Newszone-Urteil: Keine Rauschmedien-Prävention, nirgends

Foto eines Münchner Zeitungsständers mit Schlagzeile: „Schnösel-Mob greift Polizei-Wache an!“

München, im Juli 2019: Die freie Presse™ kommt ihrem Informationsauftrag nach.

Manchmal entscheiden Gerichte zwar nachvollziehbar, aber aus jedenfalls ethisch oder praktisch ganz falschen Gründen. Heute zum Beispiel hat das Landgericht Stuttgart dem SWR untersagt, Newszone zu betreiben (der SWR selbst dazu).

Das Urteil kann ich vom Ergebnis her nachvollziehen, denn, soweit ich das nach einer schnellen Inspektion der Newszone-Webseite beurteilen kann, ist das eine öffentliche Subvention für die privaten Infrastrukturen von Apple und Google. Mit anderen Worten: öffentlich finanzierte Inhalte sind bei Newszone für die Öffentlichkeit nur zugänglich, wenn sie sich überwachungskapitalistischen Praktiken unterwirft. Obendrauf geschieht das weitgehend ohne Not, da die App sehr wahrscheinlich nichts kann, das nicht auch im Browser oder auf einem Desktop-Client funktionieren würde.

Ein möglicher guter Grund

Demgegenüber hätte ein wohlfunktionierendes Gemeinweisen ein einklagbares Recht auf Zugang zu öffentlichen Daten und Diensten über offene, gemeinschaftskontrollierte Standards. Dieses Recht gibt es leider nicht. Und so konnte, jaja, das Gericht diese Urteilsbegründung auch nicht nutzen.

Ich hätte gerade noch Verständnis gehabt für ein Urteil, das sagt, ein Angebot, das (ausweislich der Teaser, die gerade auf der offen zugänglichen Webseite stehen) zur Hälfte besteht aus Meldungen wie:

  • Kevin Spacey: Freigesprochen vom Vorwurf der sexuellen Belästigung
  • Messerangriff: Mann verletzt 16-Jährige und ihre Mutter
  • Corona-Nachwirkungen: Darunter leidet Elevator-Boy Jacob
  • So geht es mit Silent Hill weiter
  • DAS darf Fat Comedy jetzt nicht mehr machen
  • Hat Sascha Koslowski eine neue Freundin?
  • Verfolgungsjagd und Unfälle: Trennung endet bei der Polizei!
  • Aus Kader geflogen: Das sagt Ronaldo jetzt!
  • Fall gelöst: Polizei weiß jetzt, wer diese Frau ist!

vielleicht nicht in öffentlichem Interesse ist und mithin auch nicht aus öffentlichem Geld zu finanzieren ist. Allerdings hätte ich das für eine gefährliche Argumentation gehalten, so sehr es mich auch reut, wenn meine GEZ-Beiträge in Volksmusikshows und Bundesliga fließen statt in Deutschland- oder Zündfunk und Sendung mit der Maus. Solange mir aber die Bundesliga-Leute nicht mein Forschung aktuell nehmen wollen, ist ein gewisses Maß an Boulevard wahrscheinlich nicht zuletzt taktisch gut, denn werden diese Inhalte noch kommerzieller aufbereitet, sind sie sicher sozial wie individuell deutlich schädlicher.

Gericht: Presse ist Clickbait

Das war aber ohnehin auch nicht die Argumentation des Gerichts. Das Landgericht Stuttgart hat die App untersagt, weil sie zu presseähnlich sei. Zunächst würde ich, wäre ich der Kläger – ein Verband kommerzieller Medienunternehmen aus Baden-Württemberg – diese Urteilsbegründung als Beleidigung auffassen. Wenn nämlich die Sammlung von grenzdebilem Clickbait, die mir Newszone größtenteils zu sein scheint, presseähnlich sein sollte, müsste ich mich aufhängen, wenn ich die Sorte von Presse sein wollte, von der Thomas Jefferson mal gesagt hat:

Unsere Freiheit kann nicht erhalten werden ohne die Pressefreiheit. Und diese kann nicht beschränkt werden, ohne dass ihr Verlust droht.

