kultur innerhalb von Jahrzehnten nicht sozusagen intertribal verbreitet. Es gehen doch immer wieder einzelne Tiere auf Wanderschaft, oder nicht?

    Ein Gedanke, der mich beim Hören ein wenig beschäftigt hat, war: Was, wenn das nicht ganz ordinäre Dummheit ist, sondern dessen verschärfte Form, nämlich Patriotismus? In seinem Buch „Collapse – how societies choose to fail or succeed“ (gibts in der Imperial Library) spekuliert Jared Diamond, die mittelalterliche Wikingerkultur auf Grönland sei untergegangen, weil ihre Mitglieder darauf bestanden haben, wie „in der Heimat“, also von Getreide und Viehzucht, zu leben und nicht, wie die Inuit, die sie garantiert beobachtet haben werden, von Fisch. Das Bauernmodell habe die gegen Ende des mittelalterlichen Klimaoptimums sinkende Temperatur einfach nicht mitgemacht.

    That [the Greenland Norse] did not hunt the ringed seals, fish, and whales which they must have seen the Inuit hunting was their own decision. The Norse starved in the presence of abundant unutilized food resources. Why did they make that decision, which from our perspective of hindsight seems suicidal?

    Actually, from the perspective of their own observations, values, and previous experience, Norse decision-making was no more suicidal than is ours today.

    Schon, weil dieser Artikel mit Wissenschaft getaggt ist, muss ich anmerken, dass Diamonds Argumente vielleicht nicht immer die stichhaltigsten sind und auch die Sache mit der Kälte zwar naheliegend, aber nicht alternativlos ist (vgl. Wissenschaft im Brennpunkt vom 14.11.2019) und wenigstens nach Zhao et al (2022), doi:10.1126/sciadv.abm4346, wegen Nicht-kälter-werden inzwischen regelrecht unplausibel wird. Und doch: Dass Kulturen Dinge aus völlig albernen Gründen tun (ich sage mal: Autos fahren und, schlimmer noch, parken) und noch mehr nicht tun (ich sage mal: Alltagsradeln), ist wahrlich nichts Neues. Was also, wenn sich die nichtknackenden Affen die Nüsse quasi vom Mund absparen, um nur sich nur ja nicht gemein zu machen mit den knackenden Affen von nebenan? Ich würde das Experiment ja gerne mal mit anderen, weiter entfernten Gruppen probieren.

    Mit solchen Gedanken habe ich die Webseite der im DLF-Beitrag zitierten Kathelijne Koops von der Uni Zürich besucht. Ein Paper zur Nussgeschichte habe ich nicht gefunden – basierte der Beitrag im Januar auf einem Preprint? einer Pressemitteilung der Uni Zürich? –, aber dafür jede Menge anderer Papers, die es direkt in meinen Mal-genauer-ansehen-Stapel schaffen: „Quantifying gaze conspicuousness: Are humans distinct from chimpanzees and bonobos?“, „Chimpanzee termite fishing etiquette“ oder, im Hinblick auf meinen Dauerbrenner „Was taugen diese Zahlen eigentlich?“ besonders reizvoll: „How to measure chimpanzee party size?“. Ich bin ganz hingerissen.

  • Hatte Marc Aurel Bandwürmer?

    Foto: Konservierte Bandwürmer in hohen Glasbehältern

    Bandwürmer im großartigen Naturhistorischen Museum in Wien: Den besonders lange in der Mitte soll sich der Arzt wohl so zur k.u.k.Zeit selbst gezogen haben. Auch „bei uns“ hatten also selbst wohlhabende Menschen noch vor recht kurzer Zeit beeindruckende Würmer.

    In den DLF-Wissenschaftsmeldungen vom 15. Februar ging es ab Sekunde 50 um römische Archäologie mit Bandwürmern. Ich gestehe ja einen gewissen Römerfimmel ein, und ich fand zudem die Passage

    In römerzeitlichen Fundstätten auf Sizilien wurden mehrfach konische Tongefäße ausgegraben. Bisherigen Interpretationen zufolge wurden darin Lebensmittel gelagert.

    vielversprechend im Hinblick auf mein Projekt interessanter Selbstkorrekturen von Wissenschaft, denn die neuen Erkenntnisse zeigen recht deutlich, dass zumindest eines dieser Gefäße in Wahrheit als Nachttopf genutzt wurde. Und deshalb habe ich mir die Arbeit besorgt, auf der die Kurzmeldung basiert.

    Es handelt sich dabei um „Using parasite analysis to identify ancient chamber pots: An example of the fifth century CE from Gerace, Sicily, Italy“ der Archäologin Sophie Rabinow (Cambridge, UK) und ihrer KollegInnen (DOI 10.1016/j.jasrep.2022.103349), erschienen leider im Elsevier-Journal of Archeological Science. Ich linke nicht gerne auf die, zumal der Artikel auch nicht open access ist, aber leider gibts das Paper derzeit nicht bei der Libgen.

    Publikationsethische Erwägungen beiseite: Diese Leute haben einen der erwähnten „konischen Tongefäße” aus einer spätrömischen Ruine im sizilianischen Enna hergenommen und den „sehr harten, weißlichen Rückstand von schuppigem Kalk“ („very hard whitish lime-scale deposit“) am Boden des Gefäßes untersucht. Vor allem anderen: Ich hätte wirklich nicht damit gerechnet, dass, was in einem lange genutzten Nachttopf zurückbleibt, schließlich diese Konsistenz bekommt.

    Nie wieder Sandalenfilme ohne Wurmgedanken

    Aber so ist es wohl, denn nachdem die Leute das Zeug in Salzsäure aufgelöst und gereinigt hatten, waren durch schlichte Lichtmikroskopie (mein Kompliment an die AutorInnen, dass sie der Versuchung widerstanden haben, coole und drittmittelträchtige DNA-Analysen zu machen) haufenweise Eier von Peitschenwürmern zu sehen – und das halte auch ich für ein starkes Zeichen, dass reichlich menschlicher Kot in diesem Pott gewesen sein dürfte. Auch wenn, wie die AutorInnen einräumen, keine Kontrollprobe der umgebenden Erde zur Verfügung stand, ist es nicht plausibel, wie Eier in dieser Menge durch nachträgliche Kontamination in den „harten, weißen Rückstand“ kommen sollten.

    Römer hatten – das war schon vor dieser Arbeit klar – nicht zu knapp Würmer. Alles andere wäre trotz der relativ ordentlichen Kanalisation in größeren römischen Siedlungen höchst erstaunlich, da auch in unserer modernen Welt die (arme) Hälfte der Menschheit Würmer hat (vgl. z.B. Stepek et al 2006, DOI 10.1111/j.1365-2613.2006.00495.x). Dennoch guckt sich so ein zünftiger Sandalenfilm (sagen wir, der immer noch hinreißende Ben Hur) ganz anders an, wenn mensch sich klar macht, dass die feschen Soldaten und fetten Senatoren alle des öfteren mal Würmer hatten. Und auch Caesars Gallischer Krieg oder Mark Aurels Selbstbetrachtungen erhalten, finde ich, eine zusätzliche Tiefe, wenn mensch sich vorstellt, dass in den Gedärmen jener, die da Kriegspropaganda oder stoische Philosophie betrieben, parasitische Würmer mitaßen.

    Forschungsprojekt: Wurmbefall in Köln vor und nach 260

    Nun schätzen Rabinow et al allerdings, dass ihre Rückstände wohl in der Mitte des fünften Jahrhunderts entstanden. Damals hatte die römische Zivilisation und damit auch ihre Kanalisation wahrscheinlich auch in Sizilien schon etwas gelitten. Die Kölner Eifelwasserleitung etwa – die eingestandenermaßen technisch besonders anspruchsvoll war und in einem besonders unruhigen Teil des Imperiums lag – haben „Germanen“ schon im Jahr 260 zerstört, und sie wurde danach nicht mehr in Betrieb genommen, obwohl Köln bis weit ins 5. Jahrhundert hinein eine römische Verwaltung hatte.

    Ich persönlich wäre überzeugt, dass, wer mit der Rabinow-Methode an entsprechend datierbare Überreste heranginge, mit dem Jahr 260 eine sprunghafte Erhöhung der Verwurmung in Köln feststellen würde. Insofern: Vielleicht hatten Caesar und Mark Aurel, zu deren Zeiten der römlische Wasserbau noch blühte, ja doch nicht viel mehr Würmer als wir im kanalisierten Westen?

    Ach so: Das mit dem Irrtum – „nee, die Teile hatten sie für Essen“ – war so wild in Wirklichkeit nicht. Wie üblich in der Wissenschaft waren die Antworten auch vorher nicht so klar. Rabinow et al schreiben:

    A recent study of material at the town of Viminacium in Serbia, where over 350 identically deep-shaped vessels are known, was able to confirm at least 3 potential uses: storage for cereals or water, burial urns, and chamber pots […]. Chamber pots clearly were also sometimes put to secondary use, for example as a container for builder’s lime […], while vessels initially destined for other purposes may have been turned into chamber pots.

    Nun, dann und wann kommen sogar Wissenschaft und „gesunder“ Menschenverstand zu recht vergleichbaren Ergebnissen.

