Hirsche im Zoo

Foto: Hirsch, im Hintergrund radelnde PassantInnen

Nicht weit vom Edersee – praktisch schon im Kellerwald-Nationalpark – laufen Hirsche auch mal bei Tageslicht über herbstliche Felder und bezaubern radelnde TouristInnen. Aber: was machen sie im Zoo?

„Bikeshedding“ bezeichnet das in vielen Entscheidungsgremien zu beobachtende Phänomen, dass große und tiefgreifende Entscheidungen ohne große Kontroverse durchgewunken, Nebensächlichkeiten[1] jedoch in großer Breite diskutiert werden.

Als ich heute morgen die DLF-Sendung Wissenschaft im Brennpunkt vom 15.5. hörte, hatte ich eine Art intellektuelles Bikeshedding. In der Sendung geht es um höchst raffinierte Verfahren der Metagenomik, bei der durch Sequenzierung von DNS in mehr oder minder blind aus der Natur entnommenen Proben tiefe Einsichten in Ökologie und Biologie gewonnen werden. Dass sowas geht, dass dabei etwas rauskommt, und teils schon, was dabei rauskommt: Das ist alles sehr beeindruckend.

Doch mein Wow-Moment kam erst bei folgender Passage (bei ca. Minute 23; der Text auf der DLF-Seite ist leider nicht das Transskript der Sendung):

Elizabeth Clair [...] berichtete in einer Vorveröffentlichung von einer DNA-Analyse der Luft in einem englischen Zoo. [...] DNA von 25 Arten konnte das Team aufspüren, darunter 17 Zootierarten [...], einige davon bis zu 300 m von der Untersuchungsstelle entfernt. Außerdem ein paar Wildtiere wie Igel und Hirsch.

Ein wilder Hirsch? Im Zoo? Wie bitteschön soll das denn zugehen? Setzen die elegant über den Zaun des Zoos? Um den gefangenen Tieren vielleicht eine lange Nase zu drehen? Ich gebe zu, dass das verglichen mit den Wundern von Massensequenzierungen doch eher trivial wirkt. Aber ich wüsste wirklich gerne, was der Hirsch dort wollte.

Aufbauend auf dieser Erfahrung würde ich „behirschen“ als neues Verb vorschlagen, mit der Bedeutung „sich an einer (scheinbaren) Nebensächlichkeit in einer Forschungsarbeit aufhängen und damit deren AutorInnen auf die Nerven gehen“? Nur nebenbei: Ich vermute, wir behirschen in der modernen Wissenschaft fast alle deutlich zu wenig.

Nachtrag (2022-07-01)

Auf eine Nachfrage von @StephanMatthiesen hin hat mich die Sache doch nicht losgelassen, und ich musste mal nach dem Paper sehen, von dem im DLF-Zitat die Rede ist. Es scheint, als sei es bereits Anfang 2021 erschienen, und zwar als „Measuring biodiversity from DNA in the air“ von Elizabeth Clare et al, Current Biology (2021), doi:10.1016/j.cub.2021.11.064. Darin heißt es:

Of special interest was the detection of the European hedgehog (Erinaceus europaeus) in three samples [...] As of 2020, the hedgehog was listed as vulnerable to extinction in the United Kingdom (https://www.mammal.org.uk/science-research/red-list/), making it vital to develop additional methods to monitor and protect existing populations. [...] One commonly cited application of eDNA approaches is the detection of invasive species. We detected muntjac deer (Muntiacus reevesi) in five samples. These muntjacs are native to China but became locally invasive after multiple releases in England in the 19th century. They are now well established in eastern England, the location of the zoological park, and are frequently seen on site. They are also provided in food for several species; thus, the detection of muntjacs may reflect either food or wildlife.

(Hervorhebung von mir, um die Verbindung zu den Igeln und Hirschen aus der DLF-Sendung zu belegen). Mithin: Wir reden hier von keinem stattlichen Zwölfender, der majestitisch an den Gittern entlangschreitet. Wir reden von Muntjaks, die, so die Wikipedia, „zwischen 14 und 33 Kilogramm“ wiegen und offenbar nur mit Mühe die Größe von Damhirschen erreichen. Und obendrauf kann es gut sein, dass die DNS dadurch in die Luft kam, dass andere Tiere die Muntjaks vertilgt haben und dabei eher ruppig vorgegangen sind.

Selbst wenn die DNS nicht von Futter, sondern von einem Wildtier abgesondert worden wäre, wäre ihr Vorkommen kaum erstaunlich, wenn mensch die Lage des Tierparks bedenkt. Manchmal (aber selten) verlieren die Dinge doch ein wenig von ihrem Zauber, wenn mensch näher nachsieht.

[1]Der Begriff „Bikeshedding“ bezieht sich tatsächlich auf überdachte Fahrradstellplätze; dass gerade so eine zentrale und wichtige Einrichtung als Prototyp des Nebensächlichen herhalten muss, sagt natürlich schon einiges aus über unsere Gesellschaft und den weiten Weg, den wir bis zur Befreiung vom Auto noch vor uns haben.

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