Artikel aus recht

  • Lesetipp: Der Grundrechte-Report 2024

    Ein Buch liegt auf einem Tischchen eines Regionalzugs: „Grundrechte-Report“ in Rot, „2024“ in Schwarz, auf weißem Grund mit einem Foto einer Aktion zur Verteidigung des Asylrechts.

    1a Reiselektüre: Der Grundrechte-Report 2024 zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland, herausgegeben von Peter von Auer und anderen, Fischer 2024.

    Jedes Jahr veröffentlicht eine breite Koalition von in der BRD aktiven Menschenrechtsorganisationen den Grundrechte-Report. Er enthält, numerisch sortiert nach den betroffenen Artikeln des Grundgesetzes, wahre Geschichten zu aktuellen Angriffen auf Grundrechte. In diesem Jahr wurden das 44 Kurz-Essays, die eigentlich alle dokumentieren, wie wenig die <hust> Verteidigung der Freiheit mit Waffen und Militär – oder, wie in der Erzählung von der „wehrhaften Demokratie“, mit Geheimdienst und Polizei – zu tun hat und wie viel mit der alltäglichen Wachsamkeit von ZivilistInnen. Jahr um Jahr belegt der Grundrechte-Report aber auch, wie alle Staatsgewalt (sowie ihre nähere Umgebung) ständig der autoritären Versuchung ausgesetzt ist, und wie sie ihr nur zu oft nachgibt.

    Für meinen Geschmack deutlich zu staatstragend, aber doch hinreichend antiautoritär und im Bewusstsein defizitärer Realität bringt das Friedrich Zillessen in seiner im 2024er Report enthaltenen Abschätzung der Folgen von relativen AfD-Mehrheiten in diversen Legisla- und Exekutiven auf den Punkt:

    Eine tatsächlich »wehrhafte« Demokratie ist vor allem eine vorbereitete Demokratie mit einer informierten Zivilgesellschaft und demokratischen Parteien, die einen autoritär-populistischen Zug erkennen, wenn er gemacht wird.

    Wehrhaft durch Folter

    Wie das „wehrhaft“ demgegenüber in der berüchtigten Verfassungswirklichkeit aussieht, diskutieren Hannah Espin Grau und Tobias Singelnstein im Report am Beispiel von polizeilichen Schmerzgriffen. Anwendung und Androhung dieser, so die beiden eher zurückhaltend, können

    im Einzelfall […] eine unmenschliche Behandlung darstellen und damit gegen das Folterverbot aus Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen.

    Wenn, wie im Report dargestellt, ein Polizist knurrt, sein Opfer werde „die nächsten Tage, nicht nur heute, Schmerzen beim Kauen und beim Schlucken haben“, wenn er mit seinem Griff fertig sei, ist in so einer Aussage jede Modalität, jede Einzelfallabwägung fehl am Platz.

    Neu ist das indes nicht; in meinem engeren politischen Umfeld empörte mich schon vor rund 20 Jahren, wie eine Handvoll PolizistInnen eine schmerzhafte Fesselung anwandte, um einen Freund zur Kooperation bei der Abnahme von Fingerabdrücken zu zwingen.

    Empörender noch als der eigentliche, für polizeierfahrene Menschen nicht sehr überraschende Vorgang war die nonchalante Selbstverständlichkeit, mit der die Polizei diese klare Folter im – gerichtsoffiziellen! – eigenen Bericht eingestanden hat. Die BeamtInnen zeigten sich darin sogar erstaunt, dass auch nach weiterem Anziehen der Fesselung, das „erfahrungsgemäß“ ausgesprochen schmerzhaft sei, keine Kooperationsbereitschaft zu erkennen gewesen sei.

    Hintergrund der Nonchalance ist, so erläutern Espin Grau und Singelnstein, die Behauptung der deutschen Polizei, nicht vom Folterverbot erfasst zu sein, da dieses für Bagatellfolter – unterhalb eines „minimum level of severety“, so die europäische Menschenrechtskonvention – nicht greife. Bagatellfolter ist eingestandenermaßen mein Wort, und ich wünschte, ich hätte es nicht erfinden müssen.

    Sechs von sechs Versuchen verfassungswidrig

    Zu solch zweifelhaften Rechtskonstrukten tritt ein entschiedener Wille der Parlamente oder jedenfalls der die Mehrheitsfraktionen kontrollierenden Regierungen, autoritäre Herrschaftsmittel wie Bagatellfolter – oder Vorratsdatenspeicherung, oder Ewigkeitsgewahrsam, zu dem sich auch ein Beitrag findet im Grundrechte-Report – zu legalisieren oder vielleicht besser: zu verrechtlichen. Zu diagnostizieren bleibt die Bereitschaft „der Politik“, den Erzählungen und Forderungen der reaktionären Polizeimehrheit so weitgehend zu folgen wie Zivilgesellschaft und (fortschrittliche Teile der) Justiz sie jeweils lassen.

    Ein besonders groteskes Beispiel für die Unfähigkeit des Bundestags, menschenrechtliche Maßstäbe an seine Gesetzgebung anzulegen, erwähnen Kalle Hümpfner und Tuuli Reiss eher nebenbei in ihrem Beitrag zum – was für eine Bezeichnung! – Transsexuellengesetz. Schon dessen Erlass im Jahr 1980 war der Legislative nur durch Dauernörgeln der Judikative und jede Menge zivilgesellschaftlichen Druck abzuringen. Es gibt aber sicher keine freundliche Erklärung dafür, dass seine Iterationen seit 1981 atemberaubende sechs Mal vorm BVerfG scheiterten; angesichts der Verfahrensdauern bis zum BVerfG ist davon auszugehen, dass gegen das Transsexuellengesetz immer mindestens eine (später) erfolgreiche Verfassungsbeschwerde lief und dass der Bundestag nie einen glaubhaften Versuch gemacht hat, ein menschenrechtskonformes Gesetz zu schreiben.

    Klar, ein Mal mag mensch, gerade in einem in der Mehrheitsgesellschaft so tabubesetzten Thema wie Queers, danebengreifen; Menschenrechte sind zwar eigentlich einfach, aber im Machtkalkül leicht zu übersehen. Zwei Mal übergreifen, na ja. Aber wer ein Gesetz sechs Mal so schreibt, dass das Verfassungsgericht eingreifen muss, macht das mit Absicht und entscheidet sich offensichtlich bewusst für (in diesem Fall) Ressentiment und gegen Menschenrechte.

    Amazon. Menschenrechte?

    Auf eine ganz eigene Art bedrückend ist der Beitrag von Andreas Engelmann über Beschäftigtendatenschutz. Diese Geschichte beginnt, als die niedersächsische Datenschutz-Aufsichtsbehörde Amazon untersagt, die Handlungen seiner MitarbeiterInnen engmaschigst zu analysieren. Krass ist, wie ehrlich die Amazon-Manager bei der Angabe ihrer Motivlage sind. Sie wollen „produktivere Arbeitskräfte […] zielgenau einsetzen“, die Daten für „Feedbackgespräche“ nutzen und dabei vor allem die „produktivsten und unproduktivsten Mitarbeitenden“ ansprechen, etwa durch „Qualifizierungsangebote“.

    Das ist eine so dystopische Horrorshow, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, welche SchurkInnen sich das ausgedacht, wer die Software dafür geschrieben hat. Aber siehe da, das VG Hannover hat das ja nun wirklich völlig offensichtlich gebotene Verbot der Datenverarbeitung durch die LfDI aufgehoben; die Verarbeitung, also der schwerwiegende Eingriff in die Grundrechte der Beschäftigten, sei notwendig, um Amazons Liefergarantien einhalten zu können. Engelmann kritisiert die Entscheidung mit den schönen und eigentlich hoffnungsfrohen Worten:

    Renditeerwartungen unterliegen, anders als die Persönlichkeitsrechte, keinem grundrechtlichen Schutz.

    Immer weniger Recht auf Versammlung

    Beim linearen Lesen erstaunlich fand ich, dass in Clemens Arzts Übersicht über behördliche Angriffe auf das Versammlungsrecht durch Allgemeinverfügungen – diese leugnen Artikel 8 des Grundgesetzes gleich komplett und untersagen Versammlungen vollständig – zwar Corona, letzte Generation und Pali-Soli erwähnt sind, nicht jedoch der „Tag X“ in Leipzig (3.6.2023), also die Kundgebungen gegen das Skandalurteil im Antifa-Ost-Verfahren („Lina E.“).

    Dabei hatte das Gericht nicht nur in einem eklatant politischen Urteil eine Beschuldigte für absurde fünf Jahre in den Knast geschickt. Nein, im Anschluss hat die Justiz auch noch munter tagelang alle Kundgebungen zum Thema untersagt und eine in der Folge angemeldete Kundgebung gegen diesen atemberaubenden Verfassungsbruch von der Polizei unterdrücken lassen. Hunderte Menschen verbrachten eine sehr unangenehme Nacht in einem Polizeikessel. Wer unklug genug war, ein Mobiltelefon mit auf die Demo zu nehmen, war das dann auch los. Häufig liegen die Dinger bis heute bei der Polizei, die versucht, aus ihnen Daten rauszukramen – oder doch jedenfalls ihre BesitzerInnen zu ärgern.

    Diese fast schon provokativ zur Schau gestellte Missachtung der Menschenrechte hat indes ganz zu Recht einen eigenen Beitrag im Report. Wer ergänzend zu Peer Stolles Abhandlung über diese „Verselbstständigung polizeilicher Repression“ etwas mehr lesen will, findet in der Zeitung der Roten Hilfe 1/2024 zwei einschlägige Artikel (S. 28ff).

    Sollte jemand glauben, pauschale Demonstrationsverbote nach chinesischem Vorbild – und mögen sie auch als „Allgemeinverfügung“ technokratisch einen liberalen Mantel erhalten – würden wenigstens durch eine im Vergleich zu Beijing rechtsstaatlich gezähmte Polizei grundrechtsschonend durchgesetzt, kann sich in Tina Kellers Beitrag über die Räumung von Lützerath eines Schlechteren belehren lassen:

    Es wurde immer an mehreren Orten im Gelände gleichzeitig geräumt, und es wurden Menschen mit Hebebühnen aus Bäumen oder Hochsitzen geholt, während direkt daneben übereilt mit schwerem Gerät Häuser abgerissen oder Bäume gefällt wurden [beachtet die freundlichen Passivkonstruktionen!] Dies hatte zur Folge, dass […] mehrfach Geäst beinahe in Seile fiel, an denen noch Menschen gesichert waren. […]

    Zahlreiche Demonstrierende erlitten Verletzungen – auffällig dabei war die Häufigkeit von Verletzungen im Kopfbereich, was auf gezielte Schläge der Polizei schließen lässt.

    Und nein, das war gewiss nicht wegen schlechter Laune nach dem gelungenen Auftritt des Schlammpriesters:

    (Rechte: Keine Ahnung, also eher nicht CC0 wie hier sonst üblich)

    Kein Verlass auf Gerichte

    Ich habe damit aufgemacht, dass es bestimmt nicht das Militär ist, das unsere Grundrechte – und mithin das, was dem großen Wort „Freiheit“ irgendeinen nachvollziehbaren Inhalt verleiht – verteidigt. Der Grundrechte-Report zeigt, dass diesen Job weiter im Wesentlichen nie Parlamente machen und leider oft genug auch nicht Gerichte.

    Im Grundrechts-Report stellt Benjamin Derin in einem Lamento über das Ewigkeitsgewahrsam – das BVerfG hat schon 2004 zwei Wochen grundloses Einsperren abgesegnet, seine bayrischen KollegInnen fanden inzwischen auch unbegrenztes Wegsperren Unschuldiger mit ein paar Klimmzügen vertretbar – klar:

    Die Hoffnung auf höchstgerichtliche Begrenzungen präventiver Gewahrsamsregelungen …
  • Zum Tag der politischen Gefangenen: Weimar und die wehrhafte Demokratie

    Ein Mensch hält eine Pappe mit der Aufschrift „Faschist:innen verbieten ist wie Schnaps gegen Suff“.

