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  • Warum CRISPR im Elfenbeinturm bleiben sollte: Entholzte Pappeln

    Zur Frage technischer Lösungen sozialer Probleme – sagen wir: Klimawandel –, die mich neulich bewegt hat, ist mir gestern noch eine bemerkenswerte Ergänzung untergekommen, und zwar in den Deutschlandfunk-Wissenschaftsmeldungen vom 14.7. Darin hieß es:

    Mit Hilfe der Gen-Schere CRISPR sollen Bäume nachhaltiger werden.

    Ein Forschungsteam der North Carolina State University hat Gen-Scheren eingesetzt, um einen Baum mit möglichst idealen [!] Holzeigenschaften [!] zu entwickeln [!].

    Die Holzfasern der genomeditierten Pappeln sollen sich besonders gut für die Verarbeitung eignen, zum Beispiel in der Papierindustrie oder sogar für Windeln. Dabei entsteht möglichst ebenmäßiges Material mit einem geringen Anteil an Lignin, einem besonders harten holzigen Bestandteil von Bäumen. Laut der Publikation im Fachmagazin Science könnten durch den Einsatz der genmodifizierten Holzfasern die Emissionen in der Holzverarbeitung deutlich gesenkt werden.

    Ich finde, diese Meldung illustriert ganz gut, warum Hoffnungen auf „Innovationen“ zur Erreichung von mehr „Nachhaltigkeit“ so lange Illusionen sind, wie wir nicht von der Marktwirtschafts- und Wachstumslogik loskommen: Die „Nachhaltigkeit“ von der die Redaktion hier redet, besteht nur in einer weiteren Intensivierung unserer Dienstbarmachung der Natur, mithin also in weiteren Schritten auf dem Weg ins Blutbad (ich übertreibe vermutlich nicht).

    Und dabei habe ich noch nicht die Geschacksfrage erwogen, wie freundlich es eigentlich ist, irgendwelche Organismen so herzurichten, dass sie besser zu unseren industriellen Prozessen passen, Organismen zumal, die uns über Jahrhunderte unsere Wege beschattet und Tempolimits erzwungen haben:

    Eine Pappelallee mit breiter Auto- und akzeptabler Fahrradspur, im Vordergrund ein dickes Schild mit Geschwindigkeitsbegrenzung 70.

    Die Pappelallee auf dem Damm, der die Bodenseeinsel Reichenau mit dem Festland verbindet, im Juli 2019 bereits mit einem akzeptablen Fahrradweg.

    Statt also einfach viel weniger Papier zu produzieren und nachzudenken, wie wir von der ganzen unerfreulichen Einwegwindelei runterkommen, ohne dass das in zu viel Arbeit ausartet, machen wir lieber weiter wie bisher. Was kann schon schiefgehen, wenn wir riesige Plantagen ligninarmer Gummipappeln im Land verteilen, damit wir weiter Papier verschwenden und unsere Babys in Plastik verpacken können? Ich erwähne kurz: Bäume machen das Lignin (wörtlich übersetzt ja in etwa „Holzstoff“) ja nicht aus Spaß, sondern weil sie Struktur brauchen, um in die Höhe zu kommen.

    Die Schote liefert auch ein gutes Argument gegen die Normalisierung von CRISPR-modifizierten Organismen in der Agrarindustrie, die in diesen Kreisen immer weniger verschämt gefordert wird. Es mag ja gerne sein, dass ein ganzer Satz Risiken wegfällt, wenn mensch nicht mehr wie bei der „alten“ Gentechnik dringend Antibiotika-Resistenzgene zur zielgerichteten DNA-Manipulation braucht. Das fundamentale Problem aber bleibt: CRISPR gibt Bayer und Co längere Hebel, und die setzen die natürlich nicht ein, um die Welternährung zu retten – das ist ohnehin Quatsch, weil diese eine Frage von Verteilung, „Biosprit“ und vielleicht noch unserem Fleischkonsum ist und Technologie in allen diesen Punkten überhaupt nicht hilft. Sowieso nicht werden sie Pflanzen herstellen, die die BäuerInnen im globalen Süden besser durch Trockenzeiten bringen werden, Pflanzen gar, die diese selbst nachziehen und weiterentwickeln können („aber… aber… denkt doch an das geistige Eigentum!“).

    Nein. Sie werden den langen Hebel nutzen für Quatsch wie Pappeln, schneller einfacher zu gewinnendes Papier liefern – und das ist noch ein guter Fall im Vergleich zu Round up-Ready-Pflanzen (die höhere Glyphosat-Dosen aushalten) oder Arctic Apples (deren einziger Zweck zu sein scheint, dass Supermärkte ein paar mehr arme Schweine zum Apfelschnippeln hernehmen können, um nachher lecker-weiß leuchtende Apfelschnitzen teurer verkaufen zu können).

    Wie der industrielle Einsatz von CRISPR zu beurteilen wäre, wenn die dadurch verfolgten Zwecke ökologisch oder wenigstens sozial akzeptabel wären, kann dabei dahingestellt bleiben. Solange die Technologieentwicklung im Allgemeinen durch Erwägungen von „Märkten“ getrieben wird, ist es für uns alle besser, wenn allzu mächtige Technologien scharf reguliert sind. Und das gilt schon drei mal für Kram mit einem so langen Hebel wie CRISPR.

    Schließlich: Wenn ihr in die Meldungen reinhört, lasst sie doch noch laufen bis zu diesem genderpolitischen Offenbarungseid:

    Laut der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA ist fast die Hälfte aller Schwangerschaften in den USA ungewollt.

    Das passiert, wenn du ChristInnen deine Lehrpläne gestalten lässt – und es ist weiterer Hinweis darauf, dass reproduktive Selbstbestimmung ein zentraler Baustein einer menschenwürdigen Gegenwart und Zukunft ist.

  • Newszone-Urteil: Keine Rauschmedien-Prävention, nirgends

    Foto eines Münchner Zeitungsständers mit Schlagzeile: „Schnösel-Mob greift Polizei-Wache an!“

    München, im Juli 2019: Die freie Presse™ kommt ihrem Informationsauftrag nach.

    Manchmal entscheiden Gerichte zwar nachvollziehbar, aber aus jedenfalls ethisch oder praktisch ganz falschen Gründen. Heute zum Beispiel hat das Landgericht Stuttgart dem SWR untersagt, Newszone zu betreiben (der SWR selbst dazu).

    Das Urteil kann ich vom Ergebnis her nachvollziehen, denn, soweit ich das nach einer schnellen Inspektion der Newszone-Webseite beurteilen kann, ist das eine öffentliche Subvention für die privaten Infrastrukturen von Apple und Google. Mit anderen Worten: öffentlich finanzierte Inhalte sind bei Newszone für die Öffentlichkeit nur zugänglich, wenn sie sich überwachungskapitalistischen Praktiken unterwirft. Obendrauf geschieht das weitgehend ohne Not, da die App sehr wahrscheinlich nichts kann, das nicht auch im Browser oder auf einem Desktop-Client funktionieren würde.

    Ein möglicher guter Grund

    Demgegenüber hätte ein wohlfunktionierendes Gemeinweisen ein einklagbares Recht auf Zugang zu öffentlichen Daten und Diensten über offene, gemeinschaftskontrollierte Standards. Dieses Recht gibt es leider nicht. Und so konnte, jaja, das Gericht diese Urteilsbegründung auch nicht nutzen.

