Ich bin gerade im nordfriesischen Friedrichstadt, einem Städtchen nahe der Nordseeküste, das viele TouristInnen anzieht, vor allem wenn, wie jetzt gerade, das Wetter am Strand längere Aufenthalte dort eher unattraktiv macht. Diesen BesucherInnen wird Friedrichstadt gerne als „Stadt der Toleranz“ präsentiert. Angesichts einer jahrhundertelangen Präsenz pazifistischer und damit relativ sympathischer protestantischer Sekten wie der Mennoniten und Quäker ist das wahrscheinlich auch eine recht brauchbare Zuschreibung – gerade diese hatten mit weniger toleranten Obrigkeiten meist erhebliche Probleme.
Ich allerdings finde das Nest aus anderen Gründen bemerkenswert, und das nicht nur, weil die Toleranz Grenzen hatte, die zumindest halbwegs aufgeklärten Menschen völlig albern erscheinen: Die Unitarier mussten zum Beispiel wieder gehen, was um so erschütternder ist, als sich diese von der christlichen Rechtgläubigkeit vor allem in der Zurückweisung des wahrscheinlich durchgeknalltesten aller Dogmen unterscheiden, nämlich der Trinität.
Wir müssen uns Gott als Tafellappen vorstellen
Ich kann nicht widerstehen: Als ich in der Grundschule war, erzählte uns der Dorfpfarrer original, mensch müsse sich die dreifaltige Gottheit vorstellen wie einen Tafellappen. Er nahm daraufhin so einen und faltete ihn an fünf Stellen so, dass vorne drei Falten rausguckten. Ein Tafellappen, drei Falten. Wer andere aus seiner Stadt wirft, weil sie so einen offensichtlichen Polit-Kompromiss[1] nicht glauben wollen, verdient einen Toleranzpreis vielleicht doch nur eingeschränkt.
Nein, wirklich vorbildlich an Friedrichstadt ist die, trärä, Na… Na… na ja. Ich muss es ja doch irgendwann mal sagen: Nachhaltigkeit. Das Wort ist zwar inzwischen zu Heizmaterial für Dampfplauderer verkommen, aber an sich liegt es ja schon nahe, so leben zu wollen, dass das auch noch ein paar Jahrhunderte weitergehen kann. Die wichtigste Zutat dabei ist: Nicht (prozentual, also exponentiell) wachsen. Was um x% im Jahr wächst, verdoppelt sich nach ungefähr 75/x Jahren (oder so), und zehn Verdopplungszeiten entsprechen einer Vertausendfachung. Fast nichts auf dieser Welt kann sich vertausendfachen, ohne dass etwas gewaltig vor die Hunde geht.
Friedrichstadt hat sich dem Wachstum in mancherlei Hinsicht beeindruckend entzogen. Herzog Friedrich III von Gottorf hat den Ort in den 1620er Jahren als künftiges Handelszentrum mit ein paar tausend EinwohnerInnen planen lassen. Derzeit, 401 Jahre Jahre nach der Gründung, leben so um die 2500 Menschen hier. Um die Größenordnungen zu betonen: Wer 400 Jahre Zeit hat, hat auch bei einer Verdoppelungszeit von 40 Jahren noch eine Vertausendfachung, und 40 Jahre Verdoppelungszeit entsprechend weniger als zwei Prozent Jahreswachstum.
Fortzug in wirtschaftlich prosperierendere Gegenden
Friedrichstadt aber wuchs zumindest in der Bevölkerung nicht. Die entsprechende Statistik aus der Wikipedia sieht als Spline-geglätteter (was das Loch nach dem ersten Weltkrieg überbetont) Plot so aus:
Der Berg in den 1940er und 1950er Jahren ist Folge des Zuzugs von Geflüchteten vor allem aus den von der Sowjetunion eroberten bzw. später kontrollierten Gebieten. Sein Abschmelzen führen die Wikipedia-AutorInnen auf den „Fortzug der Vertriebenen in wirtschaftlich prosperierendere Gegenden“ zurück.
Auch wenn Bevölkerungsexport keine, hust, nachhaltige Strategie ist: Der Nettoeffekt ist eine konstante Bevölkerung, und bei recht maßvoller Entwicklung der Wohnfläche pro Mensch ist das auch im Stadtbild sichtbar, denn Friedrichstadt hat kaum Einfamilienhaus-Wüsten aus dem Auto-Zeitalter (auch wenn die Stadt, das Eingangsfoto zeigt es, der Automobilisierung nicht entgehen konnte).
Doch auch wirtschaftlich hat sich nicht allzu viel getan: Eine Mühle, die Kölln-Flocken hergestellt hat (na gut, vielleicht auch anderen Kram für die Firma), ist 2001 wegen mangelnder Kapazität geschlossen worden – wo sie stand, ist heute ein Komplex von Spiel- und Bolzplätzen. Andere Industrie hat schon vorher aufgegeben.
Und so lebt Friedrichstadt eben weitgehend von Tourismus. Es ist ja auch hübsch hier. Auch das würde ich jetzt nicht als „nachhaltig“ bezeichnen, zumal es ohne ein gewisses Niveau an industrieller Produktion nichts würde mit den fünf Stunden Lohnarbeit pro Woche. Aber dennoch ist es interessant, wie sich eine Stadt anfühlt, die 400 Jahre lang stagnierte, aus welchen Gründen und mit welchen Mitteln auch immer.
Ich muss sagen: Mir gefällt es in Friedrichstadt.
[1] | Ich persönlich vermute ja, dass es, als beim Konzil von Nicäa die Trinität beschlossen wurde, ähnlich zuging wie während der marktradikalen Hochschul„reformen“ der 1990er und Nullerjahre („Bologna-Prozess“), als jedeR jedeN aufs Kreuz zu legen versuchte und das Ergebnis völlig dysfunktionaler Quatsch ist. |
Zitiert in: Dialektik der Ökonomie Und nochmal Postwachstum: Von Friedrichstadt zu Isnogud