Stahlhelmdiplomatie

Was früher Kanonenbootdiplomatie war, hat sich heute offenbar zu Stahlhelmdiplomatie entwickelt. Einerseits, weil „wir“ welche in die Ukraine liefern, statt den Mist, den wir mit unserer Zündelei dort angerichtet haben, etwas zu entspannen. Andererseits, weil die Außenministerin – die „Chefdiplomatin“ also – sich ernsthaft martialisch in den Abendnachrichten zeigt, und zwar sozusagen vor der Haustür des aktuellen Erbfeinds Russland:

Annalena Baerbock mit Stahlhelm in der Ukraine

Beschnittener Screenshot aus der Tagesschau vom 8.2.2022: Außenministerin Baerbock beim Staatsbesuch in der Ukraine. Rechte bei der ARD.

Wer das für Diplomatie hält, glaubt auch an die These von den Schlafwandlern. Was niemand tun sollte. Der erste Weltkrieg ist nicht ausgebrochen, er wurde gemacht. Von einer Öffentlichkeit (ich definiere das jetzt mal nicht näher; weite Teile der Presse gehörten und gehören da auf jeden Fall mal dazu), die Härte, Treue und Verlässlichkeit gefordert hat. Und von einer Regierung, die sich auch auch irgendwas wie vier Jahre in das Gemetzel hinein nicht geschämt hat, die Kriegsrhetorik vom August 1914 auf Wachstrommel zu bellen:

Na ja, und so sieht es jetzt halt wieder aus. Leider oder zum Glück, so stelle ich gerade fest, depubliziert der DLF seine Presseschauen nach sieben Tagen (trotz allem: Buh!), so dass die übelsten Ausfälle jetzt schon wieder hinter Paywalls verschwunden sind, aber all das Gerede von „nicht zurückweichen“, „klare Kante gegen Russland zeigen“, „der Provokation entgegentreten“, Waffen liefern, Truppen schicken, härter drohen: So schnell kann es gehen zwischen dem zerknirscht-geschichtsklitternden Erinnerungsjahr 2014 und patriotischem Taumel nach der Mode von 1914.

Dabei ist mir ja schon völlig unklar, was sich all die Russland-EntgegentreterInnen eigentlich als Ausgang der ganzen Angelegenheit vorstellen. Versteht mich nicht falsch: Es ist bestimmt kein Fehler, wenn ein augenscheinlich wirklich an Zauber, Auferstehung und heiligen Krieg glaubender Christ wie Achim Schönbach lieber nicht mehr die Marine befehligt. Aber wer Russland die Krim wieder abnehmen will, wird sich zwischen einer der folgenden Alternativen entscheiden müssen:

  1. Irgendeine russische Regierung gibt sie freiwillig ab. Die Frage beiseite, was sie dazu bewegen könnte, es wäre wohl das letzte, was sie täte. Weder das Militär noch große Teile der Bevölkerung würden das hinnehmen – das wäre nach übereinstimmenden Angaben von osteuropäischen KollegInnen und Ex-Studis in etwa so, als würde die BRD Mallorca, Helgoland und Sylt an Serbien übergeben. Also, so richtig, mit: Kein Urlaub mehr dort für Deutsche. Diese Alternative existiert mithin eigentlich nicht, und es bleiben realistisch nur die beiden anderen.
  2. Irgendwie zwingen „wir“ Russland ohne Krieg zur Aufgabe der Krim. Die Folge wäre ein Revanchismus in Russland, der garantiert die Größenordnung des Revanchismus in der Weimarer Republik angesichts von Versailles erreichen würde. Das wäre nicht nur für Russland furchtbar; mit Sicherheit wären damit alle Hoffnungen auf Ausgleich für die nächsten 30 Jahre futsch. Es gäbe auch praktisch sicher eine wild drehende Aufrüstungsspirale. Wer könnte es einer Bevölkerung, die mindestens ebenso patriotisch betaumelt ist wie „unsere“ verdenken, Russland nach so einer Nummer so stärken zu wollen, dass es eine solche Schmach nicht nochmal hinnehmen müsste? Gut, ich kann das, weil es klar durchgeknallt ist. Aber es ist nicht durchgeknallter das das, was „wir“ im Augenblick aufführen.
  3. Wir machen mal wieder einen Krimkrieg, weil der letzte so ein Höhepunkt der Zivilisation war. Tut euch den Gefallen und blättert ein wenig im verlinkten Wikipedia-Artikel. Wer sowas ernsthaft will, möge erstmal die wunderbaren Thursday Next-Bücher von Japer Fforde lesen – Hauptperson ist eine Veteranin eines in einer Alternate History eingefrorenen Krimkriegs – und sich danach bitte schleunigst auf den Weg zurück in Kreise zivilisierter Menschen begeben.

Alle drei Alternativen sind offensichtlich Quatsch. Nichts davon ist auch nur im Entferntesten wünschbar. Mit welchen Gedanken im Kopf kann sich also irgendwer darüber erregen, wenn irgendwer anders – und sei es auch ein frömmelnder Marinechef – das Offensichtliche feststellt: Chruschtschows Laune von 1954, als er die Krim an die Ukraine übergab, war nie mehr als das, eine Laune (eines Diktators, Autokraten, oder wie immer das heute heißt, zumal) nämlich, und gewiss nichts, für das irgendwer sterben sollte.

Zitiert in: Lenard vs. Einstein: Vom langsamen Fortschreiten der Zivilisation

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