    Ich hätte gerade noch Verständnis gehabt für ein Urteil, das sagt, ein Angebot, das (ausweislich der Teaser, die gerade auf der offen zugänglichen Webseite stehen) zur Hälfte besteht aus Meldungen wie:

    • Kevin Spacey: Freigesprochen vom Vorwurf der sexuellen Belästigung
    • Messerangriff: Mann verletzt 16-Jährige und ihre Mutter
    • Corona-Nachwirkungen: Darunter leidet Elevator-Boy Jacob
    • So geht es mit Silent Hill weiter
    • DAS darf Fat Comedy jetzt nicht mehr machen
    • Hat Sascha Koslowski eine neue Freundin?
    • Verfolgungsjagd und Unfälle: Trennung endet bei der Polizei!
    • Aus Kader geflogen: Das sagt Ronaldo jetzt!
    • Fall gelöst: Polizei weiß jetzt, wer diese Frau ist!

    vielleicht nicht in öffentlichem Interesse ist und mithin auch nicht aus öffentlichem Geld zu finanzieren ist. Allerdings hätte ich das für eine gefährliche Argumentation gehalten, so sehr es mich auch reut, wenn meine GEZ-Beiträge in Volksmusikshows und Bundesliga fließen statt in Deutschland- oder Zündfunk und Sendung mit der Maus. Solange mir aber die Bundesliga-Leute nicht mein Forschung aktuell nehmen wollen, ist ein gewisses Maß an Boulevard wahrscheinlich nicht zuletzt taktisch gut, denn werden diese Inhalte noch kommerzieller aufbereitet, sind sie sicher sozial wie individuell deutlich schädlicher.

    Gericht: Presse ist Clickbait

    Das war aber ohnehin auch nicht die Argumentation des Gerichts. Das Landgericht Stuttgart hat die App untersagt, weil sie zu presseähnlich sei. Zunächst würde ich, wäre ich der Kläger – ein Verband kommerzieller Medienunternehmen aus Baden-Württemberg – diese Urteilsbegründung als Beleidigung auffassen. Wenn nämlich die Sammlung von grenzdebilem Clickbait, die mir Newszone größtenteils zu sein scheint, presseähnlich sein sollte, müsste ich mich aufhängen, wenn ich die Sorte von Presse sein wollte, von der Thomas Jefferson mal gesagt hat:

    Unsere Freiheit kann nicht erhalten werden ohne die Pressefreiheit. Und diese kann nicht beschränkt werden, ohne dass ihr Verlust droht.

    Das Dramatische an dem Urteil ist jedoch, dass es die ständige Rechtsprechung vertieft, nach dem der Staat das Geschäftsmodell kommerzieller Medien irgendwie zu schützen und deshalb eine künstliche Verknappung redaktioneller Inhalte zu verordnen hat. Nicht nur als täglicher Konsument der DLF-Presseschau bestreite ich das. Klar: Für eine sinnvolle Meinungsbildung sind freie Medien, ganz wie Jefferson sagte, zweifellos unverzichtbar.

    Es gibt keine Freiheit im Unternehmen

    Doch sind kommerzielle Medien jedenfalls unter Bedingungen des faktischen Arbeitszwangs nicht frei, denn ihre AutorInnen schreiben immer unter der latenten oder (weit häufiger, da sie ja normalerweise keine ordentlichen Arbeitsverträge mehr haben) offenen Drohung, bei unbotmäßigen Äußerungen ihre Existenzgrundlage zu verlieren. Entsprechend sind sich zumindest die Kommentarspalten in aller Regel erschreckend einig, wenn es um Klasseninteressen[1] geht, seien sie nun Hartz IV oder die Privatisierungspolitik.

    Nun operieren auch öffentlich-rechtliche Medien unter Bedingungen des Arbeitszwangs, und inzwischen ist auch dort die breite Mehrheit der AutorInnen prekär (feste Freie) bis ultraprekär (Freie) beschäftigt, was ihre Freiheit gerade angesichts selbstherrlicher IntendantInnen logischerweise auch stark einschränkt. Aber ohne den Druck der privaten Medien ließe sich da wieder viel mehr Tarifbindung – und damit Freiheit – durchsetzen, und immerhin hat Selbstherrlichkeit weniger einseitige Wirkungen als Klasseninteresse.

    Nach dieser Überlegung besteht selbstverständlich ein großes gesellschaftliches Interesse an möglichst breiten Angeboten und breit zugänglichen von öffentlich-rechtlichen oder noch besser gänzlich ohne Bedrohung der Existenz der AutorInnen produzierten Medien. Mit Bildzeitung und Big Brother hat das aber nichts zu tun. Im Gegenteil liegt die Schädlichkeit dieser Sorte kommerzieller Medien auf der Hand.

    Rauschmediensteuer?

    Nun sollen mündige BürgerInnen natürlich Cannabis, Tabak oder Alkohol erwerben und konsumieren und mithin zumindest in Maßen auch produzieren dürfen. Ich argumentiere also ganz entschieden nicht für ein Verbot kommerzieller Medien, und seien sie auch so offensichtlich auf Rausch und Abhängigkeit optimiert wie Springerpresse, Bertelsmann-Fernsehen oder die Angebote von Meta. Wobei… die aktuellen Ereignisse im UK, die es gewiss ohne die Dauerhetze der Murdoch-Medien[2] so nicht gäbe, könnten durchaus Argumente liefern. Aber wie dem auch sei: Es gibt wegen ihrer mangelnden Bedeutung für Medien- und Informationsfreiheit gewiss kein öffentliches Interesse an der Erhaltung der Geschäftsmodelle privater Medien.

    Wenn es nun umgekehrt schon keine – aus meiner Sicht naheliegende – Rauschmediensteuer gibt in Analogie zur Branntweinsteuer (oder was immer inzwischen aus ihr geworden ist), so sollten Staat und Gerichte jedenfalls nicht ungiftigere Medien daran hindern, NutzerInnen von kommerziellen Medien tendenziell zu entwöhnen.

    Deshalb: Das LG Stuttgart hat aus den falschen Gründen nachvollziehbar entschieden. Es ist nun Job der Gesellschaft, diese falschen Gründe wegzukriegen.

    [1]Wer bei diesem Wort zuckt: Tja. Mit ordentlich freien Medien würde es allenfalls ein mildes Achselzucken auslösen. Klasseninteressen existieren so unbestreitbar wie der Klimawandel, und bis auf Weiteres bestimmen sie das politische Leben noch deutlich stärker. Immerhin das dürfte sich aber in den nächsten paar Jahrzehnten ändern…
    [2]So gesehen sollten wir Axel Springer dankbar für sein Erbe sein, das uns zumindest Murdochs Produkte vom Hals gehalten hat.
  • Und nochmal Postwachstum: Von Friedrichstadt zu Isnogud

    Als ich vor gut einem Monat Friedrichstadt als Modell für eine gemütliche und hübsche Postwachstumsgesellschaft gelobt habe, habe ich auf eine wirklich augenfällige Besonderheit des Ortes nicht hingewiesen: Vor fast allen Häusern wachsen auf kleinstem Raum sorgfältig gepflegte Blumen, zumeist Rosen. Hier drei keineswegs untypische Beispiele:

    Montage aus drei spektakulären Szenen mit Blumen vor Haustüren

    Nun glaube ich nicht, dass der Mensch zum Wettbewerb geboren ist – dass es spätestens auf Schulhöfen so aussehen mag, lässt sich zwanglos als Herausforderung im Prozess der Zivilisation auffassen. Solange aber die soziale Praxis ist, wie sie ist, finde ich die Friedrichstädter Ableitung von Wettbewerbstrieb in eine dekorative und weitgehend unschädliche Richtung eine großartige Strategie zur, hust, Nachhaltigkeit (Übersetzung aus dem Blablaesischen: Das können sie auch noch 1000 Jahre so treiben, ohne dass es ihnen um die Ohren fliegt).