  • Bienen wollen SaZu

    Foto: Blüte mit darauf rumlaufender Biene

    Diese Biene würde vielleicht schon zwischen den Staubbeuteln rumrüsseln, wenn die Blume sich nur etwas mehr Mühe beim Würzen gegeben hätte.

    In Marc-Uwe Klings Qualityland (helle Ausgabe in der Imperial Library) gibt es das großartige Konzept der FeSaZus, eines Nahrungsmittels, das zu je einem Drittel aus Fett, Salz und Zucker besteht und zumindest für das Proletariat von Qualityland in einigen – nicht zu vielen! – Darreichungsformen (FeSaZus im Cornflakesmantel, Muffins mit FeSaZu-Füllung, Schmalz-FeSaZus mit Speckgeschmack) eine wichtige Ernährungsgrundlage darstellt.

    Via den Wissenschaftsmeldungen vom 3.2.2022 in DLF Forschung aktuell bin ich nun auf den Artikel „Sodium-enriched floral nectar increases pollinator visitation rate and diversity“ von Carrie Finkelstein und KollegInnen (Biology Letters 18 (3), 2022, DOI 10.1098/rsbl.2022.0016) gestoßen, der recht überzeugend belegt, dass Insekten im Schnitt einen Geschmack haben, der sich vom Qualityländer Durchschnittsgeschmack gar nicht so arg unterscheidet.

    Finkelstein et al haben an der Uni von Vermont mindestens je zwölf Exemplare von fünf örtlich üblichen Blumenarten blühen lassen. Je Experiment (und davon gab es einige) haben sie sich pro Art sechs Individuen ausgesucht und mit Kunstnektar versehen. Bei dreien war das einfach eine 35%-ige Zuckerlösung, bei den anderen drei kam dazu noch 1% Kochsalz. In Wasser aufgelöst ist 1% Salz schon ziemlich schmeckbar. Ich habe darauf verzichtet, im Selbstversuch zu überprüfen, ob 1% Salz in so konzentriertem Sirup menschlichen Zungen überhaupt auffällt.

    Und dann haben sie gewartet, bis bestäubende Insekten kamen und diese gezählt. Das zentrale (und jedenfalls von außen betrachtet trotz etwas Voodoo bei der Auswertung auch robuste) Ergebnis: An den Pflanzen, die Salz anboten, waren doppelt so viele Insekten – am stärksten vertreten übrigens allerlei Sorten von Bienen – wie an denen, die das nicht taten, und zwar ziemlich egal, um welche Blume es nun gerade ging. Mit anderen Worten: Insekten sind nicht wild auf faden Nektar.

    Allerdings: So ein Faktor zwei in der Präferenz ist gar nicht so viel. Zwischen den BesucherInnenzahlen bei Schafgarbe (laut Paper 54.1 ± 6.3) und dem blutroten Storchschnabel (16.6 ± 3.5) liegt eher ein Faktor drei. Dennoch ist recht deutlich, dass die Insekten eher wenig Verständnis haben für Lauterbachs salzarme Ernährung. Dabei will ich nicht argumentieren, dass ein Durchschnittsmensch auf Dauer 150 mg Salz pro Kilogramm Körpergewicht und Tag essen könnte, ohne schließlich mit Hypertonie und Nierenversagen kämpfen zu müssen. Aber 10 oder 15 Gramm Salz am Tag kriegt mensch, wie Samin Nosrat in ihrem wunderbaren Kochbuch Salt, Fat, Acid, Heat (auch in der Imperial Library) ausführt, durch selbstsalzen oder auch den Salzgebrauch in selbstkochender Gastronomie, kaum hin[1]; salzarms Kochen und fades Essen mag mithin positive gesundheitliche Folgen haben, aber vermutlich kaum mehr als etwa der Einsatz von Himalayasalz, Voodoopuppen oder anderen potenten Placebos.

    Erfreulich fand ich im Paper noch die Aussage „All analyses were performed in R (v. 4.0.2)“ – dass auch in weniger technologieaffinen Wissenschaftsbereichen proprietäre Software (in diesem Fall ganz vornedran SAS und SPSS) auf dem Weg nach draußen ist, halte ich für eine ausgezeichnete Nachricht.

    Weniger schön fand ich das Bekenntnis, dass es in Anwesenheit von BiologInnen ganz offenbar gefährlich ist, einer unüblichen Spezies anzugehören:

    If we were unable to identify a floral visitor in the field, we collected it and stored it in 75% ethanol.

    Arme kleine Fliegen und arme VertreterInnen ungewöhnlicher Bienenarten. Wären sie stinknormale Honigbienen gewesen, hätten sie ihren Ausflug zu den verlockenden Blüten mit dem fein gesalzenen Nektar überlebt.

    [1]Nosrat argumentiert in ihrem Buch für mich zumindest plausibel (und durch meine eigene Kochpraxis bestätigt), dass Lauterbauchs Kritik am „Salzgeschmack“ zumeist am Thema vorbeigeht – in aller Regel vermittelt Kochsalz etwa durch Kontrolle von Osmolaritäten ziemlich nichttriviale Prozesse beim Garen und Verarbeiten von Lebensmitteln, und diese sind für den Geschmack der fertigen Speisen viel wichtiger als das Salz selbst. Aber das ist dann wirklich eine andere Geschichte.
  • Alle Vöglein sind schon da

    Es ist Frühling! Ganz deutlich war das am Mittwoch, als ich im noch kahlen Wald unterhalb der Schauenburg stand und ganz hingerissen war von Zahl, Lautstärke und Veriantenreichtum der Äußerungen der dort ansässigen Vögel. Leider hatte ich nicht die Geistesgegenwart, das gleich aufzunehmen, und gestern war es schon nicht mehr ganz so aufregend. Dennoch mag das folgende einen Eindruck geben, wie es in dem Wald gerade tönt kurz vor Sonnenuntergang:

    Das starke Rauschen, das dem unterliegt, ist übrigens zu guten Teilen nichttechnisch: in der Nähe meines Aufnahmeorts rauscht gerade der Mantelbach, der, ebenfalls ganz in Frühlingsstimmung, im Augenblick richtig viel Wasser führt.

    Das Audio-Element sollte endlos laufen. Leider loopt jedoch zumindest der aktuelle Webkit nicht nahtlos, und beim Übergang auf die nächste Wiederholung ist ein deutliches Ploppen zu hören. Lokal habe ich ein shell-alias, mit dem ich die Nahstelle (jedenfalls bei Wiedergabe über die lausigen Lautsprecher in meinem Computer) nicht erkennen kann:

    alias ambient-voegel='mpv --quiet --loop-file=inf /pfad-zum/vogelkonzert.ogg'
    

    Erwähnen möchte ich noch, dass die Aufnahme alles andere als leicht war. Nicht etwa, weil es mit dem Gerät Probleme gegeben hätte, abgesehen davon, dass das ein einfaches Telefon ohne Windschutz war und deshalb auf externe Beschirmung angewiesen war:

    Foto: Altes Mobiltelefon in verrottendem Restbaumstamm

    Nein, das Problem war Zivilsationslärm, der die Vogelstimmen störte oder gar übertönte. Zuerst ist ein Hubschrauber durchgebrummt, dann klapperten die Hufe eines Freizeitpferdes auf dem asphaltierten Waldweg, und als die allmählich verklungen waren, dröhnte schon das nächste Flugzeug minutenlang durch den Himmel. Dabei ist das Tal gegenüber seiner näheren Umgebung sehr bevorzugt, weil es vom dauernden Lärm von A5, B3 und all den Ortsstraßen recht gut abgeschirmt ist.

    Dass mir all das Dröhnen – das ja sonst auch da ist – gestern auffiel, das muss wohl diese Achtsamkeit sein, von der ich in den letzten Jahren viel zu viel gehört habe. Und alles, was ich dafür gebraucht habe, waren zwei Mikrofone, ein Programm und der Wille, singende Vögel für trübere Zeiten zu konservieren. Ist das eine Marktlücke: Tagesseminar für nur 4000 Euro „Achtsamkeit lernen mit audacity“?

  • Ameisen-Ambulanz in der Pandemie

    Foto

    Da helfen nicht mal mehr Ameisenarmeen: Ein Faultier in einem Cecropia-Baum. Von hier unter GFDL.

    In den Wissenschaftsmeldungen der Forschung aktuell-Sendung am Deutschlandfunk vom 4.1.22 gab es ab Minute 2:50 eine Geschichte einer doch sehr überraschenden Symbiose: Ameisen, so heißt es da, verbinden verletzte Bäume. Nun würde mich so ein Verhalten nicht völlig vom Hocker hauen – ich bin ja ein Feind der Soziobiologie und halte das „egoistische Gen“ für einen methodischen Fehler –, aber Krankenpflege ist schon innerhalb einer Spezies bemerkenswert (gibts bei Ameisen). Geht sie gar über Speziesgrenzen hinaus, weckt das schon meine Neugier. Darum habe ich mir das zugrundeliegende Paper rausgesucht: „Azteca ants repair damage to their Cecropia host plants“ aus dem Journal of Hymenoptera Research, Band 88, doi:10.3897/jhr.88.75855.

