Ein weiterer Grund, Viren zu loben: Ich habe es geschafft, fünf Jahre
und einen Monat nicht zu fliegen, was im Wissenschaftsbetrieb außerhalb
von Pandemien nicht einfach ist. Doch ist jetzt es vorbei: es hilft
nichts, wenn ich meinen Job machen will, komme ich für die nächsten drei
Wochen nicht um die USA herum, und so musste ich mich heute erneut all
den schon halb vergessenen unangenehmen Ritualen einer Flugreise
unterziehen.
Nicht viel Schamgefühl außer Flugscham
In etwa das unangenehmste Ritual unter diesen ist wohl die
„Sicherheitskontrolle“, wobei in Frankfurt inzwischen immerhin das
Rausfummeln von Computern sowie in Abhängigkeit von der Mondphase auch
anderen Elektrogeräten entfällt. Kennt wer die offizielle Erzählung,
welcher Wundertechnik (vielleicht „KI“?) wir diese Erleichterung
verdanken? Unter „den Umständen entsprechend gute Nachrichten“ zu
rubrizieren ist auch, dass an den dämlichen Nacktscannern weiterhin zu
lesen ist, mensch unterwerfe sich ihrer Analyse „freiwillig“.
Nicht, dass ich viel Schamgefühl jenseits der Flugscham hätte, aber da
die Dinger wie kaum etwas anderes für das Geschick des
Sicherheits-Industriellen Komplexes stehen, der öffentlichen Hand mit
autoritären Versprechen allen möglichen Tech-Plunder unterzujubeln, habe
ich zumindest in der BRD immer abgelehnt, sie auf mich anwenden zu
lassen. Der Preis dafür war ein Abtasten etwa der Art, die es zuvor
für ein Piepen des Metalldetektors gesetzt hatte.
Demonstrativ grobes Fingern
Bis vor fünf Jahren haben die Abtastenden in allen vielleicht fünf
Fällen, in denen ich bei dem Zirkus mitspielen musste, einen gewissen
Respekt für die Entscheidung demonstriert; manchmal fragten sie sogar
mit echtem Interesse nach meinen Motiven.
Heute hingehen hat der Abtaster die Prozedur demonstrativ grob
durchgeführt und spürbar viel gründlicher rumgefingert als unter den
öffentlichen Narrativen („Sprengstoffgürtel und -schuhe finden“)
plausibel. Durch eine (wirklich) milde Rückfrage in dieser Sache ließ
sich der Abtaster hinreißen zu einem ranzenden: „Tja, wer nicht in
den Scanner geht, kriegt halt das hier“. Ich denke, es ist keine
Paranoia, wenn ich in seiner Rede mehr als nur einen Hauch von
Strafabsicht wahrgenommen habe.
Ein weniger schlecht gelaunter Kollege relativierte das zwar ein wenig,
indem er meinte, jetzt gerade – „Israel, Palästina“ – sei viel
Sorgfalt geboten. Aber dennoch: Wann genau hört Freiwilligkeit auf und
wann wandelt sich Sicherheitstheater in Strafe für unbotmäßige
Technikverweigerung?
Ballern ganz offiziell im Mainstream
Es wäre gut, diese Grenze abgesteckt zu sehen wann immer irgendein
autoritärer Quatsch (sagen wir, Fingerabdrücke im Personalausweis oder
personengebundene Bahnfahrkarten) daherkommt und es heißt: „Habt euch
doch nicht so, es ist ja freiwillig“. Ah… Na gut, speziell bei den
Fingerabdrücken im Perser hat sich die Autorilla zugegenermaßen gar
nicht erst mit eskalierendem Rumnerven abgegeben und gleich den Zwang
ausgerollt.
Mir selbst nicht klar geworden bin ich darüber, ob das in irgendeiner
Beziehung steht zu einer anderen Post-Corona-Änderung am Flughafen:
Ballerspiele sind auch dort ganz offiziell im Mainstream angekommen. Am
hochsicheren Flugsteig Z in Frankfurt sind sie inzwischen auf einem
Salienzniveau mit Toiletten und Raucherzonen:
Die Behauptung, Reisen erweitere den Horizont, ist sicher eine der
abgedroscheneren Weisheiten, die einen Artikel eröffnen können. Nun:
hier habe ich eine aktuelle Illustration für ihre fortbestehende
Wahrheit.
Kaum überraschend bin ich nämlich von meiner ersten großen
Auslands-Dienstreise (immerhin noch ohne die Erniedrigung des
Flugverkehrs) mit einer aktuellen Variante von SARS-II zurückgekommen.
Diese brachte mein Immunsystem mächtig auf Touren („Calor, Dolor,
Tumor, Rubor“, in meinem Fall vor allem Calor bis 39 Grad und
bejammernswerte Mengen Dolor). In Summe: Ich konnte für drei Tage im
Wesentlichen nichts tun als Audiobücher hören, die ich bei vergangenen
Reisen aus dem ICE-Portal der Bahn aufgenommen habe. Eines davon war
„Die Filiale“ des Wirtschafts-Motivationspredigers Veit Etzold.
Vielleicht ist das Werk selbst nicht sehr bemerkenswert, doch seine
Verbreitungsweise ist es: Da es bei Argon erschienen ist (und auch als
richtiges Buch bei Droemer), muss es wohl durch mindestens ein Lektorat
gegangen sein. Und danach muss es immer noch wer fürs ICE-Portal
ausgewählt haben. Irgendwo auf diesem Weg sollte doch jemand selbst
angesichts eines Promi-Autors („Promi“ nehme ich jedenfalls an; ich
kannte Etzold bis jetzt nicht) die Anmerkung gewagt haben, dass die
Personen der Geschichte sprechen und handeln wie auf schlecht übersetzte
US-Soaps trainierte Schaufensterpuppen?
Ich finde weiter, ein Lektorat hätte merken müssen, dass die weit
mehr künstlich als kunstvoll eingebauten Versuche, zweifelhafte
„Finanzprodukte“[1] zu erklären und ein paar Brocken
Französisch einzustreuen, einen Cringe-Faktor haben wie Marie Louise
Fischers Hausgespenst-Schmonzetten (1976 bis 1982; für Kinder der Zeit
sowie Neugierige entleihbar bei libgen) aus dem Schneider-Verlag
unseligen Angedenkens[2]. Auch diese versuchten es mit
übermäßig beiläufig eingestreuten Bildungshäppchen zu Pferdepflege,
bayrischer Geographie, Kreuzfahrtschiffen und eben auch Französisch.
Dazu tritt das zu billig rekrutierte Personal der Geschichte, das im
Wesentlichen aus relativ glücklich verheirateten, berufstätigen,
einfamilienhausbewohnenden Schwabos[3] um die 40 besteht, die
mit, na ja, Internetfirmen und von diesen unterwanderten
Traditionsbanken um ihr liebevoll ausgebautes – wenn auch nur gemietetes
– Einfamilienhaus samt kameraüberwachten Gartenzwergen ringen.
Also schön: das mit den Gartenzwergen habe ich erfunden: In der
Wirklichkeit des Buchs videoüberwacht der liebenswerte, wenn auch etwas
trottelige Gatte der Bankangestellten-Heldin gleich die ganze Straße;
dass Etzold schließlich die Rettung der ab Mitte des Werks
außertariflich Bezahlten auf diese niederträchtige Schurkerei aufbaut
und bei der Gelegenheit noch etwas Anti-DSGVO-Ressentiment unterbringt,
das hätte es selbst in diesem Roman wirklich nicht gebraucht.
Das ganze Szenario wirkt um so artifizieller, als in Etzolds Welt die
Männer Handwerker (oder bestenfalls FH-Absolventen auf dem Sprung aus
Besoldungsgruppe A11) sind, während die Frauen zumindest akademischen
Habitus zeigen. Ich wittere da aus der ollen rechten Sorge vor der
„Überakademisierung“ der Bevölkerung geborene Träume, denn in der
Realität sind schichtenübergreifende Ehen in dieser Kombination sehr
wahrscheinlich immer noch die große Ausnahme (da bin ich mir so sicher,
dass ich keine Belege dafür suche).
Und auch wenn ich kein Diversitätsfass aufmachen will, ist es für eine
Geschichte, die in Berlin spielt, eigentlich schon ein politisches
Statement, wenn als einzige erkennbare Nichtschwabos zwei
tschetschenische Killer und ganz kurz ein dicker, rauchender Franzose
auftreten.
Bei aller Kritik, und nun kommt das mit der Horizonterweiterung (denn
ohne Reisen hätte ich weder jetzt SARS-II eingefangen noch das
Etzold-Buch gehört), hat mir das Buch eine ganze Welt in Plastorama
vorgespielt: Menschen, die mit ihren KollegInnen um die Beförderung zur
stellvertretenden Filialleitung konkurrieren und die Arbeitsnutzerrede
vom Betriebsrat als Abhängebude erst dann kurz vergessen, wenn es
wirklich brennt, deren Internet aus lauter proprietären Plattformen, aus
Markennamen besteht (aus dem Kopf: Reddit, Linkedin, Xing, Instagram,
Whatsapp, erstaunlicherweise aber nach meiner Erinnerung weder Amazon
noch Twitter), die ständig im Auto – einem „Amarok“ zumal, wenn sie im
Wald Tiere totschießen wollen[4] – umherfahren und die
ansonsten ihre triste Existenz mit Grillfleisch, Rotwein, Caipirinha,
Starbucks-Karamelkaffee und Bekannten aus der Muckibude aufhellen.
Wie mir Vorleserin Verena Wolfien das alles durchaus gekonnt in mein
Fieberdämmern hineintrug, kam es mir in der irritierenden Kombination von
hölzerner Prosa und thermoplastischer Handlung wie eine komische und
wüste Dystopie im Stil von David Lynch vor. Bis ich merkte, dass das
vermutlich unfair ist. Klar ist die Geschichte grob holzgeschnitzt,
aber das Internet besteht für viele Menschen ja tatsächlich im
Wesentlichen aus einer Handvoll proprietärer Plattformen. Nennenswert
viele Menschen arbeiten, glaube ich, tatsächlich ernsthaft auf eine
Beförderung hin, ganz gleich, wie sinnlos oder gar unmoralisch
(„Anlageberaterin“) schon ihre bestehende Tätigkeit ist.
In meinem Fieber fühlte sich diese Einsicht recht profund an.
Wahrscheinlich ist sie das nicht, aber gut sind solche Erinnerungen an
die Blasenhaftigkeit der eigenen Weltwahrnehmung dann und wann bestimmt.
Außerdem war die Erleichterung angenehm, als im nächsten Hörbuch
(„Acht, in Böen Neun” von Michael Wirbitzky, der als Hörfunkmensch
eingestanden auch bessere Voraussetzungen hat; wenns das im Bahn-Portal
noch gibt, lohnt es sich durchaus) Leute wieder wie halbwegs echte
Buchmenschen redeten.
Oh, und… Herr Etzold, sollten Sie das lesen und wirklich einen
Bildungsauftrag verspüren: Nein, schon als Sie das Buch schrieben, war
ein UMTS-Modul in einem Computer keine gute Wahl mehr für mobilen
Internetzugang. Ein schneller Blick in die Wikipedia (oh ja:
wertvoll, obwohl ohne Preis) hätte Ihnen gesagt, dass in der BRD
schon Ende 2021 mit UMTS kein Blumentopf mehr zu gewinnen war (in der
Praxis war für mich schon Mitte 2021 Schluss), also im Wesentlichen
simultan zur Gamestop-Geschichte, auf die Sie im Buch anspielen.
Für die nächste Auflage des Buches schlage ich eingedenk dessen ein
durchgreifendes De-Branding vor. Hier zum Beispiel: „Funkmodem”.
Allerdings gebe ich zu, dass ein Wort wie „Karrierenetzwerk“ den
Tatbestand von Linkedin und Co zur Kenntlichkeit verzerrt, was
vielleicht der Kunst (oder was immer) nicht wirklich hilft. Hmja.
Was ich davon mitgenommen habe: Wandelanleihen sind Mist,
weil daran allenfalls die Bank verdient. Zur Kritik des gesamten
Konzepts von Reichwerden mit Geldspielen kommt, das sage ich gleich
mal, im Buch nichts; aber das wäre vielleicht auch etwas viel verlangt
von einem, der bei der HAW Aalen als BWL-Professor auftritt
(angesichts der hohen Lehrbelastung an Ex-Fachhochschulen und Etzolds
Wohnsitz in Berlin werden bei diesem Job aber wohl mildernde Umstände im
Spiel sein).
Beim Wikipedia-Stöbern zu alten Schneider-Autoren habe ich
zu meiner endlosen Überraschung erfahren, dass der Autor der doch sehr
stulligen (aber von mir seinerzeit heißgeliebten)
Schreckenstein-Romane, Oliver Hassencamp, Gründungsmitglied der
Münchner Lach- und Schießgesellschaft war. Oh?
Schwabo ist die (eine?) Bezeichnung für „Deutsche“ im
Serbokroatischen gewesen. Weil ich immer noch Abbitte leisten will für das
Unheil, das Genschers Großmachtfantasien vom Dezember 1991 (und u.a.
meine Unfähigkeit, rechtzeitig effektiv etwas gegen sie unternehmen)
über dessen SprecherInnen gebracht haben, ziehe ich das Wort dem
üblicheren „Kartoffel“ vor.
Mein Sinnbild für den Zusammenbruch der antiken Kultur: Zwei
Inschriften aus dem Kölner Römisch-Germanischen Museum, die eine schon
christlich-apokalyptisch (mit Flammenvisionen), aber noch erkennbar
von Profis mit Anschluss an die mediterrane Kultur gefertigt, die
andere, vielleicht 100 Jahre später, nur noch freihändiges Gekrakel
fränkischer Amateure.
Ich habe mich schon im März eines gewissen Römerfimmels bezichtigt.
Dieser Schwäche nachgebend lese ich gerade „The Fate of Rome – Climate,
Disease & the End of an Empire“ von Kyle Harper (Princeton University
Press, 2017, entleihbar bei libgen; gibts auch auf Deutsch bei C.H.
Beck als „Fatum. Das Klima und der Untergang des Römischen Reichs“,
aber das habe ich nicht).
Der Untertitel verrät es: Harper analysiert hier den Untergang des
römischen Reichs als Folge von Klimaveränderung und Seuchen. Das klingt
nicht nur wie ein Film am Discovery Channel, es ist auch ein wenig so
geschrieben. Gut, der eingebettete Arztroman über Galen ist immerhin
noch motiviert, weil dieser eine wichtige Quelle zur Antoninischen
Pest (nach Harpers Einschätzung eine Pockenepedemie) ist, aber dennoch
wirken Spannungsbögen in so einem Buch schnell albern oder
ranschmeißerisch. Und Harpers Tendenz, das Gleiche mehrfach
hintereinander leicht variiert zu sagen, verbunden mit einer oft
ziemlich atemlosen Sprache, nervt doch etwas. Eine Kostprobe:
But it was not yet a crisis: [...] The fruits of Severan success were
abundant. A bloom of cultural efflorescence, more inclusive than ever
before, unfolded. The influx of provincial talent was a jolt to
Severan culture. The ancient capital remained the focal point of
imperial patronage.
Allzu oft wirkt es, als hätte Harper Zeilen geschunden. Das Buch könnte
bei gleichem Informationsgehalt auch halb so lang sein und wäre dabei
jedenfalls für Menschen wie mich lesbarer.
Dabei sind viele der Gedanken sehr wertvoll und verdienen überhaupt
nicht, im Stil einer Fernsehreportage über spontane Selbstentzündung
serviert zu werden. So hatte ich zwar schon lange die Ausbreitung des
apokalyptischen Christentums mit dem weitgehenden Zusammenbruch der
antiken Kultur in Verbindung gebracht. Über die Ursache dieser
Ausbreitung hatte ich mir jedoch nie wirklich Gedanken gemacht – es war
in meiner Vorstellung, wahrscheinlich unter dem übermächtigen Einfluss
von Bertrand Russell, eben so, dass die Leute plötzlich auf
orientalische Kulte Lust hatten, ob nun Isis und Osiris, Mithras,
Jupiter Dolichenus[1] oder halt Jesus Christus.
Nun bietet Harper eine historisch-materialistisch befriedigendere
Geschichte an:
Bis 200 ndcE[2] sind Christen in der Überlieferung praktisch
unsichtbar. Die Christen der ersten zwei Jahrhunderte wären kaum eine
Fußnote der Geschichte, wären da nicht die späteren Ereignisse. Es
wird geschätzt, dass es in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts
größenordnungsmäßig 100'000 ChristInnen gegeben hat [wie gesagt,
Harper sagt die Dinge gerne drei Mal]. Im Jahr 300 ndcE hatte sich
ein atemberaubender Wandel ergeben. Das deutlichste Zeichen ist die
plötzliche Verbreitung christlicher Vornamen. Eine aktuelle Arbeit
schätzt, dass zu diesem Zeitpunkt erstaunliche 15-20 Prozent der
ägyptischen Bevölkerung ChristInnen waren.
Original
Down to AD 200, Christians are virtually invisible in the
documentary record. If not for later events, the Christians of the
first two centuries would be hardly a footnote to history. In the
later second century, it has been estimated that there were on the
order of 100,000 Christians. By AD 300, there had been staggering
change. The clearest sign is the sudden spread of Christian personal
names. It has recently been estimated that an astounding 15–20 percent
of the population may have already been Christian in Egypt.
Dazwischen fand – neben dramatischen Missernten infolge von mit einer
Abkühlung des Weltklimas verbundenen Dürren im Mittelmeerraum[3] –
die nach Harpers Darstellung verheerende Cyprianische Pest statt, für
die er einen Ebola-ähnlichen Erreger vorschlägt. Es ist höchst
plausibel, dass ein Massensterben an hämorrhagischem Fieber – also:
Leute bluten aus jeder Pore ihres Körpers – größte Zweifel an den
herrschenen Weltbildern auslösen kann. Harper schreibt dazu:
Die Verbindung von Pest und Verfolgung scheint die Verbreitung des
Christentums beschleunigt zu haben. So jedenfalls sah die
Erinnerung einer bestimmten Christengemeinde aus, der von Neocaesarea
in Pontus. In den Volkserzälungen rund um den Ortsheiligen, Gregor
den Wundertäter, war die Pest ein Wendepunkt in der
Christianisierung der Gemeinde. Das Massensterben zeigt die
Machtlosigkeit der Götter der Alten und stellte die Tugenden des
christlichen Glaubens heraus. Mag die Geschichte auch stark
schablonenhaft sein, sie konserviert einen Kern historischer
Erinnerung über die Rolle der Pest in der religösen Bekehrung der
Gemeinde.
Der klarste Vorteil des Christentums war seine unerschöpfliche
Kapazität, mittels einer Ethik aufopfernder Liebe familienähnliche
Netzwerke zwischen völlig Fremden zu knüpfen.
Original
The combination of pestilence and persecution seems to
have hastened the spread of Christianity. That was the memory of one
Christian community, at Neocaesarea in Pontus. In the folk legends
that attached to the local hero of the faith, Gregory the
Wonderworker, the plague was a pivotal episode in the Christianization
of the community. The mass mortality painfully showed up the
inefficacy of the ancestral gods and put on exhibit the virtues of the
Christian faith. However stylized the tale may be, it preserves a
kernel of historical recollection about the plague’s role in the
religious transformation of the community.
Christianity’s sharpest advantage was its inexhaustible ability to
forge kinship-like networks among perfect strangers based on an ethic
of sacrificial love.
Ohne, dass das viel an Harpers Darstellung ändern würde, würde ich
persönlich ja in der erwähnten Tradition von Bertrand Russell eher
spekulieren, dass das zumindest in etlichen Ausprägungen heitere antike
Pantheon – ich verweise auf das leicht skandalöse, aber den römischen
Geschmack m.E. gut treffende Riesendia im Römermuseum Osterburken:
– in einer Zeit von Hunger- und Pestkatastrophen viel weniger attraktiv
wirkte als die Endzeitreligion, die das damalige Christentum ganz sicher
war. Die zeitgenössichen Missionierenden dürften mindestens ebenso
alarmistisch unterwegs gewesen sein wie die „das Ende ist nah“-Zeugen,
die sich heute auch nicht davon beirren lassen, dass sich ihre
Vorhersagen der Weltuntergänge 1914, 1925 und 1975 allesamt als
nicht ganz zutreffend erwiesen haben[4].
Und damit landen wir in der Gegenwart. Gewiss ist die SARS-2-Pandemie
verglichen mit einem Krankheitsgeschehen mit einer Gesamtsterblichkeit im
einige-zehn-Prozent-Bereich nicht zu vergleichen – aber dann ist
unsere Gesellschaft in mancherlei Hinsicht etwas menschlicher geworden
(auch wenn Blicke etwa in Fußballstadien oder Boxhallen anderes vermuten
lassen). Und so mögen auch die insgesamt weniger dramatischen
Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit zusammen mit der Erfahrung
von Lockdown, Aussperrung und Heimarbeit sowie dem Doomscrolling auf
Twitter durchaus zu vergleichbaren Aufwühlungen geführt haben. Müssen
wir jetzt also mit religiösen Erweckungsbewegungen der Größenordnung der
Christianisierung Roms rechnen?