    Wenn die Menschen hingegen darum wettbewerben, wer das größere Auto hat oder, noch viel schlimmer, wessen Unternehmen mehr produziert, hat das ganz offensichtlich dramatische Konsequenzen; in einer Art individualpsychologischer Kapitalismusanalyse würde es sogar taugen, die ganze Wachstumskatastrophe zu erklären.

    Allerdings machen manche der Friedrichstädter Blumen durchaus den Eindruck, als hätten sie Dünger auf Mineralölbasis bekommen oder auch fiese Pestizide, so dass bei so einem Herumdoktorn an Symptomen des Wettbewerbswahnsinns jedenfalls Vorsicht nötig ist. Sobald die Leute nämlich in ihrer Wettbewerberei immer größere Flächen düngen oder begiften können, ist es schon wieder vorbei mit der, hust, Nachhaltigkeit. Ich denke, das ist meine Chance, das neueste der wunderbaren Worte, die wir der Nuklearlobby zu verdanken haben, in meinen aktiven Wortschatz aufzunehmen:

    Wir sollten Rosenzucht wie in Friedrichstadt als Streckbetrieb der Wettbewerbsgesellschaft denken.

    —Anselm Flügel (2022)

    Die Friedrichstadt-Thematik ist aber eigentlich nur Vorgeplänkel, denn wirklich verweisen wollte ich auf den Artikel „Bevölkerungswachstum – Wie viele werden wir noch?“ von David Adam im Spektrum der Wissenschaft 2/2022 (S. 26; Original in Nature 597 (2021), S. 462), der mir vorhin in die Hände gefallen ist.

    Diesen Artikel fand ich schon deshalb bemerkenswert, weil er recht klar benennt, dass ein Ende des Wachstums (in diesem Fall der Bevölkerung) wünschenswert und zudem auch fast unvemeidlich ist, sobald Frauen über ihre Fortpflanzung hinreichend frei entscheiden können und sich Religion oder Patriotismus oder Rassismus nicht zu stark verdichten. Vor allem aber wird dort eine große Herausforderung für fortschrittliche Menschen angekündigt:

    In 23 Ländern könnte sich die Bevölkerung laut dieser Vorhersage bis Ende des Jahrhunderts sogar halbiert haben, unter anderem in Japan, Thailand, Italien und Spanien.

    Ich bin überzeugt, dass sich die wenigsten MachthaberInnen mit so einer Entwicklung abfinden werden, so willkommen sie gerade in diesen dicht besiedelten Staaten (gut: Spanien und Thailand spielen mit um die 100 Ew/km² schon in einer harmloseren Liga als Japan oder Baden-Württemberg mit um die 300) auch sind. Menschen mit Vernunft und ohne Patriotismus werden dann sehr aufdringlich argumentieren müssen, dass Bevölkerungsdichten von 50 oder auch nur 10 Menschen auf dem Quadratkilometer das genaue Gegenteil vom Ende der Welt sind und jedenfalls für ein paar Halbierungszeiten überhaupt kein Anlass besteht, darüber nachzudenken, wie Frauen, die keine Lust haben auf Schwangerschaft und Kinderbetreuung, umgestimmt werden könnten.

    Wie würde ich argumentieren? Nun, zunächst mal in etwa so:

    Die kulturelle Blüte unter Hārūn ar-Raschīd (um mal eine recht beeindruckende Hochkultur zu nennen; siehe auch: Isnogud) fand in einer Welt mit höchstens 300 Millionen Menschen statt, also rund einem sechzehntel oder 2 − 4 der aktuellen Bevölkerung. Angesichts der damaligen Gelehrsamkeit dürfte als sicher gelten, dass mit so relativ wenigen Menschen immer noch eine interessante (technische) Ziviliation zu betreiben ist. Demnach haben wir mindestens vier Halbierungszeiten Zeit, ohne dass unsere Fähigkeit, in der Breite angenehm zu leben, aus demographischen Gründen in Frage steht.

    Wenn unsere modernen Gesellschaften von Natur aus um 1% im Jahr schrumpfen würden, wäre eine Halbierungszeit etwa 75 Jahre, und die vier Halbierungszeiten würden zu 300 Jahren, in denen wir uns wirklich in aller Ruhe überlegen könnten, wie wir unsere Reproduktion so organisieren, dass Frauen im Schnitt auch wirklich die 2.1 Kinder bekommen wollen, die es für eine stabile Bevölkerungszahl bräuchte (oder wie wir die Bevölkerungszahl anders stabilisiert kriegen; soweit es mich betrifft, ist ja auch die ganze Sterberei deutlich überbewertet).

    Allerdings ist das wahrscheinlich ohnehin alles müßig. Zu den bedrückendsten Papern der letzten 20 Jahre gehört für mich A comparison of The Limits to Growth with 30 years of reality von Graham Turner, erschienen in (leider Elsevier) Global Environmental Change 18 (2008), 397 (doi:10.1016/j.gloenvcha.2008.05.001; bei libgen). Darin findet sich folgende Abbildung:

    Vergleich verschiedener Modelle mit der Realität in einem Plot, ein Modell, das in den 2030er Jahren kippt, passt am besten

    Copyright 2008 Elsevier (Seufz! Das Mindeste wäre ja, dass die Rechte bei denen liegen, die die Forschung bezahlt haben, in diesem Fall also der CSIRO)

    Was ist da zu sehen? Die Kuven in grün und rot geben jeweils die Umweltverschmutzungs-Metrik der Modelle, die Dennis Meadows et al um die 1970 herum gerechnet haben und die zur Publikation der Grenzen des Wachstums geführt haben. Rot ist dabei das Modell, in dem es glaubhafte technische Bemühungen um Umweltschutz gibt, ansonsten aber weiter Wachstumskurs herrscht. Die grüne Kurve zeigt das Modell, in dem Leute allenfalls so tun als ob.

    Dass mit „Grünem Wachtum“ (in einem Wort: Elektroautos) die totale Umweltverschmutzung einen viel höheren Peak nimmt (wenn auch später), ist schon mal eine Einsicht, an die sich nicht mehr viele erinnern wollen; Meadows et al teilen jedenfalls meine Einschätzung, dass es keine technische Lösung für das Problem der Endlichkeit des Planeten gibt. Wer sowas dennoch versucht, sollte wissen, worum es geht: Die Umweltverschmutzung geht in den Modellen nach den Gipfeln zurück, weil die Umweltverschmutzenden (a.k.a. die Menschen) in großer Zahl (zu mehr als 2/3) verhungert, an Seuchen oder sonst irgendwie vor ihrer Zeit gestorben sind.

    So viel war schon vor Turners schlimmem Paper klar. Turners Beitrag war nun, reale Messgrößen auf Meadows' Metriken abzubilden – darüber ließe sich, wie immer bei Metriken, sehr trefflich streiten. Akzeptiert mensch diese Abbildung jedoch, ist die reale Entwicklung durch die schwarzen Punkte knapp unter der grünen Kurve repräsentiert. Das würde heißen: für die 30 Jahre zwischen 1970 und 2000 kommt eines von Meadows Modellen ziemlich genau hin: Das Modell, das in den 2030er Jahren kippt.

    Und nochmal: „Kippen“ ist hier ein terminus technicus dafür, dass etwas wie zwei von drei Menschen innerhalb von grob einem Jahrzehnt sterben.

    Wenn sich Meadows und Turner nicht ordentlich verrechnet haben – und ja, ich hätte an beiden Arbeiten reichlich zu meckern, nur wohl leider nicht genug, um die grundsätzlichen Ergebnisse ernsthaft zu bestreiten –, wird in gut zehn Jahren die Frage eines düsteren 80er Jahre-Graffitos in einer Erlanger Unterführung brandaktuell:

    Who will survive? And what will be left of them?

    Ungefähr hier

  • Vorbildliches Friedrichstadt

    Schwarzweißbild auf Tafel vor realen Häusern.