Das Dramatische an dem Urteil ist jedoch, dass es die ständige Rechtsprechung vertieft, nach dem der Staat das Geschäftsmodell kommerzieller Medien irgendwie zu schützen und deshalb eine künstliche Verknappung redaktioneller Inhalte zu verordnen hat. Nicht nur als täglicher Konsument der DLF-Presseschau bestreite ich das. Klar: Für eine sinnvolle Meinungsbildung sind freie Medien, ganz wie Jefferson sagte, zweifellos unverzichtbar.

Es gibt keine Freiheit im Unternehmen

Doch sind kommerzielle Medien jedenfalls unter Bedingungen des faktischen Arbeitszwangs nicht frei, denn ihre AutorInnen schreiben immer unter der latenten oder (weit häufiger, da sie ja normalerweise keine ordentlichen Arbeitsverträge mehr haben) offenen Drohung, bei unbotmäßigen Äußerungen ihre Existenzgrundlage zu verlieren. Entsprechend sind sich zumindest die Kommentarspalten in aller Regel erschreckend einig, wenn es um Klasseninteressen[1] geht, seien sie nun Hartz IV oder die Privatisierungspolitik.

Nun operieren auch öffentlich-rechtliche Medien unter Bedingungen des Arbeitszwangs, und inzwischen ist auch dort die breite Mehrheit der AutorInnen prekär (feste Freie) bis ultraprekär (Freie) beschäftigt, was ihre Freiheit gerade angesichts selbstherrlicher IntendantInnen logischerweise auch stark einschränkt. Aber ohne den Druck der privaten Medien ließe sich da wieder viel mehr Tarifbindung – und damit Freiheit – durchsetzen, und immerhin hat Selbstherrlichkeit weniger einseitige Wirkungen als Klasseninteresse.

Nach dieser Überlegung besteht selbstverständlich ein großes gesellschaftliches Interesse an möglichst breiten Angeboten und breit zugänglichen von öffentlich-rechtlichen oder noch besser gänzlich ohne Bedrohung der Existenz der AutorInnen produzierten Medien. Mit Bildzeitung und Big Brother hat das aber nichts zu tun. Im Gegenteil liegt die Schädlichkeit dieser Sorte kommerzieller Medien auf der Hand.

Rauschmediensteuer?

Nun sollen mündige BürgerInnen natürlich Cannabis, Tabak oder Alkohol erwerben und konsumieren und mithin zumindest in Maßen auch produzieren dürfen. Ich argumentiere also ganz entschieden nicht für ein Verbot kommerzieller Medien, und seien sie auch so offensichtlich auf Rausch und Abhängigkeit optimiert wie Springerpresse, Bertelsmann-Fernsehen oder die Angebote von Meta. Wobei… die aktuellen Ereignisse im UK, die es gewiss ohne die Dauerhetze der Murdoch-Medien[2] so nicht gäbe, könnten durchaus Argumente liefern. Aber wie dem auch sei: Es gibt wegen ihrer mangelnden Bedeutung für Medien- und Informationsfreiheit gewiss kein öffentliches Interesse an der Erhaltung der Geschäftsmodelle privater Medien.

Wenn es nun umgekehrt schon keine – aus meiner Sicht naheliegende – Rauschmediensteuer gibt in Analogie zur Branntweinsteuer (oder was immer inzwischen aus ihr geworden ist), so sollten Staat und Gerichte jedenfalls nicht ungiftigere Medien daran hindern, NutzerInnen von kommerziellen Medien tendenziell zu entwöhnen.

Deshalb: Das LG Stuttgart hat aus den falschen Gründen nachvollziehbar entschieden. Es ist nun Job der Gesellschaft, diese falschen Gründe wegzukriegen.

[1]Wer bei diesem Wort zuckt: Tja. Mit ordentlich freien Medien würde es allenfalls ein mildes Achselzucken auslösen. Klasseninteressen existieren so unbestreitbar wie der Klimawandel, und bis auf Weiteres bestimmen sie das politische Leben noch deutlich stärker. Immerhin das dürfte sich aber in den nächsten paar Jahrzehnten ändern…
[2]So gesehen sollten wir Axel Springer dankbar für sein Erbe sein, das uns zumindest Murdochs Produkte vom Hals gehalten hat.

Zitiert in: Kritischer Hörtipp: „Afrika im Aufbruch“ Antisprache: Arbeitsplätze Fiese Metriken: Das Beispiel Tarifbindung

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