Zumindest 2011 lebten im indischen Pune noch jede Menge großer
Flughunde, die in der Abenddämmerung zwischen ihren Schlaf- und
Arbeitsstätten hin- und herpendelten. So wie dieser. Noch etwas
weiter östlich wohnen die Subjekte dieses Blogposts.
In Forschung aktuell im Deutschlandfunk vom 12.2.2025 berichtete
Monika Seynsche von Fledermäusen in Thailand, die letztlich die
Reisernten der ganzen Region retten. Das Segment finde ich bereits
inhaltlich hörenswert, weil es um unerwartete Konsequenzen ökologischer
Eingriffe geht; hier im Groben um große Hungersnöte, die durch die
Zerstörung einer handvoll Höhlen ausgelöst werden könnten.
Etwas präziser geht es um Bulldog-Fledermäuse, die in Thailand in
wirklich nennenswerten Mengen leben und dort hochgewirbelte Zikaden
essen. Dazu erklärt Christian Vogt vom Leibniz-Institut für Zoo- und
Wildtierforschung in Berlin,
dass diese Zikaden sich eigentlich nur in Südostasien vermehren und
sich dann in andere Bereiche hineinwehen lassen und dort eben dann
auch große Schäden anrichten, zum Beispiel in China, Korea, Japan und
dergleichen. Das heißt, diese Fledermäuse fliegen mehrere hundert
Meter in die Höhe, jagen dort die Zikaden und verringern dadurch eben
die Ausbreitung dieses Schädlings in ganz Asien.
Angesichts der Größenordnungen, um die es da geht, tun sich durchaus
apokalyptische Szenarien aufgrund recht kleinräumiger Einflüsse auf:
Die Bulldog-Fledermaus kommt zu Hunderttausenden und Millionen in diesen
Höhlen vor und scheint deswegen nicht bedroht zu sein. Wir schätzen,
dass es mehrere Millionen Individuen dieser Fledermausart gibt, aber
es sind eben nur achtzehn Höhlen in Thailand. Das heißt, wenn wir
tatsächlich diese Höhlen zerstören, und das geschieht auf vielfältige
Art und Weise, dann kann es sein, dass diese Populationen relativ
schnell zusammenbrechen.
Mach zehn Höhlen in Thailand kaputt und du hast eine Hungersnot in
China? Es klingt in dem Beitrag ganz so. Hört mal rein.
Aber das ist eigentlich nicht das, was mich nach dem Hören des Beitrags
in die Tasten greifen ließ. Nein, es war der Moment, in dem Vogt sagte:
Es war schon bekannt, dass die Fledermäuse so genannte Schopfzikaden
verzehren, das sind kleine Zikadenarten, die an Reispflanzen leben,
das heißt, die legen dort ihre Eier, die Larven entwickeln sich dort
und richten großen Schaden an.
Verzehern sagt er, nicht etwa „fressen“.
Ha! Vogt ist in meinem Verein: Denn auch ich spreche bei Tieren gerne
von „essen“ oder „verzehren“. Ich biete zum Beispiel Beleg 1
(„essen“) an oder auch diesen möglicherweise etwas kontroversen Satz aus
meinem Post über große Karnivoren:
Denn es geht nach Rechnung der AutorInnen den Wölfen
schon recht oft darum, die Leute, die sie angreifen, dann auch zu
verzehren. [Wenn ihr den ganzen Post nicht lest: die Daten geben die
steile These der AutorInnen natürlich nicht her]
Übrigens finde ich die Rede von „Männchen“ und „Weibchen“ ebenfalls sehr
albern, und das nicht nur, wenn es um Nashörner oder Lämmergeier geht
(hier z.B. sage ich „Vogelfrauen“). Wenn auch in der Wissenschaft
gegenüber Tieren etwas inklusivere und empathische Sprache üblich wird,
freut mich das im Hinblick auf künftig weiseren Umgang der Menschheit
mit ihren Mitbewohnenden auf dieser Erde.
Eingestanden: Vielleicht ist das bei halbwegs süßen Fledermäusen, die
Insekten aufessen, die ansonsten unsere Nahrungspflanzen verschlingen
würden, besonders einfach. Weit herausfordernder fand ich selbst das
neulich bei den wenig charismatischen Karpfen im Kutzerweiher (der
mit den Gondolettas) des Mannheimer Luisenparks:
Nach der Lektüre von Erik Franks Artikel stellt sich die Frage:
Betreiben die Ameisen unter dem sichtbaren Pilz-Fruchtkörper (2013
nahe am Edersee) vielleicht eine Pharmafabrik?
Unter dem Tag Ethikkommission sammele ich hier wissenschaftliche
Grobheiten gegen Tiere: Fledermäuse, die wegen Unterdrucks abstürzen,
Libellen, die mit dem Rücken nach unten fallen gelassen werden (und
schlimmer: deren Augen zugepappt wurden), Wespenköniginnen, die zu, na
ja, Hahnenkämpfen proviziert werden. In der Deutschlandfunk-Reihe
Forschung aktuell gab es am 3.7.2024 einen weiteren Beitrag zu dieser
Liste: Da haben Leute um den Würzburger[1] Biologen
Erik Frank Ameisen Teile ihrer Beine abgeschnitten[2].
Ich vermute, Grundlage des Berichts ist seine Arbeit „Wound Dependent
Leg Amputations to Combat Infections in an Ant Society“, erschienen
leider im Elsevier-Blatt Current Biology (doi:10.2139/ssrn.4612970
und leider bisher nicht bei libgen verfügbar, um so leidererer, als
Elsevier selbst Menschen aus abonnierenden Netzen mit Cookie-Bannern und
Registrierung belästigt und die AutorInnen den Kram leider auch nicht
auf ordentliche Preprint-Server gelegt haben).[3]
Wenn mensch sich durch Elseviers Dark Patterns durchmanövriert hat,
gehts auch schon im Abstract zur Sache:
Experimentelle Amputation führte zu höhren Überlebensraten bei
Ameisen, deren infizierte Wunden am Oberschenkel lagen, aber
nicht, wenn sie am Unterschenkel lagen.
Original
Experimental amputation led to increased survival of ants with
infected wounds when the injury was located at the femur but not when
it was located at the tibia.
„Experimentelle Amputation“? „Infizierte Wunden“? Bilder von
Schlachtfeldern der napoleonischen Kriege drängen sich in mein
Bewusstsein. Das geht bis hin zum Wundfieber, an dem damals
Pseudomonaden bestimmt auch regelmäßig beteiligt waren:
Das Aufbringen von Pseudomonas aeruginosa auf Oberschenkelwunden [der
untersuchten Ameisen] resultierte in einer Sterblichkeit von 85%
innerhalb von 72 Stunden (N=48), ein Wert, der sehr ähnlich dem war,
der für M. analis beobachtet wurde.
Original
The application of P. aeruginosa on femur wounds resulted in a 95%
mortality rate in 72 hours (N=48), a value similar to what had been
observed in M. analis.
Mensch kann auch sagen: Die Leute haben (in diesem Fall, für die ganze
Arbeit waren es viel mehr) 48 Ameisen ein Bein abgeschnitten und dann so
fiesen Schmodder auf die Wunde geschmiert, dass fast alle Tiere
innerhalb von drei Tagen tot waren.
Ich sage mal: mit „richtigen“ Tieren (so, mit Pelz und Linsenaugen)
hätte das wohl keine Ethikkommission dieses Planeten durchgelassen.
Aber ich kann nicht mit Steinen werfen; ich habe ja schon vor zwei
Jahren öffentlich gestanden, dass es auch mir gerne mal an Empathie
fehlt, selbst bei so offensichtlich sympathischen Geschöpfen wie
Fruchtfliegen; und dabei habe ich noch gar nicht mit Mücken und
Nacktschnecken angefangen.
Dennoch hätte ich gerne in dem DFG-Ausschuss mitgehört, der Erik Frank
eine Emmy Noether-Gruppenförderung[4] gegeben hat. Ich habe
halb im Ohr, wie wer sagt: „Sagt mal, ist das nicht ein wenig wie
Käfern die Beine ausreißen? Was ist, wenn TierrechtlerInnen das mal
genauer ansehen?“ Wenn das so ähnlich war, hat dann wer anders etwas
gesagt wie: „Hör zu, das sind die Ameisen, die wir ohne Not in großer
Zahl vergiften, nur damit auf den polierten Terrassensteinen nichts
krabbelt“?
Dabei gestehe ich gerne, dass Franks Ergebnisse beeindruckend sind; dass
Ameisen gezielt, also nur bei geeigneten Verletzungen, Chirurgie
praktizieren und damit auf recht durchschlagenden Erfolg haben – siehe
Abbildung 3 A aus dem Paper:
Rechte: Ich musste meine Erstgeborene an Elsevier verkaufen, und auch
dafür darf ich das nicht unter CC-0 verteilen. Zur Not wandere ich in
die USA aus und plädiere auf fair use. Ansonsten siehe
doi:10.2139/ssrn.4612970.
– dagegen wäre ich ziemlich hohe Wetten eingegangen, weil ich mir kaum
vorstellen kann, wie so komplexes Verhalten in der DNS der Ameisen
kodiert sein könnte. Jaja, ein bisschen neugierig bin ich vielleicht auch,
was für Antibiosen die dabei einsetzen, aber die Sorte Fragestellung
kann mensch wohl getrost der DFG überlassen.
Einen Einwand muss ich aber doch noch loswerden: Ganz überzeugt bin
ich nicht, dass die dramatisch höhere Überlebensrate im Nest tatsächlich
auf die Amputation zurückzuführen ist nicht (auch) auf irgendwelche
Sorten Nestschutz oder vielleicht wegen Isolation und damit wegen Stress
heruntergefahrenem Immunsystem bei den isolierten Tieren – das
Stresshormon Cortisol ist zwar nicht ganz so anti-inflammatorisch wie
Cortison, aber durchaus auch ein wenig. Da bräuchte es, behaupte ich,
schon noch ein paar weitere Experimente.
Na gut: Die Arbeit zum Paper hat er den Affiliations
der Ko-Autoren nach zu schließen gemacht, als er in Lausanne (und
einem Nationalpark in der Elfenbeinküste) noch auf einen Ruf nach
Würzburg hoffte. Das „Würzburger“ ist also ein wenig zu
relativieren.
Der DLF-Journalist Joachim Budde nennt diese Amputation
in seinem Beitrag „Simulation“, was, wenn ich mich recht entsinne, noch
am ehesten meine Emörungsschwelle überschritten hat.
Ich kann mich eines tangentialen Kommentars im Kontext
meines heiligen Krieges gegen quatschige Metriken nicht enthalten:
Der Artikel wurde, als ich ihn während der Suche nach ethisch
akzeptablen Preprintquellen gesehen habe, im Netz hoch und runter
diskutiert. Dagegen war ich laut Elseviers Downloadzähler erst die
dreiundzwanzigste Person, die den Volltext runtergeladen haben soll.
Nun glaube ich tatsächlich nicht, dass viele JournalistInnen das ganze
Paper gezogen haben, aber zumindest viele KollegInnen werden das getan
haben. Was immer die 23, die Elsevier da anzeigt, bedeutet: ich kann
mir keine nützliche Größe vorstellen, die sie messen würde. Ich
jedenfalls würde gerne mal einen wissenschaftlichen Artikel
schreiben, der ein vergleichbares öffentliches Echo hat – während
ich 23 Downloads von einem Preprint in nicht völlig exotischen Fächern
für ganz normal halte.
Unglaublich, aber wahr: Die DFG-Webseiten sind ohne Javascript
kaputt und, noch krasser, auch mit Javascript, aber ohne Javascript
Local Storage. Was für Leute machen solche Webseiten? Und wer
nimmt die ab?
Messelopython freyi – or rather, its remains – as shown in the visitor
centre of Grube Messel: the “world's oldest python“.
In early June, I visited Grubel Messel, a former quarry for
oil shale that was devised to become a landfill but, thanks to a major
dose of civic resistance, instead has become a UNESCO world heritage
site for the richness in diversity and detail of the fossils found in
its shale. Mind you, this is not about dinosaurs. The animals
preserved there lived at least 10 million years after all dinosaurs
except the birds went exinct, in the Eocene. Messel's most famous
fossils are those of a small ancestor of our modern horses
(“Urpferdchen”, in the PR of the site).
I, however, was much more smitten by the bones pictured above. That is
mostly because the museum claims that these are the remains of the
oldest python of the world. That may be a fleeting fame, as the genus
was only introduced in 2020, but by the Messelopython page in the
German Wikipedia (no translation yet, sorry), it is about 48 Million
years old. And that certainly is quite an age even compared to the
ancient Python 1.4 that I wrote my first Python programs in late in
the last Millennium.
But that's what I wanted to publish that photo for: If you want to rant
about some really, really ancient piece of Python code that somehow made
it to the 2020ies, feel free to use this photo as an illustration; as
almost everything here, it is distributed under CC0. Of course, the
name of the beast, Messelopython, is an added bonus.
Als in den Meldungen der Deutschlandfunk-Sendung Forschung aktuell am
17.4. ab Minute 3:02 vom „Tullymonster“ (zoologisch Tullimonstrum
gregarium, was auch nicht so viel schmeichelhafter klingt) die Rede
war, wurde ich schon deshalb neugierig, weil ich wissen wollte, ob das
arme Tier wohl die Bezeichnung „Monster“ verdient.
Nachdem ich den zugehörigen Wikipdia-Artikel überflogen und die
dort gezeigte Lebendrekonstruktion mit einer Art Augenstange[1]
und einem Rüssel mit einer stilettbesetzen Spitze betrachtet hatte, fand
ich die Bezeichnung zumindest naheliegend, um so mehr als die Viecher
nur mal kurz im Oberkarbon (also vor ca. 300 Megajahren) und damit näher
an der nachgerade außerirdischen Ediacara-Fauna als an uns lebten.
Vermutlich gibt es nicht mal mehr Nachkommen, die die Monster-Rede
beleidigen könnte. Trotzdem will ich hier lieber von Tullytier
sprechen, vor allem zu meiner eigenen Tippfreude.
Um eine Vorstellung zu bekommen, warum sich ernsthafte Menschen über
Jahrzehnte hinweg streiten können, ob die Tullytiere Rückgrat hatten
oder nicht, lohnt sich ein Blick auf die Abbildung 1 im
Mikami-Paper; oben ein Farbfoto eines vermutlich recht gut
erhaltenen Tieres, darunter ein 3D-Scan, auf dem ich noch weniger
erkenne (Rechte: Wiley).
Aus Sicht der Biologie sind die Tiere jedenfalls monströs, weil niemand
so recht weiß, was sie sind, auch wenn in Nature schon 2016
überoptimistisch verkündet wurde: „Scientists Finally Know What Kind
of Monster a Tully Monster Was“. Die Ansage war, es sei ein Wirbeltier
gewesen, fast schon ein modernes. Eingestanden: die Leute haben damals
methodisch schweres Geschütz aufgefahren, etwa Augenuntersuchungen mit
Röntgen-Spektroskopie, und zwar mit extrateuerem Synchrotron-Röntgen.
Wer Anträge für Zeit an so teuren Geräten durchbringt, mag durchaus
Grund zu Selbstvertrauen haben (Beweis durch Förderung: „How could three
different funding agencies be wrong?“).
3D-Scans aus der Lagerstätte
Nature hin, Edel-Röntgen her: Dem Schluss von 2016 widerspricht – wie im
DLF berichtet – mit einiger Zuversicht Tomoyuki Mikami vom Japanischen
Nationalmuseum für Natur und Wissenschaft, der mitsamt Kollegen von
verschiedenen japanischen Geo- und Bio-Instituten das Paper
„Three-dimensional anatomy of the Tully monster casts doubt on its
presumed vertebrate affinities“ im Wiley-Blatt Paleontology untergebracht
hat (doi:10.1111/pala.12646; die DOI-Ankunftsseite (um mal was für
„landing page“ vorzuschlagen) ist leider eine schlimme Javascript-Hölle,
was es um so trauriger macht, dass es das Paper noch nicht zu libgen
geschafft hat).
Hauptsächliche Datenbasis der Untersuchungen waren 3D-Scans von 153
Tullytier-Fossilien und 75 anderen Fossilien aus der einzigen
Tullytier-Fundstelle, der „Lagerstätte“ (ein süßer wissenschaftlicher
Teutonizismus) Mazon Creek ein Stück südwestlich von Chicago.
Insgesamt sind in dem Schiefer dort deutlich über 1000 Tullytiere
gefunden worden. Dazu kommen noch ein ganzer Haufen weiterer Tiere, die
jetzt nicht unmittelbar ins Wortfeld „Versteinerung“ gehören: 42% der
tierischen Mazon Creek-Fossilien sind Quallen.
Die Scans sollen eine Auflösung von beachtlichen 150 μm haben (in
unseren furchtbaren Computereinheiten rund 180 dpi). Ich wollte
wissen, wie viele Gitterpunkte bei so einem Scan rauskommen werden.
Grob ist das die Oberfläche des Fossils geteilt durch die Größe eines
Pixels, also für ein grob kugeliges Gebilde von rund
2r = 30 cm Größe (jaja: das ist auch keine
schmeichelhafte Beschreibung eines Tullytiers) 4πr2 ⁄ ρ2.
Mit der Auflösung ρ = 1.5 × 10 − 4 m liefert das
etwas wie 12 Millionen Mesh-Punkte. Danke, liebe GamerInnen, dass ihr
die Entwicklung von Systemen finanziert habt, die sowas in annehmbarer
Zeit visualisieren.
Obendrauf haben Mikami et al für einen Rüssel mit „Stiletten“ – von
„Zähnen“ reden sie lieber nicht, weil das sehr nach Kiefern und damit
nach Wirbeltieren klingt – vornedrin ein hochauflösendes CT (10 μm)
gewonnen, um dieses mundähnliche Ding mit unstrittigen Kiefern
vergleichen zu können. Ich spoilere: die Autoren finden, dass
das schon von der Form her (wiederum haben sie mit 3D-Visualisierung
operiert, um das zu belegen) was ganz anderes ist als jedenfalls die
Kreatinraspeln, die Schecken haben, so dass sie diese Verwandtschaft für
die Tullytiere ausschließen.
Was versteinert wie? Hauptachsen!
Der methodische Teil des Papers geht vor allem bei so marginalen Spuren
zentralen Frage nach, welche Strukturen sich in dem Schiefer wie gut
erhalten, und versuchen, dem eine etwas quantitativere Basis zu geben.
Dabei – und sie glauben, damit paläontologisches Neuland zu betreten –
schreiben sie eine Matrix mit neun möglicherweise erhaltenen
Körperteilen (die Augenstange, die Schwanzflosse, der Halbmond im
Kopfbereich usf) auf der einen Achse und ihre 153 Proben auf der
anderen. Wo sie so ein Körperteil sehen, steht in der Matrix eine Eins,
wo nicht, eine Null, wo das Fossil gar nicht so weit geht, eine
Fehlmarkierung. Über diese Matrix nun lassen die Autoren eine
Hauptkomponentenanalyse laufen.
Das ist ein relativ cleveres Verfahren aus der linearen Algebra, das die
Matrix als Körper in einem 153- (das ist die Zahl der Proben)
-dimensionalen Raum auffasst und dann möglichst viele Dimensionen so
zusammenzwingt, dass maximal viel Volumen übrig bleibt. Die (bei
vielen Problemen nachweislich gute) Vorstellung ist, dass mensch die
„wesentlichen“ Eigenschaften, die in 153 Dimensionen nie erkennbar sind,
in zwei oder drei Dimensionen sehen kann und in den zusammengequetschen
Dimensionen vielleicht eher so Rauschen war. Im vorliegenden Paper
lassen Mikami et al zwei Dimensionen übrig und haben also ein neue
Matrix, in der jedem Körperteil zwei Zahlen zugeordnet sind.
Per Draufgucken sind diese Zahlen zwar nicht unbedingt leicht zu
interpretieren. Es ist aber glaubhaft (wenn auch nicht offensichtlich),
dass Körperteile, deren zwei Zahlen nahe beieinander liegen, auch
ziemlich ähnlich versteinern. Deshalb gibt es Abbildung 3 der Studie:
Rechte: Wiley
„Taphonomically“ in der Caption bedeutet „was das Versteinern angeht“.
Wirklich sehr auffällige Strukturen sind in der Grafik kaum zu erkennen,
und aus meiner Sicht ist auch die Einsicht, dass die Schwanzflosse und
das Rechteck hinter den Augen ziemlich ähnlich versteinern, weder
sonderlich aufschlussreich noch arg naheliegend.
Vielleicht doch lieber qualitativ arbeiten
Leider wird die eben formulierte Erwartung, dass ähnlich versteinernde
Körperteile in so einem Graphen an ähnlichen Stellen liegen sollten,
sofort unvernünftig, wenn andere Organe bei anderen Tieren dazukommen,
denn es ist vermutlich fast unmöglich, die auf diese Weise eingeführten
„verschiedenen“ Dimensionen so zusammenzuquetschen, dass die sich
ergebenden gequetschten Dimensionen in einen gemeinsamen Plot gemalt
werden können.
So taugt die Methode also wahrscheinlich nicht wirklich, um etwa zu
argumentieren: „Eine ordentliche Wirbelsäule liegt bei (20,-15), das
axial band beim Tullytier aber bei (10,23), und drum hat das Tullytier
keine Wirbelsäule.“ Die Autoren sagen (glaube ich) nirgends, dass sie
das vorhatten, und sie zeigen auch nirgends entsprechende Plots von
anderen Spezies. Aber ich hätte probiert, irgendwas zu basteln, damit
ich sowas machen kann. Ich wäre (wie vielleicht die Autoren) ziemlich
sicher gescheitert.
Dennoch überzeugt mich am Paper, dass sie 75 weitere Fossilien anderer
Spezies aus der Fundstätte gescannt haben, und zwar insbesondere
bekannte Wirbeltiere. Auf diese Weise können sie dann eben qualitativ
argumentieren, beispielweise, dass eine rechteckige Struktur hinter den
Augen wohl eher nicht ein Hirnlappen sein wird, da sich dieser ja dann
auch bei den bona fide-Wirbeltieren hätte erhalten müssen – was
nicht der Fall ist.
Ein ähnliches Vergleichs-Argument funktioniert für Kiemen:
However, we found no evidence for gill pouches or other pharyngeal
arch-associated structures in our comprehensive 3D dataset. Branchial
structures are otherwise clearly preserved in specimens of the stem
lampreys [Neunaugen] Mayomyzon and Pipiscius, from Mazon Creek, which
is incompatible with the mode of preservation in Tullimonstrum.
