Die Behauptung, Reisen erweitere den Horizont, ist sicher eine der
abgedroscheneren Weisheiten, die einen Artikel eröffnen können. Nun:
hier habe ich eine aktuelle Illustration für ihre fortbestehende
Wahrheit.
Kaum überraschend bin ich nämlich von meiner ersten großen
Auslands-Dienstreise (immerhin noch ohne die Erniedrigung des
Flugverkehrs) mit einer aktuellen Variante von SARS-II zurückgekommen.
Diese brachte mein Immunsystem mächtig auf Touren („Calor, Dolor,
Tumor, Rubor“, in meinem Fall vor allem Calor bis 39 Grad und
bejammernswerte Mengen Dolor). In Summe: Ich konnte für drei Tage im
Wesentlichen nichts tun als Audiobücher hören, die ich bei vergangenen
Reisen aus dem ICE-Portal der Bahn aufgenommen habe. Eines davon war
„Die Filiale“ des Wirtschafts-Motivationspredigers Veit Etzold.
Vielleicht ist das Werk selbst nicht sehr bemerkenswert, doch seine
Verbreitungsweise ist es: Da es bei Argon erschienen ist (und auch als
richtiges Buch bei Droemer), muss es wohl durch mindestens ein Lektorat
gegangen sein. Und danach muss es immer noch wer fürs ICE-Portal
ausgewählt haben. Irgendwo auf diesem Weg sollte doch jemand selbst
angesichts eines Promi-Autors („Promi“ nehme ich jedenfalls an; ich
kannte Etzold bis jetzt nicht) die Anmerkung gewagt haben, dass die
Personen der Geschichte sprechen und handeln wie auf schlecht übersetzte
US-Soaps trainierte Schaufensterpuppen?
Ich finde weiter, ein Lektorat hätte merken müssen, dass die weit
mehr künstlich als kunstvoll eingebauten Versuche, zweifelhafte
„Finanzprodukte“ zu erklären und ein paar Brocken
Französisch einzustreuen, einen Cringe-Faktor haben wie Marie Louise
Fischers Hausgespenst-Schmonzetten (1976 bis 1982; für Kinder der Zeit
sowie Neugierige entleihbar bei libgen) aus dem Schneider-Verlag
unseligen Angedenkens. Auch diese versuchten es mit
übermäßig beiläufig eingestreuten Bildungshäppchen zu Pferdepflege,
bayrischer Geographie, Kreuzfahrtschiffen und eben auch Französisch.
Dazu tritt das zu billig rekrutierte Personal der Geschichte, das im
Wesentlichen aus relativ glücklich verheirateten, berufstätigen,
einfamilienhausbewohnenden Schwabos um die 40 besteht, die
mit, na ja, Internetfirmen und von diesen unterwanderten
Traditionsbanken um ihr liebevoll ausgebautes – wenn auch nur gemietetes
– Einfamilienhaus samt kameraüberwachten Gartenzwergen ringen.
Also schön: das mit den Gartenzwergen habe ich erfunden: In der
Wirklichkeit des Buchs videoüberwacht der liebenswerte, wenn auch etwas
trottelige Gatte der Bankangestellten-Heldin gleich die ganze Straße;
dass Etzold schließlich die Rettung der ab Mitte des Werks
außertariflich Bezahlten auf diese niederträchtige Schurkerei aufbaut
und bei der Gelegenheit noch etwas Anti-DSGVO-Ressentiment unterbringt,
das hätte es selbst in diesem Roman wirklich nicht gebraucht.
Das ganze Szenario wirkt um so artifizieller, als in Etzolds Welt die
Männer Handwerker (oder bestenfalls FH-Absolventen auf dem Sprung aus
Besoldungsgruppe A11) sind, während die Frauen zumindest akademischen
Habitus zeigen. Ich wittere da aus der ollen rechten Sorge vor der
„Überakademisierung“ der Bevölkerung geborene Träume, denn in der
Realität sind schichtenübergreifende Ehen in dieser Kombination sehr
wahrscheinlich immer noch die große Ausnahme (da bin ich mir so sicher,
dass ich keine Belege dafür suche).
