Fiebrige Einsichten, von Veit Etzold vermittelt (eine Buchkritik)

Die Behauptung, Reisen erweitere den Horizont, ist sicher eine der abgedroscheneren Weisheiten, die einen Artikel eröffnen können. Nun: hier habe ich eine aktuelle Illustration für ihre fortbestehende Wahrheit.

Kaum überraschend bin ich nämlich von meiner ersten großen Auslands-Dienstreise (immerhin noch ohne die Erniedrigung des Flugverkehrs) mit einer aktuellen Variante von SARS-II zurückgekommen. Diese brachte mein Immunsystem mächtig auf Touren („Calor, Dolor, Tumor, Rubor“, in meinem Fall vor allem Calor bis 39 Grad und bejammernswerte Mengen Dolor). In Summe: Ich konnte für drei Tage im Wesentlichen nichts tun als Audiobücher hören, die ich bei vergangenen Reisen aus dem ICE-Portal der Bahn aufgenommen habe. Eines davon war „Die Filiale“ des Wirtschafts-Motivationspredigers Veit Etzold.

Vielleicht ist das Werk selbst nicht sehr bemerkenswert, doch seine Verbreitungsweise ist es: Da es bei Argon erschienen ist (und auch als richtiges Buch bei Droemer), muss es wohl durch mindestens ein Lektorat gegangen sein. Und danach muss es immer noch wer fürs ICE-Portal ausgewählt haben. Irgendwo auf diesem Weg sollte doch jemand selbst angesichts eines Promi-Autors („Promi“ nehme ich jedenfalls an; ich kannte Etzold bis jetzt nicht) die Anmerkung gewagt haben, dass die Personen der Geschichte sprechen und handeln wie auf schlecht übersetzte US-Soaps trainierte Schaufensterpuppen?

Ich finde weiter, ein Lektorat hätte merken müssen, dass die weit mehr künstlich als kunstvoll eingebauten Versuche, zweifelhafte „Finanzprodukte“[1] zu erklären und ein paar Brocken Französisch einzustreuen, einen Cringe-Faktor haben wie Marie Louise Fischers Hausgespenst-Schmonzetten (1976 bis 1982; für Kinder der Zeit sowie Neugierige entleihbar bei libgen) aus dem Schneider-Verlag unseligen Angedenkens[2]. Auch diese versuchten es mit übermäßig beiläufig eingestreuten Bildungshäppchen zu Pferdepflege, bayrischer Geographie, Kreuzfahrtschiffen und eben auch Französisch.

Dazu tritt das zu billig rekrutierte Personal der Geschichte, das im Wesentlichen aus relativ glücklich verheirateten, berufstätigen, einfamilienhausbewohnenden Schwabos[3] um die 40 besteht, die mit, na ja, Internetfirmen und von diesen unterwanderten Traditionsbanken um ihr liebevoll ausgebautes – wenn auch nur gemietetes – Einfamilienhaus samt kameraüberwachten Gartenzwergen ringen.

Also schön: das mit den Gartenzwergen habe ich erfunden: In der Wirklichkeit des Buchs videoüberwacht der liebenswerte, wenn auch etwas trottelige Gatte der Bankangestellten-Heldin gleich die ganze Straße; dass Etzold schließlich die Rettung der ab Mitte des Werks außertariflich Bezahlten auf diese niederträchtige Schurkerei aufbaut und bei der Gelegenheit noch etwas Anti-DSGVO-Ressentiment unterbringt, das hätte es selbst in diesem Roman wirklich nicht gebraucht.

Das ganze Szenario wirkt um so artifizieller, als in Etzolds Welt die Männer Handwerker (oder bestenfalls FH-Absolventen auf dem Sprung aus Besoldungsgruppe A11) sind, während die Frauen zumindest akademischen Habitus zeigen. Ich wittere da aus der ollen rechten Sorge vor der „Überakademisierung“ der Bevölkerung geborene Träume, denn in der Realität sind schichtenübergreifende Ehen in dieser Kombination sehr wahrscheinlich immer noch die große Ausnahme (da bin ich mir so sicher, dass ich keine Belege dafür suche).

Und auch wenn ich kein Diversitätsfass aufmachen will, ist es für eine Geschichte, die in Berlin spielt, eigentlich schon ein politisches Statement, wenn als einzige erkennbare Nichtschwabos zwei tschetschenische Killer und ganz kurz ein dicker, rauchender Franzose auftreten.