    Das erste, was auffällt, ist die Autorenliste: geschrieben haben das Ding Alex Wcislo, Xavier Graham, Stan Stevens, Johannes Ehoulé Toppe, Lucas Wcislo, und William T. Wcislo. Das sind einen Haufen Wcislos, und die Erklärung findet mensch in den Affiliations. William T. ist vom Tropeninstitut der Smithsonian Institution, alle anderen Autoren kommen von der International School of Panama – wo ein Forscher-Expat seine Kinder wohl hinschicken wird – beziehungsweise von der Metropolitan School in Panama.

    In diesem Licht bekommt die Eröffnung des Artikels einen ganz eigenen Charme, der in dem DLF-Kurzbeitrag ganz und gar fehlt (da war nur die übliche Rede von „den Forschenden“):

    One of us (AW) used a sling shot to shoot a clay ball (9 mm diameter) at high velocity through an upper internode of a large Cecropia tree, making clean entry and exit wounds. Within 24 hours both holes were nearly sealed. This anecdotal observation...

    Also: Da hat der kleine Nick^W^W der Sohn des Smithsonian-Biologen mit einer Zwille oder Steinschleuder rumgeballert und hat es geschafft, ein Loch durch ein Internodium, also so eine Art Zweig, zu schlagen; nun, tropische Bäume sind oft relativ weich. Der Lausejunge war aber Professorenkind genug, um genauer hinzuschauen und festzustellen, dass Ameisen am Loch rumlaufen und es offenbar zunähen.

    Daraufhin haben er, seine Freunde und sein Vater ein richtiges Programm aufgelegt, um aus der Anekdote etwas wie Wissenschaft zu machen. Sie haben dazu systematisch Löcher in rund zwanzig Ameisenbäume im Stadtwald („opportunistically selected“ schreiben sie) gebohrt, in denen Aztekenameisen Azteca alfari wohnten. Über deren Symbiose war bisher vor allem bekannt, dass die Bäume Ameisen schicken, wenn andere Tiere an ihren Blättern knabbern. Die Ameisen dürfen dafür in den erwähnten Internodien wohnen (die sind hohl und haben dünne Wände, damit die Ameisen leicht reinkommen) und bekommen darin sogar lecker Futter (na ja, im Zweifel Futter für ihre Blattläuse).

    Und dann haben die Schülis dokumentiert, was passiert. Das war nicht immer einfach, wie sie ehrlich berichten:

    But ants [also die Ameisen, die an einem Loch arbeiteten] were not marked so the total size of the repair force is unknown. […]

    We greatly thank the Cárdenas police patrols for allowing us to work safely outdoors during the early days of a pandemic, and tolerating our activity during severe restrictions on movement.

    Sie mussten sich auch auf junge Bäume beschränken, denn die Ameisen wohnen gerne so weit oben wie möglich und merken dann nicht mehr, was unten vor sich geht, während die Schülis nicht höher als zwei Meter kamen: „we selected internodes as high up as we could reach“.

    Die resultierende Beobachtung mochte dann schon wieder Material für die Ethikkommission sein, denn sooo viel anders als bei den ganz klassischen Begegnungen von Lausbuben und Ameisenhaufen ging es auch nicht ab, jedenfalls aus Sicht der Ameisen: Diese retteten erstmal ihre Brut, bevor sie tatsächlich recht oft und überzeugend die Bohrungen verschlossen. Dieses Gesamtbild aber lässt schon ahnen, dass sie eher ihren Bau reparierten als ihrem Baum medizinische Hilfe angedeihen ließen. Dafür spricht auch, dass der Baum im Anschluss ein eigenes Heilprogramm anwarf und die Wunde komplett mit eigenem Gewebe auffüllte.

    Andererseits: Vielleicht sehen wir hier gerade der Evolution zu, denn es könnte ja sein, dass Bäume, die Ameisen zu besserer medizinischer Versorgung anhalten – und das übliche survival of the fittest[1] würde jetzt dafür sorgen – auch deutlich besser leben als welche, die einfach nur ganz normale Baumheilung machen?

    Was es auch sei: ich war sehr angetan davon, mal ein paar Seiten aus dem Journal of Hymenoptera Research zu lesen. Dafür, dass es solche Publikationen gibt, liebe ich die Wissenschaft.

    [1]Nur zur Sicherheit: nicht des „strongest“ oder sowas.
  • Gehorsam macht dumm

    Eine Kuh schert aus der Herde aus, um zu fressen.

    Nicht alle Rinder sind immer brav und gefügig. Ob diese Kuh wohl ein besonders schmales Maul hat? Das würde ihr nämlich, mit der Methode des Papers, ein größeres Hirn bescheinigen.

    Die zweite Tiergeschichte, die ich neulich angekündigt habe als, nun, interessant in der Forschung aktuell-Sendung vom 9.6. (in den Meldungen ab Minute 21:55), war die, dass gezähmte Rinder ein Viertel weniger Hirn haben als wilde; ein Traditionsanarcho wie ich kann bei so einem Faktoid natürlich dem „Gehorsam macht dumm und gewalttätig“ nicht widerstehen, und so habe ich mir den zugrundeliegenden Artikel genauer angesehen.

    Es handelt sich um https://doi.org/10.1098/rspb.2021.0813, „Intensive human contact correlates with smaller brains: differential brain size reduction in cattle types“ von Ana Balcarcel und KollegInnen; die Hauptautorin arbeitet am Paläontologischen Institut und Museum der Uni Zürich, was, in memoriam Tibatong und Zwengelmann, den Urmel-Fan in mir begeistert.

    Von der Hirnschrumpfung im Rahmen der Domestikation hatte ich spätestens in einer DLF-Sendung von 2009 („Beschleunigte Evolution“) von Michael Stang gehört. Dort hatte er über schnelle Zuchterfolge bei Damhirschen[1] berichtet:

    Das Zuchtziel war klar. Der domestizierte Damhirsch musste seine natürliche Schreckhaftigkeit verlieren und die Nähe des Menschen nicht als störend empfinden. Zugleich sollte die Fleischleistung erhöht werden. Durch Probeschlachtungen konnte Helmut Hemmer feststellen, ob bereits einige Tiere ein verkleinertes Gehirn hatten - eines der entscheidenden Merkmale beim Übergang vom Wildtier zum Nutztier. [...] Heute grasen über 1000 domestizierte Damhirsche auf Wiesen in Deutschland.

    Im vorliegenden Artikel wird das deutlich quantitativer:

    Domestic cattle have 25.6% smaller brains than wild cattle, according to regressions of EV [Endocranial volume, Gehirnvolumen] versus MZW [Muzzle width, Breite des Mundes, als Stellvertreter für die Körpermasse ...]. The difference between beef and dairy breeds is also significant (ANCOVA, p = 0.010).

    Das ist natürlich weit weg von „Gehorsam macht dumm“, aber „25.4%“ weniger Hirn ist, mit drei signifikant aussehenden Stellen, schon eine Ansage.

    Eine Ansage allerdings, die ich in Summe nicht so richtig überzeugend belegt finde, nicht mal mit nur einer signifikanten Stelle. Wobei, full disclosure, ich war gleich voreingenommen, denn die Methode von Balcarcel et al waren Schädelmessungen. Nennt mich irrational, aber ich werde ernsthaft nervös, wenn jemand an Schädeln herummisst. Das war schon bei Lavater schlimm, und nach dem durch Pseudowissenschaft gestützten völligen Zivilisationsbruch der Nazi-Phrenologie kann ich auf sowas nicht mehr entspannt, sagen wir sine ira et studio, blicken.

    Aber ok, es scheint in dem Fach Konsens zu sein, die Breite des Mundes (ich vermute, der im Deutschen übliche Begriff wird Maulbreite sein, aber lasst mir mal etwas Antispeziezismus) als Maß für das Körpergewicht zu nehmen. Das Hirnvolumen hingegen schätzen die AutorInnen unter Verweis auf John Finarelli über ln(Hirnvolumen) = 1.3143 ⋅ ln(Länge der Schädelhöhle) + 0.8934 ⋅ ln(Breite der Schädelhöhle) - 5.2313. Das ist – von den fantastischen Genauigkeitsbehauptungen abgesehen – so unplausibel nicht: Proportionalität zwischen Logarithmen heißt, dass es da ein Potenzgesetz gibt, was bei der Relation zwischen linearen Größen und einem Volumen naheliegt; Fingerübung im Rechnen mit Logarithmen: bei Kugeln gilt 3 ln(r) + C = ln(V) mit einer Konstanten C.

    Dennoch: Sowohl Hirnvolumen als auch die Körpermasse als Bezugsgröße werden in der Arbeit durchweg über Proxies geschätzt. Das mag ok sein – und nein, ich habe nicht versucht, mich von den zur Unterstützung dieser Proxies angeführten Arbeiten überzeugen zu lassen –, aber wer Claims wie

    Bullfighting cattle, which are bred for fighting and aggressive temperament, have much larger brains than dairy breeds, which are intensively selected for docility.

    ins Abstract schreibt, sollte da, finde ich, schon sagen, dass für die Studie weder Rinder noch ihre Hirne gewogen wurden.