    In Friedrichstadt zeigen Tafeln gerne Fotos von um die 1900, die oft genug bis in Details wie Fenstersprossen dem aktuellen Zustand entsprechen. Dieser Post ist ein vorsichtiger Lobpreis einer solchen Praxis.

    Ich bin gerade im nordfriesischen Friedrichstadt, einem Städtchen nahe der Nordseeküste, das viele TouristInnen anzieht, vor allem wenn, wie jetzt gerade, das Wetter am Strand längere Aufenthalte dort eher unattraktiv macht. Diesen BesucherInnen wird Friedrichstadt gerne als „Stadt der Toleranz“ präsentiert. Angesichts einer jahrhundertelangen Präsenz pazifistischer und damit relativ sympathischer protestantischer Sekten wie der Mennoniten und Quäker ist das wahrscheinlich auch eine recht brauchbare Zuschreibung – gerade diese hatten mit weniger toleranten Obrigkeiten meist erhebliche Probleme.

    Ich allerdings finde das Nest aus anderen Gründen bemerkenswert, und das nicht nur, weil die Toleranz Grenzen hatte, die zumindest halbwegs aufgeklärten Menschen völlig albern erscheinen: Die Unitarier mussten zum Beispiel wieder gehen, was um so erschütternder ist, als sich diese von der christlichen Rechtgläubigkeit vor allem in der Zurückweisung des wahrscheinlich durchgeknalltesten aller Dogmen unterscheiden, nämlich der Trinität.

    Wir müssen uns Gott als Tafellappen vorstellen

    Ich kann nicht widerstehen: Als ich in der Grundschule war, erzählte uns der Dorfpfarrer original, mensch müsse sich die dreifaltige Gottheit vorstellen wie einen Tafellappen. Er nahm daraufhin so einen und faltete ihn an fünf Stellen so, dass vorne drei Falten rausguckten. Ein Tafellappen, drei Falten. Wer andere aus seiner Stadt wirft, weil sie so einen offensichtlichen Polit-Kompromiss[1] nicht glauben wollen, verdient einen Toleranzpreis vielleicht doch nur eingeschränkt.

    Nein, wirklich vorbildlich an Friedrichstadt ist die, trärä, Na… Na… na ja. Ich muss es ja doch irgendwann mal sagen: Nachhaltigkeit. Das Wort ist zwar inzwischen zu Heizmaterial für Dampfplauderer verkommen, aber an sich liegt es ja schon nahe, so leben zu wollen, dass das auch noch ein paar Jahrhunderte weitergehen kann. Die wichtigste Zutat dabei ist: Nicht (prozentual, also exponentiell) wachsen. Was um x% im Jahr wächst, verdoppelt sich nach ungefähr 75/x Jahren (oder so), und zehn Verdopplungszeiten entsprechen einer Vertausendfachung. Fast nichts auf dieser Welt kann sich vertausendfachen, ohne dass etwas gewaltig vor die Hunde geht.

    Friedrichstadt hat sich dem Wachstum in mancherlei Hinsicht beeindruckend entzogen. Herzog Friedrich III von Gottorf hat den Ort in den 1620er Jahren als künftiges Handelszentrum mit ein paar tausend EinwohnerInnen planen lassen. Derzeit, 401 Jahre Jahre nach der Gründung, leben so um die 2500 Menschen hier. Um die Größenordnungen zu betonen: Wer 400 Jahre Zeit hat, hat auch bei einer Verdoppelungszeit von 40 Jahren noch eine Vertausendfachung, und 40 Jahre Verdoppelungszeit entsprechend weniger als zwei Prozent Jahreswachstum.

    Fortzug in wirtschaftlich prosperierendere Gegenden

    Friedrichstadt aber wuchs zumindest in der Bevölkerung nicht. Die entsprechende Statistik aus der Wikipedia sieht als Spline-geglätteter (was das Loch nach dem ersten Weltkrieg überbetont) Plot so aus:

    Plot: Recht konstant bei 2500 verlaufende Linie mit einem jähen Anstieg in den 1940er Jahren und einem relativ steilen Rückgang danach.

    Der Berg in den 1940er und 1950er Jahren ist Folge des Zuzugs von Geflüchteten vor allem aus den von der Sowjetunion eroberten bzw. später kontrollierten Gebieten. Sein Abschmelzen führen die Wikipedia-AutorInnen auf den „Fortzug der Vertriebenen in wirtschaftlich prosperierendere Gegenden“ zurück.

    Auch wenn Bevölkerungsexport keine, hust, nachhaltige Strategie ist: Der Nettoeffekt ist eine konstante Bevölkerung, und bei recht maßvoller Entwicklung der Wohnfläche pro Mensch ist das auch im Stadtbild sichtbar, denn Friedrichstadt hat kaum Einfamilienhaus-Wüsten aus dem Auto-Zeitalter (auch wenn die Stadt, das Eingangsfoto zeigt es, der Automobilisierung nicht entgehen konnte).

    Doch auch wirtschaftlich hat sich nicht allzu viel getan: Eine Mühle, die Kölln-Flocken hergestellt hat (na gut, vielleicht auch anderen Kram für die Firma), ist 2001 wegen mangelnder Kapazität geschlossen worden – wo sie stand, ist heute ein Komplex von Spiel- und Bolzplätzen. Andere Industrie hat schon vorher aufgegeben.

    Und so lebt Friedrichstadt eben weitgehend von Tourismus. Es ist ja auch hübsch hier. Auch das würde ich jetzt nicht als „nachhaltig“ bezeichnen, zumal es ohne ein gewisses Niveau an industrieller Produktion nichts würde mit den fünf Stunden Lohnarbeit pro Woche. Aber dennoch ist es interessant, wie sich eine Stadt anfühlt, die 400 Jahre lang stagnierte, aus welchen Gründen und mit welchen Mitteln auch immer.

    Ich muss sagen: Mir gefällt es in Friedrichstadt.

    [1]Ich persönlich vermute ja, dass es, als beim Konzil von Nicäa die Trinität beschlossen wurde, ähnlich zuging wie während der marktradikalen Hochschul„reformen“ der 1990er und Nullerjahre („Bologna-Prozess“), als jedeR jedeN aufs Kreuz zu legen versuchte und das Ergebnis völlig dysfunktionaler Quatsch ist.
  • Sicherheit, die wirklich niemand will

    Ich habe nie viel von dem Gerede von der „Balance von Sicherheit und Freiheit“ gehalten – so würde ich etwa behaupten, dass ohne eine gewisse soziale Sicherheit Freiheit ein recht hohler Begriff wird. Wer, sagen wir, unter permanenter Drohung durch die Hartz IV-Kautelen lebt, hat zumindest nicht mehr die Freiheit, sinnlose und miese Arbeit (Call Center, Lieferdienste, Burgerflippen) abzulehnen. Wenn nun die Gesellschaft auf absehbare Zeit nicht vom Arbeitszwang wegkommt, sind vermutlich nicht viele Zwänge (ja: Einschränkungen von Freiheit) demütigender als eine Lohnarbeit tun zu müssen, ohne einen Sinn in ihr zu sehen oder wenigestens Spaß an ihr zu haben.

    Aber gut: Die Leute, die gerne vom Widerspruch zwischen Freiheit und Sicherheit reden, haben sicher keine Freiheit zur Faulheit im Sinn, sondern eher die Freiheit, sich anderer Menschen zur eigenen Bereicherung zu bedienen. Auch ihre Sicherheit ist eine ganz andere als die von Existenz und Obdach. Ihre Sicherheit ist ziemlich genau das, das von Polizei, Militär und Überwachungstechnologie hergestellt, genauer: erzwungen werden kann. Erst bei diesem Erzwingen wird der Widerspruch von Freiheit und Sicherheit unausweichlich; er hängt damit aber klar an einem genz spezifischen Begriff von Sicherheit, den, wird er explizit gemacht, wohl nicht viele Menschen teilen werden.