Bei aller Kritik, und nun kommt das mit der Horizonterweiterung (denn ohne Reisen hätte ich weder jetzt SARS-II eingefangen noch das Etzold-Buch gehört), hat mir das Buch eine ganze Welt in Plastorama vorgespielt: Menschen, die mit ihren KollegInnen um die Beförderung zur stellvertretenden Filialleitung konkurrieren und die Arbeitsnutzerrede vom Betriebsrat als Abhängebude erst dann kurz vergessen, wenn es wirklich brennt, deren Internet aus lauter proprietären Plattformen, aus Markennamen besteht (aus dem Kopf: Reddit, Linkedin, Xing, Instagram, Whatsapp, erstaunlicherweise aber nach meiner Erinnerung weder Amazon noch Twitter), die ständig im Auto – einem „Amarok“ zumal, wenn sie im Wald Tiere totschießen wollen[4] – umherfahren und die ansonsten ihre triste Existenz mit Grillfleisch, Rotwein, Caipirinha, Starbucks-Karamelkaffee und Bekannten aus der Muckibude aufhellen.

Wie mir Vorleserin Verena Wolfien das alles durchaus gekonnt in mein Fieberdämmern hineintrug, kam es mir in der irritierenden Kombination von hölzerner Prosa und thermoplastischer Handlung wie eine komische und wüste Dystopie im Stil von David Lynch vor. Bis ich merkte, dass das vermutlich unfair ist. Klar ist die Geschichte grob holzgeschnitzt, aber das Internet besteht für viele Menschen ja tatsächlich im Wesentlichen aus einer Handvoll proprietärer Plattformen. Nennenswert viele Menschen arbeiten, glaube ich, tatsächlich ernsthaft auf eine Beförderung hin, ganz gleich, wie sinnlos oder gar unmoralisch („Anlageberaterin“) schon ihre bestehende Tätigkeit ist.

In meinem Fieber fühlte sich diese Einsicht recht profund an. Wahrscheinlich ist sie das nicht, aber gut sind solche Erinnerungen an die Blasenhaftigkeit der eigenen Weltwahrnehmung dann und wann bestimmt. Außerdem war die Erleichterung angenehm, als im nächsten Hörbuch („Acht, in Böen Neun” von Michael Wirbitzky, der als Hörfunkmensch eingestanden auch bessere Voraussetzungen hat; wenns das im Bahn-Portal noch gibt, lohnt es sich durchaus) Leute wieder wie halbwegs echte Buchmenschen redeten.

Oh, und… Herr Etzold, sollten Sie das lesen und wirklich einen Bildungsauftrag verspüren: Nein, schon als Sie das Buch schrieben, war ein UMTS-Modul in einem Computer keine gute Wahl mehr für mobilen Internetzugang. Ein schneller Blick in die Wikipedia (oh ja: wertvoll, obwohl ohne Preis) hätte Ihnen gesagt, dass in der BRD schon Ende 2021 mit UMTS kein Blumentopf mehr zu gewinnen war (in der Praxis war für mich schon Mitte 2021 Schluss), also im Wesentlichen simultan zur Gamestop-Geschichte, auf die Sie im Buch anspielen.

Für die nächste Auflage des Buches schlage ich eingedenk dessen ein durchgreifendes De-Branding vor. Hier zum Beispiel: „Funkmodem”. Allerdings gebe ich zu, dass ein Wort wie „Karrierenetzwerk“ den Tatbestand von Linkedin und Co zur Kenntlichkeit verzerrt, was vielleicht der Kunst (oder was immer) nicht wirklich hilft. Hmja.

[1]Was ich davon mitgenommen habe: Wandelanleihen sind Mist, weil daran allenfalls die Bank verdient. Zur Kritik des gesamten Konzepts von Reichwerden mit Geldspielen kommt, das sage ich gleich mal, im Buch nichts; aber das wäre vielleicht auch etwas viel verlangt von einem, der bei der HAW Aalen als BWL-Professor auftritt (angesichts der hohen Lehrbelastung an Ex-Fachhochschulen und Etzolds Wohnsitz in Berlin werden bei diesem Job aber wohl mildernde Umstände im Spiel sein).
[2]Beim Wikipedia-Stöbern zu alten Schneider-Autoren habe ich zu meiner endlosen Überraschung erfahren, dass der Autor der doch sehr stulligen (aber von mir seinerzeit heißgeliebten) Schreckenstein-Romane, Oliver Hassencamp, Gründungsmitglied der Münchner Lach- und Schießgesellschaft war. Oh?
[3]Schwabo ist die (eine?) Bezeichnung für „Deutsche“ im Serbokroatischen gewesen. Weil ich immer noch Abbitte leisten will für das Unheil, das Genschers Großmachtfantasien vom Dezember 1991 (und u.a. meine Unfähigkeit, rechtzeitig effektiv etwas gegen sie unternehmen) über dessen SprecherInnen gebracht haben, ziehe ich das Wort dem üblicheren „Kartoffel“ vor.
[4]Wobei unklar bleibt, wie sich der Betreiber eines Schlüsseldienstes diese Sorte exklusives Hobby eigentlich leisten kann.

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