Und auch wenn ich kein Diversitätsfass aufmachen will, ist es für eine
Geschichte, die in Berlin spielt, eigentlich schon ein politisches
Statement, wenn als einzige erkennbare Nichtschwabos zwei
tschetschenische Killer und ganz kurz ein dicker, rauchender Franzose
auftreten.
Bei aller Kritik, und nun kommt das mit der Horizonterweiterung (denn
ohne Reisen hätte ich weder jetzt SARS-II eingefangen noch das
Etzold-Buch gehört), hat mir das Buch eine ganze Welt in Plastorama
vorgespielt: Menschen, die mit ihren KollegInnen um die Beförderung zur
stellvertretenden Filialleitung konkurrieren und die Arbeitsnutzerrede
vom Betriebsrat als Abhängebude erst dann kurz vergessen, wenn es
wirklich brennt, deren Internet aus lauter proprietären Plattformen, aus
Markennamen besteht (aus dem Kopf: Reddit, Linkedin, Xing, Instagram,
Whatsapp, erstaunlicherweise aber nach meiner Erinnerung weder Amazon
noch Twitter), die ständig im Auto – einem „Amarok“ zumal, wenn sie im
Wald Tiere totschießen wollen – umherfahren und die
ansonsten ihre triste Existenz mit Grillfleisch, Rotwein, Caipirinha,
Starbucks-Karamelkaffee und Bekannten aus der Muckibude aufhellen.
Wie mir Vorleserin Verena Wolfien das alles durchaus gekonnt in mein
Fieberdämmern hineintrug, kam es mir in der irritierenden Kombination von
hölzerner Prosa und thermoplastischer Handlung wie eine komische und
wüste Dystopie im Stil von David Lynch vor. Bis ich merkte, dass das
vermutlich unfair ist. Klar ist die Geschichte grob holzgeschnitzt,
aber das Internet besteht für viele Menschen ja tatsächlich im
Wesentlichen aus einer Handvoll proprietärer Plattformen. Nennenswert
viele Menschen arbeiten, glaube ich, tatsächlich ernsthaft auf eine
Beförderung hin, ganz gleich, wie sinnlos oder gar unmoralisch
(„Anlageberaterin“) schon ihre bestehende Tätigkeit ist.
In meinem Fieber fühlte sich diese Einsicht recht profund an.
Wahrscheinlich ist sie das nicht, aber gut sind solche Erinnerungen an
die Blasenhaftigkeit der eigenen Weltwahrnehmung dann und wann bestimmt.
Außerdem war die Erleichterung angenehm, als im nächsten Hörbuch
(„Acht, in Böen Neun” von Michael Wirbitzky, der als Hörfunkmensch
eingestanden auch bessere Voraussetzungen hat; wenns das im Bahn-Portal
noch gibt, lohnt es sich durchaus) Leute wieder wie halbwegs echte
Buchmenschen redeten.
Oh, und… Herr Etzold, sollten Sie das lesen und wirklich einen
Bildungsauftrag verspüren: Nein, schon als Sie das Buch schrieben, war
ein UMTS-Modul in einem Computer keine gute Wahl mehr für mobilen
Internetzugang. Ein schneller Blick in die Wikipedia (oh ja:
wertvoll, obwohl ohne Preis) hätte Ihnen gesagt, dass in der BRD
schon Ende 2021 mit UMTS kein Blumentopf mehr zu gewinnen war (in der
Praxis war für mich schon Mitte 2021 Schluss), also im Wesentlichen
simultan zur Gamestop-Geschichte, auf die Sie im Buch anspielen.
Für die nächste Auflage des Buches schlage ich eingedenk dessen ein
durchgreifendes De-Branding vor. Hier zum Beispiel: „Funkmodem”.
Allerdings gebe ich zu, dass ein Wort wie „Karrierenetzwerk“ den
Tatbestand von Linkedin und Co zur Kenntlichkeit verzerrt, was
vielleicht der Kunst (oder was immer) nicht wirklich hilft. Hmja.