    Ein gutes Beispiel, dass häufig gerade die „Geschützten“ diese Sorte Sicherheit gar nicht haben wollen, gab es am 24. Oktober im Hintergrund Politik des DLF: Jedenfalls offiziell zum „Schutz“ der auf Samos gestrandeten Geflüchteten findet im dort neu errichteten Lager eine strikte Eingangskontrolle statt. Die ist aber nur bis 20 Uhr besetzt. Das Lager ist außerdem am Ende der Welt, so dass Stadtausflüge am Nachmittag riskant werden. Ein Geflüchteter berichtet in der Sendung:

    Ich brauche [für den Weg zurück aus der Stadt] eine Stunde und 20 Minuten. Aber wenn du es nicht rechtzeitig zurückschaffst, lassen sie dich nicht mehr rein. Das ist mir schon passiert. Ich musste die ganze Nacht draußen verbringen. Im alten Camp haben wir zwar im Zelt gelebt, aber wir hatten unsere Freiheit.

    Grob in den Bereich passt etwas, auf das ich seit Wochen linken wollte, weil es wirklich lesenswert ist, nämlich die Stellungnahme von Amnesty International zum neuen Versammlungsgesetz in NRW. Ich glaube zwar nicht, dass irgendwer ernsthaft versucht, diesen Gesetzentwurf mit „Sicherheit” zu begründen. Es geht recht offensichtlich durchweg nur um autoritären Durchgriff („öffentliche Ordnung“). Dafür ist der Abbau von Grundrechten, die die Voraussetung von „Freiheit“ in jedem nicht völlig verdrehtem Sinn sind, hier aber auch besonders greifbar.

    Das sage nicht nur ich aus meiner linksradikalen Ecke. Selbst die sonst ja eher zurückhaltenden Leute von ai reden Klartext:

    Mit der Distanzierung von der Brokdorf-Entscheidung distanziert sich der Gesetzentwurf daher nicht nur von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch von international verbindlichen Menschenrechtsstandards.

    Wie gesagt: Lohnende Lektüre für alle, die noch gerne einen Unterschied hätten zwischen den viel geschmähten „autokratischen Regimes“ und ihren eigenen Regierungen. Oder, sagen wir, den Verhältnissen in Spanien. Oder denen in Hessen.

  • Wahlen und Informationstheorie

    Ich hatte neulich versprochen, ein paar Worte zu Zweifeln am repräsentativen Modell zu sagen, die sich aus der Informationstheorie speisen. Dazu braucht es zunächst einen Begriff von Information, und um den definieren zu können, ein Modell von Nachrichtenübertragung, in diesem Fall etwa: eine Wahl überträgt die Wünsche zur Organisation der Gesellschaft von Wählenden an die Macht.

    Information: Nachrichten in Bits gemessen

    Wie viel Information steckt nun in den Wunschlisten dieses Modells? Nun, Information – gemessen in Bit – lässt sich recht anschaulich definieren als die Zahl der ja/nein-Fragen, die mensch bei optimaler Fragestrategie im schlimmsten Fall stellen muss, um einer Menge verschiedener Nachrichten eine ganz bestimmte Nachricht rauszufiltern.

    Wenn die Wahl heißt „Parkplätze zu Parks?“ und sonst nichts, reicht eine solche Frage, und mithin wird ein Bit Information übertragen. Kommt als zweite Frage hinzu „Lebkuchen subventionieren?“, braucht es zwei Fragen und mithin Bit, um die kompletten Wünsche zu übertragen.

    Wenn mensch das fortführt, ergibt sich: Für ein komplettes Programm mit n binären Entscheidungen braucht es naiv erstmal n bit Information. Diese n bit reichen aus, um 2n Programme zu kodieren, nämlich alle Kombinationen von ja/nein Entscheidungen über die n Fragen hinweg. Wenn es nur die Parkplätze und die Lebkuchen von oben gäbe, wären das beispielsweise:

    • für Parkplätze/für Lebkuchen
    • für Parkplätze/gegen Lebkuchen
    • gegen Parkplätze/für Lebkuchen
    • gegen Parkplätze/gegen Lebkuchen

    Nochmal: Mit n bits kann ich 2n verschiedene Nachrichten (hier also Programme oder Wunschzettel) auseinanderhalten.

    Das kann mensch jetzt rückwärts aufziehen. Um den Informationsgehalt einer Nachricht herauszubekommen, muss mensch sehen, wie viele verschiedene Nachrichten es gibt und diese Zahl dann als 2x darstellen. Das x in diesem Ausdruck ist der Informationsgehalt in Bit. Das x braucht mensch nicht zu raten, denn es ist nichts anderes als der Logarithmus der Zahl der verschiedenen Nachrichten, genauer der Zweierlogarithmus (meist als ld geschrieben). Wenn euer Taschenrechner den nicht kann: ld x = ln x/ln 2 – aber letztlich kommts nicht so drauf an, denn ln 2 ist nicht viel was anderes als eins. Profis schenken sich sowas.

    Pop Quiz: Wie viele Bits braucht ihr, um eine von 1000 Nachrichten rauszufummeln? (Ungefähr 10). Wie viele, um eine von 1'000'000'0000 zu kriegen? (Ungefähr 30; ihr seht, der Logarithmus wächst sehr langsam).

    Nicht gleichverteilt, nicht unabhängig

    In Wahrheit ist das mit der Information etwas komplizierter. Stellt euch vor, zur Parkplatz-Lebkuchen-Programmatik käme jetzt die Frage „Vorrang für FußgängerInnen auf der Straße?“. Wer die Antwort einer Person auf die Parkplatz-Frage kennt, dürfte recht zuverlässig vorhersagen können, wie ihre Antwort auf die Vorrang-Frage aussehen wird.

    Mathematisch gesprochen sind die beiden Entscheidungen nicht unabhängig, und das führt dazu, dass mensch durch geschicktes Fragen im Schnitt deutlich weniger als drei Fragen brauchen wird, um das komplette Programm mit den drei Antworten rauszukriegen, etwa, indem mensch zusammen nach Parkplätzen und Vorrang fragt. Dieser Schnitt liegt irgendwo zwischen 2 und 3 – für die Mathematik (und den Logarithmus) ist es kein Problem, Fragen auch hinter dem Komma zu zählen: 2.3 bit, vielleicht (ich bin immer wieder erstaunt, wie viele Menschen noch gewillt sind, Parkplätze hinzunehmen, während der Vorrang für FußgängerInnen doch hoffentlich unbestrittener Konsens in der zivilisierten Welt ist[1]).

    Ein ähnlicher Effekt ergibt sich, wenn bestimmte Antworten viel wahrscheinlicher sind als andere. Wenn es z.B. zwei Texte A und B gibt, die jeweils 45% der Nachrichten ausmachen, bekomme ich in 90% der Fälle die Nachricht in nur zwei Fragen raus („Eins von A oder B?“, worauf zu 90% schlicht „A?“ reicht, um die gewählte Nachricht rauszukriegen), ganz egal, ob es noch 10 oder 10'000'000'000 andere Nachrichten gibt.

    Die Sache mit „Information in bit rechnest du als den Logarithmus der Zahl der verschiedenen Nachrichten aus“ gibt also eine Obergrenze für den Informationsgehalt. Sie wird erreicht wenn die Nachrichten gleichverteilt sind (und in gewissem Sinn in sich unabhängig; besser verständlich wird der Unabhängigkeits-Teil, wenn mensch nicht eine Nachricht, sondern eine Folge von Nachrichten betrachtet). Wer wissen will, wie das richtig geht, sei auf die Wikipedia verwiesen.