    Gesetzt jedoch, die Korrelationen zwischen den Schädelmaßen auf der einen und Körpermasse und Hirnvolumen auf der anderen Seite hauen wirklich hin[2]: Ganz laienhaft finde ich ja schon die Metrik „Hirnvolumen zu Körpermasse“ nicht ganz so überzeugend. Immerhin dürfte ja „relativ mehr Fleisch“ bei Nutzrindern auch ein Zuchtziel gewesen sein, und so kann das Verhältnis nicht nur wegen weniger Hirn, sondern genauso gut wegen mehr sonstiger Masse kleiner ausfallen. Das wäre übrigens auch plausibel im Hinblick auf größere Hirn-zu-Körper-Verhältnisse bei Kampfstieren (die Balcarcel et al finden), denn fette Kampfstiere erfüllen ihren Zweck vermutlich eher weniger gut.

    Ähnlich wenig überzeugt haben mich die Grafiken der Arbeit. Die zentralen Aussagen werden mit Punktwolken mit reingemalten Regressionsgeraden belegt. In dieser Darstellung fällt alles Mögliche in Auge (z.B. „alle Wildrinder sind rechts oben“, einfach weil diese größer sind, oder „die Geraden der Kampfrinder sind steiler“, was, wenn ich das richtig sehe, das Paper weder nutzt noch erklärt), während die eigentlich in den Tests verwendeten Achsenabschnitte (entsprechend Faktoren nach Delogarithmierung) durch eigene Rechnung bestimmt werden müssten und jedenfalls optisch unauffällig sind.

    Deshalb wollte ich probieren, mir geeignetere Plots auszudenken und habe versucht, die laut Artikel auf figshare bereitgestellten Rohdaten zu ziehen.

    Ach weh. Das ist schon wieder so ein Schmerz. Zunächst figshare: Nichts geht ohne Javascript (wie schwer kann es sein, ein paar Dateien zu verbreiten? Wozu könnte Javascript da überhaupt nur nützlich, geschweige denn notwendig sein?) und das CSS versteckt völlig unnötigerweise die Seitengröße. Dazu: Google analytics, Fonts von googleapis.com gezogen; ich bin ja kein Freund von institutional repositories, bei denen jede Uni-Bibliothek ihren eigenen Stiefel macht, aber mal ehrlich: so ein Mist muss jetzt auch nicht sein, nur um ein paar Dateien zu verteilen. Dann doch lieber Murks der lokalen Bibliothek.

    Die Datei mit den Daten sorgt nicht für Trost: Ich hatte mich schon auf so ein blödes Office Open XML-Ding („Excel“) eingestellt, aber es kam in gewisser Weise noch schlimmer: Was mensch bei figshare bekommt, ist ein PDF mit einigen formatierten Tabellen drin. An der Stelle habe ich dann aufgehört. Screen Scraping mache ich nur in Notfällen.

    Dabei will ich an der Grundaussage („Domestikation macht Hirne relativ kleiner“) nicht mal zweifeln; das mit dem „dümmer“ allerdings (was meine Sprache ist, nicht die der AutorInnen) ist natürlich gemeine Polemik, und das Paper zitiert Dritte, die vermuten, die Reduktion des Hirnvolumens gehe vor allem aufs limibische System, „a composite of brain regions responsible for the processing of fear, reactivity and aggression“. Aber das Paper hat, soweit ich als interessierter Laie das erkennen kann, keine sehr starken Argumente für diese Grundaussage.

    Dennoch habe ich nicht bereut, in das Paper reingeschaut zu haben, denn ich habe so erfahren, dass es Rinder gibt, deren Zweck es ist „to decorate the landscape“, vor allem die halbwilden Chillingham-Rinder. Die Idee, Rinder zu halten, damit der Park etwas hübscher aussieht: das finde ich hinreißend.

    [1]Hauskatzen, so hieß es irgendwo anders, haben Hirne wie ihre waldlebenden Verwandten. Damit wären sie Wildtiere, deren Habitat zufällig unsere Wohnungen sind. Das würde manches erklären…
    [2]Der Physiker in mir würde bei sowas gerne die Schätzungen für die systematischen Fehler vergrößern, und so eine ganz grobe Fehlerbetrachtung hätte diesem Paper sicher gut getan.
  • Arme als Fühler

    Ameise mit Marsianeraugen

    Ameise? Spinne? Marsianer? Tatsächlich hat das, was ich an Warnsystem für „lege dich nicht mit dieser Sorte Tier an“ habe, bei diesen tropischen Ameisen schon angeschlagen.

    In Forschung aktuell am Deutschlandfunk gab es am 9.6. gleich zwei Tiergeschichten, die mich inspiriert haben, mal in die Papers hinter den Geschichten zu schauen. Die erste war die Geschichte von Spinnen, die sich als Ameisen tarnen. Ganz klar wird aus der DLF-Story nicht, worum es aktuell ging; die letzte einschlägige Publikation des Interviewten ist „Insincere flattery? Understanding the evolution of imperfect deceptive mimicry“ von Donald McLean und KollegInnen und ist bereits 2019 im Quarterly Review of Biology erschienen (http://doi.org/10.1086/706769; wie üblich bei Bedarf auf scihub ausweichen). Das ist zwar erkennbar nicht das, worum im Bericht ging (Computersimulation der Erkennung durch die Fressfeinde), aber es stellt die Fragen, um die es hier geht, und vor allem begründet er, warum Mimikry von Ameisen ein besonders geeignetes Modell zur Untersuchung des Phänomens ist: Sie findet nach Aussehen, Geruch und Verhalten statt, es gibt jede Menge Spezies, die sich in der Imitation von Ameisen versuchen, und die meisten davon sind relativ unproblematisch im Umgang.

    Der Autor arbeitet übrigens an der Macquarie University in Sydney, Australien, und ich kann diese Gelegenheit zum zitieren des großartigen Bill Bryson nicht vorübergehen lassen:

    You really cannot move in Australia without bumping into some reminder of his [des Ex-Gouverneurs Lachlan Macquarie, der offensichtlich eine Tendenz hatte, alles Mögliche und Unmögliche nach sich zu benennen] tenure. Run your eye over the map and you will find a Macquarie Harbour, Macquarie Island, Macquarie Marsh, Macquarie River, Macquarie Fields, Macquarie Pass, Macquarie Plains, Lake Macquarie, Port Macquarie, Mrs. Macquarie’s Chair (a lookout point over Sydney Harbour), Macquarie’s Point, and a Macquarie town. I always imagine him sitting at his desk, poring over maps and charts with a magnifying glass, and calling out from time to time to his first assistant, “Hae we no’ got a Macquarie Swamp yet, laddie? And look here at this wee copse. It has nae name. What shall we call it, do ye think?”

    —Bill Bryson: In a Sunburned Country, New York, 2000

    Aber zurück zu den Spinnen, die das Interesse der Leute von der Macquarie University geweckt haben. Hingerissen hat mich ja die Vorstellung, wie da Spinnen rumlaufen, die ihr vorderes Beinpaar neben den Kopf halten und hoffen, damit als Ameise durchzugehen, ganz wie Kinder, die mit ihren Zeigefingern die Antennen von Aliens markieren, wobei nicht klar ist, ob die Zeigefinger oder der Gedanke von Antennen auf Alienköpfen alberner sind.

    Nun, es stellt sich heraus, dass sie damit ganz gut durchkommen, und zwar, weil ihre Fressfeinde eher darauf schauen, wie sie sich bewegen als wie sie jetzt im Einzelnen aussehen – und für den Bewegungseindruck sind die wippenden Fühler wohl recht relevant. Das wiederum hat mich an eine gute Bekannte erinnert, die seit frühester Jugend ziemlich kurzsichtig ist, jedoch versucht, so unabhängig von Brillen zu bleiben wie es halt geht. Sie hat immer angegeben, sie identifiziere Menschen vor allem anhand ihres Bewegungsstils oder vielleicht auch ihrer Gestik. Das funktioniere auch ohne scharfe Sicht aus großen Entfernungen, letztlich würden auch Strichmännchen reichen, wenn sie sich nur bewegen.

    Die Frage, welche Mimikry die Fressfeinde überzeugt, war schon Thema des oben zitierten Artikels von McLean et al, der leider im Hauptteil mehr um evolutionäre Kostenfunktionen geht, und ganz ehrlich: ich glaube an nicht viel davon, denn die entsprechenden Modelle sind gewiss einige Größenordnungen zu schlicht. Echte Ökosysteme haben unzählige Parameter, und wenn mensch zu viele davon weglässt, kommt am Schluss Mumpitz wie das „egoistische Gen“ heraus; ganz so schlimm kommt es hier nicht, aber das Abstandsgebot von ökonomistischer Argumentation befolgen die AutorInnen eben auch nicht so recht. Dafür sind sie wohl auch an der falschen Uni, denn bei Macquarie haben klar die Metriker und Wettbewerbs-Taliban das sagen. Wer bei der Uni nach dem Autor sucht, kommt auf sowas hier als „Profil“:

    Zitationszählung, Histogramme und h-Werte.