Die Erhaltung der Segmentierung des Körpers vergleichen die Autoren mit
Gliederfüßern und finden, dass deren Chitin-Exoskelette schärfer und
weniger plattgedrückt erhalten sind. Das Tullytier wird also auch
nichts in der weiteren Umgebung von Insekten gewesen sein.
Kurz nach der Erfindung der Knochen: Schädellose und Manteltiere
An dieser Stelle habe mich mich begeistert in die Taxonomie ein wenig
oberhalb der Wirbeltiere gestürzt: Dort sind die Chordatiere.
Wikipedialogisch finde ich es bemerkenswert, dass irgendwer ein ganzes
Kapitel zur internationalen Begriffsgeschichte in diesen Artikel
geschrieben hat und damit fast ein Drittel seiner Gesamtlänge
bestreitet.
Vermutlich ist so eine textkritische Herangehensweise in diesem Geschäft
kein Fehler, worauf auch Mikami et al am Ende ihrer Arbeit hinweisen:
Die einzigartige Morphologie von Tullimonstrum ist kaum vergleichbar
mit der irgendeines anderen bekannten Tieres und ruft uns so ins
Bewusstsein, dass in der Erdgeschichte viele weitere interessante
Tiere existiert haben, die nicht als Fossilien erhalten sind, die
jedoch für ein Verständnis der vollen Evolutionsgeschichte der Metazoa
[ich musste auch nachsehen: das sind die vielzelligen Tiere]
unverzichtbar sind.
Original
The unique morphology of Tullimonstrum, hardly comparable to that of any
other known animal, reminds us that in the history of the earth, there
have existed many more interesting animals that were never preserved as
fossils, but are essential to understand the complete evolutionary
history of the Metazoa.
Chordatiere haben jedenfalls bereits einen Haufen der Dinge, die wir für
Tiere ziemlich normal finden (Herz, irgendwas wie einen Darm) und haben
angefangen, eine Struktur auszubilden, die ich als Laie auch für eine
Wirbelsäule halten könnte, die aber bei den Geschwisterstämmen der
Wirbeltiere anders rausgekommen sind.
Diese Geschwister sind einerseits die extragruselig benannten
Schädellosen (deren überlebende Vertreter normale Menschen wohl für
Fische halten würden) und andererseits die Manteltiere, die aus meiner
Sicht erheblich bizarrer sind, schon, weil sie in ihrem Körper Zelluose
verbauen, also …
Wer meinen Beitrag zu menschenverzehrenden Pelztieren gelesen hat, wird
nicht überrascht sein, dass mich ein Post auf Fefes Blog gestern auf
Anhieb fasziniert hat. Er hat berichtet von „Angriffen“ von Orcas (auf
Deutsch: Schwertwale; sachlich sind das besonders große Delfine, was
Free Willy und Fortsetzungen geschickt kommerzialisiert haben) auf
Boote im Atlantik vor Spanien, Portugal und noch ein bisschen
Frankreich. Was immer da nun ganz aktuell passiert: Schon nach ein paar
Klicks bin ich bei einem ordentlichen wissenschaftlichen Artikel
gelandet, den ich mit einiger Faszination gelesen habe.
Es handelt sich um die 2022 im Wiley-Blatt Marine Mammal Science
erschienene Studie „Killer whales of the Strait of Gibraltar, an
endangered subpopulation showing a disruptive behavior“, geschrieben
Ende 2021 von Ruth Esteban vom Walmuseum in Madeira sowie
KollegInnen aus einer beeindruckenden Menge verschiedener Institute aus
den „betroffenen“ Ländern (doi:10.1111/mms.12947; leider gepaywallt
und noch nicht bei libgen).
Bekannte Täterinnen
Vorneweg: Die Tiere heißen auf Englisch „killer whale“, nicht, weil sie
gerne Menschen umbringen – tatsächlich hat sich offenbar noch kein
wildlebender Orca für Menschen als Nahrung interessiert –, sondern weil
sie ihre Beute gerne in einem recht blutigen Spektakel zerlegen.
Dennoch fand ich die Vorstellung, dass da ein fast zehn Meter großes
Tier mit jedenfalls sehr variablen Nahrungspräferenzen etwa an meinem
Schlauchboot rumuntersucht, ganz entschieden gruselfilmtauglich.
Meine erste Überraschung in dem Paper war nun, dass die „Täterinnen“ der
Übergriffe auf die Boote wohlbekannt sind: Beim letzten Zensus im
Jahr 2011 bestand die fragliche Population überhaupt nur aus 39
Individuen. Aufgrund von reichlichen Film- und Fotoaufzeichnungen
konnten nun Esteban et al identifizieren, welche von denen sich an den
Booten zu schaffen machten. Es stellte sich heraus: Die 50
„Interactions“ im Zeitraum von (im Wesentlichen) Mai bis Oktober 2020
gingen auf zwei Gruppen aus nur ingesamt 9 Tieren zurück.
Eine sorgfältig zusammengestellte Tabelle der tierischen Kampagnen im
Paper zeichnet recht deutlich das Bild, dass die Schwertwale spätestens
ab August 2020 angefangen haben, praktisch täglich Bootfahrende zu
belästigen. Mensch könnte den Eindruck gewinnen, sie hätten ein neues
Hobby entdeckt.
Ein Faible für Segelyachten
Esteban et al schlüsseln das Walspielzeug nach Bootstypen auf. Populär
sind vor allem Segelboote, was ich gut verstehen kann, denn ohne
rotierende Schiffschraube sind die Dinger aus Orcasicht deutlich weniger
gefährlich. Immerhin haben sie aber drei Mal auch Zodiacs untersucht,
also etwas bessere Schlauchboote – hoffenlich hatten die Leute in den
Nussschalen (die ja vermutlich deutlich kleiner waren als jeder einzelne
der Wale) stahlharte Nerven.
Zumindest im von Esteban beobachteten Zeitraum haben die Schwertwale die
Boote aber erkennbar nicht kaputt machen wollen; sie haben eher für eine
halbe Stunde oder so an ihnen rumgespielt, wobei sie fast immer das
Steuerruder besonders interessierte. „Rumspielen“ ist mein Wort,
aber die Beschreibung aus dem Paper legt das Wort schon sehr nahe:
Wenn die Wale engeren Kontakt aufnehmen, üblicherweise am Steuerruder,
drücken sie entweder mit ihren Köpfen und machen eine
Hebelbewegung mit ihren Körpern, um das Blatt zu drehen. In manchen
Fällen haben sie das Boot dabei um fast 360° gewendet. Je höher die
Geschwindigkeit des Bootes oder je stärker die Besatzung um die
Kontrolle des Steuerrades rang, desto mehr und stärker drückten die
Wale in der Regel.
Original
[W]hen the contact focuses, normally on the rudder, the animals either
push the rudder with their heads or make a lever movement with their
bodies, causing the rudder to turn, in some cases pivoting the boat
almost 360°. Normally, the higher the vessel speed or the more
insistently the crew tried to control the wheel, the more and stronger
killer whales pushed.
Angefangen haben sie üblicherweise bei guter Fahrt des Bootes (gerne was
wie 15 km/h, was für so einen Schwertwal kein großes Problem ist). Wenn
das Schiff angehalten hat, ist es ihnen langweilig geworden und sie sind
weitergezogen. Die Ausgänge „kaputt“, „beschädigt“ und „kein Schaden“
(jeweils im Hinblick auf das Steuerruder) sind dabei so in etwa gleich
verteilt.
Ich finde ja schon bemerkenswert, dass gerade mal neun Individuen so ein
Bohei die Küste rauf und runter verursachen können, auch wenn es schon
ziemlich große Tiere sind. Tatsächlich haben ihre Exploits die
staatlichen Autoritäten zur Sperrung von Seegebieten gebracht:
The Spanish Maritime Traffic Security authorities prohibited the
coastal navigation for small (<15 m) sailing vessels where interactions
were concentrated at the time.
Vorboten des Schwarm-Szenarios?
Eine wirklich gute Erklärung dafür, was den Walen das Interesse an den
Steuerrudern beibrachte, haben auch Esteban et al nicht. Die
Möglichkeit, sie würden damit ein unangenehmes Erlebnis etwa mit
Fischern verarbeiten (die iberischen Schwertwale klauen gerne Thunfische
aus menschlichen Fanggeräten), finde ich jedenfalls nicht plausibel, denn
Fischerboote scheinen sie nur aus Versehen mal angerempelt zu haben.
Hier hätte ich mal eine Geschichte, die ich gerne glauben würde: die
Wale fanden die Ruhe während der Corona-Lockdowns zwischen März und Mai
total klasse und dachten sich, sie könnten das wieder haben, wenn sie
den FreizeitskipperInnen genug auf die Nerven fallen; die Fischerboote
würden sie schon hinnehmen, solange die ihnen Thunfische fangen.
Der Charme dieser Geschichte: Wenn die spanischen Behörden in der Folge
das Meer sperren, wenn die Wale irgendwo auftauchen, wäre das nette eine
positive Konditionierung: die Spiele der Wale würden wirklich für mehr
Ruhe am Wasser sorgen. Das aber würde schön erklären, warum sich das
Verhalten ausbreitet – wenn es das denn wirklich tut.
Ob das gegenüber dem Stand vor anderthalb Jahren wirklich so ist: Mal
sehen, was Esteban et al demnächst so veröffentlichen. Ich habe trotz
meines generellen Grusels vor ORCID (keine Verwandschaft mit Orca)
kurz einen Blick auf Ruth Estebans ORCID-Seite geworfen. Jetzt
gerade ist das besprochene Paper die letzte Publikation. Aber
angesichts des Medienrummels um ihre Schwertwale wirds dabei sicher
nicht bleiben.
Unterdessen: Ebenfalls von 2021 ist dieser Vortrag von Ruth Esteban,
in dem sie Videos der Walbegegnungen zeight. Wie viel nützlicher wäre
der, wenn sie eine vernünftigte Lizenz draufgemacht hätten!
Nachtrag (2023-06-25)
In Forschung aktuell vom 26. Mai gab es eine schöne Fortsetzung
dieser Geschichte, die den Score auf 500:0 legt. Gegen Ende werden
Verhaltenstipps diskutiert. Vor allem: Einfach nicht dort segeln, wo
die Orcas sind. Wenn die Leute das wirklich machen, wäre ich
neugierig, was die Reaktion der Orcas ist…
Neulich ging es in der taz tatsächlich mal um einen Fachartikel,
nämlich um „A worldwide perspective on large carnivore attacks on
humans” von Giulia Bombieri vom Naturkundemuesum[1] in Trento,
Vincenzo Penteriani vom Naturkundemuseum in Madrid sowie KollegInnen aus
aller Welt (doi:10.1371/journal.pbio.3001946), vorbildlich unter CC0
publiziert in PLOS Biology.
Der taz-Artikel liefert eigentlich eine ganz schöne Zusammenfassung des
narrativen Teils der Studie, und vor allem ordnet er das Thema das
Artikels gut ein relativ zu Bedrohungen durch andere Tiergruppen
und echte Gefahren für Menschenleben:
Knapp 2.000 tödliche Angriffe [durch wilde Säugetier-Karnivoren] in 70
Jahren – das sind weniger als 30 im Jahr. Weltweit. Da steht die
Angst in keinem Verhältnis zum Risiko […] Höchste Zeit, den Wolf zu
entlasten und die richtigen Fragen zu stellen: Großmutter, warum hast
du so große Räder?
So sehr das mit der Angst qualitativ sicher stimmt, ist das Argument so
quantitativ formuliert allerdings nicht haltbar. Schon die
Unterüberschrift in der taz, „Eine Studie wertet die Fälle der letzten
70 Jahre aus.“ (Hervorhebung ich), weckt nämlich völlig falsche
Erwartungen. Bombieri et al lassen keine Zweifel:
Wir räumen ein, dass unser Datensatz nicht die Gesamtheit der
Tierangriffe umfasst, die es weltweit gab. Er repräsentiert eine
Untermenge dieser Fälle. In der Tat fehlen trotz unserer Bemühungen,
gleichmäßig über Arten und Regionen zu sammeln, zahlreiche Fälle
speziell für Löwen, Leoparden und Tiger.
Original
We acknowledge that our dataset does not include the totality of
attack cases that actually occurred worldwide, and thus it represents
a subsample of cases. Indeed, although the effort put into collecting
cases was equal for each species and region, many cases, especially
those involving species such as lions Panthera leo, leopards Panthera
pardus, and tigers Panthera tigris, are missing from our dataset.
Wacklige Zahlen, robuste Ergebnisse
Der numerische Abstand allerdings zwischen dem Gemetzel im
Straßenverkehr und den Opfern bepelzter Wildtiere ist so groß, dass auch
einige Größenordnungen Unterschätzung nichts am in der taz dargestellten
qualitativen Befund ändern werden.
Bombieri et al überdehenen ihre Zahlen aber auch selbst, etwa wenn sie
zunächst
erwarten […], dass die Zahl der Angriffe in Regionen mit
niedrigem Einkommen wächst. Dort findet viel
Subsistenzwirtschaft statt, und viele Gemeinden leben in engem Kontakt
mit Wildtieren inklusive Großkatzen.
Original
In particular, we expect that the number of attacks increases over
time in low-income regions, where subsistence economies are still
largely present and many communities still live in close contact with
wildlife, including large felids.
Die Zunahme als solche sehen sie dann auch in ihren Daten. Dass diese
aber an Subsistenzwirtschaft und Landnahme liegt, bräuchte schon
stärkere Unterstützung als platt mit der Zeit wachsende Zahlen, denn die
werden sehr plausiblerweise einfach daran liegen, dass sich die
Anbindung größerer Teile des globalen Südens an das Nachrichtensystem
des globalen Nordens über die letzten 70 Jahren hinweg ganz erheblich
verbessert hat. Denn wie zählen Bombieri et al?
Berichte über Angriffe wurden gesammelt aus persönlicher Datenhaltung
der KoautorInnen, der wissenschaftlichen Literatur, Doktor- und
Masterarbeiten, Webseiten und öffentlicher Berichterstattung (eine
Liste der wesentlichen Veröffentlichungen zum Thema stellen wir in
Tabelle S2 zur Verfügung). Wir haben die erwähnten Quellen mit den
Suchmaschinen Google und Google Scholar durchsucht. Um den Datensatz
zu vervollständigen, haben wir auch eine systematische Suche nach
Zeitungsartikeln auf Google durchgeführt. Dabei haben wir für alle
Länder/Regionen jährlich gesucht nach einer Kombination der folgenden
Begriffe „Name der Art“ oder „wissenschaftlicher Name der Art“ +
„attack“ oder „attack“ + „human“.
Original
Attack records were collected from personal datasets of the coauthors,
published literature, PhD/MS theses, webpages, and news reports (a
list of the main published research and reports on the topic is
provided in S2 Table). We searched for the abovementioned sources
using the search engines Google and Google Scholar. To complete the
dataset, in addition to these sources, we also carried out a
systematic search of news articles on Google for each country/region
on an annual basis, using the combination of the following terms:
“common species name” or “scientific species name” + “attack” or
“attack” + “human.”
Diese Methode führt natürlich überwältigende und praktisch nicht zu
kontrollierende Auswahleffekte ein, so dass ich jedem quantitativen
Ergebnis, das aus diesem Datensatz gewonnen wird, sehr skeptisch
gegenüberstehen würde. Das aber ändert nichts daran, dass er eine
großartige Quelle für qualitative Betrachtungen ist.
CC0 sei Dank: Aus Excel befreit
Weil das alles – wie mein Blog auch – unter CC0 verteilt wird, kann ich
die furchtbare Excel-Datei, in der Bombieri et al ihre Datensammlung
publizieren, hier als aufgeräumte CSV-Datei republizieren – vielen
Dank an die AutorInnen! Zum Aufräumen habe ich ad-hoc ein
Python-Skript geschrieben, das in einem mit Libreoffice erzeugten
CSV-Export der Excel-Datei insbesondere die geographischen Koordinaten,
die in einer munteren Mischung verschiedener Formate kamen,
vereinheitlicht. Dabei gingen ein paar Koordinaten verloren, deren
Format ich nicht erraten konnte (so etwa 10).
Zusammen mit dem großartigen TOPCAT und dessen Classify by
Column-Feature (in Views → Subsets) kann mensch auf die Weise recht
unmittelbar den folgenden Plot der erfassten Säugetierangriffe nach
Spezies erzeugen (TOPCAT ist eigentlich für die Astronomie gedacht,
weshalb die Koordinaten etwas ungeographisch daherkommen):
Geographische Verteilung der Tierangriffe aus Bombieri et al, für die
am häufigsten angreifenden Arten farblich aufgeschlüsselt. Beachtet,
dass nur knapp 50% der Fälle in ihrem Datensatz hinreichend
georeferenziert sind.
Wenn ihr das selbst versucht: Macht auch gleich einen Tabellen-View auf.
Ihr könnt dann nämlich auf die Punkte klicken und in der
Observations-Spalte oft die zugehörigen Geschichten lesen. Einiges
bewegt sich im Dumb Ways to Die-Spektrum, und ich kann nicht leugnen,
dass ich mich manchmal wie einE Bild-LeserIn fühlte, während ich an den
Daten herummachte. Tja: wer in der Hinsicht ohne Schuld ist, werfe den
ersten Stein.
Wölfe fütternd oder Futter für Wölfe?
Manchmal sind schon die Activities in der Tabelle halbe Geschichten:
„sleeping outside the tent in sleeping bag” zum Beispiel (im kanadischen
Algonquin National Park, mit Species Wolf). Conflict_end ist hier
glücklicherweise 1 („Injury”) und nicht 2 („Death“). So ging es auch
für die Activity „feeding the wolf“ aus, Observation: „Frau hielt an
und bot dem Wolf Futter an“. Ich kann der Versuchung nicht widerstehen
und muss fragen: War das eine oder waren das zwei Handlungen?
Denn es geht nach Rechnung der AutorInnen den Wölfen schon recht oft
darum, die Leute, die sie angreifen, dann auch zu verzehren. Dazu hilft
es, sich kurz die Bedeutung der Zahloide in der Scenario-Spalte
anzusehen, die ich erst manuell aus dem blöden XSLX-XML rausfummeln
musste:
1:
defensive reaction by a female with offspring
2:
animal and human/s involuntarily encounter at a close distance
3_4:
food related: eg animal food conditioned/habituated or feeding on anthropogenic food (eg crop) or feeding on a wild or domestic animal carcass at the moment of the attack.
5:
predatory/unprovoked/investigative attack
6:
animal wounded/trapped
8:
dog presence
10_12:
animal intentionally approached/provoked/chased attack the people involved or other people on its way while fleeing
Bei Wölfen sind immerhin 377 von 414 Fällen mit der 5 klassifiziert.
Das hätte ich ehrlich gesagt anders eingeschätzt. Und noch mehr bin ich
überrascht, dass es die Wölfe in über 250 dokumentierten Fällen auch
geschafft haben (sollen), die beteiligten Menschen zu töten. Ich habe
mir diese Fälle mal rausgefiltert (in TOPCAT definiert mensch dafür ein
algebraisches Subset mit equals(species, "wolf") && conflict_end==2
– ja, SQL ist schöner). Fast alle dieser 268 Fälle kommen aus Indien
(259), sechs aus dem Iran, und dann noch je einer aus der Türkei, aus
Alaska und Saskatchewan.
Die Geschichte aus der Türkei ist die von einem Schäfer:
Shepherd's father found him death [sic]. Then took him to hospital and
doctors determined he was killed by wolves.
– es ging den Wölfen hier also ziemlich sicher nicht darum, den Schäfer
zu verzehren, denn sonst wäre schon das mit dem Ins-Krankenhaus-Bringen
schwierig geworden. Ich würde hier die 5 ziemlich in Frage stellen, muss
ich sagen; für mich klingt das stark nach 3_4, food related, weil die
Wölfe einfach die Tiere des Schäfers essen wollten und der Schäfer im Weg
war.
Die Fälle in Nordamerika sind jeweils den Wintermonaten zugeordnet,
wobei Wolfsrudel vermutlich weniger hinter dem Fleisch der Menschen her
waren als vielmehr hinter den Resten der Tiere, die die Menschen vorher
getötet hatten. Sehr hässlich klingen dagegen die Activities aus
dem Iran: children playing lese ich da – und noch schlimmer in Indien,
wo das allein 183-mal vorkommt (mit anderen Worten: mehr als die Hälfte
aller hier verzeichneten tödlichen Begegnungen mit Wölfen weltweit).
Das werde ich unten nochmal etwas genauer betrachten, aber zunächst
sollen auch die Katzen etwas Aufmerksamkeit bekommen.
Großkatzen lassen zweifeln
Bei Leoparden lese ich etliche Mal das gruselige „attacked at the neck
and dragged away“, einmal darunter mit der Activity
„toilet/bathing/washing clothes outside“ und dem Ausgang, dass der
Mensch …
Dieser Halsbandsittich sieht so mitgenommen aus, weil es regnet,
nicht, weil er mit Glas kollidiert ist.
Eine Hochrechnung der Staatlichen Vogelschutzwarten in Deutschland hat
ergeben, dass jährlich alleine in diesem Land ca. 100–115 Millionen
Vögel an Glas verunglücken. Das sind über 5 % aller Vogelindividuen,
die in Deutschland im Jahresverlauf vorkommen.
Dieses Zitat kommt aus der Broschüre „Vogelfreundliches Bauen mit Glas
und Licht” der Schweizerischen Vogelwarte Sempach[1], die vor ein
paar Tagen auf der Webseite des BUND erschienen ist. Meine erste
Reaktion war: „Das kann nicht sein“. Aber andererseits: Ich habe auch
schon mehrfach gehört, wie Vögel gegen Fensterscheiben geprallt sind,
zum Teil auch gesehen, wie sie sich dann zusammengerappelt haben – oder
eben auch nicht.
Wenn ich alle drei Jahre Zeuge eines Vogel-Glas-Unfalls bin, gut
zwei Drittel davon ohne ZeugInnen ablaufen (plausibel: der
durchschnittliche befensterte Raum ist bestimmt weniger als ein Drittel
der Zeit bemenscht) und ich relativ typisch bin, dann gibt es in der Tat
ungefähr einen Vogelunfall pro BürgerIn, und das sind halt so um die
hundert Millionen.
Oh, Grusel. Lest euch die Broschüre mal durch (Trigger Warning: Bilder
von verunglückten Tieren). Ich suche gleich mal nach wetterfesten,
selbstklebenden Punkten von mindestens neun Millimeter Durchmesser, mit
denen ich zumindest die Balkontür an meinem Arbeitsplatz (wo es wirklich
viele Vögel gibt) markieren kann. Spoiler: hinreichend dicht und an die
Außenseite geklebt, helfen die Vögeln zuverlässig, das Glas zu
vermeiden.