    Das ganz einfache Modell unabhängiger, gleichverteilter Nachrichten von oben gilt in der Regel nicht – in natürlichsprachigen Texten sind z.B. die Buchstabenhhäufigkeiten drastisch verschieden (Scrabble-SpielerInnen kennen das), und es gibt allerlei Regeln, in welchen Reihenfolgen Buchstaben kommen können. Eine erstaunlich effektive Schätzung für den Informationsgehalt von Nachrichten ist übrigens, einfach mal gzip laufen zu lassen: Für diesen Text bis hierher kommt da 2090 Bytes (á 8 bit) raus, während er auf der Platte 4394 Bytes braucht: Was gzip da geschluckt hat, sind die Abweichungen von Gleichverteilung und Unabhängigkeit, die so ein dummes Computerprogramm leicht finden kann.

    Klar: auch die 2090 ⋅ 8 bit sind höchst fragwürdig als Schätzung für den Informationsgehalt bis hier. Wenn die Nachrichtenmenge „alle bisherigen Blogposts hier“ wäre (davon gibt es etwas weniger als 100), wären es nur sechseinhalb Bit, ist sie „Zeug, das Anselm Flügel schreibt“, wäre es zwar mehr, aber immer noch klar weniger als die 16720 Bit, trotz aller Exkurse über Information und Logarithmen[2]. Informationsgehalt ist nur im Kontext aller anderen möglichen Nachrichten gut definiert. Und dem, was bei EmpfängerInnen ankommt, was bei diesem Post für SchurkInnen auch nur ein Bit sein kann: „Alles Mist“.

    Wie viele bit in einem Wahlzettel?

    Euer Wahlzettel bei der Bundestagswahl neulich dürfte so um die zwei Mal sechzehn Möglichkeiten gehabt haben, etwas anzukreuzen. Im besten Fall – unabhängige Parteien mit gleichen Erfolgschancen – könntet ihr also 8 bit übertragen mit euren zwei Kreuzen. In Wahrheit sorgt schon die 5%-Hürde dafür, dass es allenfalls 8 Listen gibt, die in der Logik repräsentativer Regierungsbildung wählbar sind, und dann noch vielleicht eineN von vier DirektkandidatInnen, die auch nur irgendeine Chance haben. Zusammen, schätze ich (immer noch optimistisch), vielleicht drei Bit.

    Vergleicht das mit den Nachrichten, die so eine Regierung aussendet: So redundant und erwartbar da auch viel sein mag, kein gzip dieser Welt wird die Gesetze, Verordnungen und Exekutivakte von Regierung und Parlament in der letzten Legislaturperiode auf irgendwas unter 100 Megabyte bringen können, selbst wenn es, das Kompressionsprogramm, Politik und Jura schon kann. Gesetze wie das zur Bestandsdatenauskunft etwa sind völlig beliebig: sie setzen einfach Wünsche der Polizeien um und kümmern sich weder um Verfassungen noch um Sinn, und sie würden deutlich anders aussehen, wenn bei BKA, Innenministerium und Polizeiverbänden gerade andere Individuen am Werk gewesen wären. Beliebigkeit ist aber nur ein anderes Wort für Unabhängigkeit und Gleichverteilung. Die 100 Megabyte werden also eine harte untere Grenze sein.

    Bei einem Verhältnis von rund drei Bit rein zu mindestens 100 Megabyte raus (in Worten: eins zu zweihunderfünfzig Millionen, weit unter der Gewinnchance beim 6 aus 49-Lotto) ist evident, dass Wahlen gewiss kein „Hochamt der Demokratie“ sind; ihr Einfluss auf konkrete Entscheidungen wäre auch dann minimal, wenn bei realen Wahlen viel entschieden würde.

    Was natürlich nicht der Fall ist. Niemand erwartet ernsthaft, dass eine Wahl irgendetwas ändert an wesentlichen Politikfragen, hierzulande beispielsweise Reduzierung des Freihandels, Zurückrollen von Privatisierungen, Abschaffung des Militärs, Befreiung der Menschen von der Autoplage, weniger autoritäres Management sozialer Spannungen (z.B. durch weniger übergriffige Polizeigesetze), weniger blutige Staatsgrenzen, weniger marktförmige Verteilung von Boden, kein Wachstum bis zum Kollaps und so weiter und so fort; praktisch die gesamte Bevölkerung hat in allen diesen Punkten die bestehende Regierungspolitik bestätigt, obwohl sie manifest ihren Interessen oder zumindest ihrem moralischen Empfinden widerspricht.

    Warum Wahlen wichtig sind

    Entsprechend tut in den gegenwärtigen Koalitionsverhandlungen nicht mal wer so, als ginge es um mehr als um Selbstverständlichkeiten wie Tempolimits auf Autobahnen (stellt euch mal kurz vor, wie unfassbar bizarr das auf in 100 Jahren eventuell noch lebende Menschen wirken muss).

    Was nicht heißt, dass Wahlen nicht wichtig sind. Die ganz zentrale Funktion von Wahlen dieser Art hat neulich im Deutschlandfunk ein gewisser Andrej Kolesnikow am Beispiel Russland erläutert:

    Die Wahl soll vor allem das Staatsmodell legitimieren, das sich in Russland entwickelt hat. Sie ist deshalb für die Staatsmacht wichtiger als für die Bürger. Die Wahl soll den Menschen auch vor Augen führen, dass die Staatsmacht weiterhin über eine Mehrheit verfügt und dass es besser ist, sich dieser Mehrheit anzuschließen, oder, wenn jemand unzufrieden ist, wenigstens ruhig zu bleiben und seine Unzufriedenheit für sich zu behalten.

    Wer aus ein paar Schritt Entfernung auf die hiesigen Verhältnisse blickt, wird diese Beobachtung auch hierzulande im Wesentlichen bestätigt sehen. Versteht mich nicht falsch: Das ist durchaus wichtig. Ein delegitimierter Staat geht schnell in eine kaputte Gesellschaft über, solange wir es nicht hinbekommen, Menschen auch ohne Nationalgeklingele zu rationalem, sprich kooperativem Verhalten zu bekommen (nicht, dass ich glaube, dass das sehr schwer wäre; es würde aber jedenfalls andere Schulen brauchen). Etwas von dieser Delegitimation sehen wir schon hier, verglichen mit den 1980er Jahren jedenfalls, etwas mehr in den USA, und noch viel mehr im, sagen wir, Libanon. Und etwas weniger als hier in Dänemark oder Schweden. Ich mache kein Geheimnis daraus, wo auf diesem Spektrum ich lieber leben will.

    Allerdings: diese Legitimationsfunktion der Wahl funktioniert weitgehend unabhängig von politischer Partizipation. Auch die finstersten autoritären Regimes halten Wahlen ab und wollen diese in aller Regel auch recht ehrlich …

  • Ökumenische Linke

    Ich bin bekennender Fan von David Rovics. Klar fühlen sich seine Palästinasoli-Songs in der postantideutschen Linken zumindest mal gewagt an, sein Lied vom besseren Anarchisten entschuldigt vielleicht etwas sehr viel, und mein antimilitaristisches Herz blutet an einigen Stellen vom Song for Hugh Thompson (der übrigens schon am Deutschlandfunk lief). Aber in allen Kämpfen, in denen es eine richtige Seite gibt, steht er konsequent auf dieser, und ich finde viele seiner Lieder ernsthaft mitreißend, angefangen wohl mit dem Bluegrass-Reißer When the Minimum Wage Workers Went on Strike, das eine (letztlich leider wenig erfolgreiche) Organisierung von MindestlöhnerInnen an der Harvard University begleitete, während ich so um 2000 rum in der Gegend gearbeitet habe. Damals wurde ich auf David aufmerksam, und es spricht für seine Umtriebigkeit, dass später ganz unabhängig davon Bekannte von mir Auftritte von ihm in Heidelberg organisiert haben.