    Metrikwahn destilliert: Noch bevor irgendein Wort fällt, womit sich Herr McLean so beschäftigt, kommen Zitationszahlen und zur Krönung ein h-Wert. Wenn unter solchen Bedingungen ordentliche Wissenschaft und nicht Metrikdienerei entsteht, zeigt sich wieder die unendliche Robustheit des Systems Wissenschaft. Aber: Warum baut jemand überhaupt solche Webseiten? (Herkunft, 22.6.2021)

    Ach Mist, jetzt bin ich schon wieder von den Spinnen abgeschweift. Was auch deshalb unfair ist, weil McLean einen gewissen Metrikrealismus an den Tag legt: „Underlying the idea of imperfect mimicry is the assumption that mimetic accuracy can be quantified“ [Hervorhebung von mir]. Und weil das Paper eine, zumindest für Laien wie mich, wirklich ganz schöne Übersicht gibt, wie sich EvolutionsbiologInnen dem Problem nähern, warum wohl Mimikry manchmal richtig schlecht ist. Von „die Täuschenden probieren es gar nicht“ bis „für die Fressfeinde reichts“ ist da viel dabei – und klar, in verschiedenen System werden wahrscheinlich verschiedene Mechanismen am Werk sein.

    Worum es neulich im DLF ging, war nun offenbar die „für die Fressfeinde reichts“-Hypthese, die wiederum in ein paar Varianten aufgedröselt wird; in einer Fassung, die ich für viele Zwecke recht überzeugend finde, wäre das etwa: Wenn Fressfeinde mal böse Erfahrungen mit Form V gemacht haben, werden sie vielleicht auch ähnliche Formen meiden, sagen wir W, zumal, wenn sie auch W nicht dringend zum Überleben brauchen. Ziemlich offensichtlich funktioniert das sogar im genetischen Gedächtnis. Jedenfalls glaube ich nicht, dass viele Menschen in meinem Umfeld böse Erfahrungen mit Spinnen und Schlangen gemacht haben, doch haben überraschend viele wirklich ernsthafte Ängste vor Tieren, die aussehen wie Schlangen oder Spinnen.

    Und das war dann schon die Geschichte, soweit sie jetzt publiziert ist: Es gibt einen Haufen Varianten von Mimikry, und Spinnen, die ihre Vorderbeine halten, als wären sie Fühler, kommen damit durch, solange die Ameisen, die sie imitieren, nur garstig genug schmecken.

  • Zu vollgefressen zum Abheben

    Ein Eichhörnchen turnt durch Zweige

    Keine Zikaden in Weinheim: das Eichhörnchen im dortigen Arboretum konnte noch munter turnen.

    Wieder mal eine Tier-Geschichte aus Forschung aktuell am Deutschlandfunk: In der Sendung vom 25.5. gab es ein Interview mit Zoe Getman-Pickering, die derzeit eine Massenvermehrung von Zikaden an der US-Ostküste beobachtet. Im Gegensatz zu so mancher Heuschreckenplage kam die nicht unerwartet, denn ziemlich verlässlich alle 17 Jahre schlüpfen erstaunliche Mengen dieser Insekten und verwandeln das Land in ein

    All-You-Can-Eat-Buffet. Es gibt schon Berichte von Eichhörnchen und Vögeln, die so fett sind, dass sie nicht mehr richtig laufen können. Die sitzen dann einfach nur herum und fressen eine Zikade nach der anderen.

    Es war dieses Bild von pandaähnlich herumhockenden Eichhörnchen, die Zikaden in sich reinstopfen eine einE Couch Potato Kartoffelchips, das meine Fantasie angeregt hat.

    Gut: Gereizt hat mich auch die Frage, wo auf der Fiesheitssakala ich eigentlich einen intervenierenden Teil der Untersuchung ansiedeln würde, der im Inverview angesprochen wird: Um

    herauszufinden [ob die Vögel noch Raupen fressen, wenn sie Zikaden in beliebigen Mengen haben können], haben wir auch künstliche Raupen aus einem weichen Kunststoff. Die setzen wir auf die Bäume. Und wenn sich dann Vögel für die künstlichen Raupen interessieren, dann picken sie danach

    und sind bestimmt sehr enttäuscht, wenn sie statt saftiger Raupen nur ekliges Plastik schmecken. Na ja: verglichen mit den abstürzenden Fledermäuse von neulich ist das sicher nochmal eine Stufe harmloser. Balsam für die Ethikkommission, denke ich. Das Ergebnis übrigens: Ja, die Zikadenschwemme könnte durchaus eine Raupenplage nach sich ziehen.

    Die Geschichte hat ein Zuckerl für Mathe-Nerds, denn es ist ja erstmal etwas seltsam, dass sich die Zikaden ausgerechnet alle 17 Jahre verabreden zu ihren Reproduktionsorgien. Warum 17? Bis zu diesem Interview war ich überzeugt, es sei in ÖkologInnenkreisen Konsens, das sei, um synchronen Massenvermehrungen von Fressfeinden auszuweichen, doch Getman-Pickering hat mich da eines Besseren belehrt:

    Aber es gibt auch Theorien, nach denen es nichts mit den Fressfeinden zu tun hat. Sondern eher mit anderen Zikaden. Der Vorteil wäre dann, dass die Primzahlen verhindern, dass unterschiedliche Zikaden zur gleichen Zeit auftreten, was dann schlecht für die Zikaden sein könnte. Und dann gibt es auch noch einige Leute, die es einfach nur für einen Zufall halten.

    Das mit dem Zufall fände ich überzeugend, wenn bei entsprechenden Zyklen in nennenswerter Zahl auch nichtprime Perioden vorkämen. Und das mag durchaus sein. Zum Maikäfer zum Beispiel schreibt die Wikipedia: „Maikäfer haben eine Zykluszeit von drei bis fünf, meist vier Jahren.“

    Aua. Vier Jahre würden mir eine beliebig schlechte Zykluszeit erscheinen, denn da würde ich rein instinktiv Resonanzen mit allem und jedem erwarten. Beim Versuch, diesen Instinkt zu quantifizien, bin ich auf etwas gestoßen, das, würde ich noch Programmierkurse geben, meine Studis als Übungsaufgabe abbekommen würden.

    Die Fragestellung ist ganz grob: Wenn alle n Jahre besonders viele Fressfeinde auftreten und alle m Jahre besonders viele Beutetiere, wie oft werden sich die Massenauftreten überschneiden und so den (vermutlichen) Zweck der Zyklen, dem Ausweichen massenhafter Fressfeinde, zunichte machen? Ein gutes Maß dafür ist: Haben die beiden Zyklen gemeinsame Teiler? Wenn ja, gibt es in relativ kurzen Intervallen Jahre, in denen sich sowohl Fressfeinde als auch Beutetiere massenhaft vermehren. Haben, sagen wir, die Eichhörnchen alle 10 Jahre und die Zikaden alle 15 Jahre Massenvermehrungen, würden die Eichhärnchen alle drei Massenvermehrungen einen gut gedeckten Tisch und die Zikaden jedes zweite Mal mit großen Eichhörnchenmengen zu kämpfen haben.

    Formaler ist das Problem also: berechne für jede Zahl von 2 bis N die Zahl der Zahlen aus dieser Menge, mit denen sie gemeinsame Teiler hat. Das Ergebnis:

    Balkendiagramm: Gemeinsame Teiler für 2 bis 20

    Mithin: wenn ihr Zikaden seid, verabredet euch besser nicht alle sechs, zwölf oder achtzehn Jahre. Die vier Jahre der Maikäfer hingegen sind nicht so viel schlechter als drei oder fünf Jahre wie mir mein Instinkt suggeriert hat.

    Ob die Verteilung von Zyklen von Massenvermehrungen wohl irgendeine Ähnlichkeit mit dieser Grafik hat? Das hat bestimmt schon mal wer geprüft – wenn es so wäre, wäre zumindest die These vom reinen Zufall in Schwierigkeiten.

    Den Kern des Programms, das das ausrechnet, finde ich ganz hübsch:

    def get_divisors(n):
      return {d for d in range(2, n//2+1) if not n%d} | {n}
    
    
    def get_n_resonances(max_period):
      candidates = list(range(2, max_period+1))
      divisors = dict((n, get_divisors(n)) for n in candidates)
    
      return candidates, [
          sum(1 for others in divisors.values()
            if divisors[period] & others)
        for period in candidates]
    

    get_divisors ist dabei eine set comprehension, eine relativ neue Einrichtung von Python entlang der altbekannten list comprehension: „Berechne die Menge aller Zahlen zwischen 2 und N/2, die N ohne Rest teilen – und vereinige das dann mit der Menge, in der nur N ist, denn N teilt N trivial. Die eins als Teiler lasse ich hier raus, denn die steht ohnehin in jeder solchen Menge, weshalb sie die Balken in der Grafik oben nur um jeweils eins nach oben drücken würde – und sie würde, weit schlimmer, die elegante Bedingung divisors[period] & others weiter unten kaputt machen. Wie es ist, gefällt mir sehr gut, wie direkt sich die mathematische Formulierung hier in Code abbildet.