    Ich recyle zum 18. März meine Pappe von neulich, um das Diktum des Hamburger Verfassungsrechtlers Horst Meier etwas auf den Punkt zu bringen: „Das Parteiverbot ist eine einzigartige Schöpfung westdeutschen Verfassungsgeistes, in der Kalter Krieg und hilfloser Antifaschismus eine vordemokratische Symbiose eingangengen sind.“

    Als ich mich anlässlich der großen Anti-AfD-Demos im Januar skeptisch zur autoritären Versuchung im Umgang speziell mit der AfD geäußert habe, habe ich munter behauptet, es hätte reichlich mildere (von geeigneter mal ganz zu schweigen) Mittel als ein Verbot der NSDAP gegeben, um ein Ende von Weimar im Faschismus zu verhindern:

    Es hätte vermutlich immer noch gereicht, wenn die Vorgängerorganisationen von CDU, FDP und AfD (letztere wäre im Augenblick bei mir noch die DNVP) Gewaltenteilung und Rechtsstaat nicht mit voller Absicht abgewickelt hätten. Es sind Einsichten wie diese, die die autoritäre Rede von der „wehrhaften Demokratie“ bei ihrer Erfindung verhindern sollte.

    Dazu würde ich gerne einen weiteren Datenpunkt liefern. Derzeit feiert nämlich die Rote Hilfe ihren 100. Geburtstag, unter anderem mit einem Film (den ich warm empfehlen kann, sollte er mal in einem Kino in eurer Nähe laufen) sowie einer Ausstellung zur wechselvollen Geschichte der Organisation. Letztere kommt mit einem aufschlussreichen Katalog, in dem Folgendes zu lesen ist:

    Nachdem die RHD [Rote Hilfe Deutschlands] mehrere Teilamnestien erwirkt hatte und die Zahl der inhaftierten Genoss*innen Anfang 1931 auf 1.300 gesunken war, füllten die hohen Urteile gegen fortschrittliche Kräfte die Gefängnisse schnell aufs Neue: Ende 1931 saßen 6.500 Aktivist*innen in Haft, und im Sommer 1932 zählte die RHD sogar 9.000 politische Gefangene, die ebenso wie ihre Familien Unterstützung brauchten

    Es stellt sich also heraus: Die Weimarer Republik war ausgesprochen „wehrhaft“. Sie sperrte innerhalb von einem guten Jahr mal eben deutlich über 5'000 „Linksextremisten“ ein, etwas, das die „wehrhafte“ BRD in diesem Ausmaß nie hinbekommen hat[1]. Ich behaupte, notabene, nicht, dass diese Massenverhaftungen die Machtübergabe an die NSDAP beschleunigt haben. Aber sie haben sie offensichtlich auch nicht behindert.

    Anlässlich des morgigen Tags der politischen Gefangenen (18. März) möchte ich das kurz in Relation setzen zu den 19 politischen Gefangenen, die die Rote Hilfe in ihrer aktuellen Zeitung zum 18.3. für die BRD zählt (S. 15). Oder den 1000 politischen Gefangenen, die Memorial für Russland zwischen 2009 und 2022 insgesamt rechnet.

    Es bleibt, dass auch der Mythos von der mangelnden „Wehrhaftigkeit“ der Weimarer Demokratie als Ursache von Weltkrieg und antisemitischem, rassistischem und ablistischem Massenmord einer Prüfung nicht standhält, ebensowenig wenig wie die Mythen von der fehlenden 5%-Hürde oder der hohen Inflation. Die platte Wahrheit ist und bleibt: Es waren die „bürgerlichen“ Parteien, ihr Präsident und ihre ParlamentarierInnen, die die NSDAP-Regierung sehenden Auges installiert haben. Obendrauf war der NS-Apparat, ganz besonders in Polizei und Justiz, von wenigen Ausnahmen abgesehen, genau der Apparat der Weimarer Republik, und übrigens im Wesentlichen auch der Apparat der frühen BRD.

    Das ist keine schöne Wahrheit, vor allem nicht für die beteiligten Parteien und Institutionen. Aber wer aus der Geschichte lernen will, wird nicht um ein Mindestmaß an Entmystifizierung rumkommen. Und daraus zumindest eine Konsequenz ziehen: Faschismus bekämpft mensch nicht durch autoritäre Formierung der Gesellschaft.

    [1]

    Allerdings: Zwischen 1956 und 1964 haben deutsche Gerichte rund 10'000 Menschen im Zuge des Verbots der KPD verurteilt. Zwar saß nur eine überschaubare Minderheit der Betroffenen auch wirklich im Knast, aber es gab durchaus unfassbare Urteile. Rolf Gössner berichtet in „Die vergessenen Justizopfer des Kalten Krieges“ (Aufbau Verlag 1998) etwa:

    [Die Niedersächsische Gemeinschaft zur Wahrung demokratischer Rechte] NG war im Jahre 1958 verboten und aufgelöst worden, die verwaltungsgerichtliche Entscheidung stand noch aus. Dennoch wurden zwei ihrer Mitglieder, der Landrat a.D. Richard Brenning und der Journalist Heinz Hilke, vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Lüneburg angeklagt und auch wegen „Rädelsführerschaft in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung in Tateinheit mit Geheimbündelei“ zu je vierzehn Monaten Gefängnis verurteilt – anschließende Polizeiaufsicht und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf drei Jahre inklusive.
  • Nachrichten aus dem Polizei-Rechtsstaat

    Am 2. Mai 2022 haben zwei Polizisten auf dem Marktplatz in Mannheim den 47-jährigen Ante P. umgebracht. Als Nicht-Schwabo[1] mit einer psychischen Diagnose gehörte ihr Opfer zur gegenüber tödlicher Polizeigewalt in der BRD gefährdesten Gruppe überhaupt; ich darf ein paar Beispiele aus den sofo-hd-Jahrestagen zitieren:

    23.12.2023 – in Mannheim-Schönau töten Polizisten den türkischstämmigen Ertekin Ö. mit vier Schüssen. Ö. hatte in einer psychischen Krise und wegen Auseinandersetzungen mit dem Jugendamt wegen seiner Kinder selbst die Polizei gerufen. Die Polizei eröffnete das Feuer aus der Distanz, als sie ihn auf der Straße mit nacktem Oberkörper und einem Messer in der Hand antraf.

    12.1.2023 – In Mosbach-Neckarelz erschießt die Polizei einen Mann, der sich mit einem Messer bewaffnet der Wohnung seiner Ex-Partnerin genähert hat. Das Opfer hatte sich in psychiatrischer Behandlung befunden.

    17.11.2022 – In Usingen im Taunus stirbt eine 39-jährige in Polizeigewahrsam. Die Polizei gibt an, sie habe ihr Handfesseln angelegt, weil sie randaliert habe. „Kurz darauf verschlechterte sich der Gesundheitszustand der Frau [...] Die unverzüglich alarmierten Rettungskräfte begannen noch vor Ort mit Wiederbelebungsversuchen“

    5.1.2020 – In Gelsenkirchen schlägt der aus der Türkei kommende Mehmet B. mit einem Ast auf ein leeres Polizeiauto ein und soll danach in der Nähe stehende Beamte bedroht haben. Diese eröffnen das Feuer und töten B. mit vier Schüssen. Die erste Sprachregelung der Polizei ist, dass ein Terroranschlag vorlag, doch rudert der Innenminister später auf „psychisch auffälliger Einzeltäter“ zurück. Die Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungen gegen den Schützen natürlich ein.

    2.11.2019 – Im Hunsrückdorf Hoppstädten-Weiersbach jagt ein größeres Aufgebot Polizei einen Exil-Eritreer, der PassantInnen mit einer Axt bedroht haben soll. Schließlich spüren zwei BeamtInnen den gesuchten „neben einem Geräteschuppen am Boden kauernd“ auf einem Tennisplatz auf und erschießen ihn in seiner, so die das Verfahren gegen den Schützen einstellende Staatsanwaltschaft, „Aufwärtsbewegung“.

    12.1.2019 – In Berlin stirbt ein griechischstämmiger Mann an den Folgen von Polizeimaßnahmen („lagebedingter Erstickungstod”). Er war im vorherigen Dezember im Gefolge eines psychotischen Schubes in einer Bäckerei auffällig geworden. In der Gefangenensammelstelle Tempelhof hatten ihn danach Beamte mit Pfefferspray traktiert und anschließend in Bauchlage fixiert, bis er kollabierte.

    9.2.2016 – In Hamburg stirbt der einen Monat zuvor wegen des Besitzes von 1.65 Gramm Marihuana in Untersuchungshaft genommene Yaya Jabbi. Die Polizei gibt an, er habe sich an der Gardinenstange in seiner Zelle erhängt, das einen Suizid bestätigende Gutachten kommt ausgerechnet von Klaus Püschel, der zuvor die ebenfalls klar rassistisch eingesetzte Brechmittelfolter in Hamburg verantwortet hat.

    13.4.2018 – In Fulda wirft der vor einer Abschiebung nach Afghanistan stehende 19-jährige Matiullah Jabarkhil Steine auf eine Bäckerei, in der seine Bitte um altes Brot rüde zurückgewiesen worden war. Rasch treffen mindestens vier Polizisten ein und verfolgen den fliehenden Jabarkhil. Nach 150 Metern eröffnet ein Polizist das Feuer und tötet Jabarkhil mit zwölf Schüssen. Im Januar und August 2019 stellen Staatsanwaltschaften die Verfahren gegen die Tatbeteiligten ein.

    Und so weiter ad nauseam. Wer noch kann, sollte auf deathincustody.info nachlesen; das spart zwar die polizeilichen Tötungen „zur Gefahrenabwehr“ aus, ist aber trotzdem ziemlich bedrückend.

    Am ersten März nun fand in Mannheim das erstinstanzliche Strafverfahren gegen die beiden Täter im „Fall“ Ante P. ein Ende. Dabei ist allein die Tatsache des Verfahrens eine gewisse Besonderheit, die wohl nur den zahlreichen Videoaufnahmen zu verdanken ist, die PassantInnen am Marktplatz angefertigt und dann auch veröffentlicht haben. Ein vergleichbarer Vorfall nur acht Tage nach der Tötung von Ante P. im Mannheimer Waldhof ohne entsprechendes Material kam nicht mal vor Gericht.

    Dass das Gericht die beiden Angeklagten im aktuellen Prozess im Wesentlichen freigesprochen hat – einer der beiden ist mit 120 Tagessätzen á 50 Euro zwar kurz mal vorbestraft, aber angesichts einer Tötungshandlung darf eine Strafe im unteren Bereich der Urteile beim „Bullenschubsen“ nach §114 StGB als Freispruch gelten[2] –, wird niemand überraschen, der meine kurze Zusammenstellung oben überflogen hat oder anderweitig mit Rechtshilfe zu tun hat. Aber darum geht es mir hier gar nicht, denn als Antiautoritärer bin ich ja froh über jede Strafe, die nicht verhängt wird.

    Nein, es sind mehr die Umstände des Verfahrens, die zornig machen. Das Grundrechtekomitee hat dazu gestern eine Pressemitteilung herausgegeben, die Pflichtlektüre sein sollte für Menschen, die finden, ausgerechnet die eigene Regierung sollte Menschenrechte in aller Welt herbeibomben und -waffenliefern oder durch Export von Repressionstechnologie „befördern“: Katastrophales Urteil in Mannheim - unverhohlener Ableismus und institutionelle Nähe von Strafjustiz und Polizei.

    Wer es etwas genauer wissen will, sei auf den ebenfalls höchst aufschlussreichen Prozessbericht der Initiative 2. Mai verwiesen, den ich hier spiegele; es wäre wirklich schade, wenn er durch z.B. Bitrot auf seiner Quellseite aus dem Internet verschwände.

    [1]Als Schwabo bezeichne(te)n viele BewohnerInnen Jugoslawiens „die Deutschen“; weil ich immer noch schlechtes Gewissen habe, dass ich meiner Regierung Anfang der 1990er nicht genug Widerstand entgegengesetzt habe, als sie Jugoslawien in Mord und Totschlag stürzte, nehme ich ihr Wort gerne, um das Konzept zu bezeichnen, das andernorts (aus meiner Sicht weniger glücklich) „Biodeutsch“ oder „Kartoffel“ heißt.
    [2]Zum Vergleich: Wegen trivialster Verstöße gegen Auflagen (im Wesentlichen „Mütze zur Corona-Maske getragen“) bei einer Demonstration gegen Polizeigewalt kurz nach der, nun, Polizeimaßnahme am 2.5.2022 hat ein Gericht 50 Tagessätze verhängt.
  • Rekordverdächtig: 98.5% der Fingerabdrücke beim BKA waren rechtswidrig gespeichert

    Ich wollte schon lange eine Top Ten der radikalsten Übergriffe durch Polizeidatenbanken (ist das dann eigentlich ein „Cyberangriff“?) führen, vielleicht mit der Metrik: Wie viele der gespeicherten Datensätze haben eine rechtliche Überprüfung nicht überlebt (vulgo: waren offensichtlich rechtswidrig gespeichert)?