Kein Fall für die Ethikkommission
Schön an der Broschüre finde ich, dass sie recht sorgfältig erklärt, wie
mensch eigentlich misst, ob eine bestimmte Sorte Markierung an
Glasscheiben die Vögel wirklich abhält (z.B. weiße oder schwarze
Klebepunkte) oder nicht (z.B. die Greifvogelsilhoutten oder Kram, der
nur im Ultravioletten sichtbar ist). Dazu beschreiben sie ein
Flugtunnel-Experiment, bei dem Vögel aus einem Beringungsprojekt nicht
direkt wieder freigelassen werden, sondern zunächst in einen ein paar
Meter langen dunklen Raum mit einem großen, hellen Ausgang gesetzt
werden. Vögel fliegen in so einer Situation sehr zuverlässig zum Licht.
Am hellen Ende des Tunnels sind nun zwei Glasscheiben angebracht, eine
konventionelle und eine markierte. Wenn die Vögel halbwegs zuverlässig
die markierte Seite meiden, ist die Markierung glaubhaft wirksam. Aber
natürlich will mensch die Vögel, die vom Beringen eh schon gestresst
sind, nicht noch gegen eine Glasscheibe krachen lassen, weshalb es ein
für Vögel unsichtbares Sicherheitsnetz gibt, das sie (relativ) sanft
abhält. Und dann dürfen sie auch gleich weiterfliegen.
Ich finde das ein bemerkenswert gut designtes Experiment, weil es auf
Dauer mit untrainierten Wildvögeln arbeitet, also genau mit der
Population, um die es in der Realität auch geht. Und im Vergleich zur
Beringung ist die zusätzliche Belastung der Tiere durch das kurze und
vergleichsweise naturnahe Tunnelexperiment vernachlässigbar. Gut:
Mensch mag über die Beringung als solche diskutieren – aber da halte ich
mich zurück.
Ganz besonders begeistern mich Beschreibungen von Experimenten zudem,
wenn systematische Fehler von Vorgängerexperimenten besprochen werden.
In diesem Fall etwa war eine Systematik, dass Vögel am Vormittag
deutlich lieber die linke Scheibe wählten und am Nachmittag deutlich
lieber die rechte. Die Erklärung: die Vögel wollten nicht aus dem
dunklen Tunnel in die Sonne hineinfliegen (auch wenn sie nach dem
Beringen gleich in den Tunnel gelassen wurden, also noch helladaptiert
waren). Deshalb bogen sie am Vormittag lieber nach Westen, am
Nachmittag lieber nach Osten ab – was natürlich die Wirksamkeitsmessung
ganz furchtbar störte.
Die Lösung des aktuellen Experiments, um diese Systematik zu vermeiden:
Der ganze Tunnel ist drehbar montiert und wird der Sonne nachgeführt.
Wow.
Scharfsichtigkeiten
Die Broschüre war für mich auch Anlass, mich einiger Kopfzahlen zu
bedienen. So zitiert sie etwa aus Martin, G. (2017): The sensory
ecology of birds, das
Auflösungsvermögen des menschlichen Auges [sei] etwa doppelt so hoch
wie das eines Turmfalken, vier Mal höher als das einer Taube und
14-mal so hoch wie das eines Haussperlings.
Was er wohl über den Mond denkt? Ein Spatz im Berliner Botanischen
Garten, 2008.
Um das einzuordnen, habe ich mich erinnert, dass ein normalsichtiges
menschliches Auge zwei Bogenminuten auflöst[2], und
um eine Vorstellung zu bekommen, was wohl zwei Bogenminuten seien, ist
die Ur-Kopfzahl für Winkel gut: Mond und Sonne sind jeweils etwa
dreißig Bogenminuten (oder ein halbes Grad)[3]
groß. Wenn also so ein Spatz etwa fünfzehn Mal schlechter auflöst als
der Mensch, ist für ihn der Mond nur so ein heller, unstrukturierter
Punkt. Today I learned…
Will ich lieber fliegen oder lieber den Mond wie gewohnt sehen
können? Hm.
Fledermäuse und Lichtverschmutzung
Erfreulich aus AstronomInnensicht ist der Exkurs zur Lichtverschmutzung
mit einem Punkt, den ich noch gar nicht auf dem Schirm hatte:
Fledermäuse meiden die Helligkeit, weil sie sonst leicht von
Beutegreifern wie Greifvögeln und Eulen gesehen werden können.
Besonders problematisch ist das Beleuchten der Ausflugöffnungen von
Fledermausquartieren, wie sie beispielsweise in Kirchendachstühlen zu
finden sind. Dies erschwert den Tieren den Ausflug aus den Quartieren
und verringert damit die Zeit der aktiven Nahrungssuche, was wiederum
den Fortpflanzungserfolg vermindern kann.
Ich weiß nicht, wie lange das schon bekannt ist. Wenn das jetzt nicht
brandneue Ergebnisse sind, bekomme ich schon wieder schlechte Laune,
weil die Kirchenturmilluminationen, auf die für Fledermäuse offenbar
nicht verzichtet werden konnte, im Herbst 2022 aus patriotischen Gründen
plötzlich doch abgeschaltet werden konnten. Hmpf.
Der ganze Werbe- und Touriklimbim ist übrigens alles andere als im
Mittel vernachlässigbar. Nochmal die Vogelwarten-Broschüre:
Eine Untersuchung der Wiener Umweltanwaltschaft hat gezeigt, dass in
Wien 2011 zwei Drittel der Lichtverschmutzung von
Schaufensterbeleuchtungen, Anstrahlungen und anderen
Effektbeleuchtungen und nur ein Drittel von der öffentlichen
Beleuchtung verursacht wurden, obwohl letztere zwei Drittel der
Lichtpunkte betreibt.
Ich stelle unter Verweis auf meinen Rant gegen die Dauerbeflimmerung
schon wieder fest: Vernünftiges Konsumverhalten ist eigentlich selten
Verzicht. Es ist viel öfter Befreiung von Mist, der den Nutzenden oder
jedenfalls anderen Tieren (häufig übrigens der eigenen Spezies) das
Leben eh nur schwer macht.
Nachtrag (2023-02-13)
Ich hätte vielleicht gleich sagen sollen, dass ich auf die Broschüre
durch einen Artikel im BUNDmagazin 1/2023 aufmerksam geworden bin. Ein
paar Seiten weiter hinten steht da eine Ergänzung zum Thema schlechte
Laune, denn in der Tat hat Baden-Württemberg offenbar seit 2020 ein
recht durchgreifendes Beleuchtungsrecht in §21 Naturschutzgesetz, in
dem zum Beispiel drinsteht:
Es ist im Zeitraum
vom 1. April bis zum 30. September ganztägig und
vom 1. Oktober bis zum 31. März in den Stunden von 22 Uhr bis 6 Uhr
verboten, die Fassaden baulicher Anlagen der öffentlichen Hand zu
beleuchten, soweit dies nicht aus Gründen der öffentlichen Sicherheit
erforderlich oder durch oder auf Grund einer Rechtsvorschrift
vorgeschrieben ist.
oder gar:
Werbeanlagen sind im Außenbereich unzulässig. Unzulässig sind auch
Himmelsstrahler und Einrichtungen mit ähnlicher Wirkung, die in der
freien Landschaft störend in Erscheinung treten.
Naturschutzrecht ist offenbar ein wenig wie Datenschutzrecht. Mensch
staunt regelmäßig über die Dissonanz zwischen Recht und Praxis – nicht
zuletzt, weil es dann doch immer allerlei interessante Ausnahmen gibt,
im Fall von §21 NatSchG vor allem Artikel 5.
Kopfzahlen: Beleuchtungsstärken
Während ich bei den Scharfsichtigkeiten mit Kopfzahlen auskam, die ich
schon parat hatte, sammele ich die zu Beleuchtungsstärken jetzt gerade
aus der Broschüre (die sie wiederum aus der Wikipedia hat). Die
Beleuchtungsstärke ist dabei ein Maß, wie viel Licht pro
Flächeneinheit auftrifft. Es ist nicht falsch, sich vorzustellen, dass
sie misst, wie hell ein Stück Papier wirkt, wenn ihr es in dem
entsprechenden Licht anguckt.
Und da will ich mir merken: An einem Sommertag draußen ist die
Beleuchtungsstärke 90'000 Lux; ein ordentlich
ausgeleuchtetes Büro („Pfui, ist das ungemütlich“) hat nur ein
verblüffendes halbes Prozent davon (also etwa 500 Lux), ein
fernsehgerechter Wohnraum („endlich keine doofe Arbeit mehr”) gar nur
ein halbes Promille.
Zu bedenken ist dabei allerdings, dass unsere Helligkeitswahrnehmung,
wie fast alle unsere Sinne, logarithmisch funktioniert. Die
Wahrnehmung von Intensitäten geht also wie der Logarithmus der
einkommenden Energie (vgl. etwa Dezibel). Mithin wäre es
vielleicht sinnvoller, sich 5 (plusminus der dekadische Logarithmus von
90'000), 2.5 (Büro) und 1.5 (Wohnraum) zu merken. Andererseits ist
diese Sorte von Kopfzahl vielleicht auch relevanter, wenn mensch
abschätzen will, ob – sagen wir – ein Solarlader was tun wird oder
nicht. Sowas geht aber bei unverändertem Spektrum weitgehend linear
mit der einkommenden Energie.
Bei genaueren Betrachtungen sind photometrische Einheiten übrigens immer
ein Graus – als Astronom könnte ich davon viele Lieder singen, von
Jansky, AB-Magnituden (gibts noch nicht in der deutschen
Wikipedia) versus Vega-Magnituden (gibts noch nicht mal in der englischen
Wikipedia) und vielem mehr. Immerhin kann ich mir traditionell merken,
dass ein ordentlicher Beamer für Besprechungsräume 2000
LumenLichtstrom erzeugt. Dieser Lichtstrom ist so in etwa ein Maß
dafür, wie viele Photonen (bei gegebener Frequenz und damit Energie pro
Photon) pro Zeiteinheit aus so einer Lampe kommen[4]. Und ich kann
mir gerade noch so merken, dass
1 lux = (1 lm)/(1 m2)
ist. Wenn ihr ein wenig rechnet, heißt das: Damit ein A5-Blatt (faul
idealisiert auf 15 mal 15 Zentimeter) genauso hell scheint wie im
Sommersonnenschein, braucht ihr das ganze Licht eines ordentlichen
Beamers auf diesem Stück Papier. Das hätte ich per Bauchgefühl ganz
anders geschätzt.
Unsympath vom Dienst für diesen Post: Ein (Quandel-) Ameisenbläuling.
CC-BY-SA PJC&Co
Im Dezember letzten Jahres lief in der DLF-Sendung Forschung aktuell zur
Begleitung der Weltnaturschutzkonferenz in Montreal eine großartige
Miniserie mit Geräuschen von Tieren, deren Arten demnächst ziemlich
wahrscheinlich aussterben werden. Ihr ebenfalls großartiger Titel:
„Letzte Rufe“. Soweit ich sehe, haben die Deutschlandfunk-Leute keine
eigene Seite für die Miniserie. Lasst mich geschwind einspringen:
Rio-Tinto-Riesenkugler – der Name ist übrigens ein sozialer Hack
(oder der Versuch eines solchen): der britisch-australische
Bergbaukonzern Rio Tinto rottet diese Tiere gerade aus, und die
BenennerInnen haben gehofft, dass er das lässt, wenn sie seinen Namen
tragen
Ich finde, das ist ein sehr audiophiles Format. Und ich habe in jeder
Folge etwas gelernt.
Nur… nun, nennt mich einen Naturromantiker, aber speziell beim
Ameisenbläuling fällt mir allzu viel Empathie schwer, auch wenn ich
weiß, dass Parasiten in den meisten Ökosystemen stark stabilisierende
Funktionen haben. Es klingt einfach zu garstig, was die Viecher
treiben.
Sie sind nämlich Myrmekophile. Ich habe das Wort auch erst eben
gelernt. Es bezeichnet Organismen, die an Ameisen „gebunden“ (Wortwahl
des/der Wikipedia-AutorIn) sind. Bei Ameisenbläulingen heißt das etwas
weniger beschönigend gesprochen, dass sie sich von Ameisen in deren Bau
tragen lassen – etwa, indem sie durch abscheuliches Krächzen vorgeben,
sie seien Königinnenlarven – und sich dort von diesen füttern lassen
beziehungsweise gleich die Eier und Larven der Ameisen aufessen. In den
Worten des Wikipedia-Artikels zum Quendel-Ameisenbläuling:
Dennoch kommen viele Raupen [im Ameisennest] um, weil sie entweder in
Gegenwart der Königin von den Arbeiterinnen angegriffen werden, oder
weil sie das Ameisennest leer plündern und sich so selbst die
Nahrungsgrundlage entziehen.
Für die betroffenen Ameisenarten kann der Parasitenbefall zu einer
Verkleinerung der Kolonie führen, da die bevorzugte Fütterung der
Schmetterlingslarven den eigenen Nachwuchs gefährdet.
Aber immerhin sind diese speziellen Falter relativ wenig manipulativ:
Nach dem Schlüpfen bleibt den Faltern nicht viel Zeit für die Flucht,
denn sie besitzen keine Duftstoffe, die sie vor den Ameisen schützen.
Etwa 98 % der Biomasse der Puppe (und des späteren Falters) stammt so
von den Ressourcen des Ameisenvolkes. Es wurde geschätzt, dass bei den
räuberisch lebenden Phengaris-Arten (P. teleius, P. arion und P.
nausitous) etwa 350 Arbeiterinnen mittelbar nötig sind, um eine
Phengaris-Larve zu ernähren. Diese Zahl wird benötigt, um die Nahrung
für die Ameisenbrut zu beschaffen, die von den Phengaris-Larven
gefressen wird.
Sagt, was ihr wollt: Als Sympathieträger gegen das Insektensterben würde
ich mir eine andere Art aussuchen. Jedenfalls solange, bis auch
Menschen wie ich deutlich mehr Instinkt entwickelt haben für Ökosysteme
und die Rolle, die auch Tiere mit nach menschlichen Maßstäben nicht so
feinen Manieren darin spielen. Bis dahin kann ich die spontane Reaktion
einer Freundin gut nachvollziehen: „Die Biester sollen ruhig
aussterben“.
VertreterInnen von Heidelbergs Halsbandsittich-Population im Dezember
2018. Beachtet, wie die Unterseite der Schwingen deutlich stärker
gemustert ist als die Oberseite.[1]
Schon im Juli hat Forschung aktuell im Deutschlandfunk kurz ein Paper
erwähnt, das mein Amateurinteresse an Zoologie geweckt hat: In den
Wissenschaftsmeldungen vom 6.7. hieß es ungefähr 2 Minuten in das Segment
rein, die oft wilden Muster auf den Unterseiten von Vogelflügeln könnten
der Vermeidung von Kollisionen zwischen den fliegenden Tieren dienen.
Die zugrundliegende Arbeit ist „Contrasting coloured ventral wings are a
visual collision avoidance signal in birds“ von Kaidan Zheng und
KollegInnen von der Sun Yat-sen-Uni in Guangzhou[2] und der Uni
Konstanz, erschienen in den Proceedings B der Royal Society, Vol. 289,
doi:10.1098/rspb.2022.0678. Forschungsziel dieser Leute war,
Risikofaktoren für Kollisionen – also etwa große Schwärme, Bedarf an
hektischen Manövern (sagen wir: Paviane überfallen Flamingos),
eingeschränkte Manövierfähigkeiten (z.B. bei großen, schweren Vögeln) –
mit auffällig gemusterteten Flügelunterseiten zu korrelieren.
Mich hat das wahrscheinlich vor allem deshalb angesprochen, weil im
Garten meines Instituts regelmäßig kleine Schwärme der oben
abgebildeten Halsbandsittiche waghalsige Flugmanöver vollziehen, und
dabei zwar viel Krach machen, aber erstaunlicherweise nie ineinander
oder gar in die Äste der Bäume fliegen. Und ich bin jederzeit dafür,
dass Wissenschaft sich solcher Alltagsrätsel annimmt.
Die Studie hat auch meine Sympathie, weil sie ein Beispiel ist für
Archive Science, also Wissenschaft, die auf der geschickten Nachnutzung
bereits bestehender Daten basiert. Das macht fast immer weniger Dreck
als neu erhobene Daten, spart besonders im Bereich der Biologie der
Ethikkommission Arbeit, und, davon bin ich jedenfalls fest überzeugt,
sie hat das Zeug dazu, unerwartete Zusammenhänge aufzudecken, die im
üblichen Beantragen-Messen-Publizieren-Zyklus schwer zu finden sind.[3]
Hunderttausend Blicke
Wobei: Ganz ohne Leid ging auch diese Studie nicht ab. Die AutorInnen
haben Bilder von 3500 Unterseiten von Vogelflügeln aus
drei verschiedenen Archiven im Netz gezogen und dabei 1780 Spezies
abgedeckt. Um den gesuchten Zusammenhang zu finden, mussten sie
zunächst bestimmen, wie konstrastreich oder markant die jeweiligen
Flügel eigentlich sind. Dazu haben sie vor allem 30 Studis der Sun
Yat-Sen-Uni rekrutiert, die jeweils alle diese Bilder als „starker
Kontrast“ oder „eher nicht“ klassifizierten. 3500 Bilder sind viel,
wenn mensch sie beurteilen soll. Ich frage mich, wie sich wer nach so
einer Sitzung fühlt.
Um mal eine grobe Abschätzung einzuwerfen: Wenn die Leute schnell waren
und alle 10 Sekunden so eine Klassifizierung hinbekamen, reden wir
über 30 × 3500 × 10 s ≈ 106 Sekunden oder knapp
zwei Wochen (nämlich: 1/30 Jahr) konzentrierter Bildbeurteilung, die in
die Arbeit geflossen sind. Whoa.
Daraus jedenfalls kommt der Score, mit dem das Paper vor allem arbeitet:
Wie viele der KlassifiziererInnen haben den Flügel als kontrastreich
klassifiziert? Der Score ist auch mal nicht-ganzzahlig, wie etwa beim
Sperber in Abbildung 1, der auf 0.4 kommt; das passiert, wenn mehrere
Bilder einer Spezies gemittelt werden.
Für kontrolliert aufgenommene Bilder aus Museumssammlungen berechnet das
Paper weiter als eine Art „objektiver“ Größe Standardabweichungen über
die Grauwerte der Pixel der Schwingen. Zu dem Teil der Arbeit hätte ich
einiges Rumgemäkel. Ganz vornedran gefällt mir nicht, dass dieses Maß
kleinräumiges Rauschen, das plausiblerweise nicht gut als
mittelreichweitiges Signal taugt (und das sie in ihren Anweisungen für
ihre Studis auch wegfiltern wollten), genauso behandelt wie großräumige
Strukturen. Mit etwas Glättung und Segmentierung wäre das sicher viel
besser gegangen, und da sie eh schon opencv verwenden, hätten es dazu
auch nicht schrecklich viel Aufwand gebraucht.
Eigenartig finde ich auch, dass sie die Bilder in Grauwerte umgerechnet
haben, während sie im Paper öfter über Farben reden. In der Tat muss
mensch Vögel nur ansehen, um stark zu vermuten, dass sie (und ganz
besonders die Vogelfrauen) sehr wohl Farben wahrnehmen. In der Tat
sehen manche sogar UV und dürften in jedem Fall eher eine bessere
Farbwahrnehmung haben als wir.
Ich hätte also die „objektiven“ Kontrastscores doch zumindest mal
separat nach Farbkanälen ausgewertet – das wäre nicht viel Arbeit
gewesen und hätte das Hedging in der Artikelzusammenfassung überflüssig
gemacht. Aber dann: es spielt für den Rest des Papers nur eine eher
untergeordnete Rolle, weil sie diese Standardabweichungen eigentlich nur
dazu verwenden, ihre „manuellen“ Scores zu validieren, indem nämlich
(für mich offen gestanden etwas überraschend) die beiden Typen von
Scores recht stark korrelieren.
Zu diesen Scores kamen schließlich aus anderen Archiven – vor allem wohl
dem trotz Javascript- und local storage-Zwang bezaubernden Birds of
the World – Merkmale wie Masse, Schwarmgröße oder „Koloniebrüterei“
für 1780 Spezies, wobei letzteres einfach wahr oder falsch sein konnte.
Monte Carlo Markov Chain
Und jetzt mussten die AutorInnen nur noch sehen, welche dieser Merkmale
mit ihren Kontrast-Scores korrelierten. Dazu fuhren sie recht schweres
Geschütz auf, nämlich über MCMC-Verfahren geschätzte Verteilungen –
erfreulicherweise unter Verwendung der Freien Software R und MCMCglmm.
Ich kann nicht sagen, dass ich verstehen würde, warum sie da nicht
schlichtere Tests machen. Vermutlich würde es helfen, wenn ich wüsste,
was „the phylogenetic relatedness among species was included as a random
effect in these models“ praktisch bedeutet und warum sie das überhaupt
wollen.
Aber solche Fragen sind es, wozu mensch FachwissenschaftlerInnen
braucht, und ich bin, was dieses Fach angeht, kompletter Laie
(erschwerend: ich habe noch nicht mal in meinem Fach wirklich was mit
MCMC gemacht). So will ich gerne glauben, dass das methodisch schon in
Ordnung geht.
Vielleicht ist das aber auch wurst, denn die nach den Modellen richtig
überzeugende Korrelation ist auch in Abbildung 3 des Papers mit einer
großzügigen Portion Augenzusammenkneifen zu erkennen:
In klaren Worten: Bei Vögeln, die in Kolonien brüten, geht die
Strukturierung der Flügelunterseiten deutlich stärker mit der Masse des
einzelnen Vogels nach oben als bei Vögeln, die das nicht tun. Wer etwa
die Pelikane von Penguin Island vor Augen hat:
oder, viel näher und mit kleineren Vögeln, die Insel der Möwen in der
Wagbach-Niederung:
mag schon ein Bild entwickeln von einem gewissen evolutionären Druck
auf, sagen wir, Pelikane, Mechanismen zu entwickeln, die es leichter
machen, nicht ineinander zu fliegen.