    Die zweite Funktion, get_n_resonances (vielleicht nicht der beste Name; sich hier einen besseren auszudenken wäre auch eine wertvolle Übungsaufgabe) berechnet zunächt eine Abbildung (divisors) der Zahlen von 2 bis N (candidates) zu den Mengen der Teiler, und dann für jeden Kandidaten die Zahl dieser Mengen, die gemeinsame Elemente mit der eigenen Teilermenge haben. Das macht eine vielleicht etwas dicht geratene generator expression. Generator expressions funktionieren auch wie list comprehensions, nur, dass nicht wirklich eine Liste erzeugt wird, sondern ein Iterator. Hier spuckt der Iterator Einsen aus, wenn die berechneten Teilermengen (divisors.values()) gemeinsame Elemente haben mit den Teilern der gerade betrachteten Menge (divisors[period]). Die Summe dieser Einsen ist gerade die gesuchte Zahl der Zahlen mit gemeinsamen Teilern.

    Obfuscated? Ich finde nicht.

    Das Ergebnis ist übrigens ökologisch bemerkenswert, weil kleine Primzahlen (3, 5 und 7) „schlechter“ sind als größere (11, 13 und 17). Das liegt daran, dass bei einem, sagen wir, dreijährigen Zyklus dann eben doch Resonanzen auftauchen, nämlich mit Fressfeindzyklen, die Vielfache von drei sind. Dass 11 hier so gut aussieht, folgt natürlich nur aus meiner Wahl von 20 Jahren als längsten vertretbaren Zyklus. Ganz künstlich ist diese Wahl allerdings nicht, denn ich würde erwarten, dass allzu lange Zyklen evolutionär auch wieder ungünstig sind, einerseits, weil dann Anpassungen auf sich ändernde Umweltbedingungen zu langsam stattfinden, andererseits, weil so lange Entwicklungszeiten rein biologisch schwierig zu realisieren sein könnten.

    Für richtig langlebige Organismen – Bäume zum Beispiel – könnte diese Überlegung durchaus anders ausgehen. Und das mag eine Spur sein im Hinblick auf die längeren Zyklen im Maikäfer-Artikel der Wikipedia:

    Diesem Zyklus ist ein über 30- bis 45-jähriger Rhythmus überlagert. Die Gründe hierfür sind nicht im Detail bekannt.

    Nur: 30 und 45 sehen aus der Resonanz-Betrachtung jetzt so richtig schlecht aus…

  • Fledermäuse und die Schallgeschwindigkeit

    Via Forschung aktuell vom 5. Mai (ab 18:35) bin ich über ein weiteres Beispiel für vielleicht nicht mehr ganz vertretbare, aber leider doch sehr spannende Experimente an Tieren gestolpert: Eran Amichai und Yossi Yovel von der Uni Tel Aviv und dem Dartmouth College haben festgestellt, dass (jedenfalls) Weißrandfledermäuse eine angeborene Vorstellung von der Schallgeschwindigkeit haben („Echolocating bats rely on innate speed-of-sound reference“, https://doi.org/10.1073/pnas.2024352118; ich glaube, den Volltext gibts außerhalb von Uninetzen nur über scihub).

    Flughunde vor Abendhimmel

    Die beeindruckendsten Fledertiere, die ich je gesehen habe: Große Flughunde, die abends in großen Mengen am Abendhimmel von Pune ihre Runden drehen. Im Hinblick auf die Verwendung dieses Fotos bei diesem Artikel etwas blöd: Diese Tiere machen gar keine Echoortung.

    Das ist zunächst mal überraschend, weil die Schallgeschwindigkeit in Gasen und Flüssigkeiten von deren Dichte abhängig ist und sie damit für Fledermäuse je nach Habitat, Wetter und Höhe schwankt. Für ideale Gase lässt sie sich sogar recht leicht ableiten, und das Ergebnis ist: c = (κ p/ρ)½, wo c die Schallgeschwindigkeit, p der Druck und ρ die Dichte ist. Den Adiabatenexponent κ erklärt bei Bedarf die Wikipedia, er ändert sich jedenfalls nur, wenn die Chemie des Gases sich ändert. Luft ist, wenn ihr nicht gerade in Hochdruckkammern steht (und da würdet ihr nicht lange stehen), ideal genug, und so ist die Schallgeschwindigkeit bei konstantem Luftdruck in unserer Realität in guter Näherung umgekehrt proportional zur Wurzel der Dichte der Luft.

    Nun hat Helium bei Normalbedingungen eine Dichte von rund 0.18 kg auf den Kubikmeter, während Luft bei ungefähr 1.25 kg/m³ liegt (Faustregel: 1 m³ Wasser ist rund eine Tonne, 1 m³ Luft ist rund ein Kilo; das hat die Natur ganz merkfreundlich eingerichtet). Der Adiabatenexponent für Helium (das keine Moleküle bildet) ist zwar etwas anders als der von Stickstoff und Sauerstoff, aber so genau geht es hier nicht, und deshalb habe ich 1/math.sqrt(0.18/1.25) in mein Python getippt; das Ergebnis ist 2.6: grob so viel schneller ist Schall in Helium als in Luft (wo es rund 300 m/s oder 1000 km/h sind; wegen des anderen κ sind es in Helium bei Normalbedingungen in Wahrheit 970 m/s).

    Flattern in Heliox

    Das hat für Fledermäuse eine ziemlich ärgerliche Konsequenz: Da sich die Tiere ja vor allem durch Sonar orientieren und in Helium die Echos 3.2 mal schneller zurückkommen würden als in Luft, würden an Luft gewöhnte Fledermäuse glauben, all die Wände, Wanzen und Libellen wären 3.2-mal näher als sie wirklich sind. Immerhin ist das die sichere Richtung, denn in einer Schwefelhexaflourid-Atmosphäre (um mal ein Gas mit einer sehr hohen Dichte zu nehmen, ρ = 6.6 kg/m³) ist die Schallgeschwindigkeit nur 44% von der in Luft (wieder ignorierend, dass das Zeug einen noch anderen Adiabatenexponenten hat als He, O2 oder N2), und die Tiere würden sich noch zwanzig Zentimeter von der Wand weg wähnen, wenn sie in Wirklichkeit schon mit den Flügeln an sie anschlagen könnten – die Weißrandfledermäuse, mit denen die Leute hier experimentiert haben, haben eine Flügelspannweite von rund 20 Zentimetern (bei 10 Gramm Gewicht!). Wer mal Fledermäuse hat fliegen sehen, ahnt, dass das wohl nicht gut ausgehen würde.

    Aber das ist natürlich Unsinn: In Schwefelhexaflourid ist die Trägheit des Mediums erheblich größer, und das wird die Strömungseigenschaften und damit den dynamischen Auftrieb der Fledermausflügel drastisch ändern[1]. Was auch umgekehrt ein Problem ist, denn in einer Helium-Atmosphäre mit der um fast einen Faktor 10 geringeren spezifischen Trägheit funktionieren die Fledermausflügel auch nicht ordentlich. Ganz zu schweigen davon natürlich, dass die Tiere darin mangels Sauerstoff ersticken würden.

    Deshalb haben Amichal und Co mit Luft-Helium-Mischungen („Heliox“) experimentiert. Dabei haben sie die Schallgeschwindigkeit in einigen Experimenten um 27% erhöht, in der Regel aber nur um 15%[2]. Dass die beiden zwei Helioxmischungen am Start hatten, wird wohl einerseits daran liegen, dass die 15% allenfalls knapp über der natürlichen Schwankungsbreite der Schallgeschwindigket durch Temperatur, Luftdruck und Luftfeuchtigkeit (die gehen ja auch alle auf die Dichte) liegen. Mit 27% aber hatten die Fledermäuse doch zu große Probleme mit dem Fliegen, und das wäre keine Umwelt, in der kleine Fledermäuse aufwachsen sollten.

    Im Artikel schreiben die Leute dazu etwas hartherzig:

    “Category I” [von Fehlflügen] included flights in which the bat clearly did not adjust motor responses to the lessened lift and landed on the floor less than 50 cm from takeoff.

    – was eine recht zurückhaltende Umschreibung von „Absturz“ ist. Einige Tiere hatten davon schnell die Nase voll:

    Treatments [nennt mich pingelig, aber die Bezeichnung der Experimente als „Behandlung“ ist für mich schon auch irgendwo am Euphemismus-Spektrum] were completed in one session with several exceptions: two individuals refused to fly at 27% SOS after 2 d, and those treatments were therefore done in two sessions each, separated by 1 d in normal air.

    Unter diesen Umständen liegt auf der Hand, dass „Köder gefangen und gefressen“ kein gutes Kriterium ist dafür, ob sich die Fledermäuse auf Änderungen der Schallgeschwindigkeit einstellen können – viel wahrscheinlicher waren sie einfach mit ihren Flugkünsten am Ende.