Ich sage mal mutig: eher nicht. Ohne tiefere Recherche scheint mir, dass
grob vergleichbare Ereignisse in der Moderne auch keine solchen
Konsequenzen hatten. Weder die spanische Grippe, die
noch dazu vor der Horrorfolie des gerade zu Ende gegangenen ersten
Weltkriegs ablief und fast überall deutlich dramatischer war als
SARS-2, noch die vermutlich letzte Coronapandemie vor
SARS-2 mit einer Sterblichkeit, die damals wahrscheinlich mit der in
heutigen Lassen-Wirs-Laufen-Ländern vergleichbar gewesen sein wird,
hatten offenbar nennenswerten Einfluss auf den Missionserfolg von
Adventisten, Zeugen oder vergleichbaren Endzeitkulten.
Schauen wir mal. Wer Anzeichen von Post-Corona-FlagellantInnen
sieht: Ich bin für Hinweise dankbar.
Der ist übrigens mein Lieblingskult in dieser Liga, weil er
eine der wenigen Religionen in der Geschichte der Menschheit sein
dürfte, die an Kollisionen mit der Realität scheiterten. Der
Hauptgott war eine milde angepasste Interpretatio Romana des
mesopotamischen Superhelden Hadad, der vor allem mal alles
zerschmettern konnte. Zitat Wikipedia: „Nach der Zerstörung des
Hauptheiligtums in Doliche durch den Sassaniden-König Schapur I. Mitte
des 3. Jahrhunderts ging der Kult unter.“ Sagt, was ihr wollt: Ein
Kult, der einen solchen Gegenbeweis der Glaubensinhalte zum Anlass zur
Auflösung – statt, wie in dem Geschäft sonst üblich, zu Zelotentum und
verdrehten Ausflüchten – nimmt, kann so verkehrt nicht gewesen sein.
Aus Heidelberger Sicht vergleichbar relevant: In der
fraglichen Zeit, also zwischen 240 und 260, löste sich auch das
Grenzregime am Limes auf, und die römischen Truppen zogen sich an
Rhein und Donau zurück (von ein paar Brückenköpfen wie Ladenburg oder
Köln-Deutz mal abgesehen).
Nur, damit ich nicht falsch verstanden werde: Verglichen mit
zahlreichen anderen Kulten kann ich Jehovas Zeugen trotzdem total gut
leiden. Einerseits natürlich wegen der Steinigungsszene im Life of
Brian, vor allem aber, weil eine Lehre, aus der konsequente und
radikale Kriegsdienstverweigerung (lokales Beispiel) folgt, extrem
viel Nachsicht erwarten kann.
Im Sommer 2021 habe ich in zweiPosts Filme zur Visualisierung der
Corona-Inzidenzen und einer Art Alters-Scores aus den RKI-Daten der
vorherigen anderthalb Jahren vorgestellt und ein wenig das
Python-Programm diskutiert, das die generiert.
Ich wollte das über den Sommer immer mal aktualisieren. Aber die
Pandemie hat keine erkennbare Pause eingelegt, die eine gute Gelegenheit
für eine Art Rückblick gewesen wäre. Jetzt aber ist wohl so in etwa der
letzte Moment, in dem so ein Film noch nicht vollständige Clownerei ist,
denn schon jetzt testet zumindest anekdotisch kaum mehr jemand. Wenn
aber fast niemand PCR-Tests machen lässt, werden die Zahlen, die ich da
visualisiere, weitgehend bedeutunglos (weil nicht small data).
Bevor das Ganze zu einer Art aufwändigen Lavalampen-Simulation wird,
habe ich die Programme genommen, dem Inzidenzfilm eine dynamische
Colorbar gegönnt – angesichts von Inzidenzen von örtlich über
4000/100'000 im letzten Winter war das bisher feste Maximum von 250
nicht mehr sinnvoll – und habe die Filmchen nochmal mit aktuellen Daten
gerendert.
Beide Filme sind mit -i 7 gebaut, jeder Tag ist also sieben Frames
lang. Inzwischen wären die Filme zwar auch ohne Interpolation lang
genug, aber sie hilft wenigstens dem Lavalampen-Effekt – und natürlich
verletze ich gerne das Durchhörbarkeits-Zeitlimit von drei Minuten. Auch
wenn die Filme gar keinen Ton machen.
Ich habe die Gelegenheit genutzt, um den Code, der das macht – statt ihn
nur hier zu verlinken, wo ihn niemand finden wird –, brav auf dem
Codeberg abzuladen. Vielleicht hilft er dort ja Leuten, die
irgendwann irgendwelche Daten in Kreispolygonen von matplotlib aus
plotten wollen. Wenn es dafür bessere Standardverfahren geben sollte,
habe ich die zumindest vor einem Jahr nicht gefunden.
Wieder mal bin ich erstaunt über die Relation von Corona- zu
sonstiger Berichterstattung. Während die Deutschlandfunk-Nachrichten um
7:30 aufmachten mit 800 Austritten aus der Linkspartei, gab es kein Wort
dazu, dass derzeit hier im Land recht wahrscheinlich mehr SARS-2-Viren
umgehen als je zuvor.
Das ist aus den robusten Schätzern (Lang lebe small data!) zu
schließen, die das RKI in seinen Wochenberichten veröffentlicht – die
Inzidenzzahlen aus der Vollerfassung reflektieren ja inzwischen eher
reales Verhalten als reale Verhältnisse, weil kaum mehr jemand
PCR-testet. Bessere Zahlen sind zu schätzen aus dem, was ganz normale
Leute über das GrippeWeb des RKI (Danke an alle, die mitmachen!) zu
Erkältungen und Co berichten und aus den Diagnosen bei ÄrztInnen, wie
viele Leute derzeit mit Symptonen Covid haben:
(Quelle). Sehen wir uns an, wie das zum Höhepunkt der Omikron-Welle im
Frühling aussah; die höchste Schätzung war für Kalenderwoche 11 im
Bericht vom 24.3.:
Nun gebe ich euch, dass das Mittel der damaligen Schätzung noch eine
Ecke über der von heute liegt und inzwischen die Fehlerbalken größer
sind. Aber wirklich signifikant verschieden sind die geschätzten
Inzidenzen nicht.
Und das sind nur Leute mit Symptomen. Weil inzwischen viel mehr
Menschen SARS-2 schon einmal überstanden haben als im März, ist
anzunehmen, dass auch viel mehr Menschen asymptomatisch erkrankt (aber
vielleicht noch infektiös) sein werden als in Kalenderwoche 11. Wenn
sich die entsprechende Dunkelziffer auch nur um ein Drittel erhöht hat,
laufen jetzt fast sicher mehr SARS-2-infektiöse Menschen herum als
damals.
Dass „Infektionsraten wieder zurück auf Märzniveau“ gar keine
Nachricht ist, finde ich zumindest in der Schrödinger-Interpretation
des derzeitigen Pandemie-Umgangs interessant. Im
Pandemie-vorbei-Zustand – und Abschnitt 1.6.3 im aktuellen
RKI-Wochenbericht scheint in anzuzeigen –, wäre die Nachricht nämlich im
Effekt „alle haben Schnupfen“, was eingestandenermaßen eher auf dem
Niveau von „Hund beißt Mann“ ist und vielleicht wirklich nicht in die
DLF-Nachrichten gehört. Stellt sich allerdings heraus, dass die Pandemie nicht
vorbei ist, ist das, was da in der Schrödinger-Kiste ist,
keine Katze mehr, sondern ein Tiger.
Ich selbst – der gerade das erste Rhinoviren-Elend der Saison durchläuft
– neige mittlerweile deutlich zur Einschätzung, dass wir mit „ist
vorbei“ durchkommen werden, ohne noch unser Normal-Moralniveau im
Bereich öffentlicher Gesundheit verlassen zu müssen.
Aber wie es so ist mit den Kisten vom Schrödinger-Typ: Beim Öffnen kann
es Überraschungen geben. Und so fände ich es schon ganz korrekt,
wenigstens ein Mal die Woche, also nach dem Wochenbericht, kurz
durchzusagen, dass, wer sich einschlägig Sorgen macht, derzeit die Ohren
auf Märzniveau anlegen sollte.
Im Glaspalast in Sindelfingen: Klare Luft und viel Platz. Mithin
lässt das hier beobachtbare Clusterverhalten einen klaren Schluss auf
P⁻ zu.
Ich bin wieder eifrig am Öffnen der Kiste, in der Schrödingers Pandemie
in einem Mischzustand von P⁺ (es ist noch Corona) und P⁻ (Corona ist
rum) existiert – ich hatte das neulich schon diskutiert
Dieses Mal bin ich bei der Landesdelegiertenversammlung meines
GEW-Landesverbands. Im Vorfeld sah alles aus, als würde diese unter
P⁺ stattfinden: Die Einladung mahnte zu Tests vor der Anreise und am Morgen
des zweiten Tages, in der Konferenztasche fanden sich drei FFP-2-Masken,
und vor allem anderen steigt das Ding im Sindelfinger Glaspalast.
Diese Halle hat mich bei meinen CO₂-Messungen wirklich vom Hocker
gerissen, denn während der Beratungen stieg die CO₂-Konzentration nie
nennenswert über 400 ppm – bei einem Außenniveau von ungefähr 300 ppm.
Was Aerosole angeht, kann mensch also ganz beruhigt sein, und wer in
einem P⁺-Universum ein Treffen in der Paar-Hundert-Leute-Klasse
plant, kann nach meiner Einschätzung beruhigt im Glaspalast einziehen.
Als ich die Pandemiekiste vor Ort wirklich geöffnet habe, kollabierte
die Wellenfunktion aber trotz dieser Vorzeichen fest auf P⁻. Abstand ist
kein Thema, schon gar nicht OP-Masken etwa der Essensausgabe, wo große
Menschenmengen in Spuckdistanz sind (und ich eines der wenigen
realistischen Szenarien für Kontaktinfektionen sehe). Weniger eng war
es zwar beim Frühstücksbuffet im Hotel – das von Delegierten dominiert
war –, aber in einer P⁺-Welt, in der immer noch bis zu 2% der
Erwachsenen SARS-2-Viren ausscheiden werden, wäre zumindest ein wenig
Spuckschutz bei der Bedienung von Cornflakesspender und O-Saft-Kanne
schon noch indiziert gewesen. Im Shuttlebus zwischen Hotel und
Glaspalast folgten bis zu einer sehr deutlichen Mahnung des Busfahrers
allenfalls ein Drittel der Delegierten der in den meisten P⁺-Universen
geltenden Maskenpflicht (wobei ich einräumen muss, dass das zwar
wie ÖPNV aussah, aber wahrscheinlich keiner war).
Ganz klar in einer P⁻-Welt – ihr merkt, die Realität schubst mich
zunehmend zur Everett-Interpretation – fand aber der soziale Abend
statt, mit Musik, Tanz, milder Intoxikation, zwar in der Qualitätsluft
im Glaspalast, aber eben auch mit völlig conrona-unkonformer Klumpung.
Es war jedoch, das sei zur Ehrenrettung der Delegierten eingeräumt, viel
leichter, hier Übertragungssituationen auszuweichen als beim
Konferenz-Bankett, von dem ich vor einer guten Woche berichtet habe.
Damals habe ich geschlossen mit:
Wenn ich mir angesichts von realen Infektionsraten von mindestens
1% beim Bankett kein SARS-2 eingefangen habe, dann müssen die Menschen
im P⁻-Zustand wohl doch recht haben…
Was soll ich sagen? Die Antigen-Tests sind stur negativ geblieben.
Dann hat sich auch noch Joe Biden als persongewordene Risikogruppe in
P⁻ geoutet. Ich… Nun, ich mach die Kiste erstmal wieder zu und bin
neugierig, wie es aussieht, wenn ich sie das nächste Mal wieder öffne.
Fußmatte in meinem ersten Dienstreisehotel seit Februar 2020.
Ich bin gerade auf dem Rückweg von meiner ersten ordentlichen (also: in
Präsenz) wissenschaftlichen Konferenz „seit Corona“, und ich fühle mich
aus der Perspektive der Sozialgeschichte aufgerufen, meine Eindrücke zum
derzeitigen Umgang mit SARS-2 festzuhalten. Wer weiß, wer sich im
nächsten Frühling noch an den derzeitigen Zustand der Gesellschaft
erinnert?
„Zustand“ ist dabei stark vom Zustandsbegriff der Physik
inspiriert, eigentlich gar vom Quantenzustand, weshalb sich mir die Rede
von „Schrödingers Pandemie“ aufdrängt, in einer popkulturellen Analogie
zu Schrödingers Katze. Deren Leben wird, ich erwähne es kurz für
Nicht-Link-KlickerInnen, in einer nicht sehr freundlichen Weise mit der
Wellenfunktion eines radioaktiven Atomkerns verschränkt. Das Ganze
findet in einer hinreichend von der Umwelt abgeschlossenen Kiste statt.
Nach populären Interpretationen der Quantenmechanik sorgt das dafür,
dass die Katze, solange niemand nachsieht, in einer Mischung aus den
Zuständen lebendig oder tot existiert.
Ein wenig so war meine Erfahrung mit SARS-2 während der letzten Tage –
erst, wenn ich irgendwo war, konnte ich feststellen, ob ich in dem Zweig
der Realität bin, in dem die Pandemie rum ist (ich nenne das ab hier
P⁻) oder in dem, in dem sie es nicht ist (was ich kurz als P⁺ bezeichnen
will).
Das ging schon beim Bezug des Hotels los. Auf dem Weg dorthin habe ich
mich gefragt, ob ich besser mit Maske reingehe – ist jedenfalls netter
und rücksichtsvoller, auch wenn die Rezeptionssituation in kleinen
Hotels, in denen alle halbe Stunde mal wer ankommt, so oder so wenig
Übertragungsrisiko birgt – oder besser ohne – weil sich manche Leute in
der Gastronomie von Menschen im P⁺-Zustand existenziell bedroht fühlen.
Wenn es sachlich keinen großen Unterschied macht, bin ich in jede
Richtung kompromissbereit.
Diese Überlegungen waren unnütz, denn das Empfangspersonal erwies sich
als eine Zehnertastatur für den Schlüsselkasten. Dieser war das alles
ersichtlich egal. Ich blieb also im P⁻-P⁺-Mischzustand, bis ich die
Hoteltür öffnete und die oben abgebildete Fußmatte vorfand. Ergebnis
des Experiments für dieses Mal: Das Hotel ist in P⁺.
Am Frühstücksbüffet stellte sich jedoch heraus, dass doch eher P⁻ gilt,
denn ich fing ein paar befremdete oder genervte Blicke ein mit meiner
einsamen Maske, und Abstand am Büffet war jedenfalls für etliche der
anderen GästInnen keine erkennbare Priorität. Danach habe ich in den
nächsten Tagen auch maskenlos gefrühstückt, denn ganz ehrlich: Wenn
mensch am Tisch zwangsläufig ohne Maske dasitzt, ist sie auf dem Weg vom
und zum Tisch auch unter Annahme von P⁺ nur dann geboten, wenn es eng
wird, und das war in diesem Hotel leicht vermeidbar. Dennoch: die
zweite Runde ging klar an P⁻.
Das war auch daran zu erkennen, dass meine Mit-GästInnen den bei P⁺ gut
nachvollziehbaren Wunsch der Hoteliers ignoriert haben, in den relativ
engen Gängen zumindest eine OP-Maske zu tragen. Dieser generellen
P⁻-Diagnose zuwider lief aber die per Aushang in den Zimmern verkündete
Politik des Hauses, die tägliche „Reinigung“ zum „Schutz von Gästen und
Personal“ nur noch auf (durch Aushang des inversen „Bitte nicht
stören“-Schildes geäußerten) Wunsch vorzunehmen. Yes! Ich fand es
schon immer unmöglich, mir von anderen Menschen das Bett machen zu
lassen. Es lebe P⁺.
Ähnlich Heisenberg-unscharf ging es bei der Konferenz selbst weiter. Die
OrganisatorInnen „empfahlen“ auf ihrer Webseite, ganz P⁺, in Innenräumen
und überhaupt, wo der Mindestabstand nicht gewahrt werden kann,
FFP-2-Masken zu tragen. Ich fragte mich, wie unter diesen Umständen das
Herzstück jeder wissenschaftlichen Konferenz, die Kaffeepause[1],
wohl aussehen würde.
Dieses Grübeln gab ich spontan auf, als ich am Montag den Raum betrat,
in dem die Auftaktzeremonie – eine Preisverleihung, über deren mit einer
Überdosis unfreiwilliger Hybridkomik gewürzten Verlauf ich schweigen
will – stattfand. Schon die Bestuhlung sprach P⁻, fettgedruckt und
eigentlich mit Ausrufezeichen. Diese nämlich wäre mir schon vor Corona
zu eng gewesen. Die Enge war zudem nicht mal ganz zwingend, denn es
hätte schon noch unbestuhlten Platz im Raum gegeben, wenn auch nicht
genug, um das ganze Ding angesichts der lausigen Lüftung in einer
P⁺-Welt verantwortungsvoll laufen lassen zu können.
Aber das war auch wurst, denn der anschließende Empfang mit Sekt und
Schnittchen muss klar in einer P⁻⁻⁻-Welt stattgefunden haben: Die
paar, die bei der Zeremonie noch der FFP-2-Empfehlung gefolgt waren,
vergaßen diese zugunsten von Speis und Trank, während sie dicht gepackt
in fensterlosen Räumen standen und sehr laut miteinander redeten.
Eine Chorprobe ist im Vergleich eine aseptische Angelegenheit.
Es war nachgerade bizarr, danach wieder in die P⁺-Welt der Straßenbahn
zu geraten. Und ich war ehrlich überrascht, dass das Schnief- und
Hust-Niveau gestern und heute lediglich deutlich erhöht war, nicht aber
eine ganze Konferenz schon elend vor sich hinfieberte. Das wiederum
werte ich als Indiz für eine P⁻-Welt, zumal informelle Plaudereien
zeigten, dass wohl doch eine deutliche Mehrheit der Teilnehmenden „es
schon hatten“.
Das wäre auch zwanglos zu erklären, wenn diese nennenswert Präsenzlehre
gehalten hätten und ihre Hörsäle ähnlich gut belüftet waren wie der
große Hörsaal der gastgebenden Uni. Diese Einlassung ergibt sich aus
meinen regelmäßigen CO₂-Messungen (als ordentlichen Proxy für die
Aerosollast). Das Ergebnis in diesem großen Hörsaal war ernüchternd.
Das Ding ist für 500 Menschen ausgelegt, und bei einer Auslastung von
unter 20% ging die CO₂-Konzentration kontinuierlich vom Außenniveau von
vielleicht 350 ppm bis auf über 1000 ppm hoch – innerhalb von weniger
als einer Stunde. Das übersetzt sich zwanglos in „was an Aerosol drin
ist, bleibt auch drin“. Dass die Lüftung beim Bau des Gebäudes so
schlecht war, ist in ganz eigener Weise sprechend, denn im Bereich von
1000 ppm wirds nach meiner Erfahrung allmählich aufmerksamkeitsrelevant.
Dass sie nach 30 Monaten Corona immer noch nicht besser ist, wäre,
soweit es mich betrifft, Material für eine Sitzung des Uni-Senats.
Und so bin ich bis zum Konferenzbankett am Mittwoch aus der P⁺-Welt
(höchstens kurz und mit dichter FFP-2 durch den Raum mit dem
Empfangsbüffet hechten) in die P⁻-Welt übergetreten und habe wie alle
anderen ganz normal getafelt, in der festen Erwartung, dass ich bis
jetzt im Zug noch nicht infektiös sein würde. Und morgen kann ich ja
dann zurück nach P⁺ und brav in Isolation gehen. Aber: Wenn ich mir
angesichts von realen Infektionsraten[2] von mindestens 1% beim
Bankett kein SARS-2 eingefangen habe, dann müssen die Menschen im
P⁻-Zustand wohl doch recht haben…
Der aktuelle RKI-Wochenbericht schätzt aus SEED-ARE
und GrippeWeb ab,
dass zwischen 0.5 und 1.1% der Erwachsenen gerade SARS-2 mit
Symptomen hat. Rechnet mensch großzügig, dass die Hälfte der
Infektionen (mehr oder minder) asymptomatisch verlaufen, sind damit im
Augenblick ein bis zwei Prozent der Menschen mehr oder weniger
infektiös. Ob das nun P⁻ oder P⁺ ist, dürft ihr mich nicht fragen.
Auch wenn (oder gerade weil) in China ein SARS-Erreger schon mal aus
enem Labor entkommen ist, glaube ich ja immer noch ziemlich fest
daran, dass SARS-2 aus (zu) engem Kontakt von Menschen und Wildtieren
entstanden ist. Wo es viele Tiere gibt, sind solche Krankheiten mit
tierischer Beteiligung, Zoonosen, Regel eher als Ausnahme, und wo es
viele verschiedene Tiere gibt, ist entsprechend mit vielen
Überraschungen zu rechnen. So erscheint Brasilien als ideales Land, um
quantitative Schätzungen zu bekommen zur Frage, wie insbesondere
neuartige Krankheitserreger Artgrenzen überwinden können und was dann
passiert.
Das war das Projekt von Gisele R. Winck und Ciclilia Andreazzi vom
Institiuto Oswaldo Cruz in Rio de Janeiro sowie KollegInnen von
verschiedenen anderen brasilianischen Instituten, über das sie in
„Socioecological vulnerability and the risk of zoonotic disease
emergence in Brazil”, Science Advances 8 (2022),
doi:10.1126/sciadv.abo5774, berichten – und auch gleich anmerken,
dass Brasilien vielleicht doch kein ganz ideales Land ist, ist doch ein
Großteil der derzeit in Brasilien grassierenden Zoonosen gar nicht in
Amerika entstanden: Malaria, Dengue, Zika oder Gelbfieber kommen alle
aus der alten Welt.