Aber ganz ehrlich: so richtig schlagend finde ich das Paper nicht. Ein
wenig mehr Betrachtung, warum zum Beispiel die Vögel, die den blauen
Punkte rechts unten in der oben reproduzierten Abbildung 3 entsprechen,
offensichtlich auch ohne wohlmarkierte Flügel relativ kollisionsfrei
gemeinsam brüten können, hätte mir schon geholfen, etwas mehr Vertrauen
zu den Schlüssen zu fassen.
Oder umgekehrt: Koloniebrüter haben plausiblerweise auch andere
zusätzliche Kommunikationsbedürfnisse als andere Vögel, z.B. beim
auskaspern, wer wo brüten darf (cf. Kopffüßer in Octopolis).
Vielleicht kommt der Extra-Aufwand bei der Gestaltung der Schwingen ja
auch daher? Und die Korrelation mit der Größe hat vielleicht mehr was
mit Beschränkungen bei der Strukturbildung zu tun? Hm.
Referees, gebt euch etwas mehr Mühe
Beim Lesen des Textes habe ich mir übrigens an ein paar Stellen gedacht,
dass die GutachterInnen des Papers schon noch ein paar gute Ratschläge mehr
hätten geben können. So schreiben die AutorInnen allen Ernstes „Birds
are well known for their ability to fly, besides a few flightless
lineages such as ratites and penguins“ – das kann mensch in einem
Kinderbuch machen oder in GPT-3-generierten Textoiden, die die
Aufmerksamkeit von Google gewinnen sollen; in einem Fachartikel in einer
biologischen Fachzeitschrift wirkt es jedenfalls für einen Physiker
ziemlich verschroben.
Hätte ich das begutachtet, hätte ich weiter angemerkt, dass, wer Rocket
Science wie verallgemeinerte lineare Modelle mit MCMC aufruft, besser
nicht den Schätzer für die Standardabweichung (Gleichung 2.1) breit
ausstellen sollte – und dann noch als einzige Gleichung im ganzen Paper.
Das ist ein wenig wie bei dem Monty-Python-Sketch zur
Kilimandscharo-Expedition: Wir fahren über die Gneisenaustraße zur B37,
wechseln am Heidelberger Kreuz auf die A5 und dann fahren dann weiter
zum Kilimandscharo.
Natürlich ist Begutachtung von Fachveröffentlichung ein brotloser Job
(auch wenn ich vermute, dass es fast jedeR macht wie ich und dafür
jedenfalls mal eine gute Ecke Arbeitszeit verwendet; dann ist es eine
weitere öffentliche Subvention für die Verlage). Aber trotzdem,
Referees: Ratet zu weniger Text! Nicht zuletzt gibt es ja bei vielen
Blättern noch (und im Zusammenhang mit Open Access gerade) Page Charges
– Leute müssen also dafür bezahlen, dass ihre Artikel gedruckt werden,
und um so mehr, je länger der Artikel ist. Weniger Text schadet also
den Verlags-Geiern und ist mithin ein Gewinn für alle anderen! Ref:
„Academic publishers make Murdoch look like a socialist“.
Disclaimer: Auch, wenn das hier anders aussehen mag, füttere
ich mitnichten Papageien oder andere Wildtiere. Aber ich kann nicht
lügen: Ich bin jenen dankbar, die es tun, weil ich ohne sie weit weniger
hübsche Tiere zu sehen bekäme.
Noch ein Disclaimer: Ich werde dafür bezahlt, Archive
Science zu ermöglichen. Es könnte also sein, dass ich in diesem
Zusammenhang nicht mein übliches Neutralitätslevel „Salomon“ erreiche.
Geschwisterliebe – hier zwischen Benedikt und Scholastika von Nursia –
in der Fantasie des Illustrators der Klosterkirche Elchingen (Dank an
den Wikipedia-Fotografen).
Am 22. September musste ich etwas früher als normal aufstehen, und so
bekam ich die Morgenandacht im Deutschlandfunk mit. Thema war unter
anderem die große Geschwisterliebe zwischen Benedikt von Nursia und
seiner Schwester Scholastika von Nursia. Die Geschichte ist, wie
wohl die meisten Heiligenlegenden, etwas Stulle. Gregor ruft die
Pflicht, Scholastika will aber noch etwas Zeit mit ihrem Bruder
verbringen, was im DLF-Andachtsduktus so klingt:
Sie kann nicht genug bekommen. Sie hat noch so viel auf dem Herzen.
Und so betet sie. Und kurz darauf tobt ein Unwetter los. Benedikt
kann erstmal nicht ins Kloster zurückkehren. Zum Glück für
Scholastika.
Geschwisterliebe?
Nun wäre viel zu diesem Stakkatostil zu sagen, doch kann ich, der ich am
liebsten jeden zweiten Satz mit einem „und“ anfangen würde, da nicht
hinreichend sicher mit Steinen werfen. Mich hat aber ohnehin eher die
Einleitung zu dieser Passage gereizt:
Papst Gregor der Große hat dieses Gespräch, das sich im Jahr 543 ereignet
haben muss, aufgeschrieben. [Hervorhebung ich]
Eine Minderheit von Forschern bezweifelt aufgrund der problematischen
Quellenlage, dass Benedikt eine reale historische Persönlichkeit war.
[...] Der Theologe Francis Clark legte 1987 eine zweibändige
Untersuchung der Dialogi [der angeblich von Gregor dem Großen
verfassten Hauptquelle zu Benedikt] vor, in der er die Hypothese
vertritt, das Werk sei unecht. Der Verfasser sei nicht der 604
gestorbene Papst Gregor, sondern ein Fälscher, der im späten 7.
Jahrhundert gelebt habe.
Der Wikipedia-Artikel geht noch weiter auf die darauf folgende
Kontroverse ein, die ich als Laie mit „mehr oder weniger offen im
Hinblick auf die Existenz einer einzigen Person mit den wesentlichen
Punkten von Benedikts Biografie“ zusammenfassen würde.
Zu Scholastika nun finden sich außerhalb der frommen Legenden von Gregor
oder einem Gregor-Fälscher überhaupt keine Spuren. Dass „Benedikt“ als
(mutmaßlicher) Erfinder von Ora et Labora eine Schwester, gar
Zwillingsschwester, haben soll, die irgendwas wie Gelehrsamkeit heißt:
Also bitte! Das kann mensch 400 Jahre nach Gallilei und fast 200 Jahre
nach Baur und seiner Schule gerne mit mildem Spott oder meinetwegen
auch freundlicher Verspieltheit rezipieren – aber jedenfalls nicht als
„ereignet haben muss“.
Nichts als Stress
Die fromme Legende von der innigen Geschwisterliebe hat mich jedoch
immerhin daran erinnert, dass ich noch einer anderen Geschichte zur
Geschwisterthematik aus dem Deutschlandfunk nachgehen wollte, und zwar
einem Segment aus Forschung aktuell am 13. September.
Hintergrund davon ist eine Arbeit von Verena Behringer vom Deutschen
Primatenzentrum (DPZ) in Göttingen und einigen KollegInnen, „Transition
to siblinghood causes a substantial and long-lasting increase in urinary
cortisol levels in wild bonobos“ (sagen wir: „Wilde Bonobos stresst es,
kleine Geschwister zu kriegen“), die dieses Jahr in eLife erschienen
ist, doi:10.7554/eLife.77227.
Der Artikel hat mich schon deshalb interessiert, weil meine KollegInnen
vom Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung, seit sie aus der
niedersächsischen Provinz nach Göttingen gekommen sind, Nachbarn des
DPZ sind und berichten, von dort seien öfter mal seltsame Geräusche zu
hören. Insofern bin ich neugierig, was am DPZ so geforscht wird.
Behringers Arbeit scheint allerdings kein Fall für die
Ethikkommission zu sein, auch wenn da zweifelsohne eine draufgeguckt
haben wird; dazu unten ein paar Worte. Als kleiner Bruder habe ich aber
auch ein persönliches Interesse an den Ergebnissen, denn wir kleine
Geschwister kommen in der Arbeit gar nicht gut weg. Grafisch
dargestellt:
Die Punkte in den Plots entsprechen Konzentrationen von Cortisol im Urin
von jungen Bonobos. Cortisolspiegel gelten in vielen Spezies als Proxy
dafür, wie gestresst ein Individuum gerade ist. Beachtet, dass die
Ordinate logarithmisch aufgeteilt ist; auch wenn ein linearer
Zusammenhang zwischen „gefühltem“ Stress und dem Spiegel ausgeschlossen
werden kann, ist hier jedenfalls viel Dynamik im Graphen.
Auf der Abszisse stehen die Jahre vor bzw. nach der Geburt des jeweils
ersten kleinen Geschwisters. Der senkrechte Strich zwischen Null und
Eins markiert fünf Monate nach der Geburt des Geschwisters. Schon ohne
tiefergehende Analyse fällt auf, dass in diesen ersten fünf Monaten als
Schwester oder Bruder die Bonobos nie entspannt waren und sich die
Stresslevel (wenn mensch denn an den Cortisolproxy glaubt) durchweg
stark am oberen Rand bewegen. Danach, immerhin, normalisiert sich die
Situation erkennbar.
Die Linien mit so einer Art Konfidenzintervallen drumrum sind Modellfits
für den „typischen“ Verlauf des Cortisolspiegels, jeweils getrennt nach
Jungen und Mädchen (die Bestimmung der Farbzuordnung ist dem/der
LeserIn zur Übung anempfohlen). Der Schluss ist fast unausweichlich:
kleine Geschwister sind Stress, jedenfalls für eine ganze Weile. TTS
nennen das Behringer et al, Transition to Siblinghood.
Alle zehn Tage ein paar Tropfen Urin
Wer sich fragt, wie die Leute an die Urinproben gekommen sind: Nun, die
Max-Planck-Gesellschaft betreibt im Kongo eine Einrichtung namens
LuiKotale, die in der Openstreetmap als tourism:camp_site getaggt
ist. Es lohnt sich, die Karte etwas rauszuzoomen, um ein Gefühl dafür
zu kriegen, was für eine einsame Angelegenheit das ist und wie klein das
Risiko, dass sich wirklich mal TouristInnen dorthin verirren könnten.
In der Umgebung des Camps leben einige Stämme von Bonobos, die sich an
urinsammelnde und zuguckende Menschen gewöhnt haben, ansonsten aber
offenbar ihrem üblichen Leben nachgehen können.
Die DPZ-WissenschaftlerInnen haben zwischen Juli 2008 und August 2018 –
ich bin allein schon wegen der zehn Jahre beeindruckt – Urin vom
Bonobonachwuchs gesammelt, wenn er (der Urin, nicht der Nachwuchs)
auf Blättern gelandet ist und nicht verkotet war. Aus diesen Proben
konnten sie offenbar Konzentrationen verschiedener Hormone – darunter
Cortisol – bestimmen. Ich verstehe zu wenig von den Laborprozeduren, um
beurteilen zu können, wie groß die Fehlerbalken an den Punkten im Plot
oben wohl sein sollten. Alleine die Überlegung, dass die Blätter
nicht immer trocken gewesen sein werden, schlägt schon sehr große
statistische Fehler vor. Andererseits würden selbst Fehler von 50% in
der logarithmischen Darstellung nicht besonders auffallen und jedenfalls
nichts an den grundsätzlichen Ergebnissen ändern.
Am Schluss kamen über die zehn Jahre 319 nutzbare Urinproben von
passenden Kindern zusammen. Die Leute haben also weniger als alle zehn
Tage eine Probe gewinnen können. Ihre Methode mag ethisch weitgehend
unbedenklich sein, sie braucht aber ganz klar viel Geduld und Glück.
Etwas verblüffend finde ich, dass im Sample 20 Mädchen, aber nur 6
Jungen vorhanden sind. Ein solches Ungleichgewicht ist – ohne das jetzt
wirklich durchgerechnet zu haben – fast sicher kein Zufall. Sind die
Jungen vielleicht scheuer? Sie hängen jedenfalls signifikant mehr an
ihren Müttern (Abb. 2 D im Artikel). Gibt es in den beobachteten
Stämmen vielleicht einfach weniger von ihnen? Wenn die Studie das
kommentiert, habe ich es überlesen.
Versuch einer Ehrenrettung
Die Arbeit verwendet einige Sorgfalt darauf, herauszukriegen, was genau
diesen Stress auslöst. Zusammengefasst sind die zentralen Ansätze in
der Abbildung 2 im Paper, die betrachtet, was sich postnatal sonst noch
so alles ändern könnte im Verhältnis von Mutter und großem Geschwister.
Die zugrundeliegenden Daten wurden durch stundenweise Beobachtung der
jeweiligen Kinder gewonnen. Ja, diese Leute kennen ganz offenbar ihre
Affen.
Es zeigt sich, dass weder beim Säugen (oder entsprechenden
Ersatzhandlungen) noch beim Kuscheln oder der gemeinsamen
Nahrungsaufname über die Geburt hinweg viel passert, denn die Mütter
entwöhnen größtenteils schon vorher. Beim Rumschleppen („Riding“) der
älteren Kinder tut sich tatsächlich etwas, jedenfalls, wenn diese
älteren Kinder selbst noch jung und männlich sind (Abb. 2 D und E im
Paper). Dieser Alterseffekt ist aber in den Cortisoldaten nicht
nachweisbar, so dass „weniger getragen werden“ als Grund des starken
Stresssignals wohl ausfällt.
Die AutorInnen spekulieren über weitere Gründe für das erhöhte
Stressniveau, beispielsweise, dass die Geschwister mit dem Baby spielen
wollen, aber nicht dürfen (yeah, right), oder dass sich die Mütter perinatal
von der Gruppe absetzen und so auch die Geschwister isolierter sind.
Stress könnten auch die üblichen Grobiane in den Stämmen machen, indem
sie die älteren Kinder ärger quälen, während die Mutter anderweitig
beschäftigt ist. Richtig überzeugend ist das alles nicht. Kleine
Geschwister sind wohl einfach an und für sich stressig.
Und es handelt sich klar um ein starkes Signal. Aus den Modell-Fits
ergibt sich, dass sich bei der TTS die Cortisolniveaus verfünffachen.
Demgegenüber kommen Menschen, wenn sie den Tieren im Labor Stress
machen wollen, gerade mal auf eine Verdoppelung der Cortisolniveaus, bei
Kämpfen zwischen Bonobo-Stämmen ist es kaum ein Faktor 1.5. Erst eine
schlimme Lungenseuche, an der ziemlich viele Tiere starben – deutlich
mehr als Menschen an SARS-2 – hat einen ähnlichen Effekt gehabt, so in
etwa einen Faktor 10.
Als Merksatz ließe sich also für die ersten fünf Monate des
Große-Geschwister-Daseins feststellen: Kleine Geschwister sind ungefähr
so schlimm wie Corona.
Erstaunlicherweise gibt sich das alles nach den ersten fünf Monaten.
Behringer et al machen den Scholastika-ErzählerInnen auch ein paar
Friedensangebote.
Alternatively, it has been suggested that early-life events of
‘tolerable stress’ [...] may serve to prime subjects to develop stress
resistance later in life. Moreover, TTS may accelerate acquisition of
motor, social, and cognitive skills [...] Having an older sibling may
enhance the development and survival of the younger sibling that
contributes to the inclusive fitness of both the older sibling and the
mother.
In einem deutlich reptilienorientierten Blog wie diesem habe ich die
unabweisbare Verpflichtung, ein paar Sekunden eines Mitschnitts einer
Begegnung am letzten Samstag unterzubingen:
Was das so anmutig züngelt und schlängelt, ist jedoch keine Schlange. Es
ist eine Blindschleiche. Also eine Schleiche, womit ihre
Beinlosigkeit eher ein Zufall ist.
Ihr könntet jetzt einwenden, dass das mit Schleichen und Schlangen
völlig wertloses Wissen ist. Das ist es aber nicht.
Stellt euch vor, ihr begegnet so einer Blindschleiche auf der Straße,
und sie ist nicht dazu zu bewegen, sich vor herankommenden Autos in
Sicherheit zu bringen, vielleicht, weil sie noch nicht hinreichend warm
geworden ist. Wäre sie eine Schlange, könntet ihr sie am Schwanz packen
und wegtragen. Also gut: vielleicht gibt es bei manchen Schlangen
weitere Erwägungen, die das immer noch als einen eher begrenzt cleveren
Plan qualifizieren könnten, aber die sind hier nicht mein Thema.
Schleichen jedenfalls solltet ihr so nicht anfassen, denn sie
werden wie Eidechsen ihren Schwanz abwerfen, wenn sie den Eindruck
haben, dass sie jemand daran wegtragen will. Das tun sie so gerne, dass
Linné sogar ihren zoologischen Namen, Anguis fragilis, zerbrechlich,
danach gewählt hat. Anders als Eidechsen lassen sie ihn zudem nicht
nachwachsen. In den Worten der Wikipedia:
In manchen Populationen hat mehr als die Hälfte der Erwachsenen keinen
vollständigen Schwanz mehr.
All das war mir neu. Danke, Wikipedia. Und sagt, was ihr wollt:
Taxonomie ist alles andere als ein Orchideenfach.
Diese Libelle – ausweislich der leeren Larvenhülle halbrechts unten
wahrscheinlich gerade erst geschlüpft – ist hoffentlich Zeit ihres
Lebens (ein paar Wochen im Sommer 2020) mit sehenden Augen in der
Gegend vom Weißen Stein herumgeflogen.
Als ich in den Kurzmeldungen in Forschung aktuell vom 16.5. (ab
Minute 1:50) davon hörte, wie Leute Libellen auf den Rücken gedreht und
dann fallen gelassen haben, habe ich unmittelbar Lausbuben assoziiert,
die strampelnden Käfern zusehen. Das hörte sich nach einer
vergleichsweise eher gutgelaunten Angelegenheit für meine fiktionale
Ethikkommission an. Jetzt, wo ich die zugrundeliegende Arbeit,
„Recovery mechanisms in the dragonfly righting reflex“, Science 376
(2022), S. 754, doi:10.1126/science.abg0946, gelesen habe, muss ich
das mit der guten Laune etwas relativieren.
Zunächst beeindruckt dabei der interdisziplinäre Ansatz. Hauptautorin
ist Jane Wang, Physikerin von der Cornell University (kein Wunder also,
dass im Paper eine Differentialgleichung gelöst wird), mitgeholfen haben
der Luftfahrtingenieur James Melfi (auch von Cornell; kein Wunder, dass
rechts und links Euler-Winkel gemessen werden) und der Neurobiologe
Anthony Leonardo, der am Janelia Resarch Campus in Virgina arbeitet,
augenscheinlich eine Biomed-Edeleinrichtung im Umland von Washington DC.
Zusammen haben sie mit Hochgeschwindingkeitskameras eine Variante des
Schwarzweiß-Klassikers „Wie eine Katze auf den Füßen landet“[1]
aufgenommen, dieses Mal eben mit Libellen. Dabei haben sie den Libellen
einen Magneten auf den Bauch geklebt, sie mit diesem in Rückenlage an
einem Elektromagneten festgeklemmt, gewartet, bis sich die Tiere
beruhigt hatten und dann den Strom des Elektromagneten abgeschaltet, so
dass die Libellen (im physikalischen Sinn) frei fielen.
Libellen rollen präzise nach rechts
Wenn das exakt so gemacht war, war offenbar sehr vorhersehbar, was die
Libellen taten. Wang et al geben an, es sei ganz entscheidend, dass die
Füße der Tiere in der Luft hängen, weil sonst einerseits eigene Reflexe
von den Beinen ausgelöst würden und andererseits die Libellen selbst
starten wollen könnten: „voluntary take-off via leg-kicks introduces a
large variability“.
Bis dahin regt sich meine Empathie nur wenig. Zwar schätzen es die
Libellen ganz sicher nicht, auf diese Weise festgehalten zu werden.
Aber andererseits ist das alles ganz gut gemacht, und die Ergebnisse der
Studie sind soweit ganz überzeugend und beeindruckend. Die Tiere drehen
sich konsistent um ihre Längsachse, um wieder auf den Bauch zu kommen,
fangen mit der Drehung nach gerade mal 100 ms an (als Reaktionszeit für
Menschen gelten so etwa 300 ms; aber ok, wir haben auch viel längere
Nerven) und sind dann nach gut zwei Zehntelsekunden oder vier
Flügelschlägen fertig, also bevor unsereins überhaupt beschlossen hätte,
was zu tun ist.
Für mich unerwarteterweise findet die Drehung sehr kontrolliert und
offenbar vorgeplant statt. Ich lese das aus der Tatsache, dass die
Winkelgeschwindigkeit der Drehung zwischen 170 Grad (fast auf dem
Rücken) und vielleicht 40 Grad (schon recht gut ausgerichtet) praktisch
konstant ist. Abbildung 2 B des Papers fand ich in der Hinsicht
wirklich erstaunlich: nicht vergessen, das Tier bewegt derweil ja seine
Flügel.
Die AutorInnen betrachten weiter die Stellung der beiden Flügelpaare
im Detail, um herauszubekommen, wie genau die Libellen die präzise
Drehung hinbekommen. Das ist bestimmt sehr aufregend, wenn mensch
irgendwas von Flugzeugbau versteht, aber weil ich das nicht tue, hat
mich das weniger begeistert. Außerdem war ich zu dem Zeitpunkt bereits
etwas voreingenommen, nachdem ich erfahren hatte, dass, um die
Flügelstellung mit den Analyseprogrammen, die Wang et al hatten,
rekonstruieren zu können, die Libellen mit Nagellack sechs Punkte auf
die Flügel gemalt bekamen.
Die Erzählung wird düsterer
Für die Libellen noch unangenehmer dürfte, so denke ich mir, das
kleines Y-förmige Plastikgestell gewesen sein, das ihnen die
ExperimentatorInnen auf den Thorax geklebt haben. Sie sagen, es sei
nötig, um das Bezugssystem der fallenden Libelle bestimmen zu können.
Und dann gibts noch den Magneten, der die Libelle vor dem Abwurf hält:
alles zusammen wiegt ungefähr 25 mg, bei einer Libelle, die selbst
gerade mal ein Viertelgramm wiegt. Andererseits, und das will ich gerne
glauben, nehmen heranwachsende Libellen bis zu 50 mg am Tag zu (sie
haben ja auch nur ein paar Wochen Zeit als Imago), so dass sie
Massenänderungen dieser Art vielleicht wirklich nicht belasten.
Wie es eine Spinne hinbekommen hat, diese Libelle zu erlegen, weiß
nicht nicht. Aber immerhin sind ihre Augen und Ocellen nicht
zugepinselt.
Wirklich geregt hat sich mein Mitleid – unter der Maßgabe der
letzten Absätze der Geschichte mit den Wespen – aber, als es um die
Frage ging, woher Libellen eigentlich ihre Orientierung kennen, woher
sie also wissen, ob sie gerade auf dem Rücken fliegen oder vielleicht
auf der Seite.