    Tschilpen und Fiepen

    Es gibt aber einen Trick, um die Effekte von Wahrnehmung und Fluggeschick zu trennen. Jagende Fledermäuse haben nämlich zwei Modi der Echoortung: Auf der Suche und aus der Ferne orten sie mit relativ lang auseinanderliegenden, längeren Pulsen, also etwa Tschilp – Tschilp – Tschilp. In der unmittelbaren Umgebung der Beute (in diesem Fall so ab 40 cm wahrgenommener Entfernung) verringern sie den Abstand zwischen den Pulsen, also etwa auf ein Fipfipfipfip. Auf diese Weise lässt sich recht einfach nachvollziehen, welchen Abstand die Tiere selbst messen, wobei „recht einfach“ hier ein Aufnahmegerät für Ultraschall voraussetzt. Wenn sie in zu großer Entfernung mit dem Fipfipfip anfangen, nehmen sie die falsche Schallgeschwindigkeit an.

    Bei der Auswertung von Beuteflügen mit und ohne Helium stellt sich, für mich sehr glaubhaft, heraus, dass Fledermäuse auch nach längerem Aufenhalt in Heliox immer noch unter Annahme der Schallgeschwindigkeit in (reiner) Luft messen: Diese muss ihnen also entweder angeboren sein, oder sie haben sie in ihrer Kindheit fürs Leben gelernt.

    Das Hauptthema der Arbeit ist die Entscheidung zwischen diesen beiden Thesen – nature or nurture, wenn mensch so will. Deshalb haben Amichal und Co 24 Fledermausfrauen aus der Wildnis gefangen, von denen 16 schwanger waren und die schließlich 18 Kinder zur Welt gebracht haben. Mütter und Kinder mussten für ein paar Wochen im Labor leben, wo sie per Kunstlicht auf einen für die Wissenschaftler_innen bequemen Tagesrhythmus gebracht wurden: 16 Stunden Tag, 8 Stunden Nacht, wobei die Nacht, also die Aktivitätszeit der Tiere, zwischen 10 und 17 Uhr lag. Offenbar haben BiologInnen nicht nennenswert andere Bürozeiten als AstronomInnen.

    Mit allerlei Mikrofonen wurde überprüft, dass die Tiere während ihres Tages auch brav schliefen; auf die Weise musste die Heliox-Mischung nur während der Arbeitszeit aufrechterhalten werden, während die Käfige in der Nacht lüften konnten, ohne dass die Heliox-Fledermäuse sich wieder an richtige Luft hätten gewöhnen können.

    Jeweils acht Fledermausbabys wuchsen in normaler Luft bzw. Heliox-15 auf, den doch recht argen Heliox-27-Bedingungen wurden sie nur für spätere Einzelexperimente ausgesetzt. Dabei hat sich gezeigt, dass die Kinder unabhängig von ihrer Kindheitsatmosphäre in gleicher Weise orten: Der Umschlag von Tschilp-Tschip nach Fipfip passierte jeweils bei gleichen Schall-Laufzeiten unabhängig von der wirklichen Distanz.

    Warum tun sie das?

    Diese Befunde sind (aus meiner Sicht leider) nur recht schwer wegzudiskutieren, das wirkt alles recht wasserdicht gemacht. Was die Frage aufwirft, warum die Tiere so hinevolutioniert sind. Amichal und Yovel spekulieren, ein Einlernen der Schallgeschwindigkeit habe sich deshalb nicht herausgebildet, weil Weißrandfledermäuse in der Wildnis sehr schnell erwachsen werden und selbst jagen müssen, weshalb es nicht genug Zeit zum Üben und Lernen gebe.

    Das wäre wohl testbar: Ich rate jetzt mal, dass größere (oder andere) Fledermäuse längere Kindheiten haben. Vielleicht lernen ja die das? Oder vielleicht hängt die festverdrahtete Physik auch daran, dass Weißrandfledermäuse eigentlich durchweg mit ziemlich konstanter Schallgeschwindigkeit leben? Dann müsste das etwa bei mexikanischen Bulldoggfledermäusen (die aus dem Bacardi-Logo) anders sein, für die der Artikel Flughöhen von 3 km zitiert.

    Auch wenn die Sache mit dem Einsperren und Abstürzenlassen von Fledermäusen schon ein wenig gruselig ist: die Wortschöpfungen „Luftwelpen“ und „Helioxwelpen“ haben mich beim Lesen schon angerührt – wobei „Welpe“ für das Original „pup“ eingestandermaßen meine Übersetzung ist. Gibt es eigentlich einen deutsches Spezialausdruck für „Mauskind“?

    Abschließend doch noch ein Schwachpunkt: In der Studie habe ich nichts zum Einfluss des Mediums auf die Tonhöhe der Rufe gelesen[3]. Den muss es aber geben – die Demo von PhysiklehrerInnen, die Helium einatmen und dann mit Micky Maus-Stimme reden, hat wohl jedeR durchmachen müssen. Die Schallgeschwindigkeit ist ja einfach das Produkt von Frequenz und Wellenlänge, c = λ ν, und da λ hier durch die Länge der Stimmbänder (bei entsprechender Anspannung des Kehlkopfs) festliegen sollte, müsste die Frequenz der Töne in 27%-Heliox eben um einen Faktor 1.27, also ungefähr 5/4, niediger liegen. In der Musik ist das die große Terz, etwa das Lalülala einer deutschen Polizeisirene. Und jetzt frage mich mich natürlich, ob das die Fledermäuse nicht merken …

  • Schulkinder sind gruselig

    Die Überschrift hätte ich mich nicht getraut, wenn sie nicht schon im Deutschlandfunk gelaufen wäre, in einer Sendung über einen Lauschangriff auf Lachse.

    Aber wo Christine Westerhaus es in dem Beitrag schon gesagt hat, konnte ich einer neuen Tiergeschichte nicht widerstehen: Von Lachsen und Eltern. Aktualität gewinnt das, weil ich klar nicht der Einzige bin, dem es etwas merkwürdig vorkommt, wie fast alle Eltern auf der einen Seite ostentativ darauf bestehen, ihre Kinder seien ihr Ein und Alles, auf der anderen Seite aber die Große Kinderverdrossenheit von Corona ganz öffentlich zelebrieren. Mal ehrlich: Wäre ich jetzt Kind, wäre ich angesichts des herrschenden Diskurses von geschlossenen Schulen als etwas zwischen Menschenrechtsverletzung und Katastrophe schon etwas eingeschnappt.

    Allerdings: vielleicht ist das ja gar keine Kinderverdrossenheit, sondern Verdrossenheit mit der Lohnarbeit, auf die mensch aber noch weniger schimpfen darf als auf die Kinder?

    Wie auch immer, ernsthaft beunruhigt waren Lachse am NINA in Trondheim, als eine Klasse lärmender Kinder um ihr Aquarium herumtobte. Und dieses Mal sind sie belauscht worden. So klingen vergnügte Lachse:

    Und so welche mit tobenden Kindern:

    Wie es in der Sendung heißt: „They think school kids are scary.“ Sie. Die Lachse.

    PSA: Wenn euer Browser keine Lachstöne abspielt, beschwert euch bei dessen Macher_innen: Ogg Vorbis sollte im 3. Jahrtausend wirklich alles dekodieren können, was Töne ausgibt.

  • Unübersehbare Konsequenzen

    Als ich gestern endlich mal die autoritäre Versuchung in einiger Breite diskutiert habe, war eines der Argumente gegen die bequeme Lösung von Konflikten mit Zwang und Gewalt, dass diese Lösungen zwar manchmal den erwünschten Effekt haben, aber in der Regel auch ziemlich haarsträubende Nebenwirkungen.

    Blätter und Stängel

    Hydrilla-Pflanzen in einem Foto vom US Geological Survey.

    Dazu ist mir heute in einem Beitrag zu Forschung aktuell vom 26. März ein relativ exotisches Beispiel untergekommen, allerdings ziemlich weit ab von den sozialen Konflikten, über die ich gestern vor allem geschrieben habe. Es ging in der Sendung um ein aktuelles Science-Paper von Steffen Breinlinger, Tabitha Phillips und KollegInnen (DOI 10.1126/science.aax9050). Die Leute haben untersucht, warum ab Mitte der 1990er in bestimmten Gebieten der südlichen USA eine deutliche Übersterblichkeit von Weißkopf-Seeadlern und, bei näherem Hinsehen, entlang ganzer Nahrungsketten in und über Süßwasserseen auftrat.

    Zunächst war schon vor der Arbeit eine Korrelation der toten Vögel mit der Besiedlung von Seen durch Hydrilla (eine dort vom Menschen vor relativ kurzer Zeit aus der alten Welt eingeführte Wasserpflanze) aufgefallen, genauer durch Hydrilla und ein Cyanobakterium, das auf dieser haust. Das Weitere hatte etwas von einer Sherlock Holmes-Geschichte, denn Nachzucht und Verfütterung des Cyanobakteriums waren ein Haufen Arbeit – und führten zu nichts: Tiere, die den Hydrilla-Cyanobakterien-Cocktail verzehrten, fühlten sich prima.

    Erst mit echtem Pamp aus den todbringenden Seen erkannten die WissenschaftlerInnen, dass das Problem nicht das Cyanobakterium an sich war, sondern im Wesentlichen die Fähigkeit von Hydrilla, Brom anzureichern; erst mit wenigstens etwas Kaliumbromid im Wasser und Hydrilla zur Bromid-Anreicherung wurden die Cyanobaktierien giftig.