Aber es gibt auch Beispiele für Zoonosen aus Südamerika, so etwa
Chagas, ein von Trypanosomen – das sind einzellige Eukaryoten, also in
gewissem Sinn einfache Tiere – hervorgerufenes Syndrom, das zu tödlichen
Verdauungsstörungen führen kann, sich aber nur gemeinsam mit relativ
memmigen Wanzen weiterverbreiten kann.
Pfadanalyse
Winck et al versuchen, der Frage nach künftigen Zoonose-Risiken mit
einer Pfadanalyse auf den Grund zu gehen, einer statistischen Methode
zur Aufklärung von Netzwerken einander beeinflussender Größen, von der
der ich, soweit ich mich erinnere, zuvor noch nie gehört habe. Diese
Lücke dürfte wohl damit zusammenhängen, dass die Methode in der Biologie
entwickelt wurde (ihr Erfinder war Populationsgenetiker) und im Bereich
von Physik und Astronomie wenige etwas damit anzufangen wussten.
Eine entsprechende ADS-Anfrage (und das ADS hat eigentlich alles, was
es in der Astronomie gibt) liefert dann auch vor allem Kram aus
Randbereichen, darunter eine Studie in den Geophysical Review
Letters, die fast in das aktuelle Thema passt: „Urban Vegetation Slows
Down the Spread of Coronavirus Disease (COVID-19) in the United States“.
Da allerdings wette ich ungelesen, dass von dem Effekt wenig
übrigbleibt, wenn mensch die Korrelation zwischen graueren Vierteln und
Armut auf der einen und SARS-2 und Armut auf der anderen Seite
rausrechnet.
Wie dem auch sei: Bei einer Pfadanalyse braucht es eine Zielgröße (also
das, dessen Verhalten erklärt werden soll) und „Kausalfaktoren“ (also
Größen, das Verhalten der Zielgröße erklären sollen). Die Zielgröße im
Paper ist die Fallzahl von einigen Zoonosen[1] in den
verschiedenen brasilianischen Bundesstaaten.
Das grobe Modell, das der Arbeit zugrundeliegt, ist nun, dass enge
Kontakte zwischen Menschen und Tieren, gerade wenn wie beim Verzehr von
Bushmeat Blut im Spiel ist, die Zoonosen nach oben treibt. Es könnte
auch indirekte Effekte geben, wenn es etwa Wildtieren schlechter geht,
weil die Menschen gerade ihr Habitat zerstören, und daher Pathogene, die
vorher selten und harmlos waren, genau dann durch die geschwächte
Population rauschen, wenn Menschen und Wildtiere während der Rodungen
und vor der Etablierung funktionierender Landwirtschaft besonders
wahrscheinlich interagieren. Mit solchen Motivationen betrachtet die
Arbeit folgende Kausalfaktoren (vgl. Tabelle 1 im Paper):
Exposition gegenüber Zoonosen (Wie viele wilde Tiere gibt es? Wie gut
ist die medizinische Versorgung der Nutztiere? Wie viel Boden ist
(artenarme und in der Hinsicht wahrscheinlich eher sichere)
landwirtschaftliche Fläche? Wie ist der Anteil der im Wesentlichen
unberührten Fläche? Wie schnell gehen unberührte Flächen verloren?)
Empfindlichkeit gegenüber Zoonosen (Bäume in Städten als Proxy für die
Art der Besiedlung; Kontakt mit Hausmüll als Proxy für die Dichte des
Kontakts zu Vektoren wie Ratten und Mücken; Zustand der
Abwassererfassung; Bruttoinlandsprodukt pro EinwohnerIn als Proxy für
die Armutsrate)
Resilienz (Wie viel Gesundheitspersonal gibt es? In wie vielen
Einrichtungen? Wie weit ist es in die nächste Stadt, in der
spezialisierte Kliniken verfügbar sein werden?)
Ich muss an der Stelle ein wenig die Nase rümpfen, denn an sich kann
dieses Modell nicht so richtig das, was die AutorInnen zu versprechen
scheinen: Aufklären, was mensch tun könnte, um neue Zoonosen im Zaum
zu halten. Die Zielgröße ist ja die Ausbreitung längst an den Menschen
gewöhnter Erreger. Zudem wird die Mehrheit der untersuchten Zoonosen
von einzelligen Tieren verursacht und nicht von Viren oder Bakterien,
deren pandemisches Potenzial ich weit höher einschätze, zumal, wenn sie
anders als die meisten Einzeller keine Zwischenwirte brauchen.
Aber seis drum: Ganz unplausibel ist ja nicht, dass, wo bekannte Erreger
besonders intensiv zwischen Menschen und Tieren ausgetauscht werden,
sich auch unbekannte Erreger allmählich an Menschen gewöhnen können.
BIP ist wurst
Angesichts des betrachteten Reichtums an Faktoren ist schon erstaunlich,
dass die Mathematik der Pfadanalyse mit den Daten von Winck et al das
Bild am Anfang des Posts ergibt (nicht signifikante Kausalfaktoren sind
dort nicht gezeigt), also etwa das Bruttoinlandsprodukt pro EinwohnerIn
keinen signifikanten Einfluss auf die Zoonoserate hat (was aus meiner
Sicht nur heißen kann, dass es in Brasilien kein nützliches Maß für den
Wohlstand mehr ist). In den Worten des Artikels:
Zoonotic epidemic risks, as inferred from the observed mean number of
ZD cases, are positively associated with vegetation loss (path
analysis coefficient = 0.30), mammalian richness (0.47), and
remoteness (0.72) and negatively related to urban afforestation
(−0.33) and vegetation cover (−0.82).
Also: Bäume in der Stadt (hätte ich erstmal nicht als einen wichtigen
Faktor geraten, aber siehe das oben erwähnte GeoRL-Paper) und vor allem
intakte Wildnis sind gut gegen Zoonosen. Eine hohe Dichte wilder
Säugetiere, mit denen Menschen im Zuge von Entwaldung eifrig
interagieren und, noch stärker, die Entfernung von größeren menschlichen
Ansiedlungen befördern demgegegenüber solche Krankheiten.
Besonders stark ist dabei der Effekt der Bewaldung (bzw. Besteppung oder
Bemoorung, wenn das die lokal vorherrschenden Ökosysteme sind): Sie
fördert zwar sehr stark die Artenvielfalt von Säugetieren, doch hemmt
sie dennoch Zoonosen insgesamt. Das passt erstaunlich gut zur
Beobachtung von Jared Diamond in seinem lesenswerten Buch „Collapse: How
societies choose to fail or succeed“[2], dass Entwaldung wohl der
allerwichtigste Faktor für den Zusammenbruch von Zivilisationen ist.
Und dann die Schurken
Ich bin auf das Paper wie üblich über einen Beitrag in der DLF-Sendung
Forschung aktuell gegekommen, in dem Fall vom 30.6. Darin wurde vor
allem abgehoben auf den Schluss der AutorInnen, die aktuelle Herrschaft
in Brasilien beeinflusse die Kausalfaktoren mit ihrer marktradikalen,
reaktionären und teils auch anderweitig dummen Politik stark in Richtung
Zoonose:
Ein weiterer wichtiger Aspekt, dessen Relevanz sich gerade erst
erwiesen hat, ist die Empfindlichkeit gegenüber fehlgeleiteten
politischen Maßnahmen, wie sie von den augenblicklichen Regierungen
veranlasst wurden.
Original
Another important and recently experienced aspect is the vulnerability
to misguided public policy actions made by current governments
Besonders gut hat mir dabei gefallen die Rede von einer „increasing
socioecological degradation“, also einem zunehmenden sozio-ökologischen
Verfall, zumal ich dabei an meine eigene brasilianische Geschichte
denken musste.
Im Parco de Tijuca auf dem Stadtgebiet von Rio de Janeiro: Warnung vor
den „Waldtieren“, die auf der Straße rumlaufen. Tatsächlich turnen
Affen sogar durch die Telefonleitungen, die zum Nationalobservatorium
führen.
Im Jahr 2014 habe ich rund eine Woche am Nationalobservatorium in
Rio de Janeiro gearbeitet. Ich denke, es ist nicht verkehrt, so etwa in
dieser Zeit den Höhepunkt der Wirkungen der Sozialpolitik von Lula da
Silva zu verorten, der speziell mit seiner bolsa familia Dutzenden
Millionen Menschen ein halbwegs menschenwürdiges Leben ermöglicht hat.
Das hatte sehr profunde Konsequenzen auch für Menschen aus der
Mittelschicht. Mein Gastgeber etwa erzählte, er sei vor Lulas
Sozialpolitik „Opfer ungefähr jedes Verbrechens gewesen, das es gibt“,
und das sei eine recht typische Erfahrung der Cariocas gewesen.
Demgegenüber sei in den vieleicht fünf Jahren vor meinem Besuch
eigentlich nichts mehr in der Richtung passiert. Ein weiterer Kollege
ergänzte, er sei in dieser Zeit nur einmal ausgeraubt worden, und zwar
mit chirurgischer Präzision (seine Worte), als er in den frühen
Morgenstunden schon ziemlich beschickert unterwegs gewesen sei und die
Räuber die Nettigkeit hatten, ihm seinen Geldbeutel wieder
zurückzugeben, zwar ohne Bargeld, aber mit allem Plastikwahnsinn, dessen
Wiederbeschaffung wirklich viel Stress gewesen wäre.
Diese Zeiten sind lange vorbei. Nach dem (rückblickend ist diese
Charakterisierung wohl nicht zu bestreiten) Putsch gegen Dilma ging
die Politik zurück zur Umverteilung von unten nach oben, mit den
erwartbaren Konsequenzen für das Leben in einer Stadt wie Rio – und den
weniger offensichlichen Konsequenzen für das Heranbrüten der nächsten
großen zoonotischen Pandemie.
Ich frage mich ja bei solchen Betrachtungen immer, wie Leute wie
Bolsonaro eigentlich ruhig schlafen können. Aber dann: Die Frage stellt
sich ja ganz analog für Scholz, Steinmeier, für Fischer und Schröder,
die mit Hartz IV oder der versuchten Rentenprivatisierung ganz ähnliche
Dinge, wenn auch vielleicht auf kleinerer Flamme, angerichtet haben.
Und ich vermute, ich habe den Kern der Antwort schon berechnet:
Allein der Umstand, dass diese Menschen Macht haben, macht es sehr
wahrscheinlich, dass sie über erhebliche moralische Flexibilität
verfügen.
Im einzelnen Bilharziose, Leishmaniose (innere und Haut-;
wird im Rahmen des Klimawandels auch in der BRD häufiger),
Leptospirose (letzter großer Ausbruch in der …
Vielleicht sind die vielen Einflussfaktoren ein Grund, warum auf
diesem Gebiet überhaupt wenig geforscht wird. Die Bessi-Collaboration
zur Erforschung sozialer, Umwelt- und Verhaltens-Pandemiemaßnahmen
zählt aktuell nur 18 veröffentlichte Studien aus diesem Bereich, aber
974 zu Impfstoffen oder Medikamenten.
Das hat mich daran erinnert, dass ich spätestens seit Oktober 2021
eine ziemlich grundsätzliche Lücke bei unserem Verständnis der
Epidemiologie von SARS-2 gewittert habe, und zwar ganz unabhängig von
meinen misslungenen Vorhersagen im letzten Herbst. Ich habe
nämlich bis genau heute aufgrund von, Fanfare, Unabhängigkeitsargumenten
für sehr unplausibel gehalten, dass sich die Varianten gegenseitig
verdrängen. Lasst mich spoilern: Mein Instinkt, dass da was nicht
stimmen kann, war falsch, Mensch soll einfach nie die
Exponentialfunktion unterschätzen.
Aber langsam. Zunächst habe mir die R-Wert-Schätzungen des RKI
vorgenommen. Zur Erinnerung: Der R-Wert soll sagen, wie viele Leute
einE InfizierteR zu einer bestimmten Zeit im Mittel ansteckt; ist er
konstant größer als eins, wächst die Inzidenz exponentiell, ist er
konstant kleiner als eins, schrumpft sie exponentiell.
Ich möchte auf der Basis der R-Werte den Pandemieverlauf nacherzählen,
um der Variantenverdrängung auf die Spur zu kommen. Dabei nutze dabei
die Kurvenfarbe als Indikator für die geschätzte Inzidenz – beachtet,
dass sowohl die Skalen auf dieser Hilfsachse als auch auf der Ordinate
von Bild zu Bild drastisch verschieden sind.
Plausibler Anfang
Dabei habe ich mir nacheinander ein paar Phasen vorgenommen. Von März
bis Juli 2020 konnte mich mir alles prima zusammenreimen:
Fig 1: R-Werte der ersten Welle
Die unkontrollierte Infektion lief anfangs mit dem geschätzten
R0 (also: wie groß ist das R ganz ohne Maßnahmen und
Immunität?) der Wuhan-Variante (im Winter etwas wie 3) los, dann griffen
die Maßnahmen, und wie sie nacheinander so griffen, fiel auch der
R-Wert.
Ich war damals mit dieser Interpretation soweit glücklich, auch wenn
Leute immer mal wieder an den Zeitskalen rumgemäkelt haben: Reagiert das
nicht schon vor den Maßnahmen? Hätte das nicht schneller auf Schul- und
Betriebsschließungen reagieren müssen? Zu letzterem Punkt zumindest ist
einzuwenden, dass es einerseits zwei, drei Wochen gedauert hat, bis
die Leute wirklich im Coronamodus waren. Andererseits sind für die
Mehrzahl der Fälle auch nur Melde-, nicht aber Infektionszeitpunkte
bekannt. Da diese ohne Weiteres um ein oder zwei Wochen
auseinanderliegen können, wäre selbst eine scharfe Stufe in R in
den RKI-Schätzungen weich ausgeschmiert; ein weiteres Beispiel übrigens
für die Gefahren von Big Data.
Ein merkwürdiger Balanceakt
Gegen Ende des ersten Coronasommers kam mir aber schon komisch vor, wie
sehr sich das effektive R immer ziemlich genau um die Eins herum hielt.
Bei sowas Kitzligem wie einem Infektionsprozess, der davon lebt, dass
sich immer mal wieder ein ganzer Haufen Leute ansteckt, ist es alles
andere als einfach, diese Sorte von Gleichgewicht (es stecken sich
in jeder Zeiteinheit ungefähr genauso viele Leute an wie gesund werden)
zu halten – die Überdispersion der Wuhan-Variante soll was wie 0.1
gewesen sein, so dass vermutlich überhaupt nur ein oder zwei von zehn
Infizierten zur Ausbreitung der Krankheit beitrugen (dann aber auch
gleich richtig, also mit mehreren Angesteckten).
Unter diesen Umständen einen R-Wert von um die eins zu haben, ist ein
Balanceakt ganz ähnlich der Steuerung eines AKW (das zudem nicht mit der
Überdispersion zu kämpfen hat): mach ein bisschen zu wenig und die
Infektion stirbt rapide aus (der Reaktor wird kalt); mach ein bisschen
zu viel und du bist gleich wieder bei enormen Zahlen (der Reaktor geht
durch). Dennoch hat sich der R-Wert (abgesehen vom Tönnies-Zacken Mitte
Juni, der ganz gut demonstriert, was ich mit „kitzlig“ meine) im Sommer
doch recht gut rund um 1 bewegt:
Fig 2: R-Werte im Sommer 2022
Was hat R so (relativ) fein geregelt? Sind die Leute in Zeiten
ansteigender R-Werte wirklich vorsichtiger geworden? Und waren sie
unvorsichtiger, wenn die R-Werte niedrig waren? Erschwerend im Hinblick
auf so eine Regelung kamen zumindest im Juli und August nennenswert
viele Infektionen nicht durch Reproduktion im Land zustande, sondern
kamen mit Rückreisenden aus Gegenden mit höheren Inzidenzen. Wie das
genau lief, ist aber wieder schwierig zu quantifizieren.
Mein erstes kleines Rätsel wäre also, warum die Inzidenz im Sommer 2020
über ein paar Monate hinweg im Wesentlichen konstant war. Im Herbst
2020 schien mir das eher wie eine Anekdote, zumal es recht erwartbar
weiterging:
Fig 3: R-Werte der zweiten und dritten Wellen
Die hohen R-Werte im Oktober sind überaus zwanglos durch Schulen,
Betriebe und ganz kurz auch Unis mit allenfalls lockeren Maßnahmen bei
lausig werdendem Wetter zu erklären. Der Abfall zum November hin wäre
dann der „Lockdown Light“. Wieder mag mensch sich fragen, warum der
Abstieg schon Mitte Oktober einsetzte, während der Lockdown Light ja
erst Anfang November in Kraft trat, aber seis drum. Der nächste
Buckel, hier schon in rot, weil mit für damalige Zeiten enormen
Inzidenzen einhergehend, dürfte ganz grob Weihnachtsmärkte (Aufstieg)
und deren Schließung (Abstieg; ok, es hat auch noch einige weitere
Lockdown-Verstärkungen gegeben) im Dezember 2020 reflektieren.
Verdrängt oder nicht verdrängt?
Dass bei gleichbleibenden Maßnahmen der R-Wert ab Mitte Februar stieg,
habe auch ich mir damals dadurch erklärt, dass die Alpha-Variante
infektöser ist. Richtig schöne Grafiken dazu gibt es erst später, so
etwa hier aus dem RKI-Wochenbericht vom 7.10 (der gerade nicht im
RKI-Archiv zu finden ist):
Fig 4: Anteile der verschiedenen Varianten vom Oktober 2021 (Rechte:
RKI)
Während der, sagen wir, ersten 13 Kalenderwochen des Jahres 2021 hat
also Alpha den Wuhan-Typ im Wesentlichen kompett, nun ja, verdrängt.
Und das schien mir bis jezt sehr unplausibel. Anschaulich gesprochen
nämlich kann Alpha den Wuhan-Typ nur dann verdrängen, wenn die Varianten
„sich sehen“, also überhaupt nennenswert viele Menschen, die der
Wuhan-Typ infizieren möchte, schon zuvor Alpha gehabt hätten[1].
Das war im Frühling 2021 ganz klar nicht so. Der RKI-Bericht vom
16.4.2021 (in dem sich übrigens auch die damaligen Gedanken zu den
Varianten spiegeln) spricht von rund 3 Millionen Infizierten. Plausible
Dunkelziffern werden den Anteil der bereits mit SARS-2 (in der Regel noch
nicht mal Alpha) Infizierten kaum über 10% heben. Die Wuhan-Variante
kann also im Wesentlichen nichts von Alpha gesehen haben, und damit kann
sie auch nicht verdrängt worden sein[2].
Mit einem zweiten Blick stellt sich heraus, dass es das auch nicht
brauchte, denn unter den recht drakonischen Maßnahmen vom Januar 2021 –
wir reden hier von der Zeit nächtlicher Ausgangssperren – hatte der
Wuhan-Typ so in etwa einen R-Wert von 0.9 (das lese ich jedenfalls aus
Fig. 3). Nun rechnet(e) das RKI den R-Wert in etwa so, dass er
das Verhältnis der Infektionen in einem Viertageszeitraum zum vorherigen
Viertageszeitraum angibt; der Gedanke ist, dass es (die „Serienlänge”)
von einer Infektion bis zur Ansteckung in der nächsten Generation bei
SARS-2-Wuhan sowas wie eben die vier Tage dauern sollte[3].
Unter der angesichts konstanter Maßnahmen wenigstens plausiblen Annahme
eines konstanten R-Werts (gegen Ende des Zeitraums mag er wegen Wetter
sogar noch weiter gefallen sein), kann mensch ausrechnen, dass nach 13
Wochen vom Wuhan-Typ nur noch
0.913⋅7 ⁄ 4 ≈ 10%
übrig waren, und weil bei hinreichend niedrigen Inzidenzen der Bestand
eines im Wesentlichen ausbruchsgetriebenen Erregers wie der
Wuhan-Variante eh schon prekär ist: Eigentlich reicht das schon, um das
praktische Verschwinden der Wuhan-Variante ganz ohne Verdrängung durch
Alpha zu erklären.
Zero Covid vs. die vierte Welle
Wenn das die Erklärung ist, wäre das in gewisser Weise eine gute
Nachricht für die Zero Covid-Fraktion: Wir haben Corona schon mal
ausgerottet, inzwischen sogar drei Mal, nämlich den Wuhan-Typ, Alpha und
(wahrscheinlich) Delta. Die „Maßnahmen“ für die jeweils infektiösere
Variante haben offenbar ausgereicht, ihre Vorgänger (praktisch)
vollständig auszurotten. Damit wäre zwar immer noch nicht das
Langfrist-Problem gelöst – denn global wird SARS-2 sicher nicht
verschwinden –, so dass ich nach wie vor eifrig gegen Zero Covid
argumentieren würde, aber ein lokales Ende von Corona haben wir offenbar
schon mehrfach hinbekommen.
Gehen wir weiter in der Zeit:
Fig 5: R-Werte während des Anlaufs zur vierten Welle.
Im Anlauf zur vierten Welle wird es unübersichtlich, weil nennenswert
viele Menschen geimpft waren. Es mag sein, dass der Wuhan-Typ etwas
empfindlicher auf die Impfung reagiert als Alpha, so dass es vielleicht
glaubhaft ist, dass der R-Wert des Wuhan-Typs nicht wieder auf das „gut
1“ aus dem Sommer 2020 zurückgeschnappt ist, nachdem die Beschränkungen
aus dem Winter 20/21 nach und nach wegfielen; dann wäre zumindest klar,
warum der Wuhan-Typ nicht wiederkam.