    Mit drin wäre sicher die „Arbeitsdatei politisch motivierte Kriminalität“ des LKA Baden-Württemberg, die 2005 im Ländle 40'000 politisch motivierte Kriminelle (bzw. ihre FreundInnen) sah. Wer das Bundesland kennt, versteht den Witz.

    Nach ein paar Begehungen durch zwei aufeinanderfolgende Landesbeauftragte für Datenschutz (von Informationsfreiheit war hier damals noch weniger Rede als jetzt) war die AD PMK im Oktober 2011 auf rund 10'000 Datenshätze geschrumpft. Unter Annahme konstanter politischer Kriminalität übersetzt sich das in zu 75% auch in der Einschätzung der Polizei selbst illegal gespeicherte Daten: Das ist schon mal eine Ansage[1].

    Ausweislich des aktuellen 31. Tätigkeitsberichts des BfDI (also des Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit) hat das BKA in einem noch viel heikleren Bereich den Stuttgarter Staatsschutz völlig deklassiert: bei ihm stellten sich maximal 1.5% der fürs Amt gespeicherten Fingerabdrücke als nicht völlig offensichtlich rechtswidrig gespeichert heraus.

    Wenn es keine schlechten Menschen wären…

    Kurz der Hintergrund: Das BKA betreibt „Verbunddatenbanken“, in die alle Polizeien der BRD Daten für alle Polizeien der BRD (und noch ein paar andere Behörden) speichern. Auch wenn die Daten physisch beim BKA liegen, bleiben die einspeichernden Behörden verantwortlich für die Speicherung, haben also insbesondere zu entscheiden, wann die Daten wieder gelöscht werden (müssen).

    Wie alles beim BKA sollen eigentlich auch die Verbunddatenbanken nur für Kriminalität von „länderübergreifender, internationaler oder erheblicher Bedeutung“ genutzt werden. Tatsächlich reicht auch schon mangelnde Kooperation, wenn mensch polizeiliches Pfefferspray ins Gesicht bekommt.

    …wären sie auch nicht in der Datei.

    Wenn nun wer so richtig gar nicht kooperiert hat, unterzieht ihn/sie die Polizei einer erkennungsdienstlichen (oder: ED) Behandlung, wobei die bekannten Verbrecherkartei-Fotos und Fingerabdrücke genommen werden; speziell letztere sind wirklich ernsthaft, denn diese wird die Polizei dauernd gegen Spuren von allen möglichen „Tatorten“ (insbesondere: Gaffer bei Bannerdrops, Flaschen aus Baumhäusern, Werbevitrinen mit Adbusting usf ad nauseam) abgleichen.

    Da ED-Behandlungen per definitionem aedilorum nur stattfinden, wenn „es erheblich“ ist, landen diese Daten auf jeden Fall als „E-Gruppe“ im INPOL-Z-System des BKA. Sie hängen aber am Vorwurf in dem spezifischen Verfahren, in dem sie genommen wurden[2], also im Beispiel von oben etwa Bullenschu…, ähh, „Tätlicher Angriff“ und an dessen Speicherung im KAN des BKA.

    Wenn nun das Land diesen Eintrag löscht – und ja, das findet statt –, müsste eigentlich auch die daran hängende E-Gruppe gelöscht werden. Ihre Speicherung hatte ja einen Zweck, nämlich die Aufklärung und/oder Verhinderung künftigen Schubsens. Wenn sich dieser Zweck erledigt hat – deshalb wird ja rechtslogisch der Haupt-Eintrag gelöscht–, müssen natürlich auch die Fingerabdrücke weg.

    Über 11 Jahre hinweg 4.5 Millionen Fingerabdrücke löschen…

    Das BKA mit seiner Tradition großer Fingerabdruck-Karteien konnte sich dazu aber in der Regel nicht durchringen. Wenn wir schon die schönen Fingerabdrücke haben! Wer weiß, wofür sie nochmal gut sein werden! Und wenn das keine schlechten Menschen wären, wären sie ja erst gar nicht ED-behandelt worden!

    Und so hat das BKA über einige Jahrzehnte hinweg viele dieser verwaisten Einträge in ihrer Datei Erkennungsdienst – heute eben die E-Gruppen – adoptiert, hat also gesagt: „jaja, die Landespolizei braucht diese Daten vielleicht nicht mehr zur Aufklärung und Verhinderung von Straftaten, aber wir, wir brauchen die noch.“

    …macht jede Minute einen illegalen Datensatz weniger.

    So ging das, bis sich im Jahr 2011 der BfDI das Ganze ansah und das BKA darüber aufklärte, dass das so nicht geht. „Das werden schon schlechte Menschen sein“ ist schon rein menschenrechtlich kein „Grund zur Annahme“ (so §484 StPO), dass die Daten mal für Verfolgung oder Verhütung taugen könnten. Es reicht sogar datenschutzrechtlich[3] nicht, jedenfalls nicht für einen so tiefen Eingriff in die Grundrechte der Opfer der amtlichen Speicherfreude. Technisch braucht es zu dessen Rechtfertigung eine Negativprognose, also eine Ansage, warum genau und wie die gespeicherte Person demnächst straffällig werden wird (oder würde, wäre da nicht die Speicherung).

    Die konnte das BKA nicht beibringen. Und so hat das Amt in der Zeit seit 2011 atemberaubende 4.5 Millionen der so adoptierten Fingerabdrucksätze gelöscht. Das Fazit des 31. Tätigkeitsberichts des BfDI (S. 92) ist:

    Die im BKA noch verbleibenden 70.000 E-Gruppen werden derzeit geprüft. Ich habe das BKA gebeten, den Altbestand bis zum 31. Dezember [2022] zu bereinigen.

    Nehmen wir mit maximalen Wohlwollen gegenüber dem BKA mal an, dass sie für all die 70'000 verbleibenden E-Gruppen noch irgendwelche Negativprognosen zusammengezimmert bekommen (haben), so waren doch satte

    1 − (70000)/(4500000 + 70000) = 98.4%

    der Fingerabdrücke rechtswidrig – sagen wir, wie es ist: illegal – in BKA-Computern.

    Das ist, auch nach Maßstäben der deutschen Polizei und bei Einrechnung mildernder Umstände (z.B. verstorbene Verdächtige, vielleicht auch ohne BfDI-Intervention verjährte Datensätze), schon sehr beachtlich. Übrigens nicht nur als eher für Unterhaltungszwecke taugende Metrik, sondern auch in Wirklichkeit: Praktisch sicher sind aus diesen Daten z.B. obszöne (also: als präjustizielle Bestrafung eingesetzte) Hausdurchsuchungen generiert worden.

    Es wäre eigentlich schon schön, wenn das hoffentlich schlechte Gewissen einiger Beamter in Wiesbaden (dort hat das BKA seinen Hauptsitz) diese wenigstens ein paar Mal um sechs Uhr morgens aufschrecken ließe – denn das ist so die klassische Zeit für diese Sorte Hausdurchsuchung.

    [1]Ich will damit natürlich nichts über die restlichen 25% sagen; dass ihre Daten in windigen Staatsschutz-Datenbanken verarbeitet werden, hat jetzt gewiss auch nicht viel mit Rechtsstaat und Menschenrechten zu tun. Aber immerhin war das nicht mehr so offensichtlich rechtswidrig, dass der LfD viel tun konnte oder wollte.
    [2]Okok, das stimmt so nicht, denn in diesem freien Land gibt es durchaus auch zu „Präventionszwecken“ genommene ED-Daten. Aber auch die müssen an anderen Datensätzen dranhängen, die begründen, was da eigentlich präventiert werden soll. Also: das sollten sie.
    [3]Das ist bewusst ein wenig dem „menschenrechtlich“ gegenübergestellt, denn ich werde immer etwas skeptisch wenn ich „datenschutzrechtlich“ lese. Das tut ein wenig so, als sei das halt eine Frage für ParagraphenreiterInnen. Aber das ist es in der Regel nicht. Datenschutz ist vor allem ein Menschenrecht, und wer ihn zu einer quasi bürokratischen Frage zu degradieren scheint, kriegt zumindest meine hochgezogenen Augenbrauen.
  • Alle Ausländer total verdächtig: Das Entry-Exit-System der EU

    Kurve einer ca. 5m hohen Betonmauer, die von Bereitschaftspolizei bewacht wird.

    Das Foto der polizeigeschützten Betonfestung oben entstand 2009 bei einer Demonstration gegen die „GfA“ – das ist ein Euphemismus für Abschiebeknast – Ingelheim. Am Rande dieser Demonstration gegen ein besonders bedrückendes Symbol des deutsch-europäischen Migrationsregimes hörte ich zum ersten Mal von einem, wir mir damals erschien, aus Menschenrechtsgründen chancenlosen Irrsinnsprojekt, nämlich einer Datenbank, in der die EU alle Übertritte von Schengengrenzen aufzeichnen wollte, dem Entry-Exit-System EES.

    Ein gutes Jahrzehnt später hat es die Autorilla[1] entgegen meiner damaligen Einschätzung geschafft: Das Ding wird wohl in diesem Jahr online gehen, nachdem die entsprechende Rechtsgrundlage – die EU-Verordnung 2017/2226 oder kurz EES-VO – bereits 2017 die drei EU-Organe, also Parlament, Rat und Komission, passiert hat und am letzten Donnerstag auch der Bundestag ein paar offene Parameter in großer Eile in zweiter und dritter Lesung abgenickt hat. Die Bundestagsdrucksache 20/5333 ist ohne Debatte (wer nachlesen will: S. 88 im Plenarprotokoll: Gegenstimmen: die Linke, Enthaltungen: keine; es ging weiter mit Hilfen für Sportvereine) durchgerutscht, ohne dass es jemand gemerkt hätte.

    Die taz zum Beispiel hat in all den Jahren seit 2009 gerade mal zwei Artikel zum EES gehabt, einmal 2014 („Zeigt her eure Hände“) und dann nach der Verabschiedung der EES-VO 2017 („Die EU plant eine Touristendatei“). Angesichts des monströsen Vorhabens finde ich das etwas dünn, denn es geht um:

    Fingerabdrücke…

    Worüber ich besonders heulen könnte: Die Autorilla hat meine schlimmsten Erwartungen von 2009 noch übertroffen. Gut: Damals war auch das Visa-Informationssystem mit seinen Fingerabdruckdaten für (derzeit) beschämende 50 Millionen „Ausländer“ mit Schengen-Visa noch eine ferne Dystopie, die Bereitwilligkeit, mit der eine breite Mehrheit der Bundestagsabgeordneten die offensichtlich fürchterliche Fingerabdruckpflicht im Personalausweis abgenickt hat, schien eine Sache überwunden geglaubter autoritärer Großaufwallung nach Nineeleven. Damals waren noch nicht mal die Fingerabdrücke im gegen Asylsuchende gerichteten EURODAC zum Spurenabgleich nutzbar. Diese drei Datenpunkte mögen ein Gefühl dafür geben, wie sehr sich der Menschenrechtsabbau im Windschatten von Charlie Hebdo und Breitscheidplatz wieder beschleunigt hat.

    Jedenfals: wie bei der Biometrie in den Personalausweisen hat die Autorilla keine Ruhe gegeben und den Kram bei jeder ausländerfeindlichen Mobilisierung wieder ausgepackt. Und jetzt läuft der Mist (fast).

    Auch wenn alles am EES furchtbar ist, ist das größte Desaster sicher, dass ab 2023 nun alle NichtschengenianerInnen (und nicht nur die Visapflichtigen, die schon seit ca. 2014 im VIS biometrisch vermessen sind) ihre Fingerabdrücke abgeben müssen, wenn sie in den „Raum der Freiheit“[2] Schengenia einreisen wollen.

    Das ist vor allem dramatisch, weil diese Fingerabdrücke für drei bis fünf Jahre suchbar gespeichert werden. Und zur Strafverfolgung und Gefahrenabwehr zur Verfügung stehen.