    Nun, David hat jetzt einen Blogpost geschrieben, der mir in vielerlei Hinsicht aus der Seele spricht: Confessions of an Ecumenical Leftist. Wer hinreichend gut Englisch kann und sich für linke Politik interessiert, sollte das, finde ich, lesen.

  • Sport ist rechts

    Die titelgebende These wirkt in dieser knappen und etwas apodiktischen Form vermutlich etwas steil, zumal blütenreine Linke wie Klaus Theweleit Fußballfieber gestehen und weniger prominente, aber nicht minder glaubhafte Linksradikale als Ultras hingebungsvoll Fahnen schwingen. Zwischen den sportlichen Großevents des Jahres – Männerfußball in Europa und Südamerika sowie die Olympiade – möchte ich dennoch gerne für sie argumentieren, engelszünglend eintretend für jedenfalls ein wenig ironische Distanz zu Leistungshunger und Hymnenkult.

    Zu meiner Untersuchung der These braucht es eigentlich nur eine Arbeitsdefinition von „links“ oder „fortschrittlich“. Spätestens seit der französischen Revolution hat sich da „den Grundwerten Freiheit, Gleichheit und Solidarität[1] zu gleichen Teilen verpflichtet“ bewährt. Vorsorglich: Natürlich gibt es vieles, das diese Grundwerte fast gar nicht berührt. Die Entscheidung zwischen Musik von Richard oder einem der Johann Sträuße zum Beispiel, oder die zwischen Toast- und Vollkornbrot. Das ist dann „unpolitisch“, jedenfalls, solange mensch nicht allzu tief bohrt.

    „Sport“ allerdings – im durch Sportfernsehen und -vereine bestimmten Sinn – kollidiert recht fundamental mit jedem einzelnen Grundwert. Das erklärt auch zwanglos, warum SportfunktionärInnen ziemlich durchweg rechts denken (Ausnahmen wie die Crew St. Pauli bestätigen die Regel eben durch ihre Exotik) und auch entsprechend organisiert sind. Mein Lieblingsbeispiel dafür bleibt Gerhard Mayer-Vorfelder, zu verschiedenen Zeiten seines Lebens DFB-Chef und persönlicher Referent des Nazirichters Filbinger.

    Gegen Freiheit

    Der erste Gedanke bei Sport vs. Freiheit könnten die vielen barocken Regeln der meisten Sportarten sein. Um mal eine Maßstäbe setzende Norm zu erwähnen: bis 2012 durften Frauen nur in Bikins mit auf ein paar Zentimeter begrenzter Breite des Beinstegs Beachvolleyball spielen (kein Scheiß). Aber nein, solange Menschen sich freiwillig auf Regeln einigen, wäre daran wenig zu kritisieren. Wo Menschen gezwungen werden, Sport zu treiben und die Regeln deshalb keine Gegenstände von Aushandlung mehr sind, ist das Problem nicht im Sport, sondern in den externen Zwangssystemen.

    Nein, wer über Freiheit und Sport nachdenken will, möge ans Heidelberger Neckarufer kommen, wenn gerade Rudertraining ist: Der Kasernenhofton der TrainerInnen lässt keinen Raum für Zweifel[2]. Das ist am Fußballplatz nicht anders als in der Gymnastikhalle oder im Schwimmbad: Der Ton ist immer der von Befehl und Gehorsam. Bei Mannschaftssportarten kommen auch mal zusätzliche Befehlsebenen hinzu, Kapitäne im Fußball etwa, die Gehorsam erwarten und im Zweifel durchsetzen müssen, wenn sie ihren Job behalten wollen.

    Der militärische Drill skaliert zu den bedrückenden Masseninzenierungen sich synchron bewegender TurnerInnen bei Feierlichkeiten autoritärer Regimes zwischen IOK und SED. Das hat, a propos Turnen, Methode; Turnvater Jahn war glühender Patriot und Militarist und verstand seine Turnerei durchaus als paramilitärisches Training mit dem Ziel der Ablösung der ja noch halbwegs fortschrittlichen Potentaten von Napoleons Gnaden durch – nun, de facto jedenfalls die erzreaktionären Regierungen des Vormärz.

    Gehorsam und Schleiferei als Antithesen zur Freiheit sind im Sport kein Einzelfall. Sie sind von Anfang an dabei und prägen das Geschehen um so mehr, je mehr etwas Sport (und nicht vielleicht Spiel, Spazierengehen, Wohinfahren, Beetumstechen, Staubwischen) ist.

    Gegen Gleichheit

    Zum Gegensatz von Sport und Gleichheit ist zunächst wegen Offensichtlichkeit nicht viel zu sagen: in praktisch jeder Sportart geht es darum, wer der/die „BessereN“ sind. Tatsächlich könnte der Wettkampf geradezu als Definition von Sport gelten: Es ist nicht sehr übertrieben, die Grenze zwischen auf Schlittschuhenlaufen (kein Sport) und Eiskunstlauf (Sport) dort zu ziehen, wo RichterInnen mit ihren Zahlentäfelchen auftauchen und jedenfalls letztendliche AdressatInnen der Handlungen auf dem Eis sind.

    Wettbewerb charakterisiert Sport auch dann, wenn das private „Sport machen“ – joggen gehen, vielleicht auch mal in die Muckibude – davon eingestandenermaßen nur peripher betroffen sein mag. Selbst dabei scheint die Motivation allerdings oft genug in der Besserstellung in diversen Konkurrenzsituationen (im Zweifel bei der Brautwerbung) zu liegen.

    Sport als Verpackung für Wettbewerb hat übrigens Auswirkungen auf die Gesamtgesellschaft, beispielsweise wenn das positive Image von Sport über schräge Metaphern regelmäßig ansonsten offensichtlich schädliche Politiken („Exportweltmeister“ ist vielleicht das furchtbarste Beispiel) rechtfertigt.

    Die Übersteigerung von Ungleichheit ist der Heldenmythos, bei dem ein einzelner (meist) Mann alle anderen hinter sich lässt und breiteste Bewunderung erfährt. Selbst in China bin ich schon auf Franz Beckenbauer angesprochen wurden, und selbst wenn die Beatles nicht beliebter als Jesus sein sollten, Diego Maradona ist es garantiert. Diese Malaise des Sportbetriebs zumindest haben die ArbeitersportlerInnen während der Weimarer Republik erkannt. Diese betrieben damals im Fußballbereich eine breite alternative Liga gegen den bereits gewohnt rechtslastigen DFB und bemühten sich in der Berichterstattung um mehr Gleichheit:

    man lehnte den „Starkult“ ab, verweigerte „Rekordjagden“, wollte keine „Kanonenzuchtanstalt“ sein. Deshalb wurden viele Jahre gar keine Spielernamen veröffentlicht. In der Presse nannte man stattdessen z. B. „den Rechtsaußen“ oder „den Mittelstürmer“.

    Zu August Postler auf arbeitersport.de

    Empfehlen möchte ich in diesem Zusammenhang die SWR2 Wissen-Sendung vom 29.6.2012, aus der ich von der Existenz der Arbeiterfußball-Liga und ihren journalistischen Mindeststandards erfahren habe.

    All das hatte mit der Machtübergabe an die Nazis ein Ende, zumal sich der DFB bereitwillig gleichschaltete, wenn er schon 1933 erklärte:

    Wir haben mit den ganzen Sozialdemokraten und Kommunisten nichts zu tun und wir sorgen auch dafür, dass weder Juden noch Arbeiter-, ehemalige Arbeitersportler bei uns im Verband offiziell Mitglied werden.

    DLF vom 27.10.2018

    Dem Vorbild des Arbeitersports zu folgen wäre, so schlage ich engelszüngelnd vor, schon mal ein erster Schritt zur Entpolitisierung des Sports: Keine Namen, keine Nationen. Wer sich erinnert, wie Boris Becker quasi im Alleingang die Tennisclubs der Republik gerettet hat, mag sich fragen, wie viel „Breitensport“ ohne nationalen Enthusiasmus eigentlich übrig bleiben würde. Und was davon. Das dürfte dann der unpolitische Teil sein.

    Gegen Solidarität

    Was „Solidarität“ angeht, kann ich mir speziell von meinen Ultra-FreundInnen den empörten Einwand vorstellen: „Aber du hast ja gar keine Ahnung, wie toll der Zusammenhalt bei uns ist. Solidarischer gehts gar nicht.“

    Nun ja. In Abwandlung des Luxemburg-Klassikers ist dazu zunächst festzustellen, dass Solidarität immer die mit den anderen ist, also nicht mit den Leuten der eigenen Gruppe und schon gar nicht denen der eigenen „Nation“. Und dass Solidarität auf jeden Fall mal kritisch ist – Solidarität mit, sagen wir, Bahnchefs heißt eben nicht, bedingungslos zu rechtfertigen, was diese so tun, sondern zu kritisieren, wie sie, neben vieler anderer Menschenfresserei, Leute hinter Autotüren treiben. Das also, was Fangruppen zusammenhält, ist keine Solidarität, es ist Abgrenzung, es ist Gruppenidentität, also das, was so gut wie alle Massenverbrechen der Geschichte – Kriege, Pogrome, Unterdrückung – erst ermöglicht hat (vgl. in diesem Zusammenhang das Minimalgruppenparadigma).

    Solidarität ist genau das Gegenteil von der Bildung von Untergruppen, die sich zu be(wett)kämpfen haben, und sei es über die Ausdeutung von StellvertreterInnen wie in der Leichtathletik. Wer anfängt, Mannschaften zu bilden, wer anfängt, für, was weiß ich, Angelique Kerber zu fiebern, weil sie ja „zu uns“ gehört, hat angefangen, sich aus der Solidarität mit den „anderen“ zu verabschieden statt, wie es Gebot der Solidarität ist, weniger Othering (ist das noch ein populärer Begriff?) zu betreiben.

    Und nun?

    Nach all dem verwundert wohl nicht, dass sich so gut wie alle rechten Ideologeme recht direkt im Sport wiederfinden, von Nationalismus (die Hymnendebatten scheinen ja mal wirklich aus einem anderen Jahrhundert zu kommen) über Homophobie (eine kommerzielle Fußballseite dazu) bis Sexismus (selbst wenn mensch an zwei Geschlechter und das Wundermittel Testosteron glaubt, kann wohl niemand die Geschlechtertrennung beim Schießen plausibel machen).

    Heißt das, dass Linke besser nicht joggen sollten? Am besten jede Anstrengung meiden? Nö, sicher nicht. Es geht hier nicht um Fleißpunkte oder moralische Reinheit. Wer mag, darf ja auch an James Bond-Streifen Spaß haben, die vergleichbar viele rechte Ideologeme bedienen. Zumindest aber im Kopf sollte mensch schon haben, dass Sportkonsum schlüpfriger Boden ist – nicht umsonst fanden die ersten größeren Angriffe auf Geflüchtete in der „neuen“ BRD nach dem Endspiel der Männerfußball-WM 1990 statt.

    Wer selbst läuft oder tritt, ist vielleicht in geringerer Gefahr. Aber dennoch: im Hinblick auf die Welt nach uns wärs schon besser, die Alltagswege mit dem Fahrrad zurückzulegen und das Gemüsebeet zu hacken als mit dem Auto in den Wald oder die Muckibude zu fahren.

    Klar, die soziale Symbolik dabei muss mensch aushalten wollen: „Ist der so arm, dass er kein Auto hat?“ Dazu will ich abschließend kurz auf den Ursprung unseres modernen Sportbegriffs eingehen, soweit ich ihn überblicke. Die gehobenen britischen Kreise im 18. Jahrhundert nämlich kamen wohl zur Einsicht, es gehe nicht so ganz ohne Bewegung und Anstrengung. „Nützliche“ Bewegung, körperliche Arbeit zumal, würde aber den Verdacht erregen, mensch habe es nötig, sei also nicht wirtschaftlich erfolgreich, mit anderen Worten: arm.

    Sport wäre dann schon im Ursprung die Demonstration von Wohlstand, wichtiger: Nicht-Armut. Ich muss nicht körperlich arbeiten, ich habe immer noch genug Zeit, mich sinnlos auszutoben, aber auch die Disziplin, mich dabei klaren Regeln zu unterwerfen, und ich habe obendrein das Geld für die tollen Accessoires, die es für Sport X braucht. Wenn ich vor allem am Wochenende durch die Berge hier radele und die Ausrüstung vieler anderer RadlerInnen ansehe, gewinnt diese These massiv an Plausibilität, bis hin zu den Fahrrädern, die oft demonstrativ alltagsuntauglich sind. Die Nachricht scheint zu sein: „Ich habe natürlich wie jeder anständige Mensch ein Auto, dieses Ding hier ist für mich nur Sportgerät.“

    Die damit verbundene zusätzliche Warenproduktion schadet dann aber schon, der …

  • Ein Jahr ohne Terry Jones

    Heute vor einem Jahr ist Terry Jones gestorben (habe ich auf sofo-hd erfahren). Allein für die Regie beim ewigen Klassiker Life of Brian gedenke ich seiner gerne. Wofür ich ja jetzt dieses Blog habe.

    Die 1a Blasphemie, die Alien-Szene, die scharfsichtige Darstellung OECD-kompatibler Pädagogik („So 'eunt' is...?“ mit einem Schwert am Hals) und die gekonnte Verarbeitung der abgedroschenen Klischees der Historienschiken rund um Ben Hur würde eigentlich schon für eine Aufnahme des Films in den Olymp großer Kunst reichen.

    Vor allem aber sollte der Film Pflichtlektüre linker Aktivist_innen sein. Wer nämlich lange genug in linken Grüppchen unterwegs war, wird in eigentlich jeder Szene Vertrautes erblicken, ohne das wir, glaube ich, alle schon ein ganzes Stück weiter wären. Der blinde Hass zwischen Judean People's Front und People's Front of Judea, das „this calls for... immediate discussion“ statt einfach mal vor die Tür zu gehen (und der folgende Paternalismus), der zumindest mal alberne Versuch, patriotische Gefühle für eine (vielleicht) fortschrittliche Idee einzuspannen („What have the Romans ever done for us?“), das gegenseitige Abmetzeln über Fragen, die sich vernünftige Menschen gar nicht stellen würden („we were here first“ unter Pilatus' Palast), sinnlose Opferbereitschaft aus einem Bedürfnis nach größtmöglicher Reinheit heraus („We are the Judean People's Front. Crack suicide squad.“ vor dem Massenselbstmord), die große (autoritäre) Versuchung, einer „Bewegung“ anzugehören („Yes, we are all different!“) und so fort: Fast alles, was es an Irrsinn gibt, der (glücklicherweise nicht nur) fortschrittliche Kämpfe lähmt, findet sich in diesem Film.

    Mein Tipp: Jeden Karfreitag mal reinschauen.

    Was ich bisher nicht wusste: Den Film gibts überhaupt nur, weil Ex-Beatle George Harrison eingesprungen ist, als die ursprüngliche Produktionsfirma nach dem Lesen des Skripts den Geldhahn zugedreht hatte (vgl. rational wiki, der noch ein paar weitere Geschichten dazu hat).

    Die Welt ist klein.

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