    Damit stellt sich die Frage, woher die Bromide in der freien Natur kommen. Und da kommen wir zu den autoritären Lösungen. Hydrilla ist invasiv, breitet sich also ziemlich stark aus, seit jemand mal sein Aquarium in einen See gekippt und die Pflanze so in die Gewässer der südlichen USA gebracht hat. Um der Ausbreitung Herr zu werden, wurde wohl teils auf Herbizide zurückgegriffen, die bromierte Kohlenwasserstoffe enthielten.

    Tja: Da hat wohl wer einer autoritären Versuchung nachgegeben und die einfache Lösung gesucht durch, na ja, das nächste Aquivalent zu Gewalt an Pflanzen. Vermutlich hat das nicht mal besonders gut gegen Hydrilla geholfen – es muss ja noch genug davon gegeben haben, dass Tiere durch Abweiden (bzw. Fressen der Abweidenden) das Cyanobakterien-Gift anreichen konnten. Aber plausiblerweise hat das Herbizid, die „Lösung“, am Schluss die Seeadler (und Eulen und Milane) umgebracht.

    Der Fairness halber: Vielleicht wars auch gar nichts in der Richtung. Brom könnte auch aus weggeworfenem Kram mit Flammschutzmitteln (das waren traditionell halogenierte Kohlenwasserstoffe) oder aus der Reinigung von Abgasen der Kohleverstromung kommen. Und klar, es gibt auch natürliche Vorkommen von Bromverbindungen. So ist das halt mit Wissenschaft: Richtig eindeutige Antworten brauchen lange Zeit.

  • Tintenfische und der Erfolg im Leben

    Ein Oktopus im Porträt

    Gut: Es ist keine Sepie. Aber dieser Oktopus ist bestimmt noch viel schlauer.

    Mal wieder gab es in Forschung aktuell ein Verhaltensexperiment, das mich interessiert hat. Anders als neulich mit den Weißbüschelaffen sind dieses Mal glücklicherweise keine Primaten im Spiel, sondern Tintenfische, genauer Sepien – die mir aber auch nahegehen, schon, weil das „leerer Tab“-Bild in meinem Browser eine ausgesprochen putzige Sepie ist. Den Beitrag, der mich drauf gebraucht hat, gibt es nur als Audio (1:48 bis 2:28; Fluch auf die Zeitungsverleger), aber dafür ist die Original-Publikation von Alexandra Schnell et al (DOI 10.1098/rspb.2020.3161) offen.

    Grober Hintergrund ist der Marshmallow-Test. Bemerkenswerterweise zitiert der Wikipedia-Artikel bereits die Sepien-Publikation, nicht jedoch kritischere Studien wie etwa die auf den ersten Blick ganz gut gemachte von Watts et al (2018) (DOI: 10.1177/0956797618761661). Schon dessen Abstract nimmt etwas die Luft aus dem reaktionären Narrativ der undisziplinierten Unterschichten, die selbst an ihrem Elend Schuld sind:

    an additional minute waited at age 4 predicted a gain of approximately one tenth of a standard deviation in achievement at age 15. But this bivariate correlation was only half the size of those reported in the original studies and was reduced by two thirds in the presence of controls for family background, early cognitive ability, and the home environment. Most of the variation in adolescent achievement came from being able to wait at least 20 s. Associations between delay time and measures of behavioral outcomes at age 15 were much smaller and rarely statistically significant.

    Aber klar: „achievement“ in Zahlen fassen, aus denen mensch eine Standardabweichung ableiten kann, ist für Metrikskeptiker wie mich auch dann haarig, wenn mich die Ergebnisse nicht überraschen. Insofern würde ich die Watts-Studie jetzt auch nicht überwerten. Dennoch fühle ich mich angesichts der anderen, wahrscheinlich eher noch schwächeren, zitierten Quellen eigentlich schon aufgerufen, die Wikipedia an dieser Stelle etwas zu verbessern.

    Egal, die Tintenfische: Alexandra Schnell hat mit ein paar Kolleg_innen in Cambridge also festgestellt, dass Tintenfische bis zu zwei Minuten eine Beute ignorieren können, wenn sie damit rechnen, später etwas zu kriegen, das sie lieber haben – und wie üblich bei der Sorte Experimente ist der interessanteste Teil, wie sie es angestellt haben, die Tiere zu irgendeinem Handeln in ihrem Sinn zu bewegen.

    Süß ist erstmal, dass ihre ProbandInnen sechs Tintenfisch-Jugendliche im Alter von neun Monaten waren. Die haben sie vor einen Mechanismus (ebenfalls süß: Die Autor_innen finden den Umstand, dass sie den 3D-gedruckt haben, erwähnenswert genug für ihr Paper) mit zwei durchsichtigen Türen gesetzt, hinter denen die Sepien jeweils ihre Lieblingsspeise und eine Nicht-so-Lieblingsspeise (in beiden Fällen irgendwelche ziemlich ekligen Krebstiere) sehen konnten. Durch irgendwelche Sepien-erkennbaren Symbole wussten die Tiere, wie lange sie würden warten müssen, bis sie zur Leibspeise kommen würden, zum langweiligen Essen konnten sie gleich, und sie wussten auch, dass sie nur einen von beiden Ködern würden essen können; dazu gabs ein recht durchdachtes Trainingsprotokoll.

    Na ja, in Wirklichkeit wars schon etwas komplizierter mit dem Training, und ahnt mensch schon, dass nicht immer alles optimal lief:

    Preliminary trials in the control condition showed that Asian shore crabs were not a sufficiently tempting immediate reward as latencies to approach the crab, which was baited in the immediate-release chamber, were excessive (greater than 3 min) and some subjects refused to eat the crab altogether.

    Ich kann mir richtig vorstellen, wie die Gruppe vor dem Aquarium stand und fluchte, weil die doofen Viecher ihre Köder nicht schlucken wollten: „Wie zum Henker schreiben wir das nachher ins Paper?“ – um so mehr, als alle Sepien konsequent die gleichen Präferenzen hatten (was ich ja auch schon für ein bemerkenswertes Resultat halte, das bei n=6 und drei Auswahlmöglichkeiten kaum durch Zufall zu erklären ist – vielleicht aber natürlich durch das, was die Sepien sonst so essen).

    Und dann wieder Dinge in der Abteilung „was alles schiefgehen kann, wenn mensch mit Tieren arbeitet“:

    Subjects received one session of 6 trials per day at a specific delay. This number of trials was chosen to minimize satiety and its effects on eating behaviour.

    Schon die Abbildung 2 des Artikels finde ich wirklich erstaunlich: Alle Sepien bekommen es hin, 30 Sekunden auf ihre Lieblingsspeise zu warten – wow. Ok, kann natürlich sein, dass sie so lange brauchen, um sich zu orientieren, aber Schnell und Co scheinen mir schon viel getan zu haben, um das unwahrscheinlich zu machen.

    Was jedenfalls rauskommen sollte, war eine Korrelation der Wartezeit mit, na ja, der „Intelligenz“ (ich halte mich raus bei der genaueren Bestimmung, was das wohl sei), und um die zu messen, mussten die Sepien in ihren Aquarien zunächst lernen, das „richtige“ unter einem dunklen und einem hellen Stück Plastik aussuchen. Anschließend, das war der Intelligenztest, mussten sie mitbekommen, wenn die Versuchsleitung die Definition von „richtig“ verändert hat. Dazu haben sie laut Artikel im Mittel 46 Versuche gebraucht – gegenüber 27 Versuchen beim ersten Lernen. Nicht selbstverständlich auch: Sepien, die beim ersten Lernen schneller waren, waren auch schneller beim Begreifen der Regeländerung. Da ist Abbildung 3 schon ziemlich eindrücklich: einer der Tintenfische hat das Umkehrlernen in gut 20 Schritten bewältigt, ein anderer hat fast 70 Schritte gebraucht. Uiuiui – entweder haben die ziemlich schwankende Tagesform, oder die Gerissenheit von Sepien variiert ganz dramatisch zwischen Individuen.

    Die erwartete Korrelation kam selbstverständlich auch raus (Abbildung 4), und zwar in einer Klarheit, die mich schon etwas erschreckt angesichts der vielen Dinge, die beim Arbeiten mit Tieren schief gehen können; der Bayes-Faktor, den sie im Absatz drüber angeben („es ist 8.83-mal wahrscheinlicher, dass Intelligenz und Wartenkönnen korreliert sind als das Gegenteil“) ist bei diesem Bild ganz offensichtlich nur wegen der kleinen Zahl der ProbandInnen nicht gigantisch groß. Hm.

    Schön fand ich noch eine eher anekdotische Beobachtung:

    [Andere Tiere] have been shown to employ behavioural strategies such as looking away, closing their eyes or distracting themselves with other objects while waiting for a better reward. Interestingly, in our study, cuttlefish were observed turning their body away from the immediately available prey item, as if to distract themselves when they needed to delay immediate gratification.

    Ich bin vielleicht nach der Lektüre des Artikels nicht viel überzeugter von den verschiedenen Erzählungen rund um den Marshmallow-Test.

    Aber ich will auch mit Sepien spielen dürfen.

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