    Klar, wie üblich steht was von „Terrorismus“ und „schwerer Kriminalität“ im Gesetz, auf die die biometrische Fahndung beschränkt sein sollen. Aber speziell für die Verfolgung politischer „Straftaten” (in der Welt der Autorilla: alles oberhalb der Latschdemo) geht das so schnell, dass die lippenbekennenden Einschränkungen praktisch wirkungslos sind. Die Polizei kann in dem Geschäft fast immer Terrorparagraphen aus der 129er-Klasse auspacken und tut das auch – mensch denke etwa an die aktuellen 129er-Verfahren in Leipzig. Wo ihr das doch mal zu peinlich wäre, kann sie immer noch völlig fantastische „Gefahren“ für die Staatsordnung konstruieren. Mein Paradebeispiel für Letzteres ist das 2017er Verbot von indymedia linksunten.

    …wider ausländischen Aktivismus!

    Wenn es soweit ist, schlägt die übliche Biometriefalle zu: Wir hinterlassen überall und ständig biometrische Spuren. Gut, bei den Gesichtern hängt das noch an eher so mäßig funktionierenden Videokameras, aber bei Fingerabdrücken und noch mehr bei Zellmaterial, das grob für DNS-Identifikation taugt, ist mit Mitteln von TeilzeitaktivistInnen nichts zu retten.

    Das weiß auch die Polizei, die in Heidelberg durchaus Fingerabdrücke an wild geklebten Plakaten oder Gafferband bei Bannerdrops genommen hat. Oder von Bierflaschen nach Besetzungspartys in völlig überflüssigerweise für den Abriss vorgesehenen Gebäuden.

    Während es noch keine suchbare Vollerfassung von Fingerabdrücken der Schengen-Untertanen gibt und die entsprechenden Heidelberger Ermittlungen jeweils bis zu unglücklichen ED-Behandlungen ohne Ergebnis blieben, werden (legal eingereiste) AktivistInnen aus Nichtschengenia (ich werfe mal das Wort „Grenzcamp“ ein) bei sowas in Zukunft gleich erwischt. Und obwohl wir Untertanen es vor zwei Jahren nicht hinbekommen haben, die Fingerabdrücke in den Ausweisen etwa durch moderaten Einspruch abzuwenden, gab es gerade letzte Woche Grund zur Hoffnung für uns, dass die Justiz in der Hinsicht um fünf nach Zwölf aushilft.

    Ob ihr das „staatlichen Rassissmus“ nennen wollt oder nicht: Im Effekt ist es das, jedenfalls so lange, bis auch die Fingerabdrücke der SchengenianerInnen suchbar sind. Trotz des verlinkten Hoffnungsschimmers dürfte zumindest das aber dann schon noch irgendwann kommen, wenn sich nicht wieder hinreichend viele Menschen dem entgegenstellen.

    Wie die Herrschaft Freiheitsabbau gerne erstmal an „den Fremden“ ausprobiert – wofür sie meist noch viel Lob aus der „Mitte der Gesellschaft“ bekommt – und erst dann auf die eigenen Untertanen ausrollt, könnt ihr u.a. am nächsten Freitag im Heidelberger Laden für Kultur und Politik im Rahmen der Wochen gegen Rassismus hören.

    Autoritäre Design Patterns: Aufblasen…

    Ich will im Folgenden ein paar besonders pikante Passagen aus den Erwägungsgründen zitieren, weil sie musterhaft Techniken der Autorilla bei der Durchsetzung ihrer Interessen illustrieren.

    Zunächst ist da das Aufblasen von Problemen. Das ursprüngliche Narrativ beim EES war, es brauche die Datenbank absolut dringend, um „overstayer“ zu fangen, Menschen also, die auf einem Touristenvisum einreisen und dann einfach bleiben.

    Vernünftige Menschen zucken bei so etwas mit den Schultern, denn Menschen ohne Papiere gibts nun mal, und es ist auch gar nicht klar, wo eine Datenbank da helfen soll, wenn mensch nicht überall auf den Straßen Ausweiskontrollen haben will (was für vernünftige Menschen kein „wenn“ ist). Die Autorilla hat Anfang der 2010er Jahre aber keine Krise, keinen Anschlag versäumt, ohne irgendwann mit „overstayern“ zu kommen, die entweder Anschläge machen, menschengehandelt wurden oder selbst menschenhandeln.[3]

    Ich finde eher erstaunlich, wie unbekümmert ehrlich die EES-VO in den ersten sechs Erwägungsgründen selbst die Höhepunkte des propagandistischen Trommelfeuers der Autorilla aufzählt:

    (1) In ihrer Mitteilung vom 13. Februar 2008 mit dem Titel „Vorbereitung der nächsten Schritte für die Grenzverwaltung in der Europäischen Union“ legte die Kommission die Notwendigkeit dar…

    (2) Der Europäische Rat hob auf seiner Tagung vom 19. und 20. Juni 2008 hervor, wie wichtig es ist, dass die Arbeit an der Weiterentwicklung der Strategie für den integrierten Grenzschutz der Union fortgesetzt wird…

    (3) In ihrer Mitteilung vom 10. Juni 2009 mit dem Titel „Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Dienste der Bürger“ empfahl die Kommission…

    (4) Der Europäische Rat forderte auf seiner Tagung vom 23. und 24. Juni 2011 dazu auf, die Arbeit an dem Vorhaben „intelligente Grenzen“ zügig voranzutreiben…

    (5) In seinen strategischen Leitlinien vom Juni 2014 betonte der Europäische Rat, […] dass die Union alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente nutzen muss, um die Mitgliedstaaten bei ihrer Aufgabe zu unterstützen…

    (6) In ihrer Mitteilung vom 13. Mai 2015 mit dem Titel „Die Europäische Migrationsagenda“ stellt die Kommission fest, dass mit der Initiative „Intelligente Grenzen“ nun eine neue Phase eingeleitet werden soll…

    Wenn das eine Abwägung ist, hat die Waage jedenfalls nur eine Schale. Ich weise aus demokratietheoretischer Sicht kurz darauf hin, dass sich hier mit Rat und Kommission jeweils Teile der Exekutive die Bälle zuwerfen, bis eine neue Wahrheit durch gegenseite Bestärkung etabliert ist.

    …Bedarf erzeugen…

    Die Erzählung von den overstayern allerdings hat aus autoritärer Sicht (die sich ja um Panikpotenzial, nicht aber um Plausibilität kümmern muss) einen Fehler: Die gewünschte Speicherfrist von drei Jahren kommt dabei nicht raus, denn ginge es nur um die overstayer-Detektion, könne mensch den ganzen Datensatz bei der Ausreise löschen. Was tun? Einfach: Datenbedarf erzeugen, etwa duch die Schaffung hinreichend komplizierter Regeln. Hier:

    Das EES sollte ein automatisiertes Berechnungssystem enthalten. Das automatisierte Berechnungssystem sollte bei der Berechnung der Höchstdauer von 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen Aufenthalte im Hoheitsgebiet der am EES-Betrieb beteiligten Mitgliedstaaten berücksichtigen.

    …Features schmuggeln…

    Allerdings reicht das, genau betrachtet, immer noch nur für Speicherdauern bis zu 180 Tagen aus. Wer einige Jahre lang den Acrobat Reader zum Lesen von PDFs verwendet hat, wird die Lösung kennen: Feature Creep, also das Einschmuggeln immer weiterer Möglichkeiten in ein Verfahren, aus dem die Leute nicht mehr so einfach rauskönnen. Sobald die ohnehin eher desinteressierte Öffentlichkeit erstmal vergessen hat, dass sie den ganzen Mist eigentlich nur gekauft hat, um ungezogene Schengentouris zu zählen, kommt ein ganzes Spektrum von Zwecken aufs Tablett, die mensch, wo die Daten doch schon mal da sind, auch erledigen kann:

    Ziele des EES sollten sein, das Außengrenzenmanagement zu verbessern, irreguläre Einwanderung zu verhindern und die Steuerung der Migrationsströme zu erleichtern. Das EES sollte gegebenenfalls insbesondere zur Identifizierung von Personen beitragen, die die Voraussetzungen hinsichtlich der Dauer des zulässigen Aufenthalts im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht oder nicht mehr erfüllen. Darüber hinaus sollte das EES zur Verhütung, Aufdeckung und Untersuchung terroristischer oder sonstiger schwerer Straftaten beitragen.

    Hu? Wo ist denn jetzt plötzlich der „Terror“ hergekommen? Wer hat die – ohnehin beliebigen, siehe oben – „schweren“ Straftaten aus dem Hut gezaubert? Die protorassistische Präsupposition „wer nicht SchengenianerIn ist, braucht Extraüberwachung, weil sie bestimmt mehr Terror und Schwerkriminalität macht“ hinter diesem kleinen Trick …

  • Newszone-Urteil: Keine Rauschmedien-Prävention, nirgends

    Foto eines Münchner Zeitungsständers mit Schlagzeile: „Schnösel-Mob greift Polizei-Wache an!“

    München, im Juli 2019: Die freie Presse™ kommt ihrem Informationsauftrag nach.

    Manchmal entscheiden Gerichte zwar nachvollziehbar, aber aus jedenfalls ethisch oder praktisch ganz falschen Gründen. Heute zum Beispiel hat das Landgericht Stuttgart dem SWR untersagt, Newszone zu betreiben (der SWR selbst dazu).

    Das Urteil kann ich vom Ergebnis her nachvollziehen, denn, soweit ich das nach einer schnellen Inspektion der Newszone-Webseite beurteilen kann, ist das eine öffentliche Subvention für die privaten Infrastrukturen von Apple und Google. Mit anderen Worten: öffentlich finanzierte Inhalte sind bei Newszone für die Öffentlichkeit nur zugänglich, wenn sie sich überwachungskapitalistischen Praktiken unterwirft. Obendrauf geschieht das weitgehend ohne Not, da die App sehr wahrscheinlich nichts kann, das nicht auch im Browser oder auf einem Desktop-Client funktionieren würde.

    Ein möglicher guter Grund

    Demgegenüber hätte ein wohlfunktionierendes Gemeinweisen ein einklagbares Recht auf Zugang zu öffentlichen Daten und Diensten über offene, gemeinschaftskontrollierte Standards. Dieses Recht gibt es leider nicht. Und so konnte, jaja, das Gericht diese Urteilsbegründung auch nicht nutzen.

    Ich hätte gerade noch Verständnis gehabt für ein Urteil, das sagt, ein Angebot, das (ausweislich der Teaser, die gerade auf der offen zugänglichen Webseite stehen) zur Hälfte besteht aus Meldungen wie:

    • Kevin Spacey: Freigesprochen vom Vorwurf der sexuellen Belästigung
    • Messerangriff: Mann verletzt 16-Jährige und ihre Mutter
    • Corona-Nachwirkungen: Darunter leidet Elevator-Boy Jacob
    • So geht es mit Silent Hill weiter
    • DAS darf Fat Comedy jetzt nicht mehr machen
    • Hat Sascha Koslowski eine neue Freundin?
    • Verfolgungsjagd und Unfälle: Trennung endet bei der Polizei!
    • Aus Kader geflogen: Das sagt Ronaldo jetzt!
    • Fall gelöst: Polizei weiß jetzt, wer diese Frau ist!

    vielleicht nicht in öffentlichem Interesse ist und mithin auch nicht aus öffentlichem Geld zu finanzieren ist. Allerdings hätte ich das für eine gefährliche Argumentation gehalten, so sehr es mich auch reut, wenn meine GEZ-Beiträge in Volksmusikshows und Bundesliga fließen statt in Deutschland- oder Zündfunk und Sendung mit der Maus. Solange mir aber die Bundesliga-Leute nicht mein Forschung aktuell nehmen wollen, ist ein gewisses Maß an Boulevard wahrscheinlich nicht zuletzt taktisch gut, denn werden diese Inhalte noch kommerzieller aufbereitet, sind sie sicher sozial wie individuell deutlich schädlicher.

    Gericht: Presse ist Clickbait

    Das war aber ohnehin auch nicht die Argumentation des Gerichts. Das Landgericht Stuttgart hat die App untersagt, weil sie zu presseähnlich sei. Zunächst würde ich, wäre ich der Kläger – ein Verband kommerzieller Medienunternehmen aus Baden-Württemberg – diese Urteilsbegründung als Beleidigung auffassen. Wenn nämlich die Sammlung von grenzdebilem Clickbait, die mir Newszone größtenteils zu sein scheint, presseähnlich sein sollte, müsste ich mich aufhängen, wenn ich die Sorte von Presse sein wollte, von der Thomas Jefferson mal gesagt hat:

    Unsere Freiheit kann nicht erhalten werden ohne die Pressefreiheit. Und diese kann nicht beschränkt werden, ohne dass ihr Verlust droht.