Bei Alpha und Delta liegen die Verhältnisse wahrscheinlich
komplizierter. Der Umschlag von Alpha auf Delta war noch schneller als
der von Wuhan auf Alpha; abgeschätzt aus Fig. 4 vielleicht zwischen den
Kalenderwochen 21 und 27. Davor, also im Juni, lag der R-Wert um 0.8,
angesichts relativ entspannter Verhältnisse zu diesem Zeitpunkt
vermutlich bereits eher durch Impfung als durch nichtpharamzeutische
Maßnahmen bedingt. Sechs Wochen R = 0.8 bringen die Inzidenzen,
immer noch unter der Annahme der Unabhängigkeit der konkurrierenden
Infektionsprozesse, wiederum runter auf
0.86⋅7 ⁄ 4 ≈ 10%
– das Aussterben von Alpha kommt also erneut so in etwa hin, wenn …
Neulich hatte ich es schon von der Russischen Grippe, einer
Pandemie, deren große Wellen zwischen 1889 und 1895 rollten und die
plausiblerweise die jüngste große Coronapandemie vor SARS-2 gewesen sein
könnte (Forschung aktuell dazu). Zwischenzeitlich ist mir nun
aufgefallen, dass es einen weiteren Datenpunkt für Parallelen zwischen
der Russischen Gruppe und SARS-2 geben könnte: Die Neurasthenie.
Bis zu dieser Einsicht hatte ich die aktuelle Einschätzung der Wikipedia
geteilt:
Neurasthenie gehörte im ausgehenden 19. und beginnenden 20.
Jahrhundert zu den Modekrankheiten einer gehobenen
Gesellschaftsschicht.
Im Fin de Siécle schien es in der Tat zum guten Ton zu gehören,
Erschöpfung und Ermüdung, die entweder durch eine zu geringe
Belastbarkeit durch äußere Reize und Anstrengungen oder auch durch zu
geringe oder zu monotone Reize selbst verursacht sein kann
an den Tag zu legen. Florian Illies schreibt dazu in seinem
Zeitportrait „1913 – der Sommer des Jahrhunderts“:
1913 fasste man das zusammen unter dem Begriff: »Neurasthenie«.
Spötter sangen: »Raste nie und haste nie, sonst haste die
Neurasthenie«.
Was aber, wenn „wir“ (also die, die sich in der Einschätzung
„Modekrankheit“ gefielen) den Betroffenen unrecht getan haben? Was,
wenn das in Wirklichkeit das Äquivalent von Long Covid, sagen wir Long
Russische Grippe, also die neurologischen oder immunologischen
Spätfolge einer im höheren Alter ersterworbenen Coronainfektionen war?
Wenn, dann sollten wir nicht die Luft anhalten, bis das alles wieder
vorbei ist, denn die Neurastheniewelle ebbte, soweit ich erkennen kann,
ähnlich wie Thomas Manns Zauberberg[1] erst mit dem ersten
Weltkrieg, zwanzig Jahre nach den großen Wellen, ab.
Ich bereite mich jedenfalls schon mal vor, mal wieder meinen Hut essen
zu müssen. Hat wer Hinweise auf ordentliche Literatur zu dem Thema?
Ich habe aus gegebenem Anlass nachgesehen: Mann erwähnt im
ganzen Zauberberg keine Neurasthenie, obwohl das Topos eigentlich das
ganze Buch durchzieht. Ob es daran liegt, dass das Buch zehn Jahre
nach dem Ende seiner Handlung erschien und es nichts Anrüchigeres gibt
als die Mode von gestern?
Zu den unerfreulicheren Begleiterscheinungen der Coronapandemie gehörte
die vielstimmige und lautstarke Forderung nach „mehr Daten“, selbst aus
Kreisen, die es eigentlich besser wissen[1]. Wie und warum diese
Forderung gleich mehrfach falsch ist, illustriert schön ein Graph, der
seit ein paar Wochen im RKI-Wochenbericht auftaucht:
Dargestellt sind die Zahlen von „im Zusammenhang mit“ SARS-2 in
deutsche Krankenhäuser aufgenommenen PatientInnen. Die orange Kurve
entspricht dabei den „Big Data“-Zahlen aus der versuchten Totalerfassung
– d.h., Krankenhäuser melden einfach, wie viele Menschen bei der
Aufnahme SARS-2-positiv waren (oder vielleicht auch etwas anderes, wenn
sie das anders verstanden haben oder es nicht hinkriegen). Die blaue
Kurve hingegen kommt aus der ICOSARI-Surveillance, also aus
spezifischen Meldungen über Behandlungen akuter Atemwegsinfektionen aus
71 Kliniken, die für Meldung und Diagnose qualifiziert wurden.
Wären beide Systeme perfekt, müssten die Kurven im Rahmen der jeweiligen
Fehlerbalken (die das RKI leider nicht mitliefert; natürlich zählt
keines von beiden ganz genau) übereinanderlaufen. Es ist
offensichtlich, dass dies gerade dann nicht der Fall ist, wenn es darauf
ankommt, nämlich während der Ausbrüche.
Eher noch schlimmer ist, dass die Abweichungen systematisch sind – die
Entsprechung zu halbwegs vertrauten Messungen wäre, wenn mensch mit
einem Meterstab messen würde, dessen Länge eben nicht ein Meter ist,
sondern vielleicht 1.50 m. Nochmal schlimmer: seine Länge ändert sich
im Laufe der Zeit, und auch abhängig davon, ob mensch Häuser oder
Giraffen vermisst. Wäre der Meterstab wenigstens konstant falsch lang,
könnte mensch die Messergebnisse im Nachhinein jedenfalls in gewissem
Umfang reparieren („die Systematik entfernen“). Bei der
Hospitalisierung jedoch wird keine plausible Methode die Kurven zur
Deckung bringen.
Das RKI schreibt dazu:
Im Vergleich zum Meldesystem wurden hierbei in den Hochinzidenzphasen
- wie der zweiten, dritten und vierten COVID-19-Welle - höhere Werte
ermittelt. In der aktuellen fünften Welle übersteigt die
Hospitalisierungsinzidenz der Meldedaten die COVID-
SARI-Hospitalisierungsinzidenz, weil zunehmend auch Fälle an das RKI
übermittelt werden, bei denen die SARS-CoV-2-Infektionen nicht
ursächlich für die Krankenhauseinweisung ist.
Die Frage ist nun: Welche Kurve „stimmt“, gibt also das bessere Bild der
tatsächlichen Gefährdungssituation für das Gesundheitssystem und die
Bevölkerung?
Meine feste Überzeugung ist, dass die blaue Kurve weit besser
geeignet ist für diese Zwecke, und zwar weil es beim Messen und Schätzen
keinen Ersatz für Erfahrung, Sachkenntnis und Motivation gibt. In der
Vollerfassung stecken jede Menge Unwägbarkeiten. Um ein paar zu nennen:
Wie gut sind die Eingangstests?
Wie konsequent werden sie durchgeführt?
Wie viele Testergebnisse gehen in der Hektik des Notfallbetriebs
verloren?
Wie viele Fehlbedienungen der Erfassungssysteme gibt es?
Haben die Zuständigen vor Ort die Doku gelesen und überhaupt
verstanden, was sie erfassen sollen und was nicht?
Wie viele Doppelmeldungen gibt es, etwa bei Verlegungen – und wie oft
unterbleibt die Meldung ganz, weil das verlegende Krankenhaus meint,
das Zielkrankenhaus würde melden und umgekehrt?
Und ich fange hier noch gar nicht mit Fragen von Sabotage und Ausweichen
an. In diesem speziellen Fall – in dem die Erfassten bei der Aufnahme
normalerweise nicht viel tun können – wird beides vermutlich eher
unwichtig sein. Bei Datensammelprojekten, die mehr Kooperation der
Verdateten erfordern, können die Auswahleffekte hingegen durchaus auch
andere Fehler dominieren.
Erfasst mensch demgegenüber Daten an wenigen Stellen, die sich ihrer
Verantwortung zudem bewusst sind und in denen es jahrelange Erfahrung
mit dem Meldesystem gibt, sind diese Probleme schon von vorneherein
kleiner. Vor allem aber lassen sie sich statistisch untersuchen. Damit
hat ein statistisch wohldefiniertes Sample – anders als Vollerfassungen
in der realen Welt – tendenziell über die Jahre abnehmende Systematiken.
Jedenfalls, solange der Kram nicht alle paar Jahre „regelauncht“ wird,
was in der heutigen Wissenschaftslandschaft eingestandenermaßen
zunehmend Seltenheitswert hat.
Wenn also wieder wer jammert, er/sie brauche mehr Daten und es dabei
um Menschen geht, fragt immer erstmal: Wozu? Und würde es nicht viel
mehr helfen, besser definierte Daten zu haben statt mehr Daten?
Nichts anderes ist die klassische Datenschutzprüfung:
Was ist dein Zweck?
Taugen die Daten, die du haben willst, überhaupt dafür? („Eignung“)
Ginge es nicht auch mit weniger tiefen Eingriffen? („Notwendigkeit“)
Und ist dein Zweck wirklich so großartig, dass er die Eingriffe, die
dann noch übrig bleiben, rechtfertigt? („Angemessenheit“)
Ich muss nach dieser Überlegung einfach mal als steile Thesen
formulieren: Datenschutz macht bessere Wissenschaft.
Nachtrag (2022-05-16)
Ein weiteres schönes Beispiel für die Vergeblichkeit von
Vollerfassungen ergab sich wiederum bei Coronazahlen Mitte Mai 2022.
In dieser Zeit (z.B. RKI-Bericht von heute) sticht der bis dahin
weitgehend unauffällige Rhein-Hunsrück-Kreis mit Inzidenzen um die
2000 heraus, rund das Doppelte gegenüber dem Nächstplatzierten. Ist
dort ein besonders fieser Virusstamm? Gab es große Gottesdienste?
Ein Chortreffen gar? Weit gefehlt. Das Gesundheitsamt hat nur
retrospektiv Fälle aus den vergangenen Monaten aufgearbeitet und ans
RKI gemeldet. Dadurch tauchen all die längst Genesenen jetzt in
der Inzidenz auf – als sie wirklich krank waren, war die Inzidenz zu
niedrig „gemessen“, und jetzt halt zu hoch.
So wurden übrigens schon die ganze Zeit die Inzidenzen berechnet:
Meldungen, nicht Infektionen. Das geht in dieser Kadenz auch nicht
viel anders, denn bei den allermeisten Fällen sind die Infektionsdaten
anfänglich unbekannt (und bei richtig vielen bleibt das auch so).
Wieder wären weniger, aber dafür sorgfältig und kenntnisreich gewonnene
Zahlen (ich sag mal: PCR über Abwässern), hilfreicher gewesen als
vollerfassende Big Data.
Dafür, dass ich das Buch „SARS from East to West“ als „unfassbar
langweilig“ beschrieben habe, gibt es schon ziemlich viel her, denn
nach meiner ersten Besprechung hat es mit den bekannten Szenarien ja
schon einen zweiten Post abgeworfen. Und jetzt gleich noch einen. Wenn
ich kurz drüber nachdenke – eigentlich ist das ein Kennzeichen von
Wissenschaft: Weite Strecken von mühsamer Langeweile unterbrochen von
aufregenden Erkenntnissen, die mensch unbedingt gleich mitteilen möchte.
Hm.
Heute jedenfalls will ich auf eine Geschichte aus Kapitel 8 des Buchs
hinweisen. In diesem beschäftigen sich Joan Deppa, Andrew Seaberg und
Grace Han Yao (die die Arbeit an der „School of Public Communications“
in Syracuse, NY gemacht haben und danach Public Communications-Profin,
Investmentheini und Marktforscherin geworden sind) mit dem öffentlichen
Nachrichtenfluss im Verlauf der SARS-1-Pandemie von 2003. Während
nämlich, wie neulich zusammengefasst, spätestens seit dem 1. März
2003 in Ostasien klar war, dass eine ungewöhnliche Krankheit umging,
tauchten in „westlichen“ Medien (Deppa et al haben CNN, die New York
Times und die Washington Post untersucht) die ersten „richtigen“
Geschichten zu SARS erst nach der weltweiten Warnung der WHO am 15. März
auf, auf die Titelseite der NYT hat es SARS gar erst am 7. April
geschafft.
Als am 23.2.2003 die kanadische Touristin, die sich nahe dem Zimmer 911
angesteckt hatte, in Toronto landete, wussten aber dennoch
KanadierInnen von SARS: In Vancouver und Toronto lebten schon damals
viele Menschen, die sich mehr oder weniger als chinesische Expats
verstanden und insbesondere chinesischsprachige Zeitungen mit
chinesischen Meldungen lasen. Eine von ihnen war Agnes Wong, die in
eben dem Krankenhaus arbeitete (dem Scarborough Grace), in das die
Touristin eingeliefert worden war. Als sich deren Sohn am 7. März
ebenfalls mit einer schlimmen Lungensymptomatik in der Notaufnahme
vorstellte, erinnerte sich Wong an einen Artikel aus der in Toronto
erscheinenden Sing Tao (eine der erwähnten Expat-Zeitungen), in dem über
SARS-Fälle in Hong Kong berichtet worden war. Und dann ging es so
weiter:
Die ursprüngliche Diagnose des Patienten im Scarborough
Grace-Krankenhaus war Tuberkulose gewesen [...] Wong jedoch
verständigte die Nachtschwester und bat sie, die Reiseanamnese der
Mutter des Patienten zu prüfen. Sie erfuhr bald, dass die Mutter in
Hong Kong gewesen und krank zurückgekommen war. Wong drängte die
Pflegekräfte, den ärztlichen Dienst zu verständigen. Und so, das
jedenfalls ist die Darstellung des Fernsehsenders CBC und der Zeitung
Toronto Star, wurde der erste Fall von SARS in Kanada gefunden.
Original
The initial diagnosis of the Scarborough Grace patient had been
tuberculosis [...]. But Wong called the night nurse and asked her to
check the mother’s traveling history. She soon learned the mother had
been to Hong Kong and came back ill. Wong urged the nursing staff to
notify the physician. And that, according to the CBC and the Toronto
Star, is how Canada’s first SARS case was identified.
Sollte euch mal wer fragen, was die Sache mit der Diversität – die ja
tatsächlich so oft in Reden von Marktradikalen vorkommt, dass mensch ins
Grübeln kommen mag – soll: Vielleicht erinnert ihr euch an diese
Geschichte.
Und wo ich schon über das Buch schreibe, kann ich vielleicht noch einen
schnellen Nachtrag zum bekannten Szenario-Post loswerden in dem ich
ja spekuliert hatte, dass die Murdoch-Presse in Kanada ähnlich
destruktiv agiert haben könnte wie Springer hier. In der Tat findet
sich im siebten Kapitel des Buchs (das vor allem eine
Verhältnismäßigkeitsabwägung der Isolationsmaßnahmen vornimmt) folgende
Passage:
Ganz besonders die konservative Presse spielte die Bedrohung durch
SARS anfänglich herunter. Die Unterstellung war, alarmistische
Berichterstattung über kleinere Probleme diene vor allem dazu,
Zeitungen zu verkaufen und die Forschungsbudgets nordamerikanischer
Universitäten zu erhöhen.
Original
The conservative press, especially, downplayed the threat of SARS in
the early days, suggesting that sensational reporting of minor
problems served to sell papers and increase research budgets at North
American universities.
Was die Submikrometer-Filtermasken nach N95 [in der EU: FFP2] angeht,
illustriert dies viele der logistischen und planerischen Probleme,
die die Antwort [auf den Krankheitsausbruch] im Großraum Toronto
unterminierten. Unmittelbar nach dem Ausbruch war die Nachfrage nach
Masken verständlicherweise groß; die kanadischen Lieferanten waren, da
sie zuvor keinen Vorrat angelegt hatten, rasch ausverkauft.
Krankenhäuser mussten sich bei ausländischen Herstellern vesorgen,
aber wegen der weltweiten Bedrohung durch SARS war es sehr schwierig,
Masken aus anderen Ländern zu beschaffen.
Original
With regard to the N95 submicron filtering mask, this illustrated many
of the planning and logistical problems that undermined the GTA
response. Following the outbreak, demand for the mask was
understandably high; however, with no pre-existing supply stockpile,
Canadian suppliers quickly ran out of stock. Hospitals were forced to
obtain supplies from foreign manufacturers but, due to the worldwide
threat of SARS, great difficulty existed in acquiring masks from other
countries.
Das ist kein Text von 2020. Dieser Text wurde (ausweislich der
spätesten Zitate) kurz nach 2005 geschrieben und ist in dem 2011
erschienenen Band „SARS from East to West“ von Olsson et al enthalten,
von dem ich letztes Wochenende erzählt habe. Wann immer ich eine
hinreichende Bürokratesischtoleranz – wenn ihr die Textbeispiele hier
modulo meiner Übersetzung bröselhölzern findet: der Rest des Buchs ist
schlimmer – aufgebaut habe, gebe ich mir weitere Kapitel, und jetzt
gerade habe ich Kapitel 6 gelesen. Darin beschäftigen sich Dan Markel
und Christopher Stoney mit dem SARS-Ausbruch im Großraum Toronto, der
Greater Toronto Area (GTA).
Mensch sollte dabei im Kopf haben: Nach heutigen Maßstäben war der
SARS-1-Ausbruch von 2003 winzig. Es gab nur zwischen Ende Februar und
und Anfang Juli überhaupt Fälle außerhalb von Guangzhou, und in Kanada,
dem mit Abstand am schwersten betroffenen Land im „Westen“, wurden am
Ende 251 Fälle mit 43 Toten gezählt. Das ist, grob gesagt, ein zehntel
Promille von SARS-2. Faktoren wie 10 − 4 illustriere ich immer
gerne mit Zeit: Wenn SARS-2 ein Jahr ist, ist SARS-1 eine
Dreiviertelstunde.
Lokal allerdings kam es doch zu messbaren Inzidenzen, denn die große
Mehrheit der kanadischen Fälle waren Folge der ursprünglichen
Einschleppung aus Zimmer 911 und konzentrierten sich daher um Toronto
herum. Trotz der dramatisch anderen Größenordnungen muss es sich nach
Darstellung von Markel und Stoney dort ziemlich angefühlt haben wie
in der BRD im März 2020, bevor der Podcast mit Christian Drosten
online ging:
Die Unfähigkeit, Information zutreffend und wirkungsvoll zu
veröffentlichen, fachte Verwirrung und Panik an: War SARS infektiös
oder nicht? Konnte man sich wie bei einer Erkältung anstecken oder
nicht? War SARS unter Kontrolle oder nicht? Im Ergebnis wurden bei
den täglichen Pressekonferenzen zu viele Meinungen über das aktuelle
Geschehen öffentlich geäußert.
Original
The inability to communicate information accurately and effectively
fuelled confusion and panic: Was SARS infectious or wasn’t it? Could
it be caught like a cold or not? Was SARS under control or wasn’t it?
As it turned out, too many opinions were being publicly expressed on
what was happening through daily news conferences
Leider diskutiert das Buch nicht, was die Medien anschließend mit den
Themen aus den Pressekonferenzen gemacht haben, denn ich wäre
überrascht, wenn in Kanada die Murdoch-Presse nicht ähnlich verheerend
gewirkt hätte wie hier die Springer-Presse. Die schlimmste
Presse-Schelte, zu der sich die Autoren des Kapitels durchringen
konnten, ist:
Die sich aus den Schwierigkeiten bei der Informationsverbreitung
ergebende Verwirrung und Fehlinformation verschäfte sich noch durch
permanente Anfragen, 24 Stunden am Tag, Minute für Minute. Dies war
eine wesentliche Behinderung der Bemühungen einer kleinen,
überarbeiteten Belegschaft dabei, die zur Bekämpfung von SARS nötige
epidemiologische Information zu sammeln, zu analysieren, zu
interpretieren und zu verteilen.
Original
The resulting confusion and misinformation was exacerbated by non-stop
requests for information on a minute-by-minute, 24 hour basis and this
seriously limited the efforts of a small number of overworked staff to
forge on with their job of collecting, analyzing, interpreting and
disseminating the epidemiologic information required to combat SARS.
Auch das Lamento über schlechte EDV-Infrastruktur klingt wie vom letzten
Jahr:
Das Fehlen eines effektiven Überwachungssystems auf Provinz- wie
gesamtstaatlicher Ebene, einer gemeinsamen Datenbank und eines
gemeinsamen Informationssystems für meldepflichtige
Infektionskrankheiten hat die Versuche unterminiert, Bedürfnisse zur
Datensammlung zu befriedigen und die rasche Meldung von
Infektionstätigkeit sowohl zwischen als auch innerhalb von
Verwaltungseinheiten zu erleichtern.
Tatsächlich hat jede der vier Public Health-Stellen innerhalb des
Großraums Toronto ihr eigenes Erhebungssystem entwickelt und band sich
fest an jeweils spezifische und unverträgliche Erhebungs- und
Auswertungsmethoden, obwohl das erhebliche Probleme verursachte.
Original
The absence of an effective provincial or national surveillance
system, shared database and reportable disease information system
undermined attempts to handle data collection needs and facilitate
rapid reporting of disease activity across and within multiple
jurisdictions.
In fact, each of the four GTA public health units developed their own
data collection system and became married to unique and divergent
methods of collecting and reporting data, despite the challenges this
posed.