Die Arbeitshypothese von Wang et al war offenbar, dass das im
Wesentlichen der Sehsinn ist. Moment: „Der Sehsinn“? Nein: „Die
Sehsinne“. Libellen haben nämlich gleich zwei davon, einerseits ihre
Facettenaugen, dazu jedoch noch einfache, nicht abbildende Sensoren, die
Ocellen. Ich sags ganz ehrlich: Ich habe das Paper vor allem
gelesen, weil ich wissen wollte, wie sie den Libellen die Augen und
Ocellen verbunden haben.
Da ich das jetzt weiß, kenne ich die Stelle, an der ich als
Ethikkommission nein gesagt hätte, denn die Sinne der Tiere wurden mit
einem bestimmt nicht mehr entfernbarem Pamp aus schwarzer Farbe
vermischt mit UV-blockierendem Kleber zugekleistert. Die Versuchsreihe
mit geblendeten Libellen haben Wang und ein lediglich in den
Acknowledgements erwähnter Leif Ristroph unabhängig von der ersten
durchgeführt, dramatischerweise im Courant-Institut, grob als
„Angewandte Mathe“ zu klassifizieren, unangenehm nah an dem, wofür ich
bezahlt werde.
„Drei kamen durch“ ist kein Rezept für gute Wissenschaft
Diese beiden haben also vierzehn Libellen in New York City gefangen und
elf weitere von KollegInnen bekommen. Und jetzt (aus dem Supplementary
PDF):
Beim Bemalen der Augen und Ocellen ist es wichtig, einen feinen Pinsel
zu verwenden, damit keine Farbe auf den Hals oder Mund [des Tieres]
tropft.
Aus dieser Sammlung von Libellen haben drei die vollständigen
Experimente überlebt, zwei der Gattung Perithemis tenera, eine der
Gattung Libellula lydia. Dies umfasste die Tests mit normalem Sehsinn
und mit blockierten Sehsinnen. Alle waren präzise [? Original:
rigorous] Flieger. Mit funktionierendem Sehsinn rollten sie nach
rechts. Sie überlebten auch mindestens zwei Kältephasen im
Kühlschrank, eine vor dem Ankleben des Magnets, eine weitere vor dem
Bemalen der Augen.
Original
When painting the eyes and ocelli, it is important to use a fine brush
tip, so that no paint spills to the neck or to the mouth.
Of this collection, three dragonflies, two amberwing (Perithemis tenera)
and one lydia (Libellula lydia, synonym, Plathemis lydia), survived the
complete experiments, including the tests under normal vision and with
blocked vision. All were rigorous flyers. They rolled to the right under
normal vision. They also survived at least two chills in the fridge, one
before fixing the magnet, and another before eye painting.
Nennt mich angesichts dessen, was wir täglich 108-fach mit
Hühnern, Schweinen, Rindern und Schafen machen, sentimental, aber wenn
ein Protokoll von 25 Tieren 22 tötet, bevor das Experiment fertig ist,
ist es nicht nur roh, sondern fast sicher auch Mist. Es ist praktisch
unvorstellbar, dass bei so einer Selektion nicht dramatische
Auswahleffekte auftreten, die jedes Ergebnis mit Fragezeichen in 72 pt
Extra Bold, blinkend und rot, versehen.
In diesem Fall war das Ergebnis übrigens, dass die Libellen ohne Ocelli
etwa 30% später mit dem Drehen anfingen und anschließend nicht mehr ins
Gleichgewicht kamen, bevor die Kamera voll war (ich hätte es trotzdem
nett gefunden, wenn Wang wenigstens anekdotisch berichten würde, ob sie
es am Schluss geschafft haben). Mit zugepinselten Facettenaugen sind
die Libellen ins Gleichgewicht gekommen, wenn auch langsamer und weniger
kontrolliert. Waren Ocellen und Facettenaugen blockiert, sind die
Libellen häufig einfach nur runtergefallen „like leaves“.
Was aber, wenn – ja vielleicht im Einzelfall doch existierende –
nichtoptische Gleichgewichtsorgane Libellen anfälliger dafür macht, die
Torturen des Experiments nicht zu überleben? Was, wenn auch die
überlebenden Libellen anfangs ein nichtoptisches Gleichgewichtsorgan
hatten, das aber durchs Einfrieren oder eine andere überwiegend
tödliche Prozedur kaputt gegangen ist?
Hätte ich das Vorhaben ethisch begutachten müssen, wäre ich vermutlich
eingestiegen auf Abschnitt 2.3 der ergänzenden Materialien (wenn etwas
in der Art im Antrag gewesen wäre), in dem es heißt, „Dragonflies
perform mid-air righting maneuvers often during their prey-capture
maneuvers”.
Also… wenn die solche Manöver auch freiwillig fliegen, wäre es dann
nicht besser gewesen, sie in solchen Situationen zu filmen? Klar, das
wäre dann wahrscheinlich fies den Ködern gegenüber, die mensch ziemlich
sicher fest positionieren (und damit ihrerseits festkleben) müsste,
damit das mit dem Hochgeschwindigkeitsfilmen klappt. Aber trotzdem: Für
mich wäre das das mildere Mittel gewesen.
Meine Sorgen über ethisch grenzwertige bis unhaltbare Experimente mit
Insekten liegen offenbar im wissenschaftlichen Trend. Am 10. Juli haben
die Science Alerts einen Beitrag über die Schmerzwahrnehmung von
Insekten veröffentlicht, der einige weitere beunruhigende Experimente
anführt (etwa zu Phantomschmerzen bei Drosophilen). Immer mehr sieht es
aber so aus, als fände bei vielen Insekten durchaus Schmerzverarbeitung
statt, auch wenn diese im Detail etwas anders funktioniert als bei uns.
Nicht in meiner DLF-Lieblingssendung Forschung aktuell, sondern im
Freistil vom 5.6.2022 bin ich auf den nächsten Fall meiner kleinen
Sammlung von Fragen an die Ethikkommission bei Tierversuchen gestoßen.
Im Groben: Ist es ok, Tiere bewusst und absichtlich gegeneinander
kämpfen zu lassen? Und gibt es im Hinblick auf diese Frage Unterschiede
zwischen Stieren und Regenwürmern?
Aus meiner Sicht nicht weit von der Mitte der Wurm-Rind-Skala entfernt
befinden sich die Papierwespen, für die die deutsche Wikipedia
enttäuschenderweise auf die ordinäre Wespenseite weiterleitet. Speziell
für die Stars dieses Posts, Polistes fuscatus – die biologische
Normenklatur könnte mich der Physik abspenstig machen – gibt es immerhin
einen Link auf der Feldwespen-Seite, doch hat sich noch niemand
gefunden, der/die die zugehörige Seite angefangen hätte.
Fast noch spannender als die Frage, ob Wespen die Gesichtszeichnungen
von Individuen auseinanderhalten können, finde ich ja die Frage, ob
sie auch mal gut gelaunt aussehen können. Bildrechte:
doi:10.1016/j.cub.2008.07.032 (bearbeitet).
Bei Freistil klang es nun so, als habe jemand jeweils zwei Königinnen
dieser Wespen miteinander bekannt gemacht; dass sie sich erkennen
können, und zwar ziemlich sicher am Gesicht, ist offenbar spätestens
seit den Arbeiten von Michael Sheehan und Elizabeth Tibbetts
wohlbekannt. Unter den einschlägigen Artikeln, die ab den 2000er Jahren
an der Uni von Michigan in Ann Arbor entstanden sind, ist viel zitiert
„Specialized Face Learning Is Associated with Individual Recognition in
Paper Wasps“ (viel zitiert vermutlich weil: Science 334 (2011), 1272,
doi:10.1126/science.1211334). Das darin beschriebene Experiment ist
erkennbar nicht das, von dem im Freistil die Rede war, wirft aber selbst
eine ethische Frage auf:
Darf mensch Königinnen elektroschocken?
Sheehan und Tibbet gaben den Wespen nämlich eine T-förmige Flugzone, die
überall Elektroschocks verabreichte, bis auf eine Stelle, die dann mit
einem von einem paar von Bildern markiert war. Mithin war der Reiz, den
die Leute zum Training der Wespen nutzten, die Abwesenheit von
Elektroschocks, wenn es die Wespen richtig machten. Hm. Hrrmmmmmmmm!
Wäre das nicht auch etwas freundlicher gegangen?
Ausgangspunkt der Arbeit war die Vermutung, dass fuscatus-Wespen,
die staatenbildend sind und deren Königinnen sich vor Gründung ihres
Staates mit einem ganzen Haufen anderer Wespen raufen, zwei verschiedene
Wespengesichter besser auseinanderhalten können („habe ich gegen die
schon mal verloren?“) als metricus-Wespen, die meist allein leben und
sich wenig prügeln. Um ein wenig sicherer zu sein bei der Frage, was da
eigentlich beobachtet wird, haben Sheehan und Tibbetts auch
Versuchstiere („healthy wild-caught adult female[s]“) auf Raupen (die
die Wespen gerne essen), geometrische Zeichen (Kreuze, Dreiecke und
sowas) und Wespenköpfe ohne Antennen trainiert.
Das Ergebnis: Wespengesichter mit Antennen haben ausgelernte
fuscatus-Wespen in 80% der Fälle vorm Elektroschock bewahrt (wobei der
Nulleffekt 50% wäre), und sie haben die Gesichter schneller gelernt als
die an sich viel einfacheren Zeichen. Waren die Antennen
rausretuschiert, hat das Lernen länger gedauert, und bei 70% richtiger
Wahl war Schluss.
Wie viel Ausdauer braucht es für 10'000 Versuchsläufe?
Und von wegen „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“:
Wenn der Hinweis aus verschiedenen Raupensorten bestand, haben die
Wespen nur in 60% der Fälle die trainierte Raupe gefunden, also fast
nicht häufiger als durch Zufall zu erwarten. Und etwa genauso gut wie
die einsiedlerischen metricus-Wespen, die mit den Gesichtern ihrer
Artgenossinnen gar nichts anfangen konnten.
Fleißbienchen am Rande: grob überschlagen müssen Sheehan und Tebitt die
Wespen gegen 10'000 Mal haben fliegen lassen. Ich mag mir gar nicht
vorstellen, wie viel Ausdauer es dafür gebraucht haben mag. Auf
beiden Seiten. Aufgrund vorheriger Interaktionen mit Wespen vermute
ich jedoch fast, dass für diese der repetetive Charakter der
Unternehmung weniger problematisch gewesen sein dürfte. Ach ja, und ich
würde gerne wissen, wie viele Stiche sich die beiden Menschen während
der Arbeiten eingefangen haben.
Wie ist es mit Kämpfen?
Sheehan, der inzwischen an die Cornell-Universität in New York
gewechselt ist, hatte schon zuvor (und hat noch weiter) mit den Wespen
gearbeitet und berichtet darüber zum Beispiel in Current Biology 18
(2008), Nr. 18, R851 (doi:10.1016/j.cub.2008.07.032), „Robust
long-term social memories in a paper wasp“. Für diese Studie haben die
Leute ebenfalls einen Haufen fuscatus-Papierwespen gefangen, dieses Mal
aber gezielt Begegnungen herbeigeführt. Dabei haben sie an Tag 0, 6 und
8 jeweils Wespen zusammengeführt, die sich nicht kannten, am siebten Tag
dagegen nochmal die von Tag 0 vorbeigeschickt. Das fand ich schon mal
ein recht cleveres Design: Wenn sich die Rauflustigkeit der Wespen generell
geändert hätte, wäre das durch die Kontrollen an den Tagen sechs und
acht aufgefallen.
Aber das führt auf die Eingangsfrage: Ist diese Sorte Experiment nicht
ziemlich eng verwandt mit Hahnenkämpfen, bei denen zwei Tiere, die,
wären sie nicht in menschlicher Gefangenschaft, vermutlich friedlich vor
sich hingelebt hätten, künstlich dazu gebracht werden, aufeinander
einzuhacken? Wäre ich in einer Ethikkommission, müsste ich zumindest
mal etwas nachdenken, ob ich Königinnenkämpfe eigentlich absegnen
möchte, auch wenn es hier nicht um das Gaudium einer blutrünstigen
Menge, sondern um die Förderung der Wissenschaft geht.
Unter Bekannten doppelt so viele Begegnungen ohne Gewalt
Immerhin scheinen die Kämpfe der Wespen relativ zivilisiert abzulaufen.
Zumindest berichten Sheehan et al nicht davon, dass die Begegnungen an
Tag 7 mal hätten ausfallen müssen, weil die Besucherinnen von Tag 0
inzwischen vielleicht totgestochen worden wären (Disclaimer: ich habe
die Zusatzdaten nicht auf solche Vorkommnisse hin durchgesehen, denn ich
war ja eigentlich auf der Suche nach etwas anderem).
Das Ergebnis ist wieder recht beeindruckend; kannte sich ein
Wespenpaar, gingen offenbar doppelt so viele Begegnungen ohne Gewalt aus
wie andernfalls.
Meine eingestandenermaßen oberflächliche Literaturrecherche hat aber
leider kein Paper geliefert, bei dem jemand Wespen geschminkt hätte; ich
hatte ich die Geschichte aus dem Freistil nämlich so verstanden, dass
jemand zwei Wespen bekannt gemacht hat und dann das Gesicht einer
der beiden verändert, um zu prüfen, ob es wirklich das ist, an das sich
die Wespen erinnern und nicht etwa, sagen wir, der Geruch oder die
Melodie des Summens. Auch wenn das Elektroschockexperiment das sehr
nahelegt: Ich finde es völlig plausibel, so ein Schminkexperiment zu
machen. Wer die dazugehörige Studie findet: das Antwortfomular gehört
völlig euch.
Empathietraining
Wer die ganze Sendung hört, dürfte auf ein anderes ethisches Problem
stoßen, eines, das mir, der ich nicht in einer Ethikkommission sitze,
deutlich mehr Sorgen macht: Im O-Ton wird eingespielt, wie jemand eine
Drosophile erst mit Wachs festklebt und dann immer weiter fesselt.
„Drosophile“: Ihr merkt, ich habe rein emotional ein spezielles
Verhaltnis zu Fruchtfliegen, weil ich in ihnen, die wie ich Obst nicht
widerstehen können – je süßer, je besser – ganz entfernt
Geistesverwandte sehe.
Andererseits: Wenn ich den Kompostmüll leere, nehme ich, ehrlich gesagt,
keine Rücksicht darauf, wie viele von ihnen ich dabei wohl zerquetsche.
Die insgesamt vergleichbar menschenähnlichen Mücken und Zecken töte ich
sogar gezielt, wenn ich kann. Und nun habe ich diesen Bericht gehört
und musste mich sehr beherrschen, um mich nicht zu empören. Das mag ein
wenig zu tun haben mit dem völlig überflüssigen Gag, Enrico Caruso durch
das Drosophilenohr aufzunehmen, denn Folter[1] ist nochmal
schlimmer, wenn irgendeine Sorte, ach ja, „Humor“ mitschwingt.
Aber auch ohne das: Ist es verlogen, wenn ich mich über die Misshandlung
von Lebewesen empöre, die ich andererseits ohne große Reue und ganz
nebenbei – oder gar gezielt – töte?. Auf der anderen Seite will
mensch, so glaube ich, diese Anflüge von Empathie auch nicht wirklich
bekämpfen. Die Charakterisierung der Feinde als Ratten und
Schmeißfliegen (der Namenspate des Münchner Flughafens, Franz Josef
Strauß, war Meister dieses Genres), als Tiere also, mit denen Empathie
zu haben wirklich schwerfällt, wenn sie sich erstmal ordentlich vermehrt
haben, ist ein recht konstantes Feature so gut wie aller Kriege und
anderer Massenmorde der Geschichte.
Mit diesem Gedanken bin ich nach der Freistil-Sendung auf folgendes
Fazit gekommen: Selbst wenn es nicht der Tiere selbst wegen geboten sein
sollte, schon ganz speziezistische Humanität gebietet es, diese Sorte
von Mitleid mit jeder Kreatur zu hegen und nicht zu kritisieren. Und
vor den Feldzügen gegen die Nacktschnecken wenigstens noch ein wenig mit
sich zu ringen.
Ja, ich behaupte, es ist Folter, wenn mensch so ein
Lebewesen bei lebendigem Leibe immer weiter eingießt, bis es (nehme
ich an) erstickt, weil die Tracheen alle dicht sind.
Nicht weit vom Edersee – praktisch schon im Kellerwald-Nationalpark –
laufen Hirsche auch mal bei Tageslicht über herbstliche Felder und
bezaubern radelnde TouristInnen. Aber: was machen sie im Zoo?
„Bikeshedding“ bezeichnet das in vielen Entscheidungsgremien zu
beobachtende Phänomen, dass große und tiefgreifende Entscheidungen ohne
große Kontroverse durchgewunken, Nebensächlichkeiten[1] jedoch in
großer Breite diskutiert werden.
Als ich heute morgen die DLF-Sendung Wissenschaft im Brennpunkt vom
15.5. hörte, hatte ich eine Art intellektuelles Bikeshedding. In der
Sendung geht es um höchst raffinierte Verfahren der Metagenomik, bei der
durch Sequenzierung von DNS in mehr oder minder blind aus der Natur
entnommenen Proben tiefe Einsichten in Ökologie und Biologie gewonnen
werden. Dass sowas geht, dass dabei etwas rauskommt, und teils schon,
was dabei rauskommt: Das ist alles sehr beeindruckend.
Doch mein Wow-Moment kam erst bei folgender Passage (bei ca. Minute 23;
der Text auf der DLF-Seite ist leider nicht das Transskript der
Sendung):
Elizabeth Clair [...] berichtete in einer Vorveröffentlichung von
einer DNA-Analyse der Luft in einem englischen Zoo. [...] DNA von 25
Arten konnte das Team aufspüren, darunter 17 Zootierarten [...],
einige davon bis zu 300 m von der Untersuchungsstelle entfernt.
Außerdem ein paar Wildtiere wie Igel und Hirsch.
Ein wilder Hirsch? Im Zoo? Wie bitteschön soll das denn zugehen?
Setzen die elegant über den Zaun des Zoos? Um den gefangenen Tieren
vielleicht eine lange Nase zu drehen? Ich gebe zu, dass das verglichen
mit den Wundern von Massensequenzierungen doch eher trivial wirkt. Aber
ich wüsste wirklich gerne, was der Hirsch dort wollte.
Aufbauend auf dieser Erfahrung würde ich „behirschen“ als neues Verb
vorschlagen, mit der Bedeutung „sich an einer (scheinbaren)
Nebensächlichkeit in einer Forschungsarbeit aufhängen und damit deren
AutorInnen auf die Nerven gehen“? Nur nebenbei: Ich vermute, wir
behirschen in der modernen Wissenschaft fast alle deutlich zu wenig.
Nachtrag (2022-07-01)
Auf eine Nachfrage von @StephanMatthiesen hin hat mich die Sache doch
nicht losgelassen, und ich musste mal nach dem Paper sehen, von dem im
DLF-Zitat die Rede ist. Es scheint, als sei es bereits Anfang 2021
erschienen, und zwar als „Measuring biodiversity from DNA in the air“
von Elizabeth Clare et al, Current Biology (2021),
doi:10.1016/j.cub.2021.11.064. Darin heißt es:
Of special interest was the detection of the European hedgehog
(Erinaceus europaeus) in three samples [...] As of 2020, the hedgehog
was listed as vulnerable to extinction in the United Kingdom
(https://www.mammal.org.uk/science-research/red-list/), making it
vital to develop additional methods to monitor and protect existing
populations. [...] One commonly cited application of eDNA approaches
is the detection of invasive species. We detected muntjac deer
(Muntiacus reevesi) in five samples. These muntjacs are native to
China but became locally invasive after multiple releases in England
in the 19th century. They are now well established in eastern
England, the location of the zoological park, and are frequently seen
on site. They are also provided in food for several species; thus, the
detection of muntjacs may reflect either food or wildlife.
(Hervorhebung von mir, um die Verbindung zu den Igeln und Hirschen
aus der DLF-Sendung zu belegen). Mithin: Wir reden hier von keinem
stattlichen Zwölfender, der majestitisch an den Gittern
entlangschreitet. Wir reden von Muntjaks, die, so die Wikipedia,
„zwischen 14 und 33 Kilogramm“ wiegen und offenbar nur mit Mühe die
Größe von Damhirschen erreichen. Und obendrauf kann es gut sein, dass
die DNS dadurch in die Luft kam, dass andere Tiere die Muntjaks vertilgt
haben und dabei eher ruppig vorgegangen sind.
Selbst wenn die DNS nicht von Futter, sondern von einem Wildtier
abgesondert worden wäre, wäre ihr Vorkommen kaum erstaunlich, wenn
mensch die Lage des Tierparks bedenkt. Manchmal (aber selten)
verlieren die Dinge doch ein wenig von ihrem Zauber, wenn mensch näher
nachsieht.
Der Begriff „Bikeshedding“ bezieht sich tatsächlich auf
überdachte Fahrradstellplätze; dass gerade so eine zentrale und
wichtige Einrichtung als Prototyp des Nebensächlichen herhalten muss,
sagt natürlich schon einiges aus über unsere Gesellschaft und den
weiten Weg, den wir bis zur Befreiung vom Auto noch vor uns haben.
Nachdem mich gestern die Publikationen der Gruppe von Kathelijne
Koops so gelockt haben, habe ich gleich eine durchgeblättert, und
zwar „How to measure chimpanzee party size? A methodological comparison“
von Kelly van Leeuwen und KollegInnen
(doi:10.1007/s10329-019-00783-4, Preprint).
Bevor ich das lobe, muss ich etwas mosern. Erstens, weil das
Ganze von unfreier Software nur so strotzt – die statistische Auswertung
ist mit SPSS gemacht (geht ja auch anders), und das Paper wurde wohl in
Word geschrieben, auch wenn die Metadaten des Preprints etwas verwirred
aussehen (leicht redigiert):
Warum da nacheinander ein „PDFMaker für Word“ und dann (?) nochmal ein
Ghostscript drübergelaufen sind? Hm. Das PDF vom Verlag ist übrigens
nochmal anders gemacht und meldet „Acrobat Distiller 10.1.8 (Windows)“
als die Software, die das PDF geschrieben hat. Uh. Ein wenig neugierig
wäre ich nun schon, woraus das destilliert wurde.