    Das Dramatische an dem Urteil ist jedoch, dass es die ständige Rechtsprechung vertieft, nach dem der Staat das Geschäftsmodell kommerzieller Medien irgendwie zu schützen und deshalb eine künstliche Verknappung redaktioneller Inhalte zu verordnen hat. Nicht nur als täglicher Konsument der DLF-Presseschau bestreite ich das. Klar: Für eine sinnvolle Meinungsbildung sind freie Medien, ganz wie Jefferson sagte, zweifellos unverzichtbar.

    Es gibt keine Freiheit im Unternehmen

    Doch sind kommerzielle Medien jedenfalls unter Bedingungen des faktischen Arbeitszwangs nicht frei, denn ihre AutorInnen schreiben immer unter der latenten oder (weit häufiger, da sie ja normalerweise keine ordentlichen Arbeitsverträge mehr haben) offenen Drohung, bei unbotmäßigen Äußerungen ihre Existenzgrundlage zu verlieren. Entsprechend sind sich zumindest die Kommentarspalten in aller Regel erschreckend einig, wenn es um Klasseninteressen[1] geht, seien sie nun Hartz IV oder die Privatisierungspolitik.

    Nun operieren auch öffentlich-rechtliche Medien unter Bedingungen des Arbeitszwangs, und inzwischen ist auch dort die breite Mehrheit der AutorInnen prekär (feste Freie) bis ultraprekär (Freie) beschäftigt, was ihre Freiheit gerade angesichts selbstherrlicher IntendantInnen logischerweise auch stark einschränkt. Aber ohne den Druck der privaten Medien ließe sich da wieder viel mehr Tarifbindung – und damit Freiheit – durchsetzen, und immerhin hat Selbstherrlichkeit weniger einseitige Wirkungen als Klasseninteresse.

    Nach dieser Überlegung besteht selbstverständlich ein großes gesellschaftliches Interesse an möglichst breiten Angeboten und breit zugänglichen von öffentlich-rechtlichen oder noch besser gänzlich ohne Bedrohung der Existenz der AutorInnen produzierten Medien. Mit Bildzeitung und Big Brother hat das aber nichts zu tun. Im Gegenteil liegt die Schädlichkeit dieser Sorte kommerzieller Medien auf der Hand.

    Rauschmediensteuer?

    Nun sollen mündige BürgerInnen natürlich Cannabis, Tabak oder Alkohol erwerben und konsumieren und mithin zumindest in Maßen auch produzieren dürfen. Ich argumentiere also ganz entschieden nicht für ein Verbot kommerzieller Medien, und seien sie auch so offensichtlich auf Rausch und Abhängigkeit optimiert wie Springerpresse, Bertelsmann-Fernsehen oder die Angebote von Meta. Wobei… die aktuellen Ereignisse im UK, die es gewiss ohne die Dauerhetze der Murdoch-Medien[2] so nicht gäbe, könnten durchaus Argumente liefern. Aber wie dem auch sei: Es gibt wegen ihrer mangelnden Bedeutung für Medien- und Informationsfreiheit gewiss kein öffentliches Interesse an der Erhaltung der Geschäftsmodelle privater Medien.

    Wenn es nun umgekehrt schon keine – aus meiner Sicht naheliegende – Rauschmediensteuer gibt in Analogie zur Branntweinsteuer (oder was immer inzwischen aus ihr geworden ist), so sollten Staat und Gerichte jedenfalls nicht ungiftigere Medien daran hindern, NutzerInnen von kommerziellen Medien tendenziell zu entwöhnen.

    Deshalb: Das LG Stuttgart hat aus den falschen Gründen nachvollziehbar entschieden. Es ist nun Job der Gesellschaft, diese falschen Gründe wegzukriegen.

    [1]Wer bei diesem Wort zuckt: Tja. Mit ordentlich freien Medien würde es allenfalls ein mildes Achselzucken auslösen. Klasseninteressen existieren so unbestreitbar wie der Klimawandel, und bis auf Weiteres bestimmen sie das politische Leben noch deutlich stärker. Immerhin das dürfte sich aber in den nächsten paar Jahrzehnten ändern…
    [2]So gesehen sollten wir Axel Springer dankbar für sein Erbe sein, das uns zumindest Murdochs Produkte vom Hals gehalten hat.
  • Es ist wer daheim!

    Vorneweg die wichtigste Nachricht: Der/die Datenschutzbeauftragte von Google hat eine Mailadresse, und sie ist dpo-google@google.com.

    Fragt mensch duckduckgo nach dieser Adresse, kommt derzeit nichts zurück. Google hingegen kommt mit ein paar Matches zurück, darunter https://www.datenanfragen.de/company/google/ (ein Selbsthilfe-Laden, der einen recht guten Eindruck macht) und eine reddit-Seite, auf der auch einiges Naserümpfen stattfindet, weil Google diese Mailadresse eher diskret behandelt. Immerhin: Google hätte sie ja auch aus ihrem Index verbannen können.

    Die Adresse habe ich von, ta-da, der irischen Datenschutzbehörde. Es gibt sie! Es ist dort wer zu Hause! Ein Gedanke, der mich spontan an diese denkwürdige Geschichte erinnert hat:

    Datenschutzpersonal des ULD an den Fenstern ihres Gebäudes

    Rechte wahrscheinlich beim ULD S-H.

    Dass beim irischen DPC jemand daheim ist weiß ich, weil ich tatsächlich eine Antwort bekommen habe auf meine Anfrage an die irische Datenschutzbehörde, wie ich an eine für Datenschutz zuständige Person von Google herankommen könnte. Eingelaufen ist sie am 27. September, exakt einen Tag vor Ablauf der Monatsfrist seit der Eingabe. Wie schaffen die Leute es nur, solche Sachen immer im letzten Moment hinzubekommen?

    Verblüffenderweise ist das auch nicht nur ein Formbrief, denn es steht schon mal drin: „I note you are seeking erasure of an old Google account,“ und dann, nachdem die einschlägigen Rechtsgrundlagen referiert wurden: „We would recommend that you contact Google’s Data Protection Officer (DPO) directly, requesting erasure of your data as per Article 17 of the GDPR, requesting a reply. You can contact the DPO at dpo-google@google.com.“ Schön.

    Auf meine Aufforderung, Google zu ermahnen, weil sie keine klaren Kontaktmöglichkeiten in Datenschutzsachen bieten und schon daher im Konflikt mit der DSGVO stehen, geht der antwortende „Information Officer“ leider nicht ein. Aber gut: Google anpissen ist jetzt sicher nichts, was ich im Bereich der Verhaltensmöglichkeiten des/der irischen DPC verortet hätte.

    Unterdessen habe ich auch schon ein erstes Lebenszeichen von der Google-Adresse:

    Hello,

    Thank you for contacting us. This is an automatic response to let you know that we've received your request and we'll respond as soon as possible.

    We treat requests seriously and we review them in the order in which they're received. If you send multiple requests, it might take us longer to respond to you.

    Thank you for your understanding and cooperation.

    Regards, Google

    Im Schreiben der irischen Datenschutzstelle steht:

    The organisation must respond to you within one month of receiving your request; in certain circumstances, this period may be extended by a further two months.

    Da das Lebenszeichen kaum als Antwort durchgehen wird: die Zeit läuft.

  • Sicherheit, die wirklich niemand will

    Ich habe nie viel von dem Gerede von der „Balance von Sicherheit und Freiheit“ gehalten – so würde ich etwa behaupten, dass ohne eine gewisse soziale Sicherheit Freiheit ein recht hohler Begriff wird. Wer, sagen wir, unter permanenter Drohung durch die Hartz IV-Kautelen lebt, hat zumindest nicht mehr die Freiheit, sinnlose und miese Arbeit (Call Center, Lieferdienste, Burgerflippen) abzulehnen. Wenn nun die Gesellschaft auf absehbare Zeit nicht vom Arbeitszwang wegkommt, sind vermutlich nicht viele Zwänge (ja: Einschränkungen von Freiheit) demütigender als eine Lohnarbeit tun zu müssen, ohne einen Sinn in ihr zu sehen oder wenigestens Spaß an ihr zu haben.

    Aber gut: Die Leute, die gerne vom Widerspruch zwischen Freiheit und Sicherheit reden, haben sicher keine Freiheit zur Faulheit im Sinn, sondern eher die Freiheit, sich anderer Menschen zur eigenen Bereicherung zu bedienen. Auch ihre Sicherheit ist eine ganz andere als die von Existenz und Obdach. Ihre Sicherheit ist ziemlich genau das, das von Polizei, Militär und Überwachungstechnologie hergestellt, genauer: erzwungen werden kann. Erst bei diesem Erzwingen wird der Widerspruch von Freiheit und Sicherheit unausweichlich; er hängt damit aber klar an einem genz spezifischen Begriff von Sicherheit, den, wird er explizit gemacht, wohl nicht viele Menschen teilen werden.

    Ein gutes Beispiel, dass häufig gerade die „Geschützten“ diese Sorte Sicherheit gar nicht haben wollen, gab es am 24. Oktober im Hintergrund Politik des DLF: Jedenfalls offiziell zum „Schutz“ der auf Samos gestrandeten Geflüchteten findet im dort neu errichteten Lager eine strikte Eingangskontrolle statt. Die ist aber nur bis 20 Uhr besetzt. Das Lager ist außerdem am Ende der Welt, so dass Stadtausflüge am Nachmittag riskant werden. Ein Geflüchteter berichtet in der Sendung:

    Ich brauche [für den Weg zurück aus der Stadt] eine Stunde und 20 Minuten. Aber wenn du es nicht rechtzeitig zurückschaffst, lassen sie dich nicht mehr rein. Das ist mir schon passiert. Ich musste die ganze Nacht draußen verbringen. Im alten Camp haben wir zwar im Zelt gelebt, aber wir hatten unsere Freiheit.

    Grob in den Bereich passt etwas, auf das ich seit Wochen linken wollte, weil es wirklich lesenswert ist, nämlich die Stellungnahme von Amnesty International zum neuen Versammlungsgesetz in NRW. Ich glaube zwar nicht, dass irgendwer ernsthaft versucht, diesen Gesetzentwurf mit „Sicherheit” zu begründen. Es geht recht offensichtlich durchweg nur um autoritären Durchgriff („öffentliche Ordnung“). Dafür ist der Abbau von Grundrechten, die die Voraussetung von „Freiheit“ in jedem nicht völlig verdrehtem Sinn sind, hier aber auch besonders greifbar.

    Das sage nicht nur ich aus meiner linksradikalen Ecke. Selbst die sonst ja eher zurückhaltenden Leute von ai reden Klartext:

    Mit der Distanzierung von der Brokdorf-Entscheidung distanziert sich der Gesetzentwurf daher nicht nur von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch von international verbindlichen Menschenrechtsstandards.

    Wie gesagt: Lohnende Lektüre für alle, die noch gerne einen Unterschied hätten zwischen den viel geschmähten „autokratischen Regimes“ und ihren eigenen Regierungen. Oder, sagen wir, den Verhältnissen in Spanien. Oder denen in Hessen.

  • Tatort und Menschenrechte

    Ich bekenne, regelmäßiger Tatort-Konsument zu sein und rechtfertige das gerne mit einem Interesse an der Öffentlichkeitsarbeit der Polizei, auch wenn die Danksagungen an diverse Polizeien in den Abspannen seltener geworden sind (oder jedenfalls scheint mir das so). Aber lasst mir mal die Annahme, dass bei den Drehbüchern polizeiliche PressesprecherInnen dann und wann mitreden.

    Mit dieser Annahme verblüfft mich, in welchem Maße die Filme zu einer Demo für Überwachungstechnologie verkommen sind. Seht euch mal im Vergleich irgendeinen alten Derrick an, oder wegen mir auch einen Felmy-Tatort aus den 70ern: Nicht, dass die plausibler oder näher an der damaligen Realität gewesen sein werden, aber das äußerste, was dort an Technik aufscheint, ist vielleicht ein mal ein Fingerabdruck, und wenns ganz scary werden soll, ein Nachschlagen in einer Straftäterdatei über ein grün flimmerndes Terminal. Ansonsten: Verhöre, Zeugengespräche, ernst guckende Beamte in braunen Anzügen.