Angesichts der mikroskopischen Zahlen frage ich mich ein wenig, wie
diese Leute Zeit hatten, sich in ihre jeweiligen Systeme zu verlieben,
denn bei allenfalls ein paar hundert Fällen insgesamt konnten diese ja
wohl nicht viel genutzt worden sein; aber gut, wenn noch ein paar
tausend Quarantänefälle dazu kommen…
Vielleicht sind die kleinen Zahlen auch der Grund, warum dort nicht
aufgefallen ist, was nach zwei Jahren SARS-2-Surveillance längst auf der
Hand liegt: Wichtiger als die Totalerfassung und der rasche Umgang mit
großen Datenmengen ist eine wohldefinierte Datenerhebung. Blind
alle Fälle zählen („Inzidenz“) sagt ganz offenbar nichts, wie allein
schon der Vergleich von diesem Januar (eigentlich ziemlich cool bei
1500/100'000) mit dem vor einem Jahr (ziemliches Gemetzel bei
250/100'000) zeigt. Um zu einer irgendwie sinnvollen Einschätzung des
Geschehens zu kommen, braucht es zumindest noch Daten zu
Vollständigkeit, Alters- und Sozialstruktur, Virusprofil, Impfstatus und
Übertragungswegen, sehr wahrscheinlich noch deutlich mehr.
Da eine Vollerfassung dieser Daten nicht nur praktisch unmöglich wäre,
sondern auch ein Datenschutzalptraum würde, so dass wiederum viele
Menschen – wahrscheinlich auch ich – das Ergebnis durch kleine Lügen
unbrauchbar machen würden, wäre es rundherum viel hilfreicher, ein
(relativ) kleines Sample zu ziehen, dessen Bias gut untersucht ist.
Dieses könnte dann unter sorgfältiger Datenschutzkontrolle genau
studiert werden, gerade im Hinblick auf die tatsächlichen
Infektionsketten, deren Kenntnis ja z.B. zur Beurteilung der wirklich
nützlichen „Maßnahmen“ letztlich entscheidend wäre. Das große Vorbild
für eine hochnützliche „small data“-Operation in diesem Bereich ist die
AGI-Surveillance, von der ich Ende Januar schon mal geschwärmt habe.
Jedenfalls: irgendwas in der Art von „Wir saßen auf einem Berg schlechter
Daten und hätten eigentlich einen Klumpen guter Daten gebraucht“ hätte
ich halb erwartet, und das kommt bei Markel und Stoney nicht.
Vielleicht wegen der kleinen Zahlen, vielleicht, weil meine Überlegungen
im Public Health-Bereich nicht zutreffen, vielleicht, weil die Leute
andere Sorgen hatten.
Ein für PolitologInnen naheliegendes Thema für Sorgen könnten die
länderfürstlichen Stunts sein, zuletzt spektakulär die faktische
Aussetzung der Impfpflicht von Beschäftigten im Gesundheitswesen durch
Markus Söder. Auch sowas gab es schon 2003 in Kanada:
Unstimmigkeiten zwischen den Zuständigen auf Gemeinde- und
Provinzebene führten auch zu Doppelungen von Verantwortlichkeiten und
Aufgaben. [...]
Daher blieb unbeanwortet, wer die verantwortlich war für: die
Klassifikation eines Falls; die Erteilung von Anweisungen an
Krankenhäuser; die Festlegung von Konsequenzen, wenn die Anweisungen
nicht befolgt wurden; die Bestimmung, welche Daten von wem an wen
übertragen werden müssen; die Definition, welche Daten in welchem
Ausmaß und zu welchem Zweck zwischen öffentlicher Verwaltung und
privaten ExpertInnen ausgetauscht werden dürfen; die Benachrichtigung
von Verwandten, dass einE AngehörigeR als ein wahrscheinlicher Fall
klassifiziert wurde; die Abwägung, ob Datenschutzrechte der
Informationsweitergabe, die zur Kontrolle und Verhütung der weiteren
Ausbreitung von SARS nötig war, entgegenstehen.
Original
Divisions in local and provincial powers have also resulted in dual
roles and functions. [...]
Consequently, questions remained unanswered regarding who had the
responsibility for: the classification of a case; issuing directives
to hospitals; determining the consequences of not following
directives; deciding what specific information had to be transmitted,
by whom, when and to whom; establishing the extent to which public
officials and private experts could share data and for what purpose;
notifying relatives that a family member was classified as a suspect
or probable case and; determining whether privacy rights prevented the
sharing of information necessary to control and prevent the further
spread of SARS
Auch die verbreitete Erfahrung – gerade bei Lehrkräften an Schulen, aber
auch unsere Vewaltung an der Uni hat häufig geseufzt –, nach der die
Vorstellungen der Mächtigen, was nun gerade gelten sollte, wahlweise am
Vorabend oder gar nicht ankamen, ist nicht neu:
Tatsächlich wurden die Menschen, die an der Gesundheitsfront und/oder
in Hochrisiko-Umgebungen, etwa Bildungseinrichtungen, Gemeindezentren,
Altenheimen, kirchlichen oder privatwirschaftlichen Einrichtungen
arbeiteten, nie direkt über wichtige Entwicklungen informiert.
Original
In fact many people working on the frontlines and/or in high-risk
environments such as educational institutions, community access
centers, residential homes, religious organizations, and private
sector organizations were never kept directly informed about important
developments.
Nach all dem: Haben diese Untersuchungen der kanadischen Regierung
geholfen, mit SARS-2 besser fertig zu werden als andere westliche
Länder, die ja keine nennenswerten Erfahrungen mit SARS-1 hatten?
Ich lese gerade „SARS from East to West“, einen Sammelband von Artikeln
zu den Ausbrüchen von SARS-1 zwischen 2002 und 2004, den Eva-Karin
Olsson and Xue Lan 2012, also lang, bevor jemand etwas von SARS-2 ahnte,
herausgegeben haben (ISBN 978-0-7391-4755-9, gibts auch in der Imperial
Library). Es handelt sich wohl um eine Art Abschlussband eines
wissenschaftlichen Projekts irgendwo zwischen Politologie, Zivilschutz
und Militärforschung, das in einer Kooperation zwischen einigen
schwedischen Regierungsstellen und einer Handvoll, nun, regierungsnahen
Bildungseinrichtungen aus China bearbeitet wurde.
Das Ergebnis ist über weite Strecken unfassbar langweilig. Die
AutorInnen beschäftigen sich seitenweise damit, welche Verwaltung wann
mit welcher anderen geredet hat oder wer wann zurückgetreten ist oder
wer vielleicht Gesichter verloren haben könnte. Manchmal habe ich mich
gefragt, ob es Leute gibt, denen sowas ähnlich viel Freude macht wie
AstronomInnen ihre Sterne – oder ob die Motivation, PolitologIn zu
werden, vielleicht ganz anders aussieht als unser „ich will doch nur
spielen“.
Andererseits fühle ich mich gleich daheim, wenn das Buch den
WHO-Mitarbeiter Peet Tüll wiedergibt. Dieser hat während des Ausbruchs
mit der chinesischen Seite die Maßnahmen zur Bekämpfung der
hochkochenden Epidemie diskutiert, wozu im Buch zu lesen ist:
Treffen und Verhandlungen zwischen der WHO und ihren chinesischen
Partnern waren entweder formell oder informell […] Formelle
Verhandlungen waren zäh und hoch politisiert. […] Während der
informellen Treffen waren die Chinesen zugänglicher. [Diese] drehten
sich um Problemlösungen […] Wenn ein chinesischer Partner sich auf
ein informelles Treffen einließ, änderte sich die Frage von einer
politischen zu einer sachlichen.
(Kapitel 5; Übersetzung von mir). Das deckt sich komplett mit meiner
Erfahrung im (wie eben eingestanden durchaus anders gestrickten) Bereich
der Astronomie: Je mehr Arbeitsebene, je weniger Management, desto
produktiver. Was mal wieder die Frage aufwirft, warum daraus niemand
die offensichtlichen Schlüsse zieht…
Das Zimmer 911
Richtig Neues habe ich aus der Chronologie des Ausbruchs gelernt.
Verglichen mit SARS-2 war SARS-1 ja ein recht beschränktes Geschehen mit
gut 8000 bestätigten Infizierten und knapp 800 auf SARS-1
zurückgeführten Toten[1], und so konnten Infektionsketten vielfach
genau nachvollzogen werden. Die für mich Spannendste war die vom Zimmer
911 (das Schicksal ist numerologischen VerschwörungstheoretikerInnen
ganz offensichtlich gewogen) im Hotel Metropole in Hong Kong ausging.
Das ging so: Nachdem SARS-1 schon seit November 2002 im Hinterland von
Hong Kong, der Provinz Guangdong, herumgegangen ist, reist am 21.2.2003
– ein Freitag – der 64-jährige Arzt Liu Janlun von dort nach Hong Kong
und bezieht dieses Zimmer 911, um an einer Familienfeier teilzunehmen.
Zunächst ist er etwas mit seinem Schwager in der Stadt unterwegs,
verbringt dann aber einige Zeit im Hotel. Dort halten sich auch eine
78-jährige Touristin aus Toronto, ein 48-jähriger US-chinesisicher
Geschäftsmann und drei junge Frauen aus Singapur auf. Genauer: Sie alle
wohnen im 9. Stock des Metropole.
Schon am nächsten Tag geht es Liu Janlun so schlecht, dass er ins Kwong
Wah-Krankenhaus geht und, da er selbst vorher SARS-Fälle behandelt
hatte, das Personal dort warnt, er könnte „eine sehr ansteckende
Krankheit“ haben. Nach zehn Tagen Krankenhausaufenthalt, am 4.3.,
stirbt er an den Folgen seiner untypischen Lungenentzündung.
Sein Schwager entwickelt bis zum Dienstag (25.2.) erhebliche Symptome
einer Lungenerkrankung und begibt sich zunächst ebenfalls ins Kwang
Wah-Krankenhaus. Er wird wieder entlassen, muss am 1.3. aber erneut
aufgenommen werden und stirbt schließlich am 19.3. an SARS (das zu
diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht als solches erkannt ist und auch
nicht so heißt).
Die kanadische Touristin fliegt am Sonntag zurück nach Toronto. In
Kanada entwickelt sie recht bald Symptome und stirbt am 5.3. Fünf ihrer
Familienmitglieder stecken sich an und werden in der Folge ebenfalls in
Krankenhäuser aufgenommen. Das erste SARS-Todesopfer, das sich in
Kanada angesteckt hat, ist der 44-jährige Sohn der Touristin.
Auch der Geschäftsmann reist am Sonntag ab. Seine nächste Station ist
Hanoi, wo er am 26.2. ins Französische Krankenhaus eingeliefert wird.
Er braucht rasch Intensivbetreuung und wird am 5.3. zur Weiterbehandlung
zurück nach Hong Kong in das Princess Margeret-Krankenhaus verlegt.
Dort stirbt er am 13.3., offenbar, ohne weiteres Personal anzustecken.
In Hanoi hingegen entwickeln bis zum 12.3. 26 MitarbeiterInnen des
Krankenhauses SARS-Symptome, fünf sind zu diesem Stichtag in kritischem
Zustand.
In Hanoi ist ein Mitarbeiter der WHO, Carlo Urbani, auf den Fall
aufmerksam geworden und meldet ihn eine Woche nach dem Freitagabend auf
dem Gang im 9. Stock, also am 28.2., als möglichen Fall von Vogelgrippe
an das WHO-Büro in Manila, was dort, so steht es in der Chronologie,
einen „heightened state of alert“ auslöst.
Urbani selbst untersucht noch für ein paar Tage in Hanoi die unbekannte
Krankheit, bevor er am 11.3. zu einer Konferenz nach Bangkok
weiterfliegt. Schon bei der Ankunft ist er so krank, dass er dort ins
Krankenhaus eingewiesen wird. Er stirbt am 29.3., ebenfalls an SARS.
Eine der drei jungen Frauen aus Singapur, die am Dienstag nach dem
schicksalhaften Freitagabend dorthin zurückgekehrt ist, wird am
folgenden Samstag mit einer schweren Lungenerkrankung in ein Krankenhaus
in Singapur eingewiesen; auch die beiden anderen zeigen Symptome.
Ein Arzt, der sie behandelt hat, fliegt am 15.3. über Frankfurt nach New
York City. Da er kurz vor dem Abflug Krankheitssymptome angegeben hat,
alarmieren die Behörden von Singapur die WHO, die veranlasst, dass der
Arzt sowie seine Frau und seine Schwiegermutter in Frankfurt aus dem
Flugzeug entfernt werden. Die Familie kommt dort in Isolation, so dass
sogar die BRD ein wenig SARS abbekommt; SARS-1 beschränkte sich hier
aber auf insgesamt 9 Fälle, die alle glimpflich ausgingen (zum
Vergleich: In Kanada starben von 251 bekannten Infizierten 43).
Die Wikipedia berichtet, dass 4000 SARS-Erkrankungen – und damit die
Hälfte der bekannten Gesamtzahl – auf diesen Freitagabend im
Metropole-Hotel zurückgehen. Diese Geschichte war den Leuten, die an
der SARS-2-Prävention im März 2020 überlegten, sicher vertraut – und sie
lässt mich etwas besser verstehen, warum sie Hotels so rasch
runterfuhren und später zunächst eher wirr erscheinende Regeln (etwa
„mindestens ein leeres Zimmer zwischen zwei vergebenen“) verhängten.
Allerdings: SARS hätte es sicher auch anders aus Guangzhou
herausgeschafft. So ist etwa am 8.3.2003 ein Fall in Taiwan
aufgetreten, der sich direkt nach Guangdong zurückverfolgen ließ.
Wahrscheinlich war es global gesehen sogar ein Glück, dass SARS-1 durch
eine schnelle Ausbreitung in gesundheitlich gut überwachten Kreisen
doch recht schnell auffiel.
Der Erfolg jedenfalls, SARS-1 innerhalb von drei Monaten nach dem
Übergang zur Pandemie tatsächlich „besiegt“ zu haben – um mal eines der
dümmeren Wörter aus der Corona-Kommunikation aufzunehmen – dürfte wohl
auch die sture Entschlossenheit der derzeitigen chinesischen Regierung
erklären, SARS-2 aus dem Land zu halten. „Wir haben es schon mal
geschafft, das geht bestimmt wieder“. Nun, das war sicher schon im März
2020 eine Illusion, und wahrscheinlich nicht nur, weil SARS-2 schon in
der Wuhan-Variante doch regelmäßig ein paar Ecken übertragbarer zu sein
scheint als SARS-1. Spätestens jetzt, bei einem Infektionsgeschehen
vier Größenordnungen über dem von SARS-1, ist es absurd, anzunehmen,
SARS-2 würde in absehbarer Zeit verschwinden.
Wir haben jetzt fünf humane Coronaviren, und wer sich nicht über
Nordkorea-Nivau hinaus abschotten will, wird sie früher oder später
laufen lassen müssen. Insofern frage ich mich schon, wie sich die
Regierung in Beijing sich das so vorstellt.
Zur Laborhypothese
Eine zweite SARS-Geschichte, von der ich vorher noch nichts gehört
hatte, betrifft den Ausbruch genau dort, in Beijing, ein Jahr nach der
Pandemie. Das SARS-1-Virus war wie gesagt schon im Juli 2003 wieder
verschwunden, auch wenn im Januar 2004 in Guangdong nochmal zwei Fälle
bekannt wurden – möglicherweise hatten sich diese erneut beim
ursprünglichen Wirt angesteckt.
Am 22.4.2004 (einem Donnerstag) berichtet jedoch das chinesische
Gesundheitsministerium, es gebe einen SARS-Fall in Beijing, und fünf
weitere Personen zeigten verdächtige Symptome. 171 Kontaktpersonen
stünden unter Beobachtung. Am Freitag wird ein weiterer Fall und ein
Verdachtsfall berichtet, dieses Mal aus der Provinz Anhui zwischen
Beijing und Shanghai. Diese Fälle lassen sich offenbar auffällig nahe
an ein Labor der chinesischen Gesundheitsbehörde CCDC zurückführen, so
dass schon am folgenden Montag Vermutungen laut werden, die SARS-Viren
seien bei einem Laborunfall übertragen worden.
Die Behörden reagieren schnell und identifizieren Kontaktpersonen an den
beiden Orten, was in Anhui auf bis zum folgenden Mittwoch auf 154
Menschen führt. Isolation und Quarantäne führen dazu, dass der letzte
bekannte SARS-1-Fall überhaupt einen Monat nach dem Beginn des zweiten
Ausbruchs, am 21.5.2004, aus dem Ditan-Krankenhaus entlassen wird.
Insgesamt waren 2004 wohl um die 1000 Personen in Isolation und
Quarantäne (wenn ich die Chronologie im Buch richtig lese).
Am 1.7.2004 bestätigte der chinesische Gesundheitsminister Gao Quiang,
der Ausbruch sei auf ein Labor der CCDC zurückzuführen gewesen. In der
Folge trat der Direktor der CCDC, Li Liming, zurück, vier weitere
hochrangige Mitarbeiter wurden entlassen.
Ich muss sagen, dass ich die Laborhypothese zum Ursprung von SARS-2 im
Vergleich zur sehr plausiblen Zoonose (ich bin immer noch leicht
traumatisiert von einem Besuch in einem chinesischen
Lebensmittel-Supermarkt, der auf den ersten Blick kaum von einem Zoo zu
unterscheiden war) nie sonderlich überzeugend fand, auch wenn es schon
ein komischer Zufall ist, dass der erste große Ausbruch ausgerechnet in
so großer Nähe zum Wuhan Institute of Virology der Chinesischen
Akademie der Wissenschaften (CAS) stattfand. Aber das ist konsisitent
mit dem generellen …
Ich beobachte derzeit fasziniert die Reihenfolge der Beiträge in
Nachrichtensendungen. Wir haben Corona-Zahlen, die noch vor zwei
Monaten helle Panik ausgelöst hätten – 200000 gemeldete Neuinfektionen
am Tag, eine bundesweite 7-Tages Inzidenz über einem Prozent –, und
entsprechende Meldungen kommen zumindest bei ARD und DLF, wenn
überhaupt, weit hinter Mumpitz wie der Frage, ob wohl ein Herr Merz oder
ein Herr Brinkhaus der CDU-Fraktion im Bundestag vorsitzen wird (mal
ehrlich: Wer wirds merken?).
Aber vielleicht ist das auch besser so; denn auch wenn sich das
derzeitige Tempo wahrscheinlich noch nicht durchhalten lässt, wenn sich
die Altersverteilung der Infizierten nach oben verschiebt, mag es sein,
dass es ohne grobe Notbremsen gerade jetzt geht, und wenn der nächste
Winter halbwegs normal laufen soll, sollten wir auch gar nicht so arg
einbremsen (und auch nicht im Interesse der 70-Jährigen).
Gestern allerdings hätte es eine spektakuläre Nachricht gegeben, die ich
ganz vorne in meine Sendung gepackt hätte, wenn ich Redakteur wäre: Mit
Omikron ist SARS-2 in gewissem Sinn fertig. Woher ich das weiß? Nun,
meine Lieblingsrubrik im RKI-Wochenbericht kommt schon seit langem von
der Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI; ich hatte die schon mal
zitiert), die Woche um Woche berichtet, was so umgeht an Erregern von
Atemwegserkrankungen. Im Bericht von gestern findet sich das auf
Seite 14, und da steht:
In der virologischen Surveillance der AGI wurden in KW 3/2022 in
insgesamt 66 von 112 eingesandten Proben (59 %) respiratorische Viren
identifiziert. Darunter befanden sich 23 Proben mit SARS-CoV-2 (21 %),
15 mit humanen saisonalen Coronaviren (hCoV) (13 %), zwölf mit
Rhinoviren (11 %), elf mit humanen Metapneumoviren (10 %), jeweils
drei Proben mit Parainfluenzaviren (3 %) bzw. mit Respiratorischen
Synzytialviren (RSV) (3 %) sowie eine Probe mit Influenzaviren (1 %).
Das ist spektakulär, weil, wenn ich nichts übersehen habe, nie zuvor
während der ganzen Pandemie SARS-2 in den Infektionszahlen unsere
gewohnten humanen Coronaviren überholt hat.
Und es heißt ziemlich sicher: SARS-2 ist jetzt bis auf einen kleinen
Faktor so gut an den Menschen angepasst, wie das Coronaviren halt können
– die anderen vier hatten ja schon mindestens hundert Jahre Zeit für
ihre Optimierung (der jüngste könnte seit 1889 umgehen; zumindest
vermuten viele Leute, die Russische Grippe könne die letzte wirklich
tödliche Coronapandemie vor SARS-2 gewesen sein), und wenn SARS-2 in
deren Liga aufgestiegen ist, wird es wohl keine weltbewegenden
Erfindungen mehr machen können; in diesem Sinne wäre es, na ja,
„fertig“.
Mensch könnte spekulieren, SARS-2 könne einen Vorteil haben, weil es für
die meisten Menschen hier immer noch neu ist, während sie die anderen
vier schon aus dem Kindergarten kennen. Per Bauchgefühl bezweifele ich
den Vorteil allerdings, denn die vielen Geimpften – und niemand ist
gegen eines der anderen Coronaviren geimpft – machen es SARS-2
vermutlich ziemlich ähnlich schwer wie die vorhergegangenen Infektionen
den anderen.
Zum Schluss nochmal Fanpost an die AGI: Ich halte das für hochrelevante
Forschung mit minimalem Eingriff in die Privatsphäre von Kranken, small
data im besten Sinn (wobei ich zugebe, dass mir das noch besser gefallen
würde, wenn das Sample etwas größer wäre; in Zeiten wie diesen sollten
sich doch 500 bis 1000 Proben finden). In meiner Fantasie sind die
AGI-Leute und ihre Sentinelpraxen so wie die Waldläufer im Herrn der
Ringe, die durch die Wildnis ums Auenland streichen und, ohne dass es
viele merken, die Augen offen halten. Helden!