Zweitens ist nicht schön, dass die Open-Access-Webseite der Uni Zürich
„You need to enable JavaScript to run this app.“ sagt. Das ist in
diesem Fall um so weniger angebracht, als sie auch ohne Javascript eine
ganz brauchbare Seite ausliefert. Allerdings fehlen in dem
Word-generierten PDF die Abbildungen und Tabellen, und sie sind auch
nicht erkennbar verlinkt. Immerhin sind beim Verlag (Springer) „Online
Resources“ offen (während sie von Leuten, die nicht für hinreichend
reiche Unis arbeiten, absurde 37.40 Euro fürs formatierte PDF haben
wollen). Zumindest im Falle der ziemlich sinnlos gestapelten Ergebnisse
der verschiedenen Methoden in Abbildung 1 ist das Fehlen der Abbildungen
aber hier vielleicht sogar verschmerzbar.
Ich würde noch nicht mal auf die Tests, die die AutorInnen so
durchgeklickt haben, furchtbar viel geben, auch wenn sie immerhin ein
wenig statistsiche Abbitte geleistet haben (das ist die realweltliche
Bedeutung des dann und wann angerufenen hl. Bonferroni).
Mein persönliches Highlight aus dem Artikel: Eine qualitative
Betrachtung einiger systematischer Effekte. Rechte beim Japan Monkey
Centre und Springer Japan KK (aus doi:10.1007/s10329-019-00783-4).
Wirklich schade ist es aber um die Tabelle 1 (wenn die Abbildung hier
nicht reicht: Libgen kann helfen). Sie liefert eine schöne Quintessenz
der qualitativen Betrachtungen zu möglichen systematischen Fehlern, und
die geben gute – und vor allem im Vergleich zu entsprechenden
Betrachtungen in der Physik auch recht greifbare – Beispiele für das,
von dem ich in meinem Lob von small data geredet habe. Van Leeuwen
et al schätzen nämlich die Größe von umherziehenden Schimpansengruppen.
Weil die Tiere nun in den Baumkronen umherturnen und noch dazu
vielleicht nicht so gern gezählt werden, ist das nicht ganz einfach, und
die Leute probieren vier verschiedene Verfahren:
Hingehen und Affen zählen
Eine Fotofalle aufstellen und sehen, wie viele Schimpansen auf den
Bildern sind
Anrücken, wenn die Tiere weg sind und zählen, wie viele Tagesnester –
leichte Konstrukte aus Blättern und Zweigen, in denen Schimpansen
kleine Nickerchen halten – in den Bäumen sind
Anrücken, wenn die Tiere weg sind und zählen, wie viele Schlafnester –
elaborierte Konstruktionen, in denen ein Schimpanse die Nacht
(aber immer nur eine) verbringt – in den Bäumen sind.
In einer idealen Welt würde für eine gegebene Gruppe immer die gleiche
(kleine natürliche) Zahl rauskommen, also vielleicht 5. Und ich finde
die erste wertvolle Einsicht schon mal: Selbst einer 5 kann mensch in
vielen Bereichen der Wissenschaft nicht vertrauen. Na gut: Als Astronom
sollte ich da nicht mit Steinen werfen, denn wir kommen ja auch mit
acht, neun oder zehn (Planeten im Sonnensystem) ins Schleudern.
Wenig überraschenderweise lieferten verschiedene Methoden tatsächlich
verschiedene Ergebnisse, und zwar systematisch. Zur Erklärung schlagen
die AutorInnen unter anderem vor:
Direkte Beobachtungen werden vermutlich große Gruppengrößen
bevorzugen, da sich kleinere Gruppen noch scheuer gegenüber Menschen
verhalten werden als große – und umgekehrt die Menschen größere
Gruppen wegen mehr Geschrei auch leichter finden.
Umgekehrt werden direkte Beobachtungen eher einzelne Tiere übersehen,
wenn diese besonders scheu sind, was zu einer systematischen
Unterschätzung speziell bei besonders wenig an Menschen gewöhnten
Gruppen führen wird.
Die Fotofallen könnten ähnliche Probleme haben, wenn die
Schimpansen ihre Existenz spitzkriegen. Offenbar gibt es da
Vermeidungsverhalten. Und natürlich haben Fotofallen nur ein
endliches Gesichtsfeld, so dass sie bei realen Schimpansengrupen
recht wahrscheinlich einzelne Tiere nicht erfassen werden.
Bei den Tagesnestern werden eher Tiere übersehen, weil einige sich gar
keine Tagesnester bauen, etwa, weil sie gar kein Nickerchen
halten. Und außerdem sind diese Nester häufig so locker gezimmert,
dass Menschen sie übersehen. Das kann aber durchaus auch zu einer
Überschätzung der mittleren Gruppengröße führen, weil kleinere
Tageslager gar nicht auffallen; ähnlich würde es sich auswirken, wenn
sich ein Tier zwei oder gar mehr Tagesnester baut.
Bei Nachtnestern könnte die Gruppengröße überschätzt werden, weil sich
vielleicht mehrere Gruppen zur Übernachtung zusammentun (was dann den
Übergang von systematischen Fehlern in interessante Ergebnisse
markiert). Demgegenüber dürften die Probleme mit übersehenen kleinen
Nachtlagern wie auch mit übersehenen Nestern bei Nachtnestern weniger
ins Gewicht fallen als bei Tagnestern, einfach weil sie viel
aufwändiger gebaut sind.
Nun reichen die Daten von van Leeuwen et al nicht, diese Systematiken
ordentlich zu quantifizieren, zumal sie sehr wahrscheinlich auch von
allerlei Umweltbedingungen abhängig sind – im Paper geht es in der
Hinsicht vor allem um die Verfügbarkeit von Obst (mit der die
Gruppengröße wachsen könnte, weil mehr Tiere gleichzeitig essen können,
ohne sich in die Quere zu kommen) und um die Anwesenheit
fortpflanzungsbereiter Schimpansinnen.
Dass systematische Fehler sehr wohl qualitative Ergebnisse ändern
können, zeigt die Studie schön. So werden Gruppen laut
Fotofallenmethode größer, wenn sie fortpflanzungsbereite Frauen
umfassen; dieses Ergebnis verschwindet aber, wenn die Gruppengrößen durch
direkte Beobachtungen geschätzt werden. Durch Nestzählung ist zu dieser
Frage keine Aussage möglich, weil jedenfalls ohne viel Kletterei nicht
herauszubekommen ist, wie es mit Geschlecht und Zykluslage der
NestbauerInnen ausgesehen haben mag.
Und auch wenn die Arbeit nicht auseinanderhalten kann, wie weit die
größeren Gruppen, die sich bei Betrachtung der Nachtnester ergeben,
Folge systematischer Fehler bei der Erfassung sind oder durch das
Verhalten der Tiere verursacht werden: Klar ist jedenfalls, dass mensch
bis auf Weiteres lieber keine Schlüsse von Nachtzählungen aufs
Tagesverhalten zieht.
Ob diese Krähe überlegt, wie sie das Schwein lenken kann?
Und wenn sie rauskriegt, wie das geht, könnte sie es ihren Kindern
sagen? (Das ist übrigens im Käfertaler Wildpark)
Auf meinem Mal-genauer-ansehen-Stapel lag schon seit der
Forschung aktuell-Sendung vom 25. Januar die Geschichte von den
Schimpansen und den Steinen. In aller Kürze: Irgendwo in Guinea leben
zwei Schimpansengruppen (-stämme?), deren eine seit vielen Jahren mit
großer Selbstverständlichkeit Nüsse mit Steinen knackt, deren andere
aber das noch nicht mal tut, wenn mensch ihnen Steine und Nüsse frei
Haus liefert. Der Clou: die beiden Gruppen wohnen nur ein paar
Kilometer voneinander entfernt.
Ich fand diese Geschichte sehr bemerkenswert, und zwar einerseits, weil
ich Schimpansen grundsätzlich für kreativ genug gehalten hätte, um bei
so viel Nachhilfe schnell selbst aufs Nüsseknacken zu kommen. Krähen
zum Beispiel – jedenfalls die im Handschuhsheimer Feld – werfen Nüsse aus
großer Höhe auf Teerstraßen, nicht aber auf normale Erde. Na gut, das
mag auch soziales Lernen gewesen sein, aber ich will eigentlich schon
glauben, dass so eine Krähe da auch selbst draufkommt. Und a propos
„sozial“: Wer Möwen kennt, wird wohl wie ich sicher sein, dass deren
Muschelknacktechniken, wenn überhaupt, nur durch antisoziales Lernen
vermittelt werden könnten.
Wenn jedoch die Schimpansen zu vernagelt sein sollten, um rasch selbst
auf die Nutzung eines Steins zum Nüsseknacken zu kommen, finde ich es
andererseits fast unglaublich, dass Gruppen, die nur ein paar
Kilometer voneinander entfernt leben, so wenig Austausch haben, dass sich
so eine Kultur innerhalb von Jahrzehnten nicht sozusagen intertribal
verbreitet. Es gehen doch immer wieder einzelne Tiere auf Wanderschaft,
oder nicht?
Ein Gedanke, der mich beim Hören ein wenig beschäftigt hat, war: Was,
wenn das nicht ganz ordinäre Dummheit ist, sondern dessen verschärfte
Form, nämlich Patriotismus? In seinem Buch „Collapse – how societies
choose to fail or succeed“ (gibts in der Imperial Library) spekuliert
Jared Diamond, die mittelalterliche Wikingerkultur auf Grönland sei
untergegangen, weil ihre Mitglieder darauf bestanden haben, wie „in der
Heimat“, also von Getreide und Viehzucht, zu leben und nicht, wie die
Inuit, die sie garantiert beobachtet haben werden, von Fisch. Das
Bauernmodell habe die gegen Ende des mittelalterlichen Klimaoptimums
sinkende Temperatur einfach nicht mitgemacht.
That [the Greenland Norse] did not hunt the ringed seals, fish, and
whales which they must have seen the Inuit hunting was their own
decision. The Norse starved in the presence of abundant unutilized
food resources. Why did they make that decision, which from our
perspective of hindsight seems suicidal?
Actually, from the perspective of their own observations, values, and
previous experience, Norse decision-making was no more suicidal than
is ours today.
Schon, weil dieser Artikel mit Wissenschaft getaggt ist, muss ich
anmerken, dass Diamonds Argumente vielleicht nicht immer die
stichhaltigsten sind und auch die Sache mit der Kälte zwar naheliegend,
aber nicht alternativlos ist (vgl. Wissenschaft im Brennpunkt vom
14.11.2019) und wenigstens nach Zhao et al (2022),
doi:10.1126/sciadv.abm4346, wegen Nicht-kälter-werden inzwischen
regelrecht unplausibel wird. Und doch: Dass Kulturen Dinge aus völlig
albernen Gründen tun (ich sage mal: Autos fahren und, schlimmer noch,
parken) und noch mehr nicht tun (ich sage mal: Alltagsradeln), ist
wahrlich nichts Neues. Was also, wenn sich die nichtknackenden Affen
die Nüsse quasi vom Mund absparen, um nur sich nur ja nicht gemein zu
machen mit den knackenden Affen von nebenan? Ich würde das Experiment
ja gerne mal mit anderen, weiter entfernten Gruppen probieren.
Mit solchen Gedanken habe ich die Webseite der im DLF-Beitrag zitierten
Kathelijne Koops von der Uni Zürich besucht. Ein Paper zur
Nussgeschichte habe ich nicht gefunden – basierte der Beitrag im Januar
auf einem Preprint? einer Pressemitteilung der Uni Zürich? –, aber
dafür jede Menge anderer Papers, die es direkt in meinen
Mal-genauer-ansehen-Stapel schaffen: „Quantifying gaze conspicuousness:
Are humans distinct from chimpanzees and bonobos?“, „Chimpanzee termite
fishing etiquette“ oder, im Hinblick auf meinen Dauerbrenner „Was taugen
diese Zahlen eigentlich?“ besonders reizvoll: „How to measure chimpanzee
party size?“. Ich bin ganz hingerissen.
Bandwürmer im großartigen Naturhistorischen Museum in Wien: Den
besonders lange in der Mitte soll sich der Arzt wohl so zur k.u.k.Zeit
selbst gezogen haben. Auch „bei uns“ hatten also selbst wohlhabende
Menschen noch vor recht kurzer Zeit beeindruckende Würmer.
In den DLF-Wissenschaftsmeldungen vom 15. Februar ging es ab Sekunde
50 um römische Archäologie mit Bandwürmern. Ich gestehe ja einen
gewissen Römerfimmel ein, und ich fand zudem die Passage
In römerzeitlichen Fundstätten auf Sizilien wurden mehrfach konische
Tongefäße ausgegraben. Bisherigen Interpretationen zufolge wurden
darin Lebensmittel gelagert.
vielversprechend im Hinblick auf mein Projekt interessanter
Selbstkorrekturen von Wissenschaft, denn die neuen Erkenntnisse zeigen
recht deutlich, dass zumindest eines dieser Gefäße in Wahrheit als
Nachttopf genutzt wurde. Und deshalb habe ich mir die Arbeit besorgt,
auf der die Kurzmeldung basiert.
Es handelt sich dabei um „Using parasite analysis to identify ancient
chamber pots: An example of the fifth century CE from Gerace, Sicily,
Italy“ der Archäologin Sophie Rabinow (Cambridge, UK) und ihrer
KollegInnen (DOI 10.1016/j.jasrep.2022.103349), erschienen leider im
Elsevier-Journal of Archeological Science. Ich linke nicht gerne auf
die, zumal der Artikel auch nicht open access ist, aber leider gibts das
Paper derzeit nicht bei der Libgen.
Publikationsethische Erwägungen beiseite: Diese Leute haben einen der
erwähnten „konischen Tongefäße” aus einer spätrömischen Ruine im
sizilianischen Enna hergenommen und den „sehr harten, weißlichen
Rückstand von schuppigem Kalk“ („very hard whitish lime-scale deposit“)
am Boden des Gefäßes untersucht. Vor allem anderen: Ich hätte
wirklich nicht damit gerechnet, dass, was in einem lange genutzten
Nachttopf zurückbleibt, schließlich diese Konsistenz bekommt.
Nie wieder Sandalenfilme ohne Wurmgedanken
Aber so ist es wohl, denn nachdem die Leute das Zeug in Salzsäure
aufgelöst und gereinigt hatten, waren durch schlichte Lichtmikroskopie
(mein Kompliment an die AutorInnen, dass sie der Versuchung widerstanden
haben, coole und drittmittelträchtige DNA-Analysen zu machen)
haufenweise Eier von Peitschenwürmern zu sehen – und das halte auch ich
für ein starkes Zeichen, dass reichlich menschlicher Kot in diesem Pott
gewesen sein dürfte. Auch wenn, wie die AutorInnen einräumen, keine
Kontrollprobe der umgebenden Erde zur Verfügung stand, ist es nicht
plausibel, wie Eier in dieser Menge durch nachträgliche Kontamination in
den „harten, weißen Rückstand“ kommen sollten.
Römer hatten – das war schon vor dieser Arbeit klar – nicht zu knapp
Würmer. Alles andere wäre trotz der relativ ordentlichen Kanalisation
in größeren römischen Siedlungen höchst erstaunlich, da auch in
unserer modernen Welt die (arme) Hälfte der Menschheit Würmer hat (vgl.
z.B. Stepek et al 2006, DOI 10.1111/j.1365-2613.2006.00495.x).
Dennoch guckt sich so ein zünftiger Sandalenfilm (sagen wir, der immer
noch hinreißende Ben Hur) ganz anders an, wenn mensch sich klar
macht, dass die feschen Soldaten und fetten Senatoren alle des öfteren
mal Würmer hatten. Und auch Caesars Gallischer Krieg oder Mark Aurels
Selbstbetrachtungen erhalten, finde ich, eine zusätzliche Tiefe, wenn
mensch sich vorstellt, dass in den Gedärmen jener, die da
Kriegspropaganda oder stoische Philosophie betrieben, parasitische
Würmer mitaßen.
Forschungsprojekt: Wurmbefall in Köln vor und nach 260
Nun schätzen Rabinow et al allerdings, dass ihre Rückstände wohl in der
Mitte des fünften Jahrhunderts entstanden. Damals hatte die römische
Zivilisation und damit auch ihre Kanalisation wahrscheinlich auch in
Sizilien schon etwas gelitten. Die Kölner Eifelwasserleitung etwa –
die eingestandenermaßen technisch besonders anspruchsvoll war und in
einem besonders unruhigen Teil des Imperiums lag – haben „Germanen“
schon im Jahr 260 zerstört, und sie wurde danach nicht mehr in Betrieb
genommen, obwohl Köln bis weit ins 5. Jahrhundert hinein eine römische
Verwaltung hatte.
Ich persönlich wäre überzeugt, dass, wer mit der Rabinow-Methode an
entsprechend datierbare Überreste heranginge, mit dem Jahr 260 eine
sprunghafte Erhöhung der Verwurmung in Köln feststellen würde.
Insofern: Vielleicht hatten Caesar und Mark Aurel, zu deren Zeiten der
römlische Wasserbau noch blühte, ja doch nicht viel mehr Würmer als wir
im kanalisierten Westen?
Ach so: Das mit dem Irrtum – „nee, die Teile hatten sie für Essen“ – war
so wild in Wirklichkeit nicht. Wie üblich in der Wissenschaft waren
die Antworten auch vorher nicht so klar. Rabinow et al schreiben:
A recent study of material at the town of Viminacium in Serbia, where
over 350 identically deep-shaped vessels are known, was able to
confirm at least 3 potential uses: storage for cereals or water,
burial urns, and chamber pots […]. Chamber pots clearly were also
sometimes put to secondary use, for example as a container for
builder’s lime […], while vessels initially destined for other
purposes may have been turned into chamber pots.
Nun, dann und wann kommen sogar Wissenschaft und „gesunder“
Menschenverstand zu recht vergleichbaren Ergebnissen.
Diese Biene würde vielleicht schon zwischen den Staubbeuteln
rumrüsseln, wenn die Blume sich nur etwas mehr Mühe beim Würzen
gegeben hätte.
In Marc-Uwe Klings Qualityland (helle Ausgabe in der Imperial Library)
gibt es das großartige Konzept der FeSaZus, eines Nahrungsmittels, das zu
je einem Drittel aus Fett, Salz und Zucker besteht und zumindest für das
Proletariat von Qualityland in einigen – nicht zu vielen! –
Darreichungsformen (FeSaZus im Cornflakesmantel, Muffins mit
FeSaZu-Füllung, Schmalz-FeSaZus mit Speckgeschmack) eine wichtige
Ernährungsgrundlage darstellt.
Via den Wissenschaftsmeldungen vom 3.2.2022 in DLF Forschung aktuell
bin ich nun auf den Artikel „Sodium-enriched floral nectar increases
pollinator visitation rate and diversity“ von Carrie Finkelstein und
KollegInnen (Biology Letters 18 (3), 2022, DOI
10.1098/rsbl.2022.0016) gestoßen, der recht überzeugend belegt, dass
Insekten im Schnitt einen Geschmack haben, der sich vom Qualityländer
Durchschnittsgeschmack gar nicht so arg unterscheidet.
Finkelstein et al haben an der Uni von Vermont mindestens je zwölf
Exemplare von fünf örtlich üblichen Blumenarten blühen lassen. Je
Experiment (und davon gab es einige) haben sie sich pro Art sechs
Individuen ausgesucht und mit Kunstnektar versehen. Bei dreien war das
einfach eine 35%-ige Zuckerlösung, bei den anderen drei kam dazu noch 1%
Kochsalz. In Wasser aufgelöst ist 1% Salz schon ziemlich schmeckbar.
Ich habe darauf verzichtet, im Selbstversuch zu überprüfen, ob 1% Salz
in so konzentriertem Sirup menschlichen Zungen überhaupt auffällt.
Und dann haben sie gewartet, bis bestäubende Insekten kamen und diese
gezählt. Das zentrale (und jedenfalls von außen betrachtet trotz etwas
Voodoo bei der Auswertung auch robuste) Ergebnis: An den Pflanzen, die
Salz anboten, waren doppelt so viele Insekten – am stärksten vertreten
übrigens allerlei Sorten von Bienen – wie an denen, die das nicht taten,
und zwar ziemlich egal, um welche Blume es nun gerade ging. Mit anderen
Worten: Insekten sind nicht wild auf faden Nektar.
Allerdings: So ein Faktor zwei in der Präferenz ist gar nicht so viel.
Zwischen den BesucherInnenzahlen bei Schafgarbe (laut Paper 54.1 ± 6.3)
und dem blutroten Storchschnabel (16.6 ± 3.5) liegt eher ein Faktor
drei. Dennoch ist recht deutlich, dass die Insekten eher wenig
Verständnis haben für Lauterbachs salzarme Ernährung. Dabei will ich
nicht argumentieren, dass ein Durchschnittsmensch auf Dauer 150 mg
Salz pro Kilogramm Körpergewicht und Tag essen könnte, ohne schließlich
mit Hypertonie und Nierenversagen kämpfen zu müssen. Aber 10 oder 15
Gramm Salz am Tag kriegt mensch, wie Samin Nosrat in ihrem wunderbaren
Kochbuch Salt, Fat, Acid, Heat (auch in der Imperial Library)
ausführt, durch selbstsalzen oder auch den Salzgebrauch in
selbstkochender Gastronomie, kaum hin[1]; salzarms Kochen und
fades Essen mag mithin positive gesundheitliche Folgen haben, aber
vermutlich kaum mehr als etwa der Einsatz von Himalayasalz, Voodoopuppen
oder anderen potenten Placebos.
Erfreulich fand ich im Paper noch die Aussage „All analyses were
performed in R (v. 4.0.2)“ – dass auch in weniger technologieaffinen
Wissenschaftsbereichen proprietäre Software (in diesem Fall ganz
vornedran SAS und SPSS) auf dem Weg nach draußen ist, halte ich für eine
ausgezeichnete Nachricht.
Weniger schön fand ich das Bekenntnis, dass es in Anwesenheit von
BiologInnen ganz offenbar gefährlich ist, einer unüblichen Spezies
anzugehören:
If we were unable to identify a floral visitor in the field, we
collected it and stored it in 75% ethanol.
Arme kleine Fliegen und arme VertreterInnen ungewöhnlicher Bienenarten.
Wären sie stinknormale Honigbienen gewesen, hätten sie ihren Ausflug zu
den verlockenden Blüten mit dem fein gesalzenen Nektar überlebt.