    Filmszene: ein eine gelbe Spur auf einem Stadtplan

    Aus dem Tatort „Dreams“ vom letzten Sonntag: die Ermittler diskutieren ein in der Erzählung retrograd (nämlich etwas wie drei Tage nach der mutmaßlichen Tat) abgerufenes „Bewegungsprofil“ einer Verdächtigen. Wie sich Tatort-AutorInnen das halt so vorstellen. Und vielleicht auch die Münchner Polizei? (Bildrechte bei der ARD)

    Natürlich ist in der Zwischenzeit auch der reale Polizeialltag deutlich techniklastiger geworden, und das muss ein Fernsehkrimi nicht unbedingt ignorieren. Aber: Im Wesentlichen jeden Fall um DNA-Abgleiche oder -Analysen, Telefon-Verbindungs- und Standortdaten, haufenweise Videodaten (übrigens: im Hinblick auf private Kameras hat das erst seit 2017 überhaupt eine Rechtsgrundlage in der StPO), mehr oder weniger legale Zugriffe auf allerlei weiteren Computerkram (den nächsten Tatort, in dem die Kommissäre scharfsinnig Passwörter raten, schalte ich ab) und etliche weitere forensische Methoden aus der dystopischen Zukunft herumzustricken, das reflektiert sicher keine Realität. Das kann ich schon allein in Kenntnis aktueller Klageschriften und den in (wenn auch vor allem politischen) Verfahren tatsächlich verwendeten Beweismitteln zuversichtlich sagen.

    Vor allem verblüfft dabei, was für völlig bürgerrechtsfeindliche Vorstellungen der durchschnittliche Tatort inzwischen transportiert. Da hängen überall aufzeichnende Kameras rum, die auch noch fröhlich öffentliche Räume abbilden[1] , da reicht ein Blick in den Computer für eine halbwegs vollständige Biographe offenbar beliebiger Personen, und dann gibts den ganzen Mythos rund um das, worum es bei der Vorratsdatenspeicherung wirklich geht.

    Der Screenshot oben aus dem Tatort vom Sonntag ist ein besonderes absurdes Beispiel. Da haben die Ermittler ein „Bewegungsprofil“ bestellt – wo genau, bleibt unklar – und bekommen dann tatsächlich etwas, das die Qualität eines GPS-Tracks hat. Das ist glücklicherweise Unfug. Noch nicht mal bei einem Live-Abruf von Standortdaten nach §100i StPO kämen Geodaten dieser Sorte heraus; im GSM-Netz schon gar nicht, und selbst mit LTE und 5G sind Zellen mindestens einige Hektar groß und eine Triangulation – so sie überhaupt gemacht wird – ist in der Stadt Glückssache. Klar, mit einem GPS-Tracker (für den gibt es, im Gegensatz zum Zugriff auf die GPS-Daten des Mobiltelefons außerhalb der „Online-Durchsuchung“, eine Rechtsgrundlage) ginge das, aber den gab es am Auto der Verdächtigen in dieser Geschichte nicht.

    Im Nachhinein, also wie in diesem Fall sagen wir nach drei Tagen, kann die Polizei allenfalls auf Verkehrsdaten nach §96 TKG hoffen. Da sind zwar auch Standortdaten dabei, aber eben nur zu „Beginn und […] Ende der jeweiligen Verbindung“ – die Herstellung einer solchen Verbindung war Zweck der „Ortungspulse“ der stillen SMS. Nun ist das mit der „Verbindung“ im Zeitalter von paketvermittelten Diensten ein etwas schwieriger Begriff, und ich gestehe, auch nicht aus erster Hand zu wissen, wie das in der Praxis interpretiert wird. Klar ist aber, dass nicht alle paar Sekunden so ein §96 TKG-Record entsteht, um so mehr, als die der Norm zugrundeliegende Vorratsdatenspeicherung ja ausgesetzt ist[2].

    Also: Warum erfinden die Tatort-AutorInnen eine Aluhut-Welt und warum rät ihnen die Polizei nicht davon ab, rechnend, dass die ZuschauerInnen es gruselig finden könnten, wenn die Polizei auf Knopfdruck noch nach Wochen ihre Wege so genau nachvollziehen könnte? Und wie ist das mit den ZuschauerInnen selbst? Haben die inzwischen so viel Angst, dass sie in der Breite so eine dystopische Vision als „na ja, wenns der Sicherheit dient“ gerne ansehen?

    Sachdienliche Hinweise werden bei der Kontaktadresse dankbar angenommen.

    [1]In jedem zweiten Fall wird das Videomaterial dann auch noch hochgezoomt, als wäre es die slippy map auf osm.org. Ich glaube, diese Albernheit hat sich inzwischen zu einem Meme entwickelt. Läuft das unter dem Label „Navy CIS”?
    [2]Die Frage von oben, „wo genau“ die Polizei das „Bewegungsprofil“ her hat, könnte hier interessant werden, denn es ist vorstellbar, dass Google bei hinreichend unvorsichtig konfigurierten Telefonen Daten dieser Genauigkeit vorhält. Wenn das so ist, wäre es wirklich spannend, Statistiken über den staatlichen Zugriff auf diese Bestände zu bekommen. Ich sollte dazu mal sorgfältig https://lumendatabase.org (so heißen die chilling effects von einst inzwischen) lesen.
  • Fortgesetzte Missachtung

    Ich versuche gerade erneut, die Neuregelung (oder eher: Wiederregelung oder vielleicht auch Widerregelung) der Bestandsdatenauskunft nachzuvollzielen und schmökere dazu im letzten einschlägigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 27.5.2020 (1 BvR 1873/13). Darin findet das Gericht zunächst, dass die Anfechtungen von Regelungen im BND-Gesetz und im Zollfahndungsgesetz wegen Verfristung unzulässig sind, da der Bundestag in der Zwischenzeit bereits wieder Verschärfungen der entsprechenden Gesetze abgenickt hatte (Rn. 66ff).

    Das ist schon mal sportlich: Die Regierung beschließt neuen Menschenrechtsabbau, bevor das Verfassungsgericht den alten beanstanden kann. Das ist nicht die ungeschickteste Art, auf die Beschränkungen zu reagieren, die so eine lästige Verfassung mit sich bringt.

    Noch bemerkenswerter finde ich allerdings folgende, für höchstreichterliche Verhältnisse doch sehr klaren Worte des Gerichts (Rn. 80):

    Auch § 113 Abs. 1 Satz 2 TKG konnte fristgerecht angegriffen werden. Zwar hat die Norm gegenüber der Vorgängerregelung vom 22. Juni 2004 (BGBl I S. 1190) ‒ trotz geänderten Wortlauts und neuer Regelungsstruktur ‒ für sich genommen keinen grundsätzlich neuen Gehalt. Die Vorgängerregelung wurde jedoch für verfassungswidrig erklärt (BVerfGE 130, 151). Wenn der Gesetzgeber nunmehr eine Regelung mit im Wesentlichen gleichem Inhalt wiederholt, stellt diese einen neuen verfassungsrechtlichen Prüfungsgegenstand dar (vgl. dazu BVerfGE 96, 260 <263>; 102, 127 <141>; vgl. auch BVerfGE 135, 259 <281 Rn. 36>).

    Mit anderen Worten: Das Gericht hat den alten 113er für menschrechtswidrig erklärt, woraufhin die Regierung das Ding einfach ein wenig umformuliert und ganz offenbar im Wissen um seine Menschenrechtswidrigkeit völlig unverfroren wieder beschließen lässt. Dass keineR der betroffenen ParlamentarierInnen den Mut hatte, Einspruch gegen diesen doch besonders offensichtlichen Fall von Grundrechtsfeindlichkeit einzulegen, könnte in Hinblick auf die Funktionsfähigkeit des Parlaments ernüchtern. Andererseits ist das Muster autoritärer Problembewältigung (kein Mitglied der Regierungsparteien darf öffentlich gegen Wünsche von Polizei und Militär sprechen; privat tun sie das übrigens durchaus) leider allzu vertraut, und zwar von allen deutschen Regierungen zumindest in diesem Jahrtausend.

    Wobei: Immerhin hat die Regierung nicht (erkennbar) die vom BVerfG beanstanden Passagen noch wesentlich weiter getrieben (die Passwortabfrage ist wohl eher ein sachlicher Unkenntnis geschuldetes Gimmick). So ein Weitertreiben gab es durchaus schon, vielleicht am eklatantesten bei den Terrordateien (ATD und RED), deren Verschärfungen von 2015 vorgaben, durch recht fundamentale Beanstandungen des BVerfG motiviert zu sein, aber in Wirklichkeit die Menschenrechtsverstöße noch zuspitzten. Oder, wie Michael Plöse richtig feststellt (Vorgänge 208, 4/2014):

    [Der Regierungsentwurf zum ATDG-ÄG kann] kaum mehr nur als eine Enttäuschung bezeichnet werden – er ist vielmehr eine dreiste Provokation des Karlsruher Verfassungskompromisses.
  • Lieblingsgesetze

    Ich bin in den letzten Tagen unabhängig voneinander zwei Mal auf Gesetze gestoßen, die nach Titel oder Inhalt großartig sind, so großartig, dass ich bestimmt mal irgendwann auf sie werde zurückgreifen wollen, um etwas wie „…geregelt in, sagen wir, §42 Käseverordnung“ zu sagen. Das waren:

    • Käseverordnung: Laut Wikipedia hat es so eine schon 1934 gegeben; und nur so lässt sich wohl erklären, dass sie Marketroids anbietet, mit Wörtern wie „Vollfettstufe“ (§5 Käseverordnung) zu werben für ihre „frische[n] oder in verschiedenen Graden der Reife befindliche[n] Erzeugnisse, die aus dickgelegter Käsereimilch hergestellt sind“ (aus §1 Käseverordnung). Großartig ist das übrigens nicht nur wegen der Parallelbildung zu Käseblatt, sondern auch, weil in Jasper Ffordes großartigen Thursday Next-Romanen Käseschmuggel aus Wales eine große Rolle spielt und §30 Käseverordnung manchmal schon nach der Bookworld dieser epochalen Werke klingt.
    • Bundeskleingartengesetz: Das geht immerhin bis §22, wobei allerdings ein Paragraph weggefallen ist und §19 lediglich aus „Die Freie und Hansestadt Hamburg gilt für die Anwendung des Gesetzes auch als Gemeinde“ besteht, es dafür aber allen Ernstes zwei Buchstabenparagraphen gibt (§20a, „Überleitungsregelungen aus Anlaß der Herstellung der Einheit Deutschlands“, passt schon vom Titel her großartig zum bierernsten Ton der Gartenregeln). Eingestanden: So albern, wie Gesetze für KleingärtnerInnen zunächst wirken, wird das wohl am Ende nicht sein. Oder doch? Ich kann mich einfach nicht entscheiden, auch nicht, nachdem ich den DLF-Hintergrund vom 18.8. gehört habe (full disclosure: ich weiß nur aufgrund dieser Sendung überhaupt von der Existenz des BKleingG).
  • Motivlage im Rassismus

    Unter den tiefautoritären Gesetzen, die die Parlamente in den letzten Jahren so durchgewunken haben, sind das Netzwerkdurchsetzungsgesetz und das daran angehängte „Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität“ (vgl. hier im Januar) insoweit stilbildend, als sie das Konzept von Gedankenverbrechen weiter verdichten. Klar hat es schon vorher allerlei Gesetzgebung zur „Ehrabschneidung“ gegeben – die ganze Gegend von §185 bis §199 StGB etwa – aber in freieren Zeiten war eigentlich klar, dass das Gesetze sind, mit denen sich lediglich ewig gestrige Altverleger, humorlose Prälaten und vertrocknete Politiker gegen lustigen Kram der Titanic wehren und dabei nur noch blöder aussehen.

    Das NetzDG nun erklärt das alberne Rumposen wenig reflektierter Facebook-Produkte zur staatsgefährdenden Tat, ganz so, als sei das die Ursache für hunderte Nazimorde oder die allzu berechtigten Sorgen nicht ganz so Deutscher, in den Randgebieten der Zivilisation aufs Maul zu kriegen. Wegen dieser Fehlanalyse werden kommerzielle Plattformen als Hilfssherriffs eingespannt, fordert der Staat Zugriff auf Passwörter.