Ich kann gar nicht genau sagen, warum genau mich das als symbolisch
für Religion in der Moderne hingerissen hat: die Kombination aus
offensichtlich unsinniger Tradition (die Rüstungen) und modernen
Einsichten (Viren, Tröpfcheninfektion)? Das Festhalten an unsinnigen
Prozeduren (hier: eng stehen, laut brüllen), auch wenn diese mit
erkennbaren Risiken verbunden sind, die mensch leicht vermeiden könnte?
Oder wars nur, dass die Mundschutze in dieser Situation annäheernd leere
Demonstration waren, denn vergleichen mit dem, was dann nachher in den
Umkleiden[1] stattfindet, ist das Infektionsrisiko am
durchpusteten Petersplatz trotz des zu geringen Abstands fast
vernachlässigbar (na gut, jedenfalls, wenn sich die Leute bereitgefunden
hätten, aufs Rumbrüllen zu verzichten).
Oder der Kaserne? Leider geht aus dem Wikipedia-Artikel zur
Schweizergarde nicht hervor, ob die Leute kaserniert sind oder
nicht. Dafür steht dort zu lesen, dass auch der Papst statt auf
ordentliche Schutzengel doch eher auf die Maschinenpistole 5 aus der
Todesfabrik von Heckler und Koch in Oberndorf am Neckar setzt.
Außerdem im Artikel: Ein Link auf die nachgerade klischeereine
Geschichte um den Mord an dem Kommandanten Alois Estermann.
Manchmal, so scheint es, stimmt der Bibelspruch doch: Wer das Schwert
ergreift, wird durch das Schwert umkommen.
Vor gut 30 Jahren hat der Bundestag beschlossen, mit der Regierung nach
Berlin umzuziehen. Es setzte sich damals ein Antrag durch, der von
Willy Brandt und Wolfgang Schäuble unterstützt wurde – wie so oft hatte
der Patriotismus großzügig weltanschauliche Differenzen zugekleistert.
Der Titel des siegreichen Antrags von 1991: „Vollendung der inneren
Einheit Deutschlands“.
Diese „Sternstunde des deutschen Bundestags“ (Bundestagsverwaltung)
kommentiert das SARS-2-Cornavirus am 23.12.2021 wie folgt:
Abbildung 3 aus dem Paper von Levine et al, auf das ich unten ein
wenig eingehe: das Risiko, an SARS-2 zu sterben, geht ziemlich genau
exponentiell mit dem Alter (die Ordinate ist logarithmisch
aufgeteilt). Diese Beobachtung führt ziemlich direkt zu einem
Kult-Paper aus den wilden Jahres des Internet. CC-BY
doi:10.1007/s10654-020-00698-1.
Als das WWW noch jung war und das Internet jedenfalls nicht alt, im
Dezember 1999 nämlich, haben Chris Gottbrath, Jeremy Bailin, Casey
Meakin, Todd Thompson und J.J. Charfman vom Steward Observatory das
bemerkenswerte Paper „The Effects of Moore's Law and Slacking on Large
Computations“ auf astro-ph, der Astrophyik-Abteilung des
Preprint-Servers arXiv, veröffentlicht. Obwohl das damals nach meiner
Erinnerung hohe Wellen geschlagen hat (selbst slashdot, damals eine der
wichtigsten Seiten im Netz, berichtete), haben sie es bis heute zu
keiner Fachzeitschrift eingereicht. Keine Ahnung, warum nicht, denn ihr
Punkt ist trotz ihres eher leichtfüßigen Stils[1] völlig korrekt
und jedenfalls nicht ganz offensichtlich.
Gottbrath und Freunde sagen nämlich, dass, wer eine riesige
Rechenaufgabe und ein festes Budget hat, durch Warten schneller fertig
werden kann. Das liegt daran, dass mensch nach 18 Monaten (das ist die
konventionelle Zeitskala für Moore's Law) fürs gleiche Geld einen
Rechner mit doppelt so vielen Transistoren kaufen kann und der wird mit
etwas Glück doppelt so schnell sein wie der, den mensch heute kaufen
würde. Sie berechnen auch, wie groß eine Rechnung sein muss, damit sich
das Warten lohnt: mit dem 18-Monate-Gesetz ist die Grenze bei Aufgaben,
die 26 Monate rechnen würden.
Weil das Paper damals in meiner Blase intensiv herumgereicht worden ist,
finde ich überraschend, dass es laut ADS nur sechs Mal zitiert (wenn
auch von einer illustren Auswahl von Papern) worden ist und bei den
üblichen Suchmaschinen bei Anfragen wie „Moore's Law optimal waiting“
nicht in Sicht kommt.
Transistoren vs. SARS-2
Gesucht hatte ich es wiederum, weil ich ja schon länger mit
Niedriginzidenzsstrategien hadere. Ganz unabhängig davon, ob wir
als Gesellschaft hohe Inzidenzen ohne Schrammen überstehen, dürfte
inzwischen niemand mehr ernsthaft bestreiten, dass „am Ende“ alle SARS-2
gehabt haben werden – die Frage ist nur, wann („werden wir im Herbst
2022 wieder einen Lockdown brauchen?“) und auch, wie viele Menschen bis
dahin wegen SARS-2 schwer krank geworden oder gar gestorben sein werden.
An diesem Punkt ist mir das 1999er-Paper eingefallen, denn wir haben
bei SARS-2 etwas ganz ähnliches wie Moore's Gesetz: Die Sterblichkeit
nach einer Erstinfektion steigt exponentiell mit dem Alter. Das haben
im September 2020 (also einige Monate, bevor Impfungen gegen SARS-2
epidemiologisch relevant wurden) Andrew Levin und Kollegen in ihrem
Artikel „Assessing the age specificity of infection fatality rates for
COVID-19: systematic review, meta-analysis, and public policy
implications“ (doi:10.1007/s10654-020-00698-1) recht sorgfältig und
beeindruckend gezeigt. Die Abbildung am oben im Post ist aus dieser
Arbeit.
Da hier das Risiko und nicht die Leistung zunimmt, ist jetzt allerdings
die Frage nicht, ob mensch lieber etwas warten soll. Nein, je älter
Leute werden, desto größer ist ihr Risiko, eine SARS-2-Infektion nicht
zu überleben, und dieses Risiko wächst ziemlich steil. Der Gedanke,
die Gesamtopferzahl könnte sinken, wenn sich Menschen anstecken, solange
sie noch jünger sind und sie also die Infektion mit höherer
Wahrscheinlichkeit überleben, liegt also nicht fern. Die zur Prüfung des
Gedankens notwendige Mathematik läuft im Wesentlichen analog zu den
Überlegungen von Gottbrath und Freunden.
Ethisch ist es natürlich nicht analog, aber ich wollte dennoch
wissen, wie viel das eigentlich ausmachen könnte. Deshalb habe ich mir
folgendes Modell ausgedacht:
Die Infection Fatality Rate, also die Wahrscheinlichkeit, an einer
(erkannten oder unerkannten) SARS-2-Infektion zu sterben, ist
inspiriert von der Abbildung oben
IFR = exp((t − A1) ⁄ λ) ⁄ 100.
Dabei ist t das Alter der erkrankten Person, A1 das
Alter, in dem 1% der Infizierten versterben (das pro-cent ist auch
der Grund für die Division durch Hundert), und λ so etwas wie die
Steigung; nennt mensch das Alter, in dem die Todesrate auf 10%
gestiegen ist, A10, so lässt sich leicht
λ = (A10 − A1) ⁄ ln(10)
ausrechnen.
Eine ultrakompetente Regierung (oder Schwarmintelligenz auf
Brillianzniveau cosmic) kriegt es hin, die Inzidenz konstant
über viele Jahre auf i zu halten. In meiner Simulation
bleibe bei der Interpretation als Wocheninzidenz und simuliere die
Infektion von Woche zu Woche. Gegenüber den Inzidenzen in der
realen Welt gibt es bei mir außerdem keine Dunkelziffer.
Wer nicht an SARS-2 stribt, stirbt nach Gompertz (cf. Mortalität in
der Wikpedia), es stirbt also jedes Jahr ein Anteil („General
Fatality Rate”)
GFR = S30⋅exp(G⋅(t − 30 a)).
der t-jährigen. Dabei ist S30 die Sterberate für
30-jährige, die ich aus dem Wikipedia-Artikel als ungefähr 40/100000
pro Jahr ablese, und G der Gompertz-Sterbekoeffizient – ich
bin nicht sicher, ob ich so eine Größe eigentlich nach mir benannt
haben wollte -, den die Wikipedia als 0.08 ⁄ a gibt.
Etwas jenseits von Gompertz lasse ich jede Woche 1/52 der fürs
jeweilige Wochen-Alter berechneten Menschen sterben; das macht vor
allem die Kurven von SARS-2-Opfern über der Zeit glatter.
Wer eine SARS-2-Infektion überlebt hat, stirbt nicht mehr an SARS-2.
Das ist sicher eine unrealistische Annahme, aber sie macht das
Modell auch deutlich klarer.
Bliebe noch die Schätzung der Parameter aus der Formel für die IFR. Aus
der Abbildung am Artikelanfang lese ich per Auge
A1 = 65 a und A10 = 83 a ab (wer von
den a irritiert ist: das ist die Einheit, nämlich das
Jahr).
Hier liegt die zweite wesentliche Schwäche meines Modells: Nachdem
inzwischen in den dabei mitspielenden Altersgruppen wirklich eine
überwältigende Mehrheit geimpft ist, werden diese Zahlen heute
garantiert anders aussehen als in der ersten Jahreshälfte 2020, als die
Studien gemacht wurden, die Levine et al ausgewertet haben.
Andererseits legen die immer noch recht erheblichen Sterbefallzahlen
nahe, dass sich die Kurve wohl nur ein wenig nach rechts verschoben
haben wird; ich komme gleich nochmal darauf zurück.
Der Berg des Todes
Habe ich dieses Modell, kann ich einer Gruppe von Menschen folgen, bis
sich (fast) niemand mehr infizieren kann, weil alle entweder tot oder
in meinem Sinne immun sind. Ohne es probiert zu haben, glaube ich, dass
das Modell einfach genug ist, um es in eine geschlossen lösbare
Differentialgleichung umschreiben zu können. Aber wer will denken, wenn
es doch Computer gibt?
Und so habe ich die Modellannahmen von oben einfach in ein paar Zeilen
Python gepackt und folge dem Schicksal einer Kohorte von 100000
70-jährigen, bis alle tot oder genesen sind. Und das mache ich für
einen Satz von Inzidenzen zwischen 20 und 2000. für Das Ergebnis:
Ich gebe zu, dass ich mit dieser Kurvenform nicht gerechnet hatte. Dass
ganz niedrige Inzidenzen die Todeszahlen drücken, ist zwar zunächst
klar, denn bei, sagen wir, 20/100000/Woche würde es
100000 ⁄ 20 = 5000 Wochen oder fast 100 Jahre dauern, bis alle mal
das Virus hätten haben können, und in der Zeit sind 70-jährige natürlich
anderweitig gestorben.
Das hohe und recht steile Maximum um die 100 herum hatte ich so aber
nicht erwartet. Zu ihm tragen vor allem Leute bei, die erst nach
einigen Jahren – und dann deutlich gebrechlicher – mit SARS-2 in Kontakt
kommen. Bei einer 100er-Inzidenz sieht die Wochensterblichkeit über der
Zeit (in Wochen) so aus (cf. make_hist_fig im Skript):
Diese Kurve wäre ziemlich zackig, wenn ich strikt nach
Gompertz-Formel nur ein Mal im Jahr natürliche Tode hätte, statt die
diese geeignet auf die Wochen zu verteilen.
Die Menschen, die am Anfang der Pandemie 70 sind, sterben in diesem
Modell also typischerweise nach 1000 Wochen oder fast 20 Jahren, wenn
sie ihn ihren 90ern wären. Das mag etwas fantastisch klingen. Jedoch:
Das RKI hat früher immer dienstags die Demographie der Verstorbenen
veröffentlicht (z.B. Bericht vom 30.3.2021, siehe S. 12), und
tatsächlich sind 20% der Coronatoten in der Altersgruppe 90-99.
Aber klar: Das ist hypothetisch. Niemand kann die Inzidenzen konstant
auf 100 halten, und niemand wird das vernünftigerweise wollen. Vor
allem aber mag die Impfung die IFR-Kurve durchaus so weit nach rechts
verschieben, dass der Sterblichkeitspeak, der hier noch bei 90-jährigen
sitzt, jenseits der 100 rutscht, und dann betrifft das, bei heutigen
Lebenswerwartungen, praktisch niemanden mehr.
Zynische Metriken
Als Gedankenexperiment jedoch finde ich das Ganze schon bemerkenswert:
Wenn wir eine 1000er-Inzidenz aushalten können, würden wir nach diesem,
eingestandenermaßen idealisierten, Modell 7% der 70-jährigen den Tod
durch SARS-2 ersparen.
Ein so starker Effekt muss eigentlich schon aufgefallen sein. Wenn das
kein Fehler auf meiner Seite ist: steht das schon irgendwo in der
epidemiologischen Literatur?
Allerdings ist die, ach ja, Metrik „Wie viele Leute sterben an SARS-2?“
auch ziemlich nichtssagend. Weit üblicher zur Einschätzung der Frage,
wie viel Geld (oder Nerven) mensch für Interventionen gegen Krankheiten
ausgeben mag, sind die YLL, Years of Life Lost (cf. nochmal DALY in der
Wikipedia). Diese Metrik ist zwar – ganz wie meine Rechnung hier – ein
wenig zynisch, aber doch nachvollziebar genug, dass ich mir aus meinem
Modell auch nochmal die Gesamtlebensjahre habe ausspucken lassen, die
meine 100000er-Kohorte in den Läufen mit den verschiedenen Inzidenzen …
Die SARS-2-Pandemie ist historisch: relative Änderungen der
Lebenserwartungen nach Jahren für Männer, soweit
doi:10.1016/S2214-109X(21)00386-7 brauchbare Daten hatte. In Blau
ist die Veränderung 2020 (also vor allem durch SARS-2) markiert. Es
lohnt sich, die Abbildung detailliert in einem eigenen Browserfenster
anzusehen: Von den demographischen Folgen des Zusammenbruchs der alten
Ordnung in vielen Ex-Ostblockstaaten über die Spanische Grippe und die
verschiedenen Kriege bis hin zum Rauschen der kleinen Zahlen in
Island ist viel zu entdecken. CC-BY Aburto et al.
In den Informationen am Morgen im Deutschlandfunk hat der Moderator
Rainer Brandes heute berichtet, dass die deutsche Regierung nun
Einreisesperren für Menschen aus dem südlichen Afrika verhängt hat und
fuhr fort mit dem Satz: „Das trifft die Menschen dort natürlich hart“.
Wenn das ein Versuch von Empathie war, ist der ziemlich misslungen.
Einerseits, weil „die Menschen“ in der Region im Schnitt sicher nicht
gerade jetzt (es ist eiskalt!) dringend in die BRD wollen. Tatsächlich
wäre ich überrascht, wenn das Land als Reise- oder Fluchtdestination
überhaupt schon in vielen Köpfen aufgetaucht wäre, schon aus
Sprachgründen.
Weiter geht aus der Übersicht zur Visumspflicht des Auswärtigen
Amts hervor, dass die BewohnerInnen aller Staaten des südlichen Afrikas
(Südafrika/Azania, Eswatini, Lesotho, Simbabwe, Botsuana, Angola,
Mosambik und sogar die unseres alten Schlachtfeldes Namibia) ohne Visum
nicht reinkommen. Wie groß sind wohl die Chancen eines
Durchschnittsmenschen aus, sagen wir, Namibia ohne bereits bestehende
Kontakte hierher, so ein Visum zu bekommen?
Der wirklich wesentliche Punkt in Sachen Empathie ist aber: Für fast
die gesamte EinwohnerInnenschaft des südlichen Afrika stellt sich die
Visafrage nicht, und auch nicht die coronabedingter Reisebeschränkungen:
Die Leute sind schlicht zu arm, und bevor sie darüber nachdenken, wo sie
nächste Woche hinfliegen könnten[1], müssen sie erstmal
klarkriegen, was sie morgen zu beißen haben.
Angesichts der oft wirklich schreienden Armut in der weiteren Region
(und auch unserer eigenen Visapolitiken) ausgerechnet die coronabedinge
Einreisesperre in die BRD als „hart“ zu bezeichnen – nun, das ist
entweder verwegen oder ignorant.
Etwas Ähnliches ist mir neulich beim Hören eines Interviews mit Arne
Kroidl vom Tropeninstitut der
GSU
LMU München zu einer Corona-Seroprävalenzstudie in Äthiopien durch den
Kopf gegangen. Hintergrund ist das Paper
doi:10.1016/S2214-109X(21)00386-7, in dem berichtet wird, dass es
zwischen August 2020 und und Februar 2021 im eher ländlich geprägten
Jimma Inzidenzen im Bereich von im Schnitt 1600/100000/Woche gegeben
haben muss, in Addis Abeba sogar über 4500; was das für Inzidenzen
während der tatsächlichen Ausbrüche bedeutet, ist unschwer vorstellbar.
Das ist dort offenbar nicht besonders aufgefallen, es hat ein
Forschungsprojekt gebraucht, um es zu merken. In einer im Wesentlichen
völlig ungeimpften Bevölkerung.
Das ist kein Argument dafür, dass SARS-2 doch harmlos ist. Es ist ein
Symptom der Nonchalance, mit der „wir“ Verhältnisse hinnehmen, in denen
Menschen an einem Fleck recht normal finden, was woanders (zu recht) als
wirklich ganz schlimme Gesundheitskrise empfunden würde. Bei aller
Reserviertheit gegenüber Metriken und Zweifeln am Meldewesen: Laut CIA
World Factbook ist die Lebenserwartung in Äthiopien 68 Jahre. Die
Vergleichszahl für die BRD sind 81 Jahre.
Aburto et al, doi:10.1093/ije/dyab207, schätzen, dass Corona, wo es
wirklich schlimm durchgelaufen ist (Spanien, Belgien), etwa anderthalb
Jahre Lebenserwartung gekostet hat (in der BRD: ca. 6 Monate). Wie viel
schlimmer das ohne Lockdown geworden wäre, ist natürlich Spekulation,
aber da es gerade die besonders verwundbaren Bevölkerungsgruppen ohnehin
besonders schlimm erwischt hat, dürfte ein Faktor fünf zwischen dem
realen Verlauf und dem schlimmsten Szenario eine sehr plausible
Obergrenze geben, oder etwa eine um acht Jahre reduzierte
Lebenserwartung. Auch damit wäre die BRD immer noch fünf Jahre über den
offiziösen Zehlen in Äthiopien.
Was in dieser Metrik[2] hier im Land ein unvorstellbares Gemetzel
ist (denn fünf Mal Belgien wäre hier bundesweit Bergamo), ist dort
Normalzustand, und zwar zu guten Stücken aus völlig vermeidbaren
Gründen, wie beispielsweise unserer Völlerei; vgl. dazu How food and
water are driving a 21st-century African land grab aus dem Guardian
von 2010. Oder den IWF-Strukturanpassungsmaßnahmen, die, wo immer sie
zuschlugen, das öffentliche Gesundheitswesen ruinierten und die Menschen
Evangelikalen und anderen Hexendoktoren in die Arme trieben. Am
Beispiel Peru illustriert zwangen „wir“ mit unseren marktradikalen
Zivilreligion zwischen 1981 und 1990 die dortige Regierung zur Senkung
der Gesundheitsausgaben um 75%.
Verglichen mit solchen Totalabrissen sind unsere Gesundheitsreformen
kaum mehr als das Niederlegen einer Hälfte der Doppelgarage vor der
Villa. Dass „wir“ bei sowas dezent in die andere Richtung schauen, das
ist ein noch größeres Empathieversagen als das vom Anfang dieses Posts.
Nachtrag (2022-03-28)
Der Hintergrund Politik vom 11. März wirft weitere Blicke auf die
SARS-2-Situation in Afrika. In der Sendung berichtet Kondwani Jambo
beispielsweise, dass BlutspenderInnen in Malawi im Februar 2022 bereits
zu 80% SARS-2-positiv waren; auch in einem Land mit einem – laut Angaben
der Sendung – Durchschnittsalter von knapp 18 hätte eine derart hohe
Welle eigentlich stark auffallen müssen. Die Vermutung,
Kreuzimmunitäten mit lokal verbreiteten anderen Coronavieren könnten
geholfen haben, findet Jambo nicht bestätigt. Seine in der Sendung
unverbindlich angebotene Erklärung über „schnellere“ Monozyten in Malawi
gegenüber einer britischen Vergleichsgruppe finde ich allerdings spontan
auch nicht allzu überzeugend.
Wie immer sollte die Metrik nicht überbewertet werden;
metriktheoretisch lesenswert ist in diesem Zusammenhang das
Methoden-Kapitel der Aburto-Arbeit. Mensch sollte insbesondere klar
haben, dass sich ein Tod weniger junger Menschen in der
Lebenserwartung bei Geburt nicht von einem Tod vieler alter Menschen
(wie bei SARS-2, wo der Verlust von Lebenserwartung bei Männern bei
Aburto et al fast überall durch Tode in der Altersgruppe 60-79
dominiert ist) unterscheiden lässt. Mensch muss nicht Boris Palmer
sein, um zwischen diesen Situationen unterscheiden zu wollen. Aber
schon meine Erfahrungen mit Notaufnahmen in den USA (näher bin ich,
eingestandenermaßen, Krankenhäusern im globalen Süden nie gekommen)
sagen mir, dass die Lebenserwartungs-Zahlen eben doch oft sehr konkrete
Not beim Zugang zu medizinischer Versorgung spiegeln.