Nosrat argumentiert in ihrem Buch für mich zumindest plausibel
(und durch meine eigene Kochpraxis bestätigt), dass Lauterbauchs Kritik
am „Salzgeschmack“ zumeist am Thema vorbeigeht – in aller Regel
vermittelt Kochsalz etwa durch Kontrolle von Osmolaritäten ziemlich
nichttriviale Prozesse beim Garen und Verarbeiten von Lebensmitteln,
und diese sind für den Geschmack der fertigen Speisen viel wichtiger
als das Salz selbst. Aber das ist dann wirklich eine andere Geschichte.
Es ist Frühling! Ganz deutlich war das am Mittwoch, als ich im noch
kahlen Wald unterhalb der Schauenburg stand und ganz hingerissen war
von Zahl, Lautstärke und Veriantenreichtum der Äußerungen der dort
ansässigen Vögel. Leider hatte ich nicht die Geistesgegenwart, das
gleich aufzunehmen, und gestern war es schon nicht mehr ganz so
aufregend. Dennoch mag das folgende einen Eindruck geben, wie es in dem
Wald gerade tönt kurz vor Sonnenuntergang:
Das starke Rauschen, das dem unterliegt, ist übrigens zu guten Teilen
nichttechnisch: in der Nähe meines Aufnahmeorts rauscht gerade der
Mantelbach, der, ebenfalls ganz in Frühlingsstimmung, im Augenblick
richtig viel Wasser führt.
Das Audio-Element sollte endlos laufen. Leider loopt jedoch zumindest
der aktuelle Webkit nicht nahtlos, und beim Übergang auf die nächste
Wiederholung ist ein deutliches Ploppen zu hören. Lokal habe ich ein
shell-alias, mit dem ich die Nahstelle (jedenfalls bei Wiedergabe über
die lausigen Lautsprecher in meinem Computer) nicht erkennen kann:
alias ambient-voegel='mpv --quiet --loop-file=inf /pfad-zum/vogelkonzert.ogg'
Erwähnen möchte ich noch, dass die Aufnahme alles andere als leicht war.
Nicht etwa, weil es mit dem Gerät Probleme gegeben hätte, abgesehen
davon, dass das ein einfaches Telefon ohne Windschutz war und deshalb
auf externe Beschirmung angewiesen war:
Nein, das Problem war Zivilsationslärm, der die Vogelstimmen störte oder
gar übertönte. Zuerst ist ein Hubschrauber durchgebrummt, dann
klapperten die Hufe eines Freizeitpferdes auf dem asphaltierten Waldweg,
und als die allmählich verklungen waren, dröhnte schon das nächste
Flugzeug minutenlang durch den Himmel. Dabei ist das Tal
gegenüber seiner näheren Umgebung sehr bevorzugt, weil es vom dauernden
Lärm von A5, B3 und all den Ortsstraßen recht gut abgeschirmt ist.
Dass mir all das Dröhnen – das ja sonst auch da ist – gestern auffiel,
das muss wohl diese Achtsamkeit sein, von der ich in den letzten Jahren
viel zu viel gehört habe. Und alles, was ich dafür gebraucht habe,
waren zwei Mikrofone, ein Programm und der Wille, singende Vögel für
trübere Zeiten zu konservieren. Ist das eine Marktlücke: Tagesseminar
für nur 4000 Euro „Achtsamkeit lernen mit audacity“?
Da helfen nicht mal mehr Ameisenarmeen: Ein Faultier in einem
Cecropia-Baum. Von hier unter GFDL.
In den Wissenschaftsmeldungen der Forschung aktuell-Sendung am
Deutschlandfunk vom 4.1.22 gab es ab Minute 2:50 eine Geschichte einer
doch sehr überraschenden Symbiose: Ameisen, so heißt es da, verbinden
verletzte Bäume. Nun würde mich so ein Verhalten nicht völlig vom
Hocker hauen – ich bin ja ein Feind der Soziobiologie und
halte das „egoistische Gen“ für einen methodischen Fehler –, aber
Krankenpflege ist schon innerhalb einer Spezies bemerkenswert (gibts
bei Ameisen). Geht sie gar über Speziesgrenzen hinaus, weckt das schon
meine Neugier. Darum habe ich mir das zugrundeliegende Paper
rausgesucht: „Azteca ants repair damage to their Cecropia host plants“
aus dem Journal of Hymenoptera Research, Band 88,
doi:10.3897/jhr.88.75855.
Das erste, was auffällt, ist die Autorenliste: geschrieben haben das
Ding Alex Wcislo, Xavier Graham, Stan Stevens, Johannes Ehoulé Toppe,
Lucas Wcislo, und William T. Wcislo. Das sind einen Haufen Wcislos,
und die Erklärung findet mensch in den Affiliations. William T. ist vom
Tropeninstitut der Smithsonian Institution, alle anderen Autoren kommen
von der International School of Panama – wo ein Forscher-Expat seine
Kinder wohl hinschicken wird – beziehungsweise von der Metropolitan
School in Panama.
In diesem Licht bekommt die Eröffnung des Artikels einen ganz eigenen
Charme, der in dem DLF-Kurzbeitrag ganz und gar fehlt (da war nur die
übliche Rede von „den Forschenden“):
One of us (AW) used a sling shot to shoot a clay ball (9 mm diameter)
at high velocity through an upper internode of a large Cecropia tree,
making clean entry and exit wounds. Within 24 hours both holes were
nearly sealed. This anecdotal observation...
Also: Da hat der kleine Nick^W^W der Sohn des Smithsonian-Biologen mit
einer Zwille oder Steinschleuder rumgeballert und hat es geschafft, ein
Loch durch ein Internodium, also so eine Art Zweig, zu schlagen; nun,
tropische Bäume sind oft relativ weich. Der Lausejunge war aber
Professorenkind genug, um genauer hinzuschauen und festzustellen, dass
Ameisen am Loch rumlaufen und es offenbar zunähen.
Daraufhin haben er, seine Freunde und sein Vater ein richtiges Programm
aufgelegt, um aus der Anekdote etwas wie Wissenschaft zu machen. Sie
haben dazu systematisch Löcher in rund zwanzig Ameisenbäume im Stadtwald
(„opportunistically selected“ schreiben sie) gebohrt, in denen
Aztekenameisen Azteca alfari wohnten. Über deren Symbiose war bisher
vor allem bekannt, dass die Bäume Ameisen schicken, wenn andere Tiere
an ihren Blättern knabbern. Die Ameisen dürfen dafür in den erwähnten
Internodien wohnen (die sind hohl und haben dünne Wände, damit die
Ameisen leicht reinkommen) und bekommen darin sogar lecker Futter (na
ja, im Zweifel Futter für ihre Blattläuse).
Und dann haben die Schülis dokumentiert, was passiert. Das war nicht
immer einfach, wie sie ehrlich berichten:
But ants [also die Ameisen, die an einem Loch arbeiteten] were not
marked so the total size of the repair force is unknown. […]
We greatly thank the Cárdenas police patrols for allowing us to work
safely outdoors during the early days of a pandemic, and tolerating
our activity during severe restrictions on movement.
Sie mussten sich auch auf junge Bäume beschränken, denn die Ameisen
wohnen gerne so weit oben wie möglich und merken dann nicht mehr, was
unten vor sich geht, während die Schülis nicht höher als zwei Meter
kamen: „we selected internodes as high up as we could reach“.
Die resultierende Beobachtung mochte dann schon wieder Material für die
Ethikkommission sein, denn sooo viel anders als bei den ganz
klassischen Begegnungen von Lausbuben und Ameisenhaufen ging es auch
nicht ab, jedenfalls aus Sicht der Ameisen: Diese retteten erstmal
ihre Brut, bevor sie tatsächlich recht oft und überzeugend die
Bohrungen verschlossen. Dieses Gesamtbild aber lässt schon ahnen, dass
sie eher ihren Bau reparierten als ihrem Baum medizinische Hilfe
angedeihen ließen. Dafür spricht auch, dass der Baum im Anschluss ein
eigenes Heilprogramm anwarf und die Wunde komplett mit eigenem Gewebe
auffüllte.
Andererseits: Vielleicht sehen wir hier gerade der Evolution zu, denn es
könnte ja sein, dass Bäume, die Ameisen zu besserer medizinischer
Versorgung anhalten – und das übliche survival of the fittest[1]
würde jetzt dafür sorgen – auch deutlich besser leben als welche, die
einfach nur ganz normale Baumheilung machen?
Was es auch sei: ich war sehr angetan davon, mal ein paar Seiten aus
dem Journal of Hymenoptera Research zu lesen. Dafür, dass es solche
Publikationen gibt, liebe ich die Wissenschaft.
Nicht alle Rinder sind immer brav und gefügig. Ob diese Kuh wohl ein
besonders schmales Maul hat? Das würde ihr nämlich, mit der Methode
des Papers, ein größeres Hirn bescheinigen.
Die zweite Tiergeschichte, die ich neulich angekündigt habe als, nun,
interessant in der Forschung aktuell-Sendung vom 9.6. (in den
Meldungen ab Minute 21:55), war die, dass gezähmte Rinder ein Viertel
weniger Hirn haben als wilde; ein Traditionsanarcho wie ich kann bei so
einem Faktoid natürlich dem „Gehorsam macht dumm und gewalttätig“ nicht
widerstehen, und so habe ich mir den zugrundeliegenden Artikel genauer
angesehen.
Es handelt sich um https://doi.org/10.1098/rspb.2021.0813, „Intensive
human contact correlates with smaller brains: differential brain size
reduction in cattle types“ von Ana Balcarcel und KollegInnen; die
Hauptautorin arbeitet am Paläontologischen Institut und Museum der Uni
Zürich, was, in memoriam Tibatong und Zwengelmann, den Urmel-Fan in mir
begeistert.
Von der Hirnschrumpfung im Rahmen der Domestikation hatte ich spätestens
in einer DLF-Sendung von 2009 („Beschleunigte Evolution“) von Michael
Stang gehört. Dort hatte er über schnelle Zuchterfolge bei
Damhirschen[1] berichtet:
Das Zuchtziel war klar. Der domestizierte Damhirsch musste seine
natürliche Schreckhaftigkeit verlieren und die Nähe des Menschen nicht
als störend empfinden. Zugleich sollte die Fleischleistung erhöht
werden. Durch Probeschlachtungen konnte Helmut Hemmer feststellen, ob
bereits einige Tiere ein verkleinertes Gehirn hatten - eines der
entscheidenden Merkmale beim Übergang vom Wildtier zum Nutztier. [...]
Heute grasen über 1000 domestizierte Damhirsche auf Wiesen in
Deutschland.
Im vorliegenden Artikel wird das deutlich quantitativer:
Domestic cattle have 25.6% smaller brains than wild cattle,
according to regressions of EV [Endocranial volume, Gehirnvolumen]
versus MZW [Muzzle width, Breite des Mundes, als Stellvertreter für
die Körpermasse ...]. The difference between beef and dairy breeds is
also significant (ANCOVA, p = 0.010).
Das ist natürlich weit weg von „Gehorsam macht dumm“, aber „25.4%“
weniger Hirn ist, mit drei signifikant aussehenden Stellen, schon eine
Ansage.
Eine Ansage allerdings, die ich in Summe nicht so richtig überzeugend
belegt finde, nicht mal mit nur einer signifikanten Stelle. Wobei, full
disclosure, ich war gleich voreingenommen, denn die Methode von
Balcarcel et al waren Schädelmessungen. Nennt mich irrational, aber ich
werde ernsthaft nervös, wenn jemand an Schädeln herummisst. Das war
schon bei Lavater schlimm, und nach dem durch Pseudowissenschaft
gestützten völligen Zivilisationsbruch der Nazi-Phrenologie kann ich auf
sowas nicht mehr entspannt, sagen wir sine ira et studio, blicken.
Aber ok, es scheint in dem Fach Konsens zu sein, die Breite des Mundes
(ich vermute, der im Deutschen übliche Begriff wird Maulbreite sein,
aber lasst mir mal etwas Antispeziezismus) als Maß für das Körpergewicht
zu nehmen. Das Hirnvolumen hingegen schätzen die AutorInnen unter
Verweis auf John Finarelli über ln(Hirnvolumen) = 1.3143 ⋅ ln(Länge der
Schädelhöhle) + 0.8934 ⋅ ln(Breite der Schädelhöhle) - 5.2313. Das ist
– von den fantastischen Genauigkeitsbehauptungen abgesehen – so
unplausibel nicht: Proportionalität zwischen Logarithmen heißt, dass es
da ein Potenzgesetz gibt, was bei der Relation zwischen linearen
Größen und einem Volumen naheliegt; Fingerübung im Rechnen mit
Logarithmen: bei Kugeln gilt 3 ln(r) + C = ln(V) mit einer Konstanten C.
Dennoch: Sowohl Hirnvolumen als auch die Körpermasse als Bezugsgröße
werden in der Arbeit durchweg über Proxies geschätzt. Das mag ok sein –
und nein, ich habe nicht versucht, mich von den zur Unterstützung
dieser Proxies angeführten Arbeiten überzeugen zu lassen –, aber wer
Claims wie
Bullfighting cattle, which are bred for fighting and aggressive
temperament, have much larger brains than dairy breeds, which are
intensively selected for docility.
ins Abstract schreibt, sollte da, finde ich, schon sagen, dass für die
Studie weder Rinder noch ihre Hirne gewogen wurden.
Gesetzt jedoch, die Korrelationen zwischen den Schädelmaßen auf der
einen und Körpermasse und Hirnvolumen auf der anderen Seite hauen
wirklich hin[2]: Ganz laienhaft finde ich ja schon die Metrik
„Hirnvolumen zu Körpermasse“ nicht ganz so überzeugend. Immerhin dürfte
ja „relativ mehr Fleisch“ bei Nutzrindern auch ein Zuchtziel gewesen
sein, und so kann das Verhältnis nicht nur wegen weniger Hirn, sondern
genauso gut wegen mehr sonstiger Masse kleiner ausfallen. Das wäre
übrigens auch plausibel im Hinblick auf größere
Hirn-zu-Körper-Verhältnisse bei Kampfstieren (die Balcarcel et al
finden), denn fette Kampfstiere erfüllen ihren Zweck vermutlich eher
weniger gut.
Ähnlich wenig überzeugt haben mich die Grafiken der Arbeit. Die zentralen
Aussagen werden mit Punktwolken mit reingemalten Regressionsgeraden
belegt. In dieser Darstellung fällt alles Mögliche in Auge (z.B. „alle
Wildrinder sind rechts oben“, einfach weil diese größer sind, oder „die
Geraden der Kampfrinder sind steiler“, was, wenn ich das richtig sehe,
das Paper weder nutzt noch erklärt), während die eigentlich in den Tests
verwendeten Achsenabschnitte (entsprechend Faktoren nach
Delogarithmierung) durch eigene Rechnung bestimmt werden
müssten und jedenfalls optisch unauffällig sind.
Deshalb wollte ich probieren, mir geeignetere Plots auszudenken und
habe versucht, die laut Artikel auf figshare bereitgestellten
Rohdaten zu ziehen.
Ach weh. Das ist schon wieder so ein Schmerz. Zunächst figshare:
Nichts geht ohne Javascript (wie schwer kann es sein, ein paar
Dateien zu verbreiten? Wozu könnte Javascript da überhaupt nur
nützlich, geschweige denn notwendig sein?) und das CSS versteckt
völlig unnötigerweise die Seitengröße. Dazu: Google analytics, Fonts
von googleapis.com gezogen; ich bin ja kein Freund von institutional
repositories, bei denen jede Uni-Bibliothek ihren eigenen Stiefel macht,
aber mal ehrlich: so ein Mist muss jetzt auch nicht sein, nur um ein
paar Dateien zu verteilen. Dann doch lieber Murks der lokalen
Bibliothek.
Die Datei mit den Daten sorgt nicht für Trost: Ich hatte mich schon auf so
ein blödes Office Open XML-Ding („Excel“) eingestellt, aber es kam in
gewisser Weise noch schlimmer: Was mensch bei figshare bekommt, ist ein
PDF mit einigen formatierten Tabellen drin. An der Stelle habe ich dann
aufgehört. Screen Scraping mache ich nur in Notfällen.
Dabei will ich an der Grundaussage („Domestikation macht Hirne relativ
kleiner“) nicht mal zweifeln; das mit dem „dümmer“ allerdings (was meine
Sprache ist, nicht die der AutorInnen) ist natürlich gemeine Polemik,
und das Paper zitiert Dritte, die vermuten, die Reduktion des
Hirnvolumens gehe vor allem aufs limibische System, „a composite of
brain regions responsible for the processing of fear, reactivity and
aggression“. Aber das Paper hat, soweit ich als interessierter Laie das
erkennen kann, keine sehr starken Argumente für diese Grundaussage.
Dennoch habe ich nicht bereut, in das Paper reingeschaut zu haben, denn
ich habe so erfahren, dass es Rinder gibt, deren Zweck es ist „to
decorate the landscape“, vor allem die halbwilden Chillingham-Rinder.
Die Idee, Rinder zu halten, damit der Park etwas hübscher aussieht: das
finde ich hinreißend.
Hauskatzen, so hieß es irgendwo anders, haben Hirne wie ihre
waldlebenden Verwandten. Damit wären sie Wildtiere, deren Habitat
zufällig unsere Wohnungen sind. Das würde manches erklären…
Der Physiker in mir würde bei sowas gerne die Schätzungen für
die systematischen Fehler vergrößern, und so eine ganz grobe
Fehlerbetrachtung hätte diesem Paper sicher gut getan.
Ameise? Spinne? Marsianer? Tatsächlich hat das, was ich an
Warnsystem für „lege dich nicht mit dieser Sorte Tier an“ habe, bei
diesen tropischen Ameisen schon angeschlagen.
In Forschung aktuell am Deutschlandfunk gab es am 9.6. gleich zwei
Tiergeschichten, die mich inspiriert haben, mal in die Papers hinter den
Geschichten zu schauen. Die erste war die Geschichte von Spinnen, die
sich als Ameisen tarnen. Ganz klar wird aus der DLF-Story nicht, worum
es aktuell ging; die letzte einschlägige Publikation des Interviewten
ist „Insincere flattery? Understanding the evolution of imperfect
deceptive mimicry“ von Donald McLean und KollegInnen und ist bereits 2019
im Quarterly Review of Biology erschienen
(http://doi.org/10.1086/706769; wie üblich bei Bedarf auf scihub
ausweichen). Das ist zwar erkennbar nicht das, worum im Bericht ging
(Computersimulation der Erkennung durch die Fressfeinde), aber es stellt
die Fragen, um die es hier geht, und vor allem begründet er, warum
Mimikry von Ameisen ein besonders geeignetes Modell zur Untersuchung des
Phänomens ist: Sie findet nach Aussehen, Geruch und Verhalten statt,
es gibt jede Menge Spezies, die sich in der Imitation von Ameisen
versuchen, und die meisten davon sind relativ unproblematisch im Umgang.
Der Autor arbeitet übrigens an der Macquarie University in Sydney,
Australien, und ich kann diese Gelegenheit zum zitieren des großartigen
Bill Bryson nicht vorübergehen lassen:
You really cannot move in Australia without bumping into some reminder
of his [des Ex-Gouverneurs Lachlan Macquarie, der offensichtlich eine
Tendenz hatte, alles Mögliche und Unmögliche nach sich zu benennen]
tenure. Run your eye over the map and you will find a Macquarie
Harbour, Macquarie Island, Macquarie Marsh, Macquarie River, Macquarie
Fields, Macquarie Pass, Macquarie Plains, Lake Macquarie, Port
Macquarie, Mrs. Macquarie’s Chair (a lookout point over Sydney
Harbour), Macquarie’s Point, and a Macquarie town. I always imagine
him sitting at his desk, poring over maps and charts with a magnifying
glass, and calling out from time to time to his first assistant, “Hae
we no’ got a Macquarie Swamp yet, laddie? And look here at this wee
copse. It has nae name. What shall we call it, do ye think?”
—Bill Bryson: In a Sunburned Country, New York, 2000
Aber zurück zu den Spinnen, die das Interesse der Leute von der
Macquarie University geweckt haben. Hingerissen hat mich ja die
Vorstellung, wie da Spinnen rumlaufen, die ihr vorderes Beinpaar neben
den Kopf halten und hoffen, damit als Ameise durchzugehen, ganz wie
Kinder, die mit ihren Zeigefingern die Antennen von Aliens markieren,
wobei nicht klar ist, ob die Zeigefinger oder der Gedanke von Antennen
auf Alienköpfen alberner sind.
Nun, es stellt sich heraus, dass sie damit ganz gut durchkommen, und
zwar, weil ihre Fressfeinde eher darauf schauen, wie sie sich bewegen
als wie sie jetzt im Einzelnen aussehen – und für den Bewegungseindruck
sind die wippenden Fühler wohl recht relevant. Das wiederum hat mich an
eine gute Bekannte erinnert, die seit frühester Jugend ziemlich
kurzsichtig ist, jedoch versucht, so unabhängig von Brillen zu bleiben
wie es halt geht. Sie hat immer angegeben, sie identifiziere Menschen
vor allem anhand ihres Bewegungsstils oder vielleicht auch ihrer Gestik.
Das funktioniere auch ohne scharfe Sicht aus großen Entfernungen,
letztlich würden auch Strichmännchen reichen, wenn sie sich nur bewegen.
Die Frage, welche Mimikry die Fressfeinde überzeugt, war schon Thema des
oben zitierten Artikels von McLean et al, der leider im Hauptteil mehr
um evolutionäre Kostenfunktionen geht, und ganz ehrlich: ich glaube an
nicht viel davon, denn die entsprechenden Modelle sind gewiss einige
Größenordnungen zu schlicht. Echte Ökosysteme haben unzählige
Parameter, und wenn mensch zu viele davon weglässt, kommt am Schluss
Mumpitz wie das „egoistische Gen“ heraus; ganz so schlimm kommt es hier
nicht, aber das Abstandsgebot von ökonomistischer Argumentation befolgen
die AutorInnen eben auch nicht so recht. Dafür sind sie wohl auch an
der falschen Uni, denn bei Macquarie haben klar die Metriker und
Wettbewerbs-Taliban das sagen. Wer bei der Uni nach dem Autor sucht,
kommt auf sowas hier als „Profil“:
Metrikwahn destilliert: Noch bevor irgendein Wort fällt, womit sich
Herr McLean so beschäftigt, kommen Zitationszahlen und zur Krönung
ein h-Wert. Wenn unter solchen Bedingungen ordentliche Wissenschaft
und nicht Metrikdienerei entsteht, zeigt sich wieder die unendliche
Robustheit des Systems Wissenschaft. Aber: Warum baut jemand
überhaupt solche Webseiten? (Herkunft, 22.6.2021)
Ach Mist, jetzt bin ich schon wieder von den Spinnen abgeschweift.