    Wie unsinnig das Narrativ von Facebook als Ursache rassistischer Gewalt ist, wird schön im Deutschlandfunk-Hintergrund vom 6.8. deutlich. Facebook ist, das jedenfalls nehme ich (nicht nur) aus dieser Geschichte mit, allenfalls die Echokammer. Die Quelle der Ressentiments hingegen sind Innenministerien, eine erschreckend breite Mehrheit der sich als „bürgerlich“ definierenden klassischen Medien, und leider auch nicht zu knapp viele Staatsanwaltschaften.

    Es lohnt sich durchaus, den ganzen Beitrag zu lesen (oder zu hören), aber die Geschichte in Kürze ist: Die Behördenleiterin des BAMF in Bremen hat tatsächlich die auch mit Rücksicht auf internationale Verpflichtungen relativ (zur Praxis) menschenfreundlichen Regelungen aus der Migrationsgesetzgebung umgesetzt. Daraufhin ist sie von der „lass uns das so rechtswidrig machen wie die anderen auch“-Fraktion in der eigenen Behörde abgesägt und durch wen ersetzt worden, die eher auf der menschenrechtsfeindlichen Linie der Innenministerien liegt.

    Um das ordentlich über die Bühne zu kriegen, wurde die korrekte Vorgängerin noch ein wenig angeschwärzt, was dann von der Staatsanwaltschaft begeistert und von der breiten Presse enthusiastisch aufgenommen wurde. Ein Skandal war geboren, der letztlich alle rassistischen und sexistischen Ressentiments bedient: Eine Bürokratin macht AusländerInnen zu Deutschen, wahlweise für Geld oder weil sie mit – klar: ausländischen – Anwälten anbandeln wollte[1].

    Diese abstruse Geschichte aus der rechten Mottenkiste („großer Bevölkerungstausch“ oder wie diese Leute das auch immer nennen) beschäftigte die Nation samt ihrer öffentlichen VertreterInnen für Wochen, und eigentlich niemand traute sich zu sagen, dass das schon von Anfang an rassistische Kackscheiße ist, denn selbst wenn jemand mal einen Hauch großzügiger duldete oder gar einbürgerte: Für wen – von verstockten RassistInnen mal abgesehen – wäre das eigentlich ein Problem, geschweige denn eines, für das irgendwer ins Gefängnis sollte?

    Wer solche Diskurse anfängt und lautstark anheizt, wer die rassistische Denke als Staatsraison markiert, darf sich nicht wundern, wenn autoritäre Charaktere die Logik dieser Staatsraison in private Gewalt umsetzen.

    Dass diese Umsetzung in private Gewalt stattfindet, ist seit dem Lübcke-Mord immerhin ansatzweise ins öffentliche Bewusstsein gelangt (mit 30-jähriger Verspätung). In dieser Situation und nachdem das ganze rechte Phantasma ums Bremer BAMF implodiert ist, wäre das Mindeste für die ProtagonistInnen der öffentlichen Hassrede damals, allen voran Stefan Mayer und Horst Seehofer, nun Familienpackungen von Asche auf ihre Häupter streuen. Aber nichts davon. Stattdessen, das kann ich zuversichtlich vorhersagen, folgt ganz gewiss der nächste Menschenrechtsabbau im Stil des NetzDG. Was weniger ärgerlich wäre, wenn die Vorlagen dazu nicht eben von den Hassrednern („hochkriminell, kollusiv und bandenmäßig“) in diesem Fall kommen würden.

    [1]Dass sich die Staatsanwaltschaft zu diesem rechten Urmotiv von „uns“ die Frauen raubenden Ausländermännern hat hinreißen lassen, ist übrigens nochmal ein ganz spezieller Skandal. Findet da auch 250 Jahre nach Kant überhaupt keine Aufklärung statt?
  • Zum Tag der politischen Gefangenen

    Der 18.3. hat eine lange Tradition als Tag der politischen Gefangenen, anfänglich in Erinnerung an den Beginn der Pariser Commune vor 150 Jahren; die Erinnerungsfeierlichkeiten in diesem Zusammenhang waren in den Jahren der Weimarer Republik regelrechte politische Festivals. Das hatte nach der Machtübergabe an die NSDAP ein Ende, doch seit genau 25 Jahren begehen Menschen auch in der BRD wieder den Tag der politischen Gefangenen, vor allem im Umfeld der Roten Hilfe.

    In Heidelberg gab es dazu heute eine Kundgebung, deren Hauptziel war, den politischen Gefangenen in der BRD eine Stimme zu geben. Deshalb bestand ein großer Teil der Kundgebung auch schlicht draus, Briefe und andere Äußerungen der Gefangenen vorzulesen. Das wiederum schien den Veranstalter_innen wichtig, weil der_die durchschnittliche Passant_in in der Fußgängnerzone (die Kundgebung fand am Marktplatz statt) schon die Behauptung, in ihrem Staat gebe es politische Gefangene, für eine Zumutung hält. Tatsächlich erinnere ich mich an Gerichtsverfahren in den späten 1980er Jahren, in denen Menschen für die Forderung, die politischen Gefangenen in der BRD sollten freigelassen werden, mit schwerem strafrechtlichem Geschütz verfolgt wurden und zum Teil sogar Bewährungsstrafen kassierten. Das, immerhin, hat es nach meiner Kenntnis in den letzten Jahren nicht mehr gegeben.

    Aber dann würden vermutlich nicht viele Menschen glauben, dass es im Strafgesetzbuch im Jahr 2021 noch einen ganzen Abschnitt gibt zu „Hochverrat“, unterteilt in „gegen den Bund“ (§81), „gegen ein Land“ (§82) und „Vorbereitung“ (§83), wozu dann noch ein Kronzeugenparagraph §83a tritt. Und natürlich klingen auch etwa §90 und §90a („Verunglimpfung des Bundespräsidenten“ bzw. „des Staates und seiner Symbole“) oder §94 („Landesverrat“) durchaus nach ziemlich politischer Justiz.

    Die real exisitierenden politischen Gefangene in deutschen Knästen werden allerdings weit überwiegend verfolgt nach der 129er-Paragraphen-Familie, bestehend aus §129 (normale Banden, Provenienz: Kaiserreich), §129a (inländischer „Terrorismus“, Provenienz: Schmidt-Regierung) und §129b (ausländischer „Terrorismus“, Provenienz: Schröder-Regierung). Im Bereich der Antisprache „Terrorismus“ wirds natürlich immer etwas haarig mit den Vorwürfen, und drum nehme ich als Definition von „politische_r Gefangene_r” ganz pragmatisch: „hätten sie ohne politisch missliebigen Hintergrund gehandelt, wären sie nie eingefahren oder jedenfalls längst wieder draußen“.

    Um da mal das Spektrum aufzumachen zwischen „Fällen“, bei denen sich die bürgerliche Öffentlichkeit wahrscheinlich nur schwer wird empören können auf der einen und offensichtlichen moralischen Bankrotterklärungen des Staates auf der anderen, würde ich gerne kurz einen Blick auf die Gefangenen werfen, deren Kontaktadressen die RH in ihrer 18.3.-Zeitung auf Seite 15 druckt (zu den meisten sind auch Artikel in der Zeitung).

    Da hätten wir zunächst Yilmaz Acil, Hüseyin Açar, Gökmen Çakil, Mustafa Çelik, Salih Karaaslan, Agit Kulu, Veysel Satilmiş, Özkan Taş, Mazhar Turan und Mustafa Tuzak, die in verschiedenen Gefängnissen der Republik sitzen, weil... nun, weil sie mit der PKK in Verbindung gebracht werden. Soweit ersichtlich, wird keinem von ihnen irgendeine konkrete Straftat vorgeworfen – aber klar, die PKK als Organisation tut natürlich schon Sachen, die Menschen, die die türkische Obrigkeit als NATO-Verbündeten schon ok finden, für verwerflich halten könnten. Nach welchem Rechtsstaatsprinzip daraus abzuleiten ist, Leute mit schlichten Sympathien für PKK-Kämpfe sollten eingesperrt werden, ist natürlich noch eine andere Frage, zumal, wie Gökmen Çakıl richtig anmerkt, entsprechende „Aktivitäten [...] in der Schweiz oder in Belgien nicht sanktioniert“ werden.

    Ähnlich wird das Sentiment bei der Gefangenschaft von Musa Aşoğlu von der Einschätzung abhängen, von welcher Sorte Widerstand gegen verbündete Regierungen mensch sich dringend distanzieren muss, will mensch nicht ins Gefängnis kommen; in seinem Fall genügte die Mitgliedschaft in der DHKP-C (deren Erklärungen übrigens ein Fest sind für Liebhaber_innen realsozialistischer Prosa) für sechs Jahre und neun Monate Knast.

    Milde Empörung im Fall von Thomas Meyer-Falk dürfte weniger internationalistischen Furor brauchen. Er nämlich sitzt nach jahrelanger Gefängnisstrafe wegen Banküberfällen (mit denen er linke Jugendzentren finanzieren wollte) nun in Sicherungsverwahrung, die ja schon als solche ein menschenrechtlicher Skandal ist. In seinem Fall ist unbestreitbar: er wäre längst draußen, wenn es da nicht den politischen Hintergrund gäbe – von dem er sich auch nicht distanzieren will. Immerhin gibt derweil sein Blog wertvolle Einblicke in die Realität der Sicherungsverwahrung.

    Noch weiter im Spektrum klar politischer Justiz sind die Fälle von Lina, Jo und Dy – sie alle sind im Antifa-Bereich unterwegs und sind oder waren für Monate inhaftiert im Wesentlichen aufgrund vager Hinweise, sie könnten in, mal bewusst entpolitisierend gesprochen, Prügeleien mit Nazis verwickelt gewesen sein. Prügeleien dieser Art sind, weiter bewusst entpolitisierend, ohne SARS-2 Alltag auf jedem Volksfest und werden dann halt mit Strafbefehlen behandelt, die nur im Wiederholungsfall über dem Vorbestrafungs-Limit von 90 Tagessätzen liegen. Dass diese Leute monatelang im Knast schmoren, ist ausschließlich politisch bedingt. Was in diesem Fall angesichts des immer wieder hochblubbernden Faschismusproblems in Polizei und Staatsanwaltschaften nochmal ein ganz besonderes Hautgout hat.

    Bei der „militanten Zelle” von Nicole Grahlow und Martin Eickhoff – die seit Oktober 2020 in in Haft sind – liegen noch Sachbeschädungsvorwürde durch versuchte Brandstiftungen vor, aber keinerlei Gefährung von Menschen mehr. Die Ziele, nämlich die ehemalige Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg und das Schlachtimperium von Tönnies, sind allerdings so nachvollziehbar, dass das inzwischen durch rechte Hasspost-Praktiken ziemlich desavouierte Topos „Drohbriefe an diverse Politiker_innen“ in der staatlichen Kommunikation dominiert. Ich will hier bestimmt nichts gleichsetzen, aber ein ähnlicher Verfolgungseifer bei Nazis, die Menschen abfackeln, würde der Verfolgung der beiden einiges vom Eindruck von Willkür nehmen.

    Glasklar im Hinblick auf eine menschenrechtliche Bankrotterklärung ist schließlich der Fall von Ella („Unbekannte Person 1“): Ihr wird im Wesentlichen vorgeworfen, an der Besetzung des Dannenröder Walds teilgenommen zu haben und beharrlich die Aufklärung ihrer Identität zu verweigern. Ohne die Gewalttaten der Polizei bei der Räumung des Hüttendorfs, für deren wirklich empörendes Ausmaß der Staat rechtfertigende Narrative sucht, wäre sie ganz gewiss keinen Moment in Haft gekommen.

    Nach all dem: Wer will, kann die Grenze zwischen politischen und, nun ja, sozialen Gefangenen etwas anders ziehen als die Rote Hilfe. Um die Einsicht, dass es auch in Justizvollzugsanstalten (was für ein urdeutsches Wort!) politische Gefangene gibt, kommt mensch aber nicht herum.

  • Reparaturgesetz zur Bestandsdatenauskunft

    Am Donnerstag hat der Bundestag die nächste Etappe im Marathon des Grundrechteabbaus genommen: ein Gesetz, das die Missachtung der Grundrechte aus diversen anderen Gesetzesvorhaben durch Weitertreiben zu heilen versucht. „Ich habe mir den Ringfinger abgesägt. Schneide ich mir noch den kleinen Finger ab, dann wird es bestimmt besser.”

    Konkret hatte das Bundesverfassungsgericht im vergangenen Mai bemängelt, wie nonchalant Behörden seit den 2013er Änderungen in Telekommunikationsgesetz (TKG) und Telemediengestz (TMG) allerlei Daten über Telekommunizierende – das umfasste durchaus auch PINs und PUKs, auch wenn das offenbar vielen Polizist_innen nicht klar war – von den Telekommunikationsunternehmen bestellen durften. Regierung und Parlament hatten nämlich befunden, es brauche dazu nicht mehr als im Wesentlichen einen Zuruf. Proponenten dieses dreisten Übergriffs hatten damals ernsthaft argumentiert, das sei ja im Groben wie im Telefonbuch nachsehen und brauche drum auch keinen stärkeren Schutz.

    Im Juni 2020 war sich der Bundestag dann nicht zu schade, nochmal dreistere Regeln – vor allem den ganz konkreten Anspruch aufs Rausrücken von Passwörtern – abzunicken, nämlich das „Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität“. Wohlgemerkt: in Kenntnis der Argumentationen des Verfassungsgerichts, das genau diese Sorte von Generalermächtigung (aber leider auch nicht arg viel mehr) kritisiert hatte. Und offensichtlich ohne alle Bedenken wegen der semantischen Nähe von „Hasskriminalität“ zu „Gedankenverbrechen“.

    Das war sogar Bundespräsident Steinmeier, der als ehemaliger Dienstherr des BND sicher nicht als Aushängeschild menschenrechtlicher Prinzipientreue taugt, zu viel, und er verweigerte die Unterschrift unter die „Hasskriminalität“.

    Vor diesem Hintergrund kam nun dieses „Reparaturgesetz“, das die Spirale noch etwas weiter dreht; ein Muster, das von der „Anti-Terror“-Datei bekannt ist. Nach jedem Rüffel aus Karlsruhe genehmigt der Bundestag der Regierung eine noch krassere Version der verfassungswidrigen Regelung.

    Und das, finde ich, ist ein guter Anlass, nochmal den Stand der Dinge anzusehen, bevor er durch Dutzende Kilobyte Grundrechtsbarock (die am eigentlichen Verstoß natürlich fast nichts ändern) unkenntlich wird. Bevors losgeht, will ich kurz erwähnt haben, dass es noch reichlich Einzelgesetze gibt, die die Zugriffsrechte auf die Daten, um die es hier geht, nochmal speziell regeln, also etwa der Vorratsdatenspeicherungs- und Funkzellenabfrageparagraph §100g StPO oder Regelungen in den Polizeigesetzen der Länder, die nochmal betonen, dass die diskutierten Daten auch fair game sind, wenn noch gar nichts passiert ist („Gefahrenabwehr“). Deren Funktion ist aber nicht, die in TKG und TMG formulierten Zugriffsrechte einzuhegen. Fast immer versuchen diese Gesetze, Verhältnismäßigkeitserwägungen auszuhebeln, die ansonsten die Nutzung der Tk-Daten durch die Polizei verbieten würden – und das klappt ja in der Regel auch ganz gut, weil niemand so viele dieser autoritären Machwerke wegklagen kann wie die Parlemente durchwinken.

    Bestandsdaten

    ...werden in §14 Abs 1 TMG definiert als Daten, die für „die Begründung, inhaltliche Ausgestaltung oder Änderung eines Vertragsverhältnisses zwischen dem Diensteanbieter und dem Nutzer über die Nutzung von Telemedien erforderlich sind“.

    Absatz 2 erlaubt breit („Straftaten und Ordnungswidrigkeiten“) die Nutzung dieser Daten zu präventiven und repressiven Zwecken durch allerlei Polizeien und Geheimdienste. Darin ist auch das in seiner Komposition preiswürdige „zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus oder zur Durchsetzung der Rechte am geistigen Eigentum“ enthalten.

    Während in dem Bereich die Abfrage auf Zuruf stattfand, war bei zivilrechtlichen Ansprüchen (insbesondere auch nach lex facebook, dem „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“) eine Anordnung durch ein Landgericht vorgesehen.

    Mindeststandards für die Bestandsdaten werden in §111 TKG gesetzt [1]. Zu erfassen hat der Diensteanbieder (DA) nämlich:

    1. die Rufnummern und anderen Anschlusskennungen,
    2. den Namen und die Anschrift des Anschlussinhabers,
    3. bei natürlichen Personen deren Geburtsdatum,
    4. bei Festnetzanschlüssen auch die Anschrift des Anschlusses,
    5. in Fällen, in denen neben einem Mobilfunkanschluss auch ein Mobilfunkendgerät überlassen wird, die Gerätenummer dieses Gerätes sowie
    6. das Datum des Vertragsbeginns

    – und zwar auch dann, wenn er diese Daten gar nicht braucht. §111 TKG ist übrigens auch, was seit ein paar Jahren die unselige Ausweispflicht beim Kauf einer SIM-Karte begründet.

    Für den Zugriff auf diese Daten können Polizeien und Geheimdienste zwischen zwei Verfahren wählen.

    Erstens können sie (wie viele andere Behörden) den Umweg über die Bundesnetzagentur (BNetzA) gehen. Dazu schreibt §112 TKG („automatisiertes Auskunftsverfahren“) vor, dass die BNetzA in den Dateien des DA so recherchieren kann, dass der DA nicht merkt, was die BNetzA da so tut – ich wäre mal neugierig, ob es dazu wirklich technische Maßnahmen gibt oder ob diese Vertraulichkeit auf dem Erhebet-die-Herzen-Prinzip beruht.

    §112 Abs. 2 listet dann im Großen und Ganzen den gesamte Staatsapparat (insbesondere natürlich alle Polizeien und Geheimdienste) auf als anfrageberechtigt bei der BNetzA, und da der Abs. 1 erlaubt, auch mit unvollständigen Daten abzufragen, können all diese Behörden etwa „Daten von Leuten aus Wattenscheid, die 1982 geboren wurden“ bestellen; das ist ziemlich klar offiziell so gedacht, jedenfalls dem leicht verschämten „nicht benötigte Daten löscht [die anfragende Stelle] unverzüglich“ nach zu urteilen. Dass in irgendeinem Ministerium wer meinte, diese Datenschutz-Tautologie überhaupt ins TKG reinschreiben zu müssen, ist in ganz eigener Weise bezeichnend.

    Der andere Weg, um an Daten über Tk-Nutzer_innen zu kommen, ist das manuelle Auskunftsverfahren nach §113 TKG, das nur Polizeien und Geheimdiensten offen steht (und damit z.B. nicht der BaFin, die in §112 noch explizit eingeschlossen ist). Dabei reden die Behörden direkt mit den DAen. Erwähnenswert dabei, dass diese nach §113 Abs. 4 TKG ihren Kund_innen nicht sagen dürfen, was alles über sie, die Kund_innen, an die Behörden gegangen ist. Warum, so mögt ihr fragen, würde sich irgendwer die Arbeit machen, manuell anzufragen, wenn es doch auch das automatische Verfahren gibt? Nun, die automatischen Abfragen geben nicht mehr als die oben aufgeführten sechs Punkte. Im manuellen Verfahren kommen auch Bankverbindungen, Tarifdetails und überhaupt alles, was die DA so speichern dazu.

    Insbesondere, und das hat das BVerfG ganz wesentlich bewegt, die ganze Norm zu verwerfen, sieht der beanstandete 113er vor:

    Dies [Auskunftspflicht] gilt auch für Daten, mittels derer der Zugriff auf Endgeräte oder auf Speichereinrichtungen, die in diesen Endgeräten oder hiervon räumlich getrennt eingesetzt werden, geschützt wird. [...] Für die Auskunftserteilung nach Satz 3 sind sämtliche unternehmensinternen Datenquellen zu berücksichtigen.

    – beides Regelungen von atemberaubender Eingriffstiefe, an denen der Gesetzgeber, wenn auch mit kleinen Einschränkungen hinsichtlich der Anlässe, am Donnerstag festgehalten hat.

    Also: Die Regierung möchte gerne deine Passwörter bekommen können. Dass das technisch kompliziert ist, da nun hoffentlich in etwa jede_r Passwörter gar nicht mehr speichert (sondern nur deren Hashes), besorgt sie offenbar nicht.

    Der 113er spricht aber auch über Verkehrsdaten; die gehören zur zweiten Kategorie, die im TMG aufgemacht wird:

    Nutzungsdaten

    ...werden in §15 Abs. 1 TMG definiert das das, was es braucht um „die Inanspruchnahme von Telemedien zu ermöglichen und abzurechnen“. Im Gegensatz zu den Bestandsdaten, die erst im TKG konkretisiert werden, ist der Gesetzgeber bei diesen schon im TMG etwas präziser, denn er will „insbesondere“

    1. Merkmale zur Identifikation des Nutzers,
    2. Angaben über Beginn und Ende sowie des Umfangs der jeweiligen Nutzung und
    3. Angaben über die vom Nutzer in Anspruch genommenen Telemedien

    unter Nutzungsdaten verstanden wissen – das ist wohl Erbe des Furors um die Vorratsdatenspeicherung, zumal im Zeitalter von Flatrate oder Volumentarif von all dem normalerweise nicht mehr viel übrigbliebe.

    Eine spezielle Sorte Nutzungsdaten (und die eigentlich saftigen) sind Verkehrsdaten nach §96 TKG, nämlich:

    1. die Nummer oder Kennung der beteiligten Anschlüsse oder der Endeinrichtung, personenbezogene Berechtigungskennungen, bei Verwendung von Kundenkarten auch die Kartennummer, bei mobilen Anschlüssen auch die Standortdaten [zu denen in §98 TKG noch mehr zu lesen ist],
    2. den Beginn und das Ende der jeweiligen Verbindung nach Datum und Uhrzeit und, soweit die Entgelte davon abhängen, die übermittelten Datenmengen,
    3. den vom Nutzer in Anspruch genommenen Telekommunikationsdienst,
    4. die Endpunkte von festgeschalteten Verbindungen, ihren Beginn und ihr Ende nach Datum und Uhrzeit und, soweit die Entgelte davon abhängen, die übermittelten Datenmengen,
    5. sonstige zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung der Telekommunikation sowie zur Entgeltabrechnung [die in §97 genauer geregelt ist] notwendige Verkehrsdaten.

    §96 Abs 1 TKG klingt dann ziemlich streng: „Im Übrigen sind Verkehrsdaten vom Diensteanbieter nach Beendigung der Verbindung unverzüglich zu löschen.“ Allerdings ist das Nicht-Übrige etwas wie Entgeltabrechnung – die nach §97 (3) TKG Speicherung bis zu sechs Monaten rechtfertigt –, Marketing bei entsprechender Einwilligung und insbesondere „andere gesetzliche Vorschriften“; gemeint ist natürlich die Vorratsdatenspeicherung, geregelt in §113b (der derzeit nicht angewandt wird, da ja die Vorratsdatenspeicherung mehrfach höchstrichterlich als groteske Missachtung von Grundrechten erkannt wurde).

    Jandl-Gedichte

    2021: Gesetze ähneln immer mehr konkreter Poesie.

    Und hier kommen wir zum vom BVerfG angemäkelten §113 TKG zurück, der nämlich vorsieht, dass sich Behörden in diesem manuellen Verfahren auch die 96er-Daten bei den DAen abholen können. Das gilt für alle Tk-Unternehmen, die mit über 100000 Kund_innen müssen sogar eine „gesicherte elektronische Schnittstelle“ bereitstellen. Immerhin: die Polizei kann noch nicht frei in den Datenbanken der DAen recherchieren: „Dabei ist dafür Sorge zu tragen, dass jedes Auskunftsverlangen durch eine verantwortliche Fachkraft auf Einhaltung der in Absatz 2 [im Wesentlichen: Textform, es geht um Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten, und Absender ist Polizei oder Geheimdienst] genannten formalen Voraussetzungen geprüft und die weitere Bearbeitung des Verlangens erst nach einem positiven Prüfergebnis freigegeben wird“ (§113 Abs. 5 TKG).

    Und jetzt?

    Soweit erkennbar, tut das am Donnerstag abgenickte Gesetz alles, um den hier umrissenen (und vom BVerfG als unhaltbar erkannten) Zustand zu erhalten und zu vertiefen. Wer den Entwurf in Bundestagsdrucksache 19/25294 ansieht, erkennt das Muster: Ab Seite 5 wird über 30 Seiten genauer ausgeführt, was die alte Regelung „auf …

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