Also gut. Ich sehe es ein. Und gebe es auf. Vor neun Tagen hatte ich
vorhergesagt, heute müssten so in etwa 4700 Intensivbetten mit
SARS-2-PatientInnen belegt sein. In Wahrheit liegt die
DIVI-Zahl im RKI-Bericht von heute bei 3987, also gut 15% darunter.
Das wäre bei meinen sonstigen Handwerks-Abschätzungen kein Drama.
Hier aber sagt es klar: Meine Methode taugt (erstmal) nicht (mehr).
Hintergrund war mein Artikel von vor 18 Tagen, in dem ich (für
Verhältnisse dieses Blogs sorgfältig) die Verzögerung zwischen
steigenden Inzidenzen und in der Folge steigender Intensivbelegung
abgeschätzt habe. Das Ergebnis für die vierte Welle waren neun Tage.
Doch schon die daraus folgende Abschätzung der Intensivbelegung vor neun
Tagen lag weit daneben.
Und nun liege ich eine weitere Verzögerungsperiode später wieder falsch.
Das ist also ganz offenbar alles Quatsch. Während ich mich bei der letzten
falschen Vorhersage noch mit einer Fehlanwendung des heuristischen
Modells herausreden konnte, ist das bei zwei falschen Vorhersagen nicht
mehr drin. Nein. Die Prämisse ist falsch. Die Instensivbelegung folgt
nicht mehr, wie noch in den zweiten und dritten Wellen, ganz brauchbar
der Inzidenz. Die beiden Kurven haben sich inzwischen sehr deutlich
entkoppelt:
Meldezahlen des RKI vs. DIVI-Zahlen (Quellen vgl. Halbwegs gute
Nachrichten). Auf der Zeitachse Sekunden seit 1.1.2020; 5⋅107 entspricht dabei dem 1.8.2021. Die Intensivbelegung ist
um neun Tage nach vorne gezogen, um den wahrscheinlichsten Verzug
auszugleichen und die Kurven übereinanderzubringen. Die y-Achse ist
wie immer bei solchen Wachstumsplots von mir logarithmisch (also:
exponentielles Wachstum ist eine Gerade). Die Skalierung der
Intensivbelegung ist frei Auge, aber egal, wie mensch das macht: die
Kurven passen nicht übereinander.
Ganz offensichtlich reagiert die Intensivbelegung „weicher“ als die
Inzidenz, und zwar nicht nur, wie aufgrund längerer Liegezeiten zu
erwarten, nach unten, sondern auch nach oben. Es ist eben derzeit nicht
so, dass aus einer gegebenen Zahl von Infizierten eine leicht
vorhersehbare Zahl von IntensivpatientInnen wird. Daher ist vorläufig
jede Vorhersage, die von einem konstanten Verhältnis von
Intensivbelegung zu Inzidenz ausgeht, eine schlechte und ziemlich sicher
falsche Vorhersage.
Das richtige Vorgehen wäre jetzt, nachzusehen, was eigentlich diese
Annahme kaputt macht (wobei: wie ich im September herausgefunden
habe, war sie so ganz richtig ohnehin nie). Leider gibt es eine große
Zahl möglicher Gründe, allen voran ist das natürlich die Demographie.
Solange sie nicht ihre Eltern und Großeltern anstecken, können sich
sehr viele Kinder mit SARS-2 infizieren, bevor das irgendwo in
Intensivstatistiken sichtbar wird, während umgekehrt ein einziger
Ausbruch in einem Pflegeheim mit gebrechlichen Menschen einige dutzend
Intensivbetten belegen mag, was auch bundesweit schon eine Veränderung
im einstelligen Prozentbereich ausmachen würde.
Dazu kommen dann regional und nach Altersgruppen recht deutlich
schwankende Impfquoten: Rasant steigende Inzidenzen in Bremen mit einer
relativ stark durchimpften Bevölkerung geben ziemlich sicher ein
deutlich schwächeres Signal auf Intensiv als eine rollende Welle in
Sachsen, wo immer noch viele Menschen im mittleren Altersbereich
ungeimpft sind und damit weit eher langwierige und kritische Verläufe
nehmen werden
Nachtrag (2021-11-25)
Zum Thema Sachsen ist in der taz vom 25.11. zu lesen, von den
dortigen 14000 PolizistInnen seien derzeit 519 SARS-2-positiv. Das ist
eine 100000er-Wocheninzidenz zwischen 1500 und 4000, je nach dem, wie
die zählen, und damit selbst für sächsische Verhältnisse (RKI-Inzidenz
heute 1075) ziemlich sportlich.
Mein int/inc-Maß (IntensivpatientInnen pro Inzidenzpunkt) ist aber auch
empfindlich für Auswahleffekte. So wird es immer dann stark sinken,
wenn systematisch getestet wird: Wenn die Dunkelziffer unerkannt
Infizierter runtergeht, geht die Inzidenz im Hellfeld und damit mein
Nenner hoch, ohne dass sich an der im Zähler reflektierten Realität
etwas ändert. Besonders verzerrend werden sich solche Effekte
auswirken, wenn systematische Tests nur demographisch oder
impfstatistisch sehr auffällige Teile der Bevölkerung erreichen (sagen
wir: SchülerInnen).
In Summe: Wer derzeit aus der Inzidenzkurve Vorhersagen über die
Intensivbelegung machen will, musss Impfquoten und Demographie, und
damit auch die geographische Verteilung der Inzidenz, berücksichtigen,
wenn das irgendwie hinkommen soll. Und das mutiert zu mehr Arbeit als
ich in der Kategorie handwerk tun will.
Bestimmt macht das irgendwer auch richtig. Aber dann: die
Zahlenspielereien ändern nichts daran, dass wir Inzidenzen um 5000 haben
müssten, wenn wir im nächsten Frühling durch sein wollen (100000/(5000
pro Woche) entspricht 20 Wochen oder einem knappen halben Jahr, mit
Dunkelziffer also vielleicht einem Vierteljahr oder so), und auch
nicht daran, dass das mit unseren augenblicklichen Techniken und
Politiken ein furchtbares Gemetzel werden würde. Seufz.
Und wieder muss ich meinen Hut essen im Zusammenhang mit meinen
Corona-Zahlenspielen. Ich hatte nämlich vor neun Tagen zuversichtlich
vorhergesagt, so etwa jetzt sollten knapp 3500 Intensivbetten in
der BRD mit SARS-2-PatientInnen belegt sein, mit dem Argument, dass sich
die entsprechenden Zahlen derzeit neun Tage hinter der Inzidenz
herbewegen. Da (und das war, wie unten diskutiert, ein Fehlschluss) die
Inzidenz in den neun Tagen vor dem 6.11. um 44% gestiegen war, sah ich
die Intensivbelegung heute bei 2332⋅1.44 ≈ 3350.
Tatsächlich aber berichtet das RKI heute von nur 3034
SARS-2 IntensivpatientInnen, also um die 10% weniger als meine
Vorhersage – oder 30% weniger Anstieg, um die Fehleinschätzung mal
deutlicher zu machen.
Ein Metafehler und einige Nicht-Fehler
Es war schon ein paar Tage abzusehen, dass ich falsch liegen würde, und
ich habe mir bereits letzte Woche ein paar lose Gedanken gemacht, wo
wohl mein Fehler liegen könnte. Nicht angreifen konnte ich meine
Argumentation aus dem Artikel, nach der die Leute, die in den
vergangenen neun Tagen intensivpflichtig geworden sind, damals bereits
krank waren und in diesem Sinn nicht mehr viel zu ändern sein würde.
Ich hatte dann kurz überlegt, ob vielleicht bei der Normalisierung der
Ableitungen (das incs /= sum(abs(incs)) irgendwas schief gegangen
sein kann. Aber nein, eine Angabe wie „44%“ ist natürlich selbst
normalisiert („pro hundert“). Der Verdacht jedoch führte schon mal in
die richtige Richtung: Nachdenken über die Ableiterei und was dabei so
passiert.
Bevor ich da weiterknoble, zunächst die eigenliche Selbstbezichtung,
denn was ich vor neun Tagen zumindest hätte tun sollen, wäre eine simple
Validierung an den bestehenden Daten, nämlich am unmittelbar
vorhergehenden 9-Tage-Intervall. Am 27.10. war die Intensivbelegung bei
1707, in den neun Tagen vor dem 6.11. war die Intensivbelegung also um
37% gestiegen. Es wäre ganz leicht gewesen, gleich nachzusehen, ob auch
die Meldezahlen des RKI in den neun Tagen davor um etwas wie 37%
gestiegen sind. Ich hätte festgestellt, dass sie das nicht sind – am
27.10. lag die RKI-Meldeinzidenz bei 118, am 18.10. bei 74, ein Anstieg
also um satte 59% –, und das hätte mir gesagt, dass ich einen Fehler
gemacht habe.
Auch dann hätte ich vermutlich, wie heute auch, den nächsten Verdacht
auf die heftige Kontamination der tageweisen Inzidenzschätzungen des RKI
durch Wochenenden und Co gelenkt – schon in meinem allerersten
Corona-Post hatte ich die bejammert. Vielleicht ist es ja das? Im
Programm von neulich glätte ich deshalb vor der Ableitung. Die
geglättete Kurve kommt am 18.10. auf 75, am 27.10. auf 120, und für den
6.11. habe ich noch keine geglätteten Daten, weil da noch zu viele
Randeffekte dabei sind. Das ist sehr nah an den ungeglätteten Daten.
Also, nein: Das macht repariert meine Fehlvorhersage nicht.
Der wirkliche Fehler
Das tatsächliche Problem liegt in der Methode, und zwar nicht in dem
komplizierten Teil. Die Berechnung des Verzuges mit all dem Glätten und
Ableiten ist völlig in Ordnung. Das Problem ist vielmehr, und ein wenig
Nachdenken über Schulmathematik hätte mich darauf bringen können, in der
Natur der Ableitung. Bei der gehen Konstanten nämlich verloren:
(d)/(dx)(f(x) + C) = (d)/(dx)f(x). Ein hoher Sockel von
Langzeit-IntensivpatientInnen wird bei meiner Verzögerungsrechnung
einfach wegdifferenziert. Das ist ja sogar der Sinn der
Differenziererei.
Nur: Wenn ich am Schluss blind „44% mehr“ rechne, wird der Sockel
(das C) mitmultipliziert, und genau da wird es falsch. Die
richtige Rechnung wäre gewesen, die Differenz der Inzidenzen über die
neun Tage vor dem 27.10. (von 74 auf 118) zu vergleichen mit der
Differenz der Intensivbelegung der neun Tage vor dem 6.11 (von 1707
auf 2332) – dabei geht der Verzug ein, irgendwelche konstanzen Sockel
spielen aber keine Rolle.
Dieser Vergleich ergibt einen, sagen wir, 9-Tage-Übersetzungfaktor von
625 ⁄ 44 ≈ 14. In diesem stecken die Demographie der
Erkrankten, die Eigenschaften des Virus, das Verhalten der Bevölkerung,
und alles andere, was die mittlere Wahrscheinlichkeit bestimmt, mit
einer SARS-2-Infektion intensivpflichtig zu werden. Unter der Annahme
jedoch, dass der Übersetzungsfaktor über kurze Zeiten in etwa kontant
ist, kann mensch jetzt die Entwicklung korrekt vorhersagen. Und zwar
übersetzt sich demnach die Inzidenzentwicklung zwischen 27.10. und 6.11.
(von 118 auf 164) 14-fach in die Intensivbelegung der jetzt gerade
vergangenen neun Tage (das ist letztlich etwas wie ein Momentanwert von
meiner int/inc-Metrik aus dem September).
Ich hätte damit am 6.11. vorhergesagt, die Intensivbelegung würde um
46⋅16 = 644 zunehmen oder eben auf 2332 + 644 = 2976,
in guter Übereinstimmung mit dem berichteten Wert von 3034.
Blöd, dass ich nach meinen Zahlen- und Interpolationsspielen beim
Zusammenbau der Vorhersage nicht aufgepasst habe. Aber es zeigt mal
wieder, dass Mathe voll ist mit Fallen und ein Moment der
Unaufmerksamkeit ziemlich unausweichlich zu zwanghaftem Vertilgen von
Hüten führt. Und dabei hätte ich mir durch einfache Versuche, die
Zukunft der Verangenheit vorherzusagen – ein sehr probates Mittel, wann
immer mensch Zeitreihen analysiert – diese wenig erfreuliche Mahlzeit
sparen können. Rülps.
Aus eine physikalischen Betrachtung heraus ist diese Methode auch nicht
so arg befriedigend, denn natürlich gibts bei den Meldezahlen keinen
Sockel. Die sind ja selbst schon Ableitungen[1], nämlich die der
Gesamtzahl der Infizierten. Die Intensivbelegung ist von der Genese her
noch komplexer, da dort Zu- wie Abgänge eingehen. Insofern ist die
Sache mit dem Übersetzungsfaktor zutiefst phänomenologisch und kann also
aus vielen Gründen brechen.
Schauen wir also mal, wie es in neun Tagen, am 24.11., aussieht. Meine
Vorhersage wäre 3034 + (303 − 184)⋅14 = 4700. Das ist auch von
der Dynamik her nicht mehr weit weg von der Höchstbelegung am 3.1.2021
(5762), und ohne ziemlich deutliche „Maßnahmen” werden wir wohl recht
bald an der vorbeirauschen.
Wobei: Solange die Entwicklung exponentiell ist, ist das mit
der Ableitung in diesem Kontext quasi wurst, denn die
Exponentialfunktion ex ist ihre eigene Ableitung. Reale
Wachstumsfunktionen über der Zeit t sehen aus wie N(1 + r)t = Neln(1 + r)⋅t, wobei r die Wachstumsrate ist (mit
RKI-Zahlen R-Wert minus 1). Die Ableitung solcher Funktionen sind sie
selbst mal einem konstanten Faktor, und der würde bequem in unserem
Übersetzungfaktor 14 aufgehen. Wie gesagt: alles erstmal
phänomenologisch.
Aus dieser Kurve lässt sich ablesen, dass wir in acht Tagen knapp 3500
SARS-2-Fälle auf Intensivstationen haben werden. Wie, verrate ich in
diesem Artikel.
In meinen Corona-Überlegungen gestern habe ich mich mal wieder
gefragt, wie lange wohl die „Intensiv-Antwort“ dem Inzidenzsignal
nachläuft, wie viele Tage es also dauert, bis sich ein Anstieg in den
Inzidenzen in der Intensivbelegung reflektiert. Diese Frage ist, wie
ich unten ausführe, derzeit ziemlich relevant im Hinblick auf
Überlegungen, wie lange wir eigentlich noch Zeit haben, um massenhafte
Triage in (oder vor) unseren Intensivstationen abzuwenden.
Meine Null-Annahme für diese Verzögerung war seit Mai 2020 – nach einer
entsprechenden Ansage eines befreundeten Anästhesisten – „eher so drei
Wochen“. Bei nährem Nachdenken ist mir gestern aber aufgefallen, dass er
wohl eher „von Infektion bis Intensiv“ gemeint haben wird, und dann ist
die Antwort sicher schneller, denn von Infektion bis Meldung vergeht
normalerweise wohl mindestens eine Woche. Aber: Ich muss nicht
raten. Wir spielen hier mit Kennzahlen, die vielleicht in der Realität
nicht immer viel bedeuten, aber zumindest klar definiert sind. Daher
lässt sich der Verzug auf der Basis von RKI- und DIVI-Zahlen
nachrechnen.
Ich verrate gleich mal das Ergebnis: ich komme für die zweite Welle auf
gut fünf Tage Verzug der Intensiv-Antwort, für die dritte auf etwa
sieben Tage, für die vierte Welle auf acht bis neun Tage. Wie ich unten
ausführe, sind das relativ gute Nachrichten.
Zeitreihen
Wie habe ich das gerechnet? Nun, die Korrelation von Zeitreihen ist ein
ganzer Satz von Wissenschaften, bei denen es meist darum geht, ungleiche
Abdeckungen, unregelmäßig gesetzte Messpunkte sowie allerlei Rauschen und
Schmutz weggefummelt zu kriegen, ohne allzu viele Informationen zu
verlieren oder, vielleicht schlimmer, damit Artefakte einzubauen.
Die so gereinigten Daten lassen sich dann zum Beispiel geeignet skaliert
und verschoben übereinanderlegen. Tatsächlich sind die Parameter dieser
Transformationen im Regelfall (und gewissermaßen auch hier) viel
interessanter als die Zeitreihen selbst[1]. Es gibt daher
zahlreiche mathematische Verfahren, die das von einer Augenmaß-Übung in
etwas verwandeln, das reproduzierbar und auch quantifizierbar ist.
Vorsicht: ich bin da kein Experte und gehe hier nur mit nicht allzu
schwer erkranktem Menschenverstand ran, verwende also (zumindest in
Summe) gerade kein wirklich wohldurchdachtes Verfahren. Wer sowas wie
das hier für Hausaufgaben oder Hausarbeiten verwendet, tut das auf
eigene Gefahr.
Andererseits bin ich recht zuversichtlich, dass der Kram insgesamt schon
stimmt.
Ausgangsdaten sind meine aus RKI-Berichten gescrapten
Intensivbelegungen und ein RKI-Sheet (in, ach weh, „Office Open
XML“ a.k.a. XSLX – muss das sein?) mit den Inzidenzen. Dabei ist
das erste Problem, dass ich aus verschiedenen Gründen nicht für jeden
Tag Belegungszahlen habe, und so ist mein erster Schritt, fehlende
Punkte zu interpolieren. Das Scipy-Paket macht es leicht, aus einem
Satz von Zeit/Wert-Paaren (die Zeit wird in den Lesefunktionen auf
Sekunden seit einer Epoche gewandelt) ein handliches Array zu rechnen:
grid_points = numpy.arange(
raw_crits[0][0],
raw_crits[-1][0],
86400) # ein Tag in Sekunden
critnums = interpolate.griddata(
raw_crits[:,0], raw_crits[:,1], grid_points)
Ich wollte diese Interpolation eigentlich visualisieren, habe aber keine
gute Stelle gefunden, an der sie einen sichtbaren Unterschied
gemacht hätte, und entscheidend ist eigentlich nur, dass ich ab diesem
Schritt blind mit Arrays arbeiten kann; deren Index ist zunächst die
Zahl der Tage seit dem ersten Tag mit Daten, hier speziell dem
11.8.2020, denn damals habe ich mit dem Screenscrapen der DIVI-Daten
angefangen.
Übergeplottete Kurven
Wenn ich diese interpolierten Kurven übereinanderlege, kommt das hier
heraus:
Weil das, wie gesagt, erst im August 2020 anfängt, fehlt die erste
Welle.
Das bloße Auge reicht für die Bestätigung der Erwartung, dass die
Intensivbelegung der Inzidenzkurve meist etwas hinterherläuft, wenn auch
nicht so, dass mensch hoffen könnte, die beiden durch etwas Schieben
global übereinanderzubekommen. Die großen Zacken in den Inzidenzen
durch Weihnachten und Ostern finden sich in der Intensivbelegung
gar nicht wieder, was ein klares Zeichen ist, dass sie weitgehend
Erfassungsartefakte sind. In der Hinsicht wären die „großen“ RKI-Zahlen
mit Referenzdaten (vgl. die Film-Geschichte) bestimmt besser, aber
ich wollte für dieses Ding nicht die 200 Megabyte durchkämmen, zumal die
„kleinen“ RKI-Daten besser auf die Meldedaten aus den Tagesberichten
passen, um die es mir hier ja geht.
Vor allem fällt auf, dass meine Jammerei darüber, dass der
Impffortschritt die Intensivantwort nicht wesentlich abgeflacht hat,
unzutreffend ist: Mit der Skalierung aus dem Plot liegen Inzidenz und
Belegung in der zweiten und dritten Welle ziemlich übereinander, während
in der vierten Welle doch ein knapper Faktor zwei dazwischenliegt; da
scheint die Impfung doch ein wenig gegenüber Delta zu gewinnen (aber,
klar, nirgendwo hinreichend).
Ich hatte erwartet, dass die abfallenden Flanken der Intensivkurven
deutlich flacher sind als die der Inzidenzkurven, weil Leute unter
Umständen lang auf Intensiv liegen und es entsprechend lang dauern
sollte, bis sich die Stationen wieder leeren. Das sieht im Abfall der
zweiten Welle auch ein wenig so aus, nicht jedoch bei dem der dritten
Welle. Bei ihr fällt die Intensivbelegung sehr treu mit der Inzidenz.
So viele LangzeitpatientInnen gibt es glücklicherweise wohl doch nicht.
Nach Glätten differenzierbar
Wie kann ich jetzt den Verzug zu quantifizieren? Mein (wie gesagt eher
intuitiv gefasster) Plan ist, über die Ableitung der jeweiligen Kurven
zu gehen, und zwar aus der Überlegung heraus, dass mich ja Veränderungen
viel mehr als Pegel interessieren. Nun habe ich aber keine
differenzierbaren Funktionen, sondern lediglich Arrays, bei denen ich
Ableitungen allenfalls durch Subtrahieren benachbarter Elemente
simulieren kann. Solche numerischen „Ableitungen“ reagieren ziemlich
empfindlich auf das Gewackel („Rauschen“), das es in realen Daten immer
gibt („Subtraktion ist in der Regel numerisch schlecht konditioniert“).