Was auch deshalb unfair ist, weil McLean einen gewissen Metrikrealismus
an den Tag legt: „Underlying the idea of imperfect mimicry is the
assumption that mimetic accuracy can be quantified“ [Hervorhebung von
mir]. Und weil das Paper eine, zumindest für Laien wie mich, wirklich
ganz schöne Übersicht gibt, wie sich EvolutionsbiologInnen dem Problem
nähern, warum wohl Mimikry manchmal richtig schlecht ist. Von „die
Täuschenden probieren es gar nicht“ bis „für die Fressfeinde reichts“
ist da viel dabei – und klar, in verschiedenen System werden
wahrscheinlich verschiedene Mechanismen am Werk sein.
Worum es neulich im DLF ging, war nun offenbar die „für die Fressfeinde
reichts“-Hypthese, die wiederum in ein paar Varianten aufgedröselt wird;
in einer Fassung, die ich für viele Zwecke recht überzeugend finde, wäre
das etwa: Wenn Fressfeinde mal böse Erfahrungen mit Form V gemacht
haben, werden sie vielleicht auch ähnliche Formen meiden, sagen wir W,
zumal, wenn sie auch W nicht dringend zum Überleben brauchen. Ziemlich
offensichtlich funktioniert das sogar im genetischen Gedächtnis.
Jedenfalls glaube ich nicht, dass viele Menschen in meinem Umfeld
böse Erfahrungen mit Spinnen und Schlangen gemacht haben, doch haben
überraschend viele wirklich ernsthafte Ängste vor Tieren, die aussehen
wie Schlangen oder Spinnen.
Und das war dann schon die Geschichte, soweit sie jetzt publiziert ist:
Es gibt einen Haufen Varianten von Mimikry, und Spinnen, die ihre
Vorderbeine halten, als wären sie Fühler, kommen damit durch, solange
die Ameisen, die sie imitieren, nur garstig genug schmecken.
Keine Zikaden in Weinheim: das Eichhörnchen im dortigen Arboretum
konnte noch munter turnen.
Wieder mal eine Tier-Geschichte aus Forschung aktuell am
Deutschlandfunk: In der Sendung vom 25.5. gab es ein Interview mit
Zoe Getman-Pickering, die derzeit eine Massenvermehrung von Zikaden
an der US-Ostküste beobachtet. Im Gegensatz zu so mancher
Heuschreckenplage kam die nicht unerwartet, denn ziemlich verlässlich
alle 17 Jahre schlüpfen erstaunliche Mengen dieser Insekten und
verwandeln das Land in ein
All-You-Can-Eat-Buffet. Es gibt schon Berichte von Eichhörnchen und
Vögeln, die so fett sind, dass sie nicht mehr richtig laufen können.
Die sitzen dann einfach nur herum und fressen eine Zikade nach der
anderen.
Es war dieses Bild von pandaähnlich herumhockenden Eichhörnchen, die
Zikaden in sich reinstopfen eine einE Couch Potato Kartoffelchips, das
meine Fantasie angeregt hat.
Gut: Gereizt hat mich auch die Frage, wo auf der Fiesheitssakala ich
eigentlich einen intervenierenden Teil der Untersuchung ansiedeln würde,
der im Inverview angesprochen wird: Um
herauszufinden [ob die Vögel noch Raupen fressen, wenn sie Zikaden in
beliebigen Mengen haben können], haben wir auch künstliche Raupen aus
einem weichen Kunststoff. Die setzen wir auf die Bäume. Und wenn sich
dann Vögel für die künstlichen Raupen interessieren, dann picken sie
danach
und sind bestimmt sehr enttäuscht, wenn sie statt saftiger Raupen
nur ekliges Plastik schmecken. Na ja: verglichen mit den abstürzenden
Fledermäuse von neulich ist das sicher nochmal eine Stufe harmloser.
Balsam für die Ethikkommission, denke ich. Das Ergebnis übrigens: Ja,
die Zikadenschwemme könnte durchaus eine Raupenplage nach sich ziehen.
Die Geschichte hat ein Zuckerl für Mathe-Nerds, denn es ist ja
erstmal etwas seltsam, dass sich die Zikaden ausgerechnet alle 17 Jahre
verabreden zu ihren Reproduktionsorgien. Warum 17? Bis zu diesem
Interview war ich überzeugt, es sei in ÖkologInnenkreisen Konsens, das
sei, um synchronen Massenvermehrungen von Fressfeinden auszuweichen,
doch Getman-Pickering hat mich da eines Besseren belehrt:
Aber es gibt auch Theorien, nach denen es nichts mit den Fressfeinden
zu tun hat. Sondern eher mit anderen Zikaden. Der Vorteil wäre dann,
dass die Primzahlen verhindern, dass unterschiedliche Zikaden zur
gleichen Zeit auftreten, was dann schlecht für die Zikaden sein
könnte. Und dann gibt es auch noch einige Leute, die es einfach nur
für einen Zufall halten.
Das mit dem Zufall fände ich überzeugend, wenn bei entsprechenden Zyklen
in nennenswerter Zahl auch nichtprime Perioden vorkämen. Und das mag
durchaus sein. Zum Maikäfer zum Beispiel schreibt die Wikipedia:
„Maikäfer haben eine Zykluszeit von drei bis fünf, meist vier Jahren.“
Aua. Vier Jahre würden mir eine beliebig schlechte Zykluszeit
erscheinen, denn da würde ich rein instinktiv Resonanzen mit allem und
jedem erwarten. Beim Versuch, diesen Instinkt zu quantifizien, bin ich
auf etwas gestoßen, das, würde ich noch Programmierkurse geben, meine
Studis als Übungsaufgabe abbekommen würden.
Die Fragestellung ist ganz grob: Wenn alle n Jahre besonders viele
Fressfeinde auftreten und alle m Jahre besonders viele Beutetiere, wie
oft werden sich die Massenauftreten überschneiden und so den
(vermutlichen) Zweck der Zyklen, dem Ausweichen massenhafter
Fressfeinde, zunichte machen? Ein gutes Maß dafür ist: Haben die beiden
Zyklen gemeinsame Teiler? Wenn ja, gibt es in relativ kurzen
Intervallen Jahre, in denen sich sowohl Fressfeinde als auch Beutetiere
massenhaft vermehren. Haben, sagen wir, die Eichhörnchen alle 10 Jahre
und die Zikaden alle 15 Jahre Massenvermehrungen, würden die
Eichhärnchen alle drei Massenvermehrungen einen gut gedeckten Tisch und
die Zikaden jedes zweite Mal mit großen Eichhörnchenmengen zu kämpfen
haben.
Formaler ist das Problem also: berechne für jede Zahl von 2 bis N die
Zahl der Zahlen aus dieser Menge, mit denen sie gemeinsame Teiler hat.
Das Ergebnis:
Mithin: wenn ihr Zikaden seid, verabredet euch besser nicht alle sechs,
zwölf oder achtzehn Jahre. Die vier Jahre der Maikäfer hingegen sind
nicht so viel schlechter als drei oder fünf Jahre wie mir mein Instinkt
suggeriert hat.
Ob die Verteilung von Zyklen von Massenvermehrungen wohl irgendeine
Ähnlichkeit mit dieser Grafik hat? Das hat bestimmt schon mal wer
geprüft – wenn es so wäre, wäre zumindest die These vom reinen Zufall in
Schwierigkeiten.
Den Kern des Programms, das das ausrechnet, finde ich ganz hübsch:
def get_divisors(n):
return {d for d in range(2, n//2+1) if not n%d} | {n}
def get_n_resonances(max_period):
candidates = list(range(2, max_period+1))
divisors = dict((n, get_divisors(n)) for n in candidates)
return candidates, [
sum(1 for others in divisors.values()
if divisors[period] & others)
for period in candidates]
get_divisors ist dabei eine set comprehension, eine relativ neue
Einrichtung von Python entlang der altbekannten list comprehension:
„Berechne die Menge aller Zahlen zwischen 2 und N/2, die N ohne Rest
teilen – und vereinige das dann mit der Menge, in der nur N ist, denn
N teilt N trivial. Die eins als Teiler lasse ich hier raus, denn
die steht ohnehin in jeder solchen Menge, weshalb sie die Balken in der
Grafik oben nur um jeweils eins nach oben drücken würde – und sie würde,
weit schlimmer, die elegante Bedingung divisors[period] & others
weiter unten kaputt machen. Wie es ist, gefällt mir sehr gut, wie
direkt sich die mathematische Formulierung hier in Code abbildet.
Die zweite Funktion, get_n_resonances (vielleicht nicht der beste
Name; sich hier einen besseren auszudenken wäre auch eine wertvolle
Übungsaufgabe) berechnet zunächt eine Abbildung (divisors) der
Zahlen von 2 bis N (candidates) zu den Mengen der Teiler, und dann
für jeden Kandidaten die Zahl dieser Mengen, die gemeinsame Elemente mit
der eigenen Teilermenge haben. Das macht eine vielleicht etwas dicht
geratene generator expression. Generator expressions funktionieren auch
wie list comprehensions, nur, dass nicht wirklich eine Liste erzeugt
wird, sondern ein Iterator. Hier spuckt der Iterator Einsen aus, wenn
die berechneten Teilermengen (divisors.values()) gemeinsame Elemente
haben mit den Teilern der gerade betrachteten Menge
(divisors[period]). Die Summe dieser Einsen ist gerade die gesuchte
Zahl der Zahlen mit gemeinsamen Teilern.
Das Ergebnis ist übrigens ökologisch bemerkenswert, weil kleine
Primzahlen (3, 5 und 7) „schlechter“ sind als größere (11, 13 und 17).
Das liegt daran, dass bei einem, sagen wir, dreijährigen Zyklus dann
eben doch Resonanzen auftauchen, nämlich mit Fressfeindzyklen, die
Vielfache von drei sind. Dass 11 hier so gut aussieht, folgt natürlich
nur aus meiner Wahl von 20 Jahren als längsten vertretbaren Zyklus. Ganz
künstlich ist diese Wahl allerdings nicht, denn ich würde erwarten, dass
allzu lange Zyklen evolutionär auch wieder ungünstig sind, einerseits,
weil dann Anpassungen auf sich ändernde Umweltbedingungen zu
langsam stattfinden, andererseits, weil so lange Entwicklungszeiten rein
biologisch schwierig zu realisieren sein könnten.
Für richtig langlebige Organismen – Bäume zum Beispiel – könnte diese
Überlegung durchaus anders ausgehen. Und das mag eine Spur sein
im Hinblick auf die längeren Zyklen im Maikäfer-Artikel der
Wikipedia:
Diesem Zyklus ist ein über 30- bis 45-jähriger Rhythmus überlagert.
Die Gründe hierfür sind nicht im Detail bekannt.
Nur: 30 und 45 sehen aus der Resonanz-Betrachtung jetzt so richtig
schlecht aus…
Via Forschung aktuell vom 5. Mai (ab 18:35) bin ich über ein
weiteres Beispiel für vielleicht nicht mehr ganz vertretbare, aber
leider doch sehr spannende Experimente an Tieren gestolpert: Eran
Amichai und Yossi Yovel von der Uni Tel Aviv und dem Dartmouth
College haben festgestellt, dass (jedenfalls) Weißrandfledermäuse eine
angeborene Vorstellung von der Schallgeschwindigkeit haben
(„Echolocating bats rely on innate speed-of-sound reference“,
https://doi.org/10.1073/pnas.2024352118; ich glaube, den Volltext gibts
außerhalb von Uninetzen nur über scihub).
Die beeindruckendsten Fledertiere, die ich je gesehen habe: Große
Flughunde, die abends in großen Mengen am Abendhimmel von Pune ihre Runden
drehen. Im Hinblick auf die Verwendung dieses Fotos bei diesem
Artikel etwas blöd: Diese Tiere machen gar keine Echoortung.
Das ist zunächst mal überraschend, weil die Schallgeschwindigkeit in
Gasen und Flüssigkeiten von deren Dichte abhängig ist und sie damit für
Fledermäuse je nach Habitat, Wetter und Höhe schwankt. Für ideale Gase
lässt sie sich sogar recht leicht ableiten, und das Ergebnis ist: c =
(κ p/ρ)½, wo c die Schallgeschwindigkeit, p der Druck und
ρ die Dichte ist. Den Adiabatenexponent κ erklärt bei Bedarf die
Wikipedia, er ändert sich jedenfalls nur, wenn die Chemie des Gases
sich ändert. Luft ist, wenn ihr nicht gerade in Hochdruckkammern steht
(und da würdet ihr nicht lange stehen), ideal genug, und so ist die
Schallgeschwindigkeit bei konstantem Luftdruck in unserer Realität in
guter Näherung umgekehrt proportional zur Wurzel der Dichte der Luft.
Nun hat Helium bei Normalbedingungen eine Dichte von rund 0.18 kg auf
den Kubikmeter, während Luft bei ungefähr 1.25 kg/m³ liegt (Faustregel:
1 m³ Wasser ist rund eine Tonne, 1 m³ Luft ist rund ein Kilo; das hat
die Natur ganz merkfreundlich eingerichtet). Der Adiabatenexponent für
Helium (das keine Moleküle bildet) ist zwar etwas anders als der von
Stickstoff und Sauerstoff, aber so genau geht es hier nicht, und deshalb
habe ich 1/math.sqrt(0.18/1.25) in mein Python getippt; das Ergebnis
ist 2.6: grob so viel schneller ist Schall in Helium als in Luft (wo es
rund 300 m/s oder 1000 km/h sind; wegen des anderen κ sind es in Helium
bei Normalbedingungen in Wahrheit 970 m/s).
Flattern in Heliox
Das hat für Fledermäuse eine ziemlich ärgerliche Konsequenz: Da sich die
Tiere ja vor allem durch Sonar orientieren und in Helium die Echos 3.2
mal schneller zurückkommen würden als in Luft, würden an Luft gewöhnte
Fledermäuse glauben, all die Wände, Wanzen und Libellen wären 3.2-mal
näher als sie wirklich sind. Immerhin ist das die sichere Richtung,
denn in einer Schwefelhexaflourid-Atmosphäre (um mal ein Gas mit einer
sehr hohen Dichte zu nehmen, ρ = 6.6 kg/m³) ist die
Schallgeschwindigkeit nur 44% von der in Luft (wieder ignorierend, dass
das Zeug einen noch anderen Adiabatenexponenten hat als He,
O2 oder N2), und die Tiere würden sich noch zwanzig
Zentimeter von der Wand weg wähnen, wenn sie in Wirklichkeit schon mit
den Flügeln an sie anschlagen könnten – die Weißrandfledermäuse, mit
denen die Leute hier experimentiert haben, haben eine Flügelspannweite
von rund 20 Zentimetern (bei 10 Gramm Gewicht!). Wer mal Fledermäuse hat
fliegen sehen, ahnt, dass das wohl nicht gut ausgehen würde.
Aber das ist natürlich Unsinn: In Schwefelhexaflourid ist die Trägheit
des Mediums erheblich größer, und das wird die Strömungseigenschaften
und damit den dynamischen Auftrieb der Fledermausflügel drastisch
ändern[1]. Was auch umgekehrt ein Problem ist, denn in einer
Helium-Atmosphäre mit der um fast einen Faktor 10 geringeren
spezifischen Trägheit funktionieren die Fledermausflügel auch nicht
ordentlich. Ganz zu schweigen davon natürlich, dass die Tiere darin
mangels Sauerstoff ersticken würden.
Deshalb haben Amichal und Co mit Luft-Helium-Mischungen („Heliox“)
experimentiert. Dabei haben sie die Schallgeschwindigkeit in einigen
Experimenten um 27% erhöht, in der Regel aber nur um 15%[2].
Dass die beiden zwei Helioxmischungen am Start hatten, wird wohl
einerseits daran liegen, dass die 15% allenfalls knapp über der
natürlichen Schwankungsbreite der Schallgeschwindigket durch Temperatur,
Luftdruck und Luftfeuchtigkeit (die gehen ja auch alle auf die Dichte)
liegen. Mit 27% aber hatten die Fledermäuse doch zu große Probleme mit
dem Fliegen, und das wäre keine Umwelt, in der kleine Fledermäuse
aufwachsen sollten.
Im Artikel schreiben die Leute dazu etwas hartherzig:
“Category I” [von Fehlflügen] included flights in which the bat
clearly did not adjust motor responses to the lessened lift and landed
on the floor less than 50 cm from takeoff.
– was eine recht zurückhaltende Umschreibung von „Absturz“ ist. Einige
Tiere hatten davon schnell die Nase voll:
Treatments [nennt mich pingelig, aber die Bezeichnung der
Experimente als „Behandlung“ ist für mich schon auch irgendwo am
Euphemismus-Spektrum] were completed in one session with several
exceptions: two individuals refused to fly at 27% SOS after 2 d, and
those treatments were therefore done in two sessions each, separated
by 1 d in normal air.
Unter diesen Umständen liegt auf der Hand, dass „Köder gefangen und
gefressen“ kein gutes Kriterium ist dafür, ob sich die Fledermäuse auf
Änderungen der Schallgeschwindigkeit einstellen können – viel
wahrscheinlicher waren sie einfach mit ihren Flugkünsten am Ende.
Tschilpen und Fiepen
Es gibt aber einen Trick, um die Effekte von Wahrnehmung und
Fluggeschick zu trennen. Jagende Fledermäuse haben nämlich zwei Modi der
Echoortung: Auf der Suche und aus der Ferne orten sie mit relativ lang
auseinanderliegenden, längeren Pulsen, also etwa Tschilp – Tschilp –
Tschilp. In der unmittelbaren Umgebung der Beute (in diesem Fall so ab
40 cm wahrgenommener Entfernung) verringern sie den Abstand zwischen den
Pulsen, also etwa auf ein Fipfipfipfip. Auf diese Weise lässt sich
recht einfach nachvollziehen, welchen Abstand die Tiere selbst messen,
wobei „recht einfach“ hier ein Aufnahmegerät für Ultraschall
voraussetzt. Wenn sie in zu großer Entfernung mit dem Fipfipfip
anfangen, nehmen sie die falsche Schallgeschwindigkeit an.
Bei der Auswertung von Beuteflügen mit und ohne Helium stellt sich, für
mich sehr glaubhaft, heraus, dass Fledermäuse auch nach längerem
Aufenhalt in Heliox immer noch unter Annahme der Schallgeschwindigkeit
in (reiner) Luft messen: Diese muss ihnen also entweder angeboren sein,
oder sie haben sie in ihrer Kindheit fürs Leben gelernt.
Das Hauptthema der Arbeit ist die Entscheidung zwischen diesen
beiden Thesen – nature or nurture, wenn mensch so will. Deshalb haben
Amichal und Co 24 Fledermausfrauen aus der Wildnis gefangen, von
denen 16 schwanger waren und die schließlich 18 Kinder zur Welt gebracht
haben. Mütter und Kinder mussten für ein paar Wochen im Labor leben, wo
sie per Kunstlicht auf einen für die Wissenschaftler_innen bequemen
Tagesrhythmus gebracht wurden: 16 Stunden Tag, 8 Stunden Nacht, wobei
die Nacht, also die Aktivitätszeit der Tiere, zwischen 10 und 17 Uhr
lag. Offenbar haben BiologInnen nicht nennenswert andere Bürozeiten als
AstronomInnen.
Mit allerlei Mikrofonen wurde überprüft, dass die Tiere während ihres
Tages auch brav schliefen; auf die Weise musste die Heliox-Mischung
nur während der Arbeitszeit aufrechterhalten werden, während die Käfige
in der Nacht lüften konnten, ohne dass die Heliox-Fledermäuse sich
wieder an richtige Luft hätten gewöhnen können.
Jeweils acht Fledermausbabys wuchsen in normaler Luft bzw. Heliox-15
auf, den doch recht argen Heliox-27-Bedingungen wurden sie nur für
spätere Einzelexperimente ausgesetzt. Dabei hat sich gezeigt, dass die
Kinder unabhängig von ihrer Kindheitsatmosphäre in gleicher Weise orten:
Der Umschlag von Tschilp-Tschip nach Fipfip passierte jeweils bei
gleichen Schall-Laufzeiten unabhängig von der wirklichen Distanz.
Warum tun sie das?
Diese Befunde sind (aus meiner Sicht leider) nur recht schwer
wegzudiskutieren, das wirkt alles recht wasserdicht gemacht. Was die
Frage aufwirft, warum die Tiere so hinevolutioniert sind. Amichal und
Yovel spekulieren, ein Einlernen der Schallgeschwindigkeit habe sich
deshalb nicht herausgebildet, weil Weißrandfledermäuse in der Wildnis
sehr schnell erwachsen werden und selbst jagen müssen, weshalb es nicht
genug Zeit zum Üben und Lernen gebe.
Das wäre wohl testbar: Ich rate jetzt mal, dass größere (oder andere)
Fledermäuse längere Kindheiten haben. Vielleicht lernen ja die das?
Oder vielleicht hängt die festverdrahtete Physik auch daran, dass
Weißrandfledermäuse eigentlich durchweg mit ziemlich konstanter
Schallgeschwindigkeit leben? Dann müsste das etwa bei mexikanischen
Bulldoggfledermäusen (die aus dem Bacardi-Logo) anders sein, für die
der Artikel Flughöhen von 3 km zitiert.
Auch wenn die Sache mit dem Einsperren und Abstürzenlassen von
Fledermäusen schon ein wenig gruselig ist: die Wortschöpfungen
„Luftwelpen“ und „Helioxwelpen“ haben mich beim Lesen schon angerührt –
wobei „Welpe“ für das Original „pup“ eingestandermaßen meine
Übersetzung ist. Gibt es eigentlich einen deutsches Spezialausdruck für
„Mauskind“?
Abschließend doch noch ein Schwachpunkt: In der Studie habe ich nichts
zum Einfluss des Mediums auf die Tonhöhe der Rufe gelesen[3]. Den
muss es aber geben – die Demo von PhysiklehrerInnen, die Helium einatmen
und dann mit Micky Maus-Stimme reden, hat wohl jedeR durchmachen
müssen. Die Schallgeschwindigkeit ist ja einfach das Produkt von
Frequenz und Wellenlänge, c = λ ν, und da λ hier durch die Länge der
Stimmbänder (bei entsprechender Anspannung des Kehlkopfs) festliegen
sollte, müsste die Frequenz der Töne in 27%-Heliox eben um einen Faktor
1.27, also ungefähr 5/4, niediger liegen. In der Musik ist das die große
Terz, etwa das Lalülala einer deutschen Polizeisirene. Und jetzt frage
mich mich natürlich, ob das die Fledermäuse nicht merken …