Ein Brief an die Zukunft aus dem Jahr eins nach 1.5 K
Liebe Zukunft,
Schön, dass es dich gibt. Das ist überhaupt nicht selbstverständlich nach all den Dummheiten, die wir gerade anstellen. Gleich zu Anfang: dieser Brief ist eine Bitte um Entschuldigung für diese Dummheiten. Und für vieles weitere, denn unsere Dummheiten sind vielfältig und verworren, zugleich lächerlich und beängstigend.
Lass mich gestehen, dass ich aus dem Jahr eins nach dem ersten Reißen des 1.5-Grad-Ziels schreibe: Anderthalb Grad, so haben wir geglaubt, könnten wir das Klima wärmer werden lassen, ohne dass du, liebe Zukunft, schlimme Hungersnöte wirst auszustehen haben.
2024, im letzten Jahr, lagen wir zum ersten Mal darüber. Niemand hat mehr Zweifel, dass das Normalzustand werden wird, dass wir auch die zwei Grad reißen werden.
Ich will mich entschuldigen, keine Ausreden bringen: wir wissen, was wir tun. Schau dir mit deinen Zukunftsaugen das folgende Plakat an, das in meiner Gegenwart die Leute aufgehängt haben, die dich am entschlossensten und aus den albernsten Gründen vergiften und verbrühen möchten:

Deine Menschen, werte Zukunft, die zwischen den letzten Knochen längst gestorbener Automobile und zerfallendem Beton versuchen, ihre karge Hirse vorm durchfegenden Wüstenwind zu schützen, sie haben diese Zukunft. Wir sind eifrig dabei, sie aus dem zu machen, was jetzt gerade eigentlich noch ganz angenehm ist.
Verzeihung.
Während ich diesen Brief schreibe, haben wir „Wahlkampf“, einen Ritus, in dem die Menschen HäuptlingsanwärterInnen huldigen; wer am meisten Huldigung erfährt, wird für die nächste Zeit Häuptling. Die verschiedenen AnwärterInnen buhlen mit bunten Papptafeln an unseren Wegen um die Gunst ihrer prospektiven oder auch gegenwärtigen Untertanen (letzteres hieße „Wiederwahl“).
Dieser Ritus wäre, das muss ich dir als Zukunft wohl nicht erklären, eigentlich eine gute Gelegenheit, von weniger Arbeit und weniger Dreck zu reden, gerade vor dem Hintergrund unseres rasanten Schwungs in den Abgrund. Aber nein, stattdessen hängen die Straßen voll Unsinn, den du, liebe Zukunft, wohl längst vergessen hast:

Was ist das, wovon die reden, fragst du? Oh je. „Deutschland“ ist zu meiner Zeit ein „Land“, also ein Gebiet, das ein bestimmter Häuptling kontrolliert; wer auf diesem Gebiet wohnt, muss zumindest über ein paar Ecken diesem (selten auch mal dieser) Häuptling gehorchen.
Es gibt auch viele andere Häuptlinge, die jeweils ihre eigenen Gebiete haben. Jeder Häuptling feuert seine Untertanen an, ihn „wieder nach vorne“ zu bringen, wie auf dem türkisen Plakat in der rechten oberen Ecke. Tatsächlich finden es viele Untertanen total toll, wenn ihr Häuptling im Wettbewerb mit den anderen Häuptlingen gut aussieht.
Bei der Wahl, für die die Leute diese Plakate aufgehängt haben, ging es um den Häuptling von diesem „Deutschland“. In der Zeit, in der ich das schreibe, während es also eigentlich darum hätte gehen sollen, wie wir fein leben könnten, ohne alles (und obendrein uns) kaputt zu machen, ist der aktuelle Häuptling so aufgetreten:

„Besser für Deutschland“ meint diesen Unsinn mit dem Häuptlingswettbewerb. Liebe Zukunft, du siehst, das war wirklich so ein Thema, wie ich das behauptet habe. Das „Mehr für dich“ soll bedeuten, dass die Leute mehr oder größer essen oder Auto (frage nicht, was das ist; du würdest es doch nicht glauben) fahren können, wenn sie diesen Häuptling wählen.
Das ist auch das implizite und völlig leere Versprechen bei dem komischen Wort „Wirtschaftswachstum“ auf dieser Pappe:

Tatsächlich setzen heute die Untertanen das „Wirtschaftswachstum“ und das „Mehr für dich“ mehr oder weniger gleich, obwohl es da empririsch überhaupt keinen Zusammenhang gibt. Es ist aber auch nicht einfach zu erklären, was es damit wirklich auf sich hat oder haben soll.
Ich probiers trotzdem mal: Zu meiner Zeit organisieren wir die gesellschaftliche Arbeitsteilung über so eine Art Gutscheine auf die Arbeit anderer Leute. „Geld“ nennen wir das hier, und es ist enorm wichtig, weil auch wir ohne die Früchte der Arbeit anderer Menschen nicht überleben können, mensch aber derzeit fast nur über diese Gutscheine Zugang zu ihnen bekommt.
Beim „Wirtschaftswachstum“ wiederum versuchen mehr oder minder kluge Menschen zu zählen, wie viele solche Gutscheine wohl alle zusammen ausgetauscht haben. Ja, klar, da ist viel Schätzung dabei, aber trotzdem: Wenn die Schätzung in einem Jahr unter der des Vorjahres liegt, ist das kurz vorm Weltuntergang. Liegt sie darüber, heißt es eben „Wirtschaftswachstum“. Dabei gilt mehr als besser, selbst wenn viele Menschen Gutscheine bekommen, weil sie schädlichen Quatsch machen wie z.B. diese „Autos“ zusammendengeln oder andere Leute mit buntem Leuchtquatsch belästigen.
Die Gutscheine für die Arbeit anderer Leute bekommen heute die meisten Menschen durch etwas, das wir meist „Job” nennen und das eigentlich niemand leiden kann, außer Häuptlinge und die, die es gerne werden wollen. „Job“ meint so in etwa: die Leute arbeiten nicht aus Einsicht in die Notwendigkeit oder gar Freude am Zweck oder Tun, sondern um an Gutscheine ranzukommen. Dies bedenkend verwundert das folgende Plakat sehr:

Warum dieser Mann den Eindruck erwecken will, alles für diesen „Job“ „geben“ zu wollen, wenn er doch Häuptling werden will und fast alle, die ihm potenziell huldigen könnten, ihren „Job“ regelmäßig aus ziemlich guten Gründen hassen? Keine Ahnung.
Vielleicht ist es, weil die meisten Menschen furchtbar Angst haben, diesen „Job” zu verlieren, weil sie dann ohne Gutscheine jämmerlich verenden müssten? Aber nein, liebe Zukunft, keine Sorge: Ganz so schlimm ist es nicht mehr in meiner Zeit. Zumindest hier, am Westrand des großen Nordkontinents, bekommen die Leute auch ohne Job ein paar Gutscheine und müssen nicht verhungern. Darüber haben sich übrigens etliche der Häuptlings-Bewerber verärgert gezeigt. Auf ihre Plakate hat das so deutlich allerdings niemand schreiben wollen. Oh, fast niemand. Ein Plakat hat schon einen schlimmen Subtext von „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen”:

Andere Häuptlingswahlvereine haben die komischen Gutscheine ausgerechnet in einen Zusammenhang mit dir, liebe Zukunft, gestellt, so etwa dieser hier:

„Bezahlbar“ heißt in etwa, dass du für deine Zeit im Schnitt Gutscheine für mehr Stunden von anderen Leuten bekommst als du selbst gearbeitet hast. Jaja, das ist irre kompliziert. Jaja, klar kannst du nicht allen Leuten gleichzeitig versprechen, dass ihre Zeit mehr wert ist als die der anderen; aber niemand erwartet in meiner Zeit, dass das, was auf den Wahlplakaten steht, schlüssig ist.
Es war auch überhaupt nicht schlimm, wenn verschiedene Menschen, die jeweils Häuptling werden wollten, die gleichen Dinge versprachen. Zum Beispiel wirkt das hier:

nicht so viel anders als das hier:

Oha: Was dieses „Mieten”-Ding schon wieder ist? Nun, liebe Zukunft, das war, wenn du Menschen, die schon viele Arbeitsgutscheine hatten, noch mehr davon gegeben hast, damit sie dich nicht aus deiner Wohnung rauswerfen lassen. Klingt etwas wirr, war aber so; es hatte etwas damit zu tun, dass die Arbeitsgutscheine sich irgendwann ziemlich verselbstständigt haben. Es gibt hinter diesem „Immobilienwesen“ (so heißt das mit dem Aus-der-Wohnung werfen zu meiner Zeit) durchaus ein paar plausible Geschichten. Die sind allerdings zu lang für diesen Brief.
Mieten und noch mehr das Entfliehen aus Drohung mit dem Rausschmiss waren jedoch, das ist wichtig für dich, ein ganz großer Grund für die Beton- und Asphaltorgien, wegen der du jetzt die großen Wüsten hast. Verzeihung. Vielleicht wissen wir doch nicht immer ganz genau, was wir eigentlich tun.
Trotz dieser Orgien jedenfalls haben die Menschen wie gesagt große Sorge, dass sie irgendwann nicht genug Gutscheine haben würden und sie der Mensch mit den vielen Arbeitsgutscheinen („Vermieter“ heißen die in meiner Zeit) doch aus ihrer Wohnung werfen lassen würde. Nicht ganz zu unrecht: Solche Dinge passieren recht regelmäßig. Es gibt Menschen, die Arbeitsgutscheine erhalten dafür, dass sie andere Menschen aus ihren Wohnungen werfen. Kein Witz.
Obsessiv ist die Sorge der Menschen, was passieren wird, wenn sie altern und dann keinen „Job“ mehr bekommen für die Gutscheine, die sie zum Beispiel für ihre „Miete“ brauchen. Um das etwas abzumildern, haben Leute, die sich „Sozialdemokraten“ nannten (die aber mit denen mit den roten Plakaten nicht mehr viel zu tun haben) schon vor über 150 Jahren etwas erkämpft, das wir „Rente“ nennen. Das ist so eine Art Gutscheinabo, das wir unseren Alten gönnen, auch wenn diese zu klapprig sind, um noch für irgendwen einen „Job“ machen zu können.
Es gibt aber ein Wort, um die Menschen trotz „Rente“ in Sorge zu halten: „Lebensstandard“. Das ist ist auch zu widersinnig, um es dir, liebe Zukunft, in nicht zu vielen Worten erklären zu können. Aber es dürfte die geistige Landschaft sein, auf der Plakate wie dieses entstehen:

Wo auf diesem Plakat auf einmal das „Land“ herkommt, willst du wissen, liebe Zukunft, wo doch die „Rente“ irgendwas für alte Menschen ist und nicht für die Sprengel der Häuptlinge? Ich weiß es auch nicht. Wie gesagt, eigentlich hat niemand erwartet, dass auf diesen Plakaten etwas tatsächlich Durchdachtes oder Überzeugendes zu lesen ist.
Hier ist ein weiteres Wort, das du vergessen haben wirst: „Investition“:

Der Hintergrund: Ein paar Menschen haben Arbeitsgutscheine in großem Umfang gesammelt (sie heißen dann „reich“; jaja, das deckt sich recht weitgehend mit den „Vermietern“ von oben) und können sich gleich richtig viel Arbeit auf einmal kaufen.
Das nutzen sie gelegentlich, um andere Menschen Sachen herstellen zu lassen, für die der_die Reiche mehr Gutscheine bekommen kann als er_sie den anderen Menschen gegeben hat. Das alles zusammengenommen heißt bei uns „Investition“. Den Gedanken, Gutscheine einzulösen, um mit der erhaltenen Arbeit mehr Gutscheine zurückzubekommen, finden die Menschen …