Deshalb will ich meine rohen Daten glätten, bevor ich die „Ableitung“
ausrechne, sprich: das Rauschen rausnehmen, ohne das Signal wesentlich
zu verzerren.
Glättung heißt eigentlich immer, Kurvenpunkte in einem Zelle für Zelle
über die Daten laufenden Fenster zu mitteln, also z.B., indem mensch je
fünf Nachbarpunkte rechts und links auf den aktuellen Punkt draufaddiert
und ihn dann durch die durch elf geteilte Summe ersetzt. Mit diesem
ganz naiven Rezept bekommen relativ weit entfernte Werte aber genauso
viel Einfluss auf den aktuellen Punkt wie die unmittelbaren Nachbarn.
Das modelliert meist die sachlichen Grundlagen des Rauschens nur
schlecht. Es ist auch aus theoretischeren Gründen normalerweise eher
ungünstig.
Der eher theoretische Hintergrund ist grob, dass bei der Glättung
letztlich zwei Funktionen gefaltet werden. Das ist äquivalent dazu,
die Spektren der beiden Signale (ihre Fouriertransformierten) zu
multiplizieren und dann wieder zurückzutransformieren. Bei einem
einfachen Fenster des oben skizierten Typs („Rechteckfunktion“) gibts
nun sehr scharfe Kanten, die wiederum zu einem sehr breiten Spektrum
führen, so dass auch das Spektrum der geglätteten Funktion allerlei
unwillkommene Features bekommen kann (manchmal ist das aber auch genau
das, was mensch haben will – hier nicht).
Wie auch immer: scipy macht es einfach, mit einer lärmarmen Funktion –
die sieht ein wenig gaußig aus und ist im nächsten Plot im kleinen Inset
zu sehen – zu glätten, nämlich etwa so:
import numpy
from scipy import signal
smoothing_kernel = numpy.kaiser(20, smoothing_width)
smoothing_kernel = smoothing_kernel/sum(smoothing_kernel)
convolved = signal.convolve(arr, smoothing_kernel, mode="same"
)[smoothing_width:-smoothing_width]
Die Division durch die Summe von smoothing_kernel in der zweiten
Zeile sorgt dafür, dass sich an der „Höhe“ der geglätteten Funktion
insgesamt nichts ändert: Sozusagen ausgeklammert ist die Faltung eine
Multiplikation mit eins. Das Wegschneiden der Ränder in der letzten
Zeile wiederum entfernt Punkte, bei denen fehlende Werte am Anfang und
Ende der Zeitreihe im Fenster waren. Scipy ersetzt die durch Nullen, so
dass die geglätteten Werte am Rand steil abfallen. Was ich hier mache,
entspricht technisch dem valid-Mode der convolve-Funktion. Nur weiß ich
hier zuverlässig, wie lang das Array am Schluss ist.
Der Effekt, hier auf Indzidenzdaten der vierten Welle:
Damit kann ich jetzt meine numerische „Ableitung“ bilden, ohne dass mir
das Ergebnis furchtbar rauscht:
diff = convolved[1:]-convolved[:-1]
Die nächsten beiden Grafiken zeigen diese Pseudo-Ableitungen für
Inzidenz und Intensivbelegung. Ich habe jeweils in blau reingemalt, wie
es ohne Glättung aussehen würde, um deutlich zu machen, warum diese eine
gute Idee ist und was ich mit „furchtbar rauschen“ meine.
Weiterverwendet werden natürlich die orangen Verläufe:
In der Inzidenzkurve fallen wieder Weihnachten und Ostern besonders auf,
weil sie selbst in den geglätteten Graphen noch wilde Ausschläge
verursachen.
In der Zeit verschieben
Schon der optische Eindruck aus dem Rohdaten-Plot legt nahe, die
einzelnen Wellen getrennt zu untersuchen, und das ist angesichts von
über die Zeit stark veränderlichen Viren, Testverhältnissen,
demographischen Gegebenheiten und nichtpharamzeutischen Maßnahmen sicher
auch sachlich geboten.
Deshalb hier zunächst der Verlauf der Ableitungen von Inzidenzen und
Intensivbelegung in der aktuellen vierten Welle (das ist eine
Kombination der rechten Enden der orangen Graphen der letzten beiden
Plots):
In dem Graphen steckt noch eine weitere Normalisierung. Und zwar habe
ich für beide Arrays etwas wie:
incs /= sum(abs(incs))
laufen lassen. Damit ist die Fläche zwischen den Kurven …
Weil sich sowohl bei Inzidenz als auch bei Altersstruktur der
Corona-Meldungen gerade viel tut, habe ich meine beidenCoronafilme
neulich neu rechnen lassen. Dabei habe ich beim Inzidenzfilm noch
darauf verzeichtet, den Wertebereich über die 350 hinaus zu erweitern,
auch wenn das bewirkt, dass sowohl der Kreis mit der höchsten Inzidenz
gestern (Miesbach mit 715 Fällen/100'000) als auch der Kreis mit der
33st-höchsten und mithin nur halb so hohen Inzidenz (Ostallgäu mit
350/100'000) saturiert erscheinen.
Irgendwas werde ich da bei der nächsten Aktualisierung tun müssen, denn,
wie z.B. ich im September ausgeführt habe: eine 300-er Inzidenz
bedeutet, dass es sechs Jahre dauert, bis alle mal SARS-2 hatten. Es
wird im anderen Worten Inzidenzen in den Tausendern brauchen, wenn
SARS-2 in nächster Zeit zu einem der anderen humanen Coronaviren werden
soll, mit denen zu leben wir alle schon als Kinder schniefend gelernt
haben.
Randall Munroe hat mir in der Woche mal wieder aus dem Herzen
gesprochen. CC-BY-NC xkcd
Schniefend, so wie ich jetzt, denn seit letztem Freitag habe ich meine
erste richtige Erklältung seit Corona. Ich hatte ganz vergessen, wie
doof sowas ist (und nein, ausweislich zweier Antigentests gleich am
Freitag und dann am Montag nochmal ist es kein SARS-2). Schon deshalb
habe ich gestern mit viel Interesse den Wochenbericht des RKI
gelesen, in dem ja immer die Ergebnisse der Influenzasurveillance (Seite
13) berichtet werden. Über die Proben von an respiratorischen Infekten
erkrankten Personen steht dort gestern:
In der virologischen Surveillance der AGI wurden in der 43. KW 2021 in
insgesamt 118 von 204 eingesandten Proben (58 %) respiratorische Viren
identifiziert. Darunter befanden sich 61 Proben mit Respiratorischen
Synzytialviren (RSV) (30 %), 31 mit Rhinoviren (15 %), 20 mit humanen
saisonalen Coronaviren (hCoV) (10 %), acht mit SARS-CoV-2 (4 %), sechs
mit Parainfluenzaviren (3 %) sowie eine Probe mit humanen
Metapneumoviren (0,5 %). Influenzaviren wurden in der 43. KW 2021
nicht nachgewiesen.
Wenn das irgendwie repräsentativ ist, habe ich eine gute Chance, dass
meine derzeitige Pest RSV ist und ich den Rhinoviren Unrecht getan habe,
wenn ich sie schon am Freitag mit den saftigsten Flüchen belegt habe.
Tatsächlich habe ich aber schon vor dem oben gezeigten XKCD 2535
überlegt, wer mich da wohl gerade quält. Ich glaube jedenfalls,
Randall Munroe ist gerade auch erkältet.
Aber zurück zu meinen Überlegungen vom September: Ich hatte damals ja
bejammert, dass wir seit Anfang der Pandemie, von steilen
Inzidenzflanken nach oben (etwas niedrigeres int/inc) und unten
(deutlich höheres int/inc) abgesehen, eigentlich immer so 20
SARS-belegte Intensivbettern pro Inzidenzpunkt (int/inc) hatten und das
grob bedeutet, dass Inzidenzen über 300 ein Gemetzel werden.
Ich muss leider sagen, dass sich das nicht wesentlich geändert hat.
An der stark steigenden Flanke am 2.11.2020 lag int/inc nach
RKI-Zahlen bei 2243 ⁄ 120 ≈ 19, derzeit, ebenfalls an einer
stark ansteigenden Flanke ist das 2226 ⁄ 155 ≈ 15. Seufz.
Etwas einschränkend dazu zwei Punkte:
Mein Plot neulich hat, wo verfügbar, mit Referenzdaten gerechnet,
also, wo rekonstruierbar, den Ansteckungs- und nicht den Meldedaten.
Damit kommt mensch für Anfang November 2020 auch auf ein int/inc
von rund 15; mit den aktuellen Daten geht das aber nicht, einfach weil
von den jetzigen Daten viele Daten aus der Zukunft fehlen, deren
Referenzdaten irgendwann mal heute sein werden. Deshalb vergleiche
ich hier ganz blind in beiden Fällen die instantanen RKI-Meldezahlen
und vergesse meine raffiniertere Technik vom September.
Ein wesentlicherer Einwand ist, dass wir in diesem Jahr von einem
weitaus höheren Sockel kommen und deshalb in Wirklichkeit die Flanke
in der Intensivantwort wesentlich weniger steil ist als im letzten
Jahr und sie wahrscheinlich auch in Zukunft vermutlich nicht gleich
auf 20 oder sowas zurücklaufen wird, wenn die Inzidenzentwicklung
abflacht.
Das mag so sein, aber qualitativ ändert das alles nicht viel: Unser
int/inc ist um mindestens eine Größenordnung zu groß, als dass „wir“
entspannt auf 1000er-Inzidenzen hinlaufen könnten; ob bei 300 (sechs
Jahre bis zur Endemisierung) oder bei 500 (vier Jahre) Schluss ist, ist
in dieser Betrachtung eher nebensächlich.
Mein told you so (auch schon im Juli, vierter Absatz)
wäre vielleicht befriedigender, wenn das auch im
September nicht eigentlich jedeR gesagt hätte, der/die nicht woandershin
geschaut hat (was bis neulich sehr populär war, und nur so ist irgendwie
plausibel zu machen, warum es ausgereicht jetzt hektische Krisentreffen
gibt). Andererseits hatte ich damals auch gesagt:
wir dürften also, wenn nicht ein Wunder geschieht, in sechs Wochen,
Mitte Oktober, deutlich über 4000 liegen und damit in der Gegend der
Notbremsenbelastung rund um Neujahr 2021.
– und damals geschah ein Wunder, denn aus mit dem Sommerreiseverkehr
endete auch die damalige exponentielle Füllung der Intensivstationen mit
SARS-2-PatientInnen; in DIVI-Zahlen aus den RKI-Tagesberichten:
Was zwischen Mitte September und Mitte Oktober – oder, unter der
Annahme, dass die Intensivantwort zwei, drei Wochen verzögert auf ihre
Ursachen kommt, einfach im September – anders war als davor und
danach, das würde mich wirklich interessieren.
Mit meinem zyTemp-Kohlendioxid-Messgerät – das, für das ich neulich
Software gebastelt habe – bin ich natürlich gleich in die Welt
gezogen, um mal zu sehen, wo es überall CO2 (und mithin plausiblerweise
Corona-Aerosol) geben wird.
Der Wind und die Seuche
Nachdem mich ja zunächst sehr überrascht hat, wie deutlich sich die
Anwesenheit von Menschen in rasch steigendem CO2-Gehalt der Luft in
Innenräumen niederschlägt, war meine zweite große Überraschung, dass
sich umgekehrt im Freien nichts tut. Also, richtig gar nichts. Selbst
Autos, die mindestens eine Größenordnungen mehr CO2 emittieren als
Menschen (vgl. unten), fallen schon aus ein paar Metern Entfernung im
Wesentlichen nicht mehr auf. Ich musste mich schon an Kreuzungen neben
die Ampeln stellen, um überhaupt ein schwaches Signal zu bekommen. Und
das war kaum mehr als ein leichtes Oszillieren um ein paar ppm, während
die wartenden Autos vor sich hinstanken und dann losbrausten. So sehr
es nach Abgasen stank – CO2 ist im Nahbereich von Autos kein Problem.
Die gute Nachricht ist also: Wenn CO2 ein guter Indikator ist, wie
schlimm es mit Aerosol sein kann – real verschwindet Aerosol im
Regelfall aus hinreichend ruhiger Luft durch Niederschlag, was CO2
nicht tut – ist praktisch sicher, dass an der frischen Luft bei nicht
völlig irren Wetterlagen SARS-2 allenfalls durch Tröpfchen übertragen
wird.
Umgekehrt war meine Sorge ja immer der öffentliche Verkehr, und so habe
ich mit Hingabe in verschiedenen Zügen gemessen. Als Referenz:
Frischluft liegt derzeit hier irgendwo zwischen 280 und 350 ppm CO2. In
einem halb vollen ICE habe ich zwischen 800 und 1400 ppm gemessen
(interessanterweise nicht so ganz korreliert mit den Bahnhofsstopps; die
Bahn kennend, vermute ich eine Nicht-so-ganz-wie-gedacht-Funktion der
Lüftung in dem Wagen, in dem ich saß). Ein vollbesetzter IC-Zug der SBB
war zwischen 800 und 1050 dabei, ein leerer Nahverkehrszug bei etwa 400,
ein halb voller eher bei 700.
Bei solchen Dynamiken ist wohl klar, dass hinreichend viel frisches
Aerosol in der Luft sein wird, jedenfalls, solange nicht alle
Passagiere mit richtig sitzenden FFP2-Masken dahocken, und sowas habe
ich noch nicht mal dort gesehen, wo es wie in Berlin und Bayern
gesetzlich gefordert ist oder war. Es muss also im letzten Winter weit
mehr Ansteckungen in Zügen gegeben haben als das RKI in seinen
Ausbruchshistogrammen (z.B. S. 12 am 9.3.2021) mit den kleinen roten
Säulen andeutet. Aber ok, sie haben ja immer dazugesagt,
„Clustersituationen in anonymen Menschengruppen (z.B. ÖPNV, Kino,
Theater)“ seien fast sicher unterrepräsentiert.
Atmende Blumen
Aber ich hatte auch anderweitig viel Spaß mit dem Gerät. So war ich
neulich verreist, und in der Wohnung verlief die CO2-Konzentration so:
CO2-Konzentrationen in meinem Wohnzimmer während der Abwesenheit aller
BewohnerInnen. Zeiten sind in UTC.
Wohlgemerkt: Da war niemand. Es könnte sein, dass sich hier einfach
Schwankungen in der Außenluft reflektieren; aber ich glaube zunächst
mal, dass wir hier einer Birkenfeige beim Stoffwechsel zusehen; 6 Uhr
UTC, wenn die Kurve sich nach unten wendet, entspricht 8 Uhr Lokalzeit
und damit wohl der Zeit, in der es in dem Zimmer hell genug für
Photosynthese werden dürfte; der große Peak rund um 18 Uhr am 28.9. wäre
schön konsistent damit, dass die Pflanze sich zur Ruhe setzt und dazu
kurz mal ihre Mitochondrien anwirft; der folgende Abfall wäre dann
wieder ein Mischungseffekt, denn der Sensor lag (mehr zufällig)
praktisch in den Zweigen des Ficus. Warum er, das angenommen, den Peak
am 29.9. doch deutlich früher gemacht hat? Nun, vielleicht war ja
Mistwetter? Oder vielleicht ist das auch alles ganz anders: das
bräuchte definitiv mehr Forschung.
Rauchmelder diagnostizieren Blasenschwäche
CO2-Konzentrationen in meiner Diele. Zeiten sind in UTC.
Wenig überraschend zeigt sich, dass die CO2-Konzentrationen dramatisch
personenbezogene Daten sind. Der zweite Graph illustriert das an einem
relativ harmlosen Beispiel: Der Sensor steht jetzt in der Diele, vor
meiner Zimmertür. Deutlich zu sehen ist, dass ich an dem Tag gegen 23
Uhr geschlafen habe, oder jedenfalls, dass meine Schlafzimmertür dann zu
war. Und dann bin ich kurz vor zwei mal wach gewesen, weil ich am Abend
etwas viel Tee getrunken hatte. am Morgen aufgestanden bin ich um
sieben, kurz vor acht habe ich mal gelüftet, und um halb neun bin ich
gegangen.
Wer da etwas länger auf diese Weise zuschaut, findet viel über die
BewohnerInnen von Wohungen heraus – angefangen davon, wann wie viele
Menschen wo in der Wohnung sind –, und das im Zweifelsfall auch
automatisiert unter vielen Menschen. Ich habe dabei lediglich
zwei Messwerte pro Minute genommen. Das ginge, so würde ich schätzen,
für eine ganze Weile mit den zumindest hier im Haus recht verbreiteten
per Funk auslesbaren Rauchmeldern ganz gut, ohne dass ihre Batterien
gleich alle wären – für die Betreiber und, weil die Krypto von den
Teilen schon aus Stromspargründen sehr wahrscheinlich lausig ist,
vermutlich auch ungefähr für jedeN, der/die sich hinreichend intensiv
für das Leben der Anderen interessiert.
Nachdenken nur für 50W?
Schließlich bin ich jeden Tag wieder aufs Neue fasziniert, wie schnell
ich in meinem Büro schlechte Luft verbreite.
CO2-Konzentrationen in meinem Büro; ich komme von der Mittagspause
zurück, arbeite, und lüfte ein Mal. Zeiten sind in UTC.
An dieser Kurve ist viel zu sehen, unter anderem, dass sich offenbar die
Luft in dem Raum doch recht schnell mischt; das würde jedenfalls schön
erklären, warum es beim Lüften kurz nach 12 Uhr UTC so eine Delle nach
unten gibt: Das ist die Frischluft von außen, die ziemlich direkt an den
Sensor weht, sich dann aber innerhalb von fünf Minuten mit meinen im
Raum gebliebenen Abgasen mischt.
Diese schnelle Homogenisierung ist wesentlich für eine Überlegung, die
sich für mich da aufdrängt: Wie viel CO2 mache ich eigentlich? Das geht
so:
In den 96 Minuten von 10:30 bis 12:06 habe ich die Konzentration von
808 auf 1245 ppm erhöht, was einer Rate von
((1245 − 808) ppm)/((96⋅60) s) = 0.077 ppm ⁄ s
entspricht[1] (ich habe das nicht aus dem PNG, sondern noch im
Plotprogramm selbst abgelesen). Ein zweiter Datenpunkt ist nach Lüften
und Mischen: Da ging es von 12:17 bis 14:08 von 837 auf 1288 ppm, was
auf eine Rate von 0.068 ppm/s führt.
Aus den beiden Werten würde ich grob schätzen, dass ich die
CO2-Konzentration in meinem Büro so etwa mit 0.07 ppm/s erhöhe, wenn ich
normal arbeite; ich nenne diese Rate hier kurz δ. Unter der
sicher falschen, aber vielleicht noch hinnehmbaren Annahme, dass kein
CO2 entweicht und der nach den Beobachtungen plausiblen Annahme voller
Durchmischung im Raum kann ich nun abschätzen, was mein Stoffwechsel so
tut.
Was es dazu braucht, ist das Wissen, dass bei einem idealen Gas (was die
Luft nicht ist, aber für die Abschätzung reicht es) bei
„Normalbedingungen“ (die bei mir im Zimmer glücklicherweise auch nicht
ganz perfekt realisiert sind) ein Mol 22.4 Liter Volumen
einnimmt[2]. Unter Kopfzahl-Aspekten kann ich nicht genau sagen,
warum ich mir da drei Stellen gemerkt habe. In Wirklichkeit sind 20
l/mol natürlich genau genug als Kopfzahl. Ich nenne das unten
Vm.
Das ist eine Aussage über die Zahl der Gasmoleküle in einem Volumen
V, denn ein Mol sind ungefähr 6e23 (so schreibe ich
wieder kurz für 6⋅1023) Teilchen („Avogadro-Konstante“;
außerhalb von Kopfzahlen ist die inzwischen exakt festgelegt und
definiert das Mol). Mein Büro ist so in etwa fünf Meter lang, 2.5 Meter
breit und drei Meter hoch, hat also V = 40 Kubikmeter Rauminhalt. Das
heißt, dass sich darin
(40 m3)/(0.0224 m3 ⁄ mol) ≈ 1800 mol
befinden. Das sind gegen 1e27 oder 1000000000000000000000000000[3] Moleküle. Diese Zahl hat einen Namen: das ist eine
Quadrillarde. Aber klar: der Name ist selbstverständlich Quatsch. Ich
musste ihn selbst nachsehen. Der wissenschaftliche Fachbegriff für
solche Zahlen ist Gazillion. Für alle davon. Weshalb wir eben immer
zehn hoch siebenundzwanzig sagen, was viel nützlicher ist.
Und dann brauche ich noch die Energie (oder hier genauer die Enthalpie,
normalerweise geschrieben als ΔH) die bei der Bildung eines
Moleküls CO2 auch C und O₂ frei wird; konventionell geben die Leute das
nicht für ein Molekül, sondern für ein ganzes Mol (ihr erinnert euch:
ganz platt 6e23 Moleküle statt nur eins) an, und die Wikipedia
verrät, dass das 394 kJ/mol sind.
Jetzt baue ich das zusammen, nämlich die Erzeugungsrate von CO2 in
physikalischen Einheiten (statt in ppm/s), δ⋅V ⁄ Vm, auf der
einen Seite, und mein ΔH auf der anderen Seite. Es ergibt sich für
meine Leistung:
P = ΔH⋅δ⋅V ⁄ Vm
Wenn mensch da die Einheiten glattzieht und bedenkt, dass ppm/s
eigentlich 1e-6/s ist, muss mensch was rechnen wie: