Da die allwöchentliche Heidelberger Kundgebung gegen den zweiten Krimkrieg und vor allem die deutsche Beteiligung daran (Montag 18 Uhr am Theaterplatz) gerade Sommerpause macht, bietet sich ein kurzer Rückblick an auf einen Passanten, der uns „ja, wollt ihr den Putin mit Wattebäuschchen bewerfen?“ entgegenfauchte.
Leider stand der Fauchende selbst nicht für weitere Erörterungen zur Verfügung, aber den Gedanken finde ich tatsächlich wertvoll: Die Wattebäuschchenwürfe wären zur Erhaltung von Frieden und zumindest rudimentärer persönlicher Selbstbestimmung („Freiheit“) in der Ukraine ganz bestimmt mindestens so wirksam wie die Stahlhelme und Haubitzen, die tatsächlich zum Einsatz kommen (und offensichtlich im Hinblick auf diese Ziele gar keinen Nutzen haben), aber sie würden entschieden weniger Schaden zwischen Kriegsdienstpflichten, Zermetzelten, kaputten Häusern, Zensur, Kriegsrecht, Minimalgruppenhass und Propaganda anrichten.
Die kontrafaktische Gewissheit über die Wirksamkeit des Tötens
Tatsächlich verblüfft mich immer wieder, wie der autoritären Versuchung erlegene Menschen entgegen aller Erfahrung und Logik ganz selbstverständlich voraussetzen, dass das Rumballern irgendwas hilft oder jedenfalls Schlimmeres verhindert. Für diese Prämisse gibt es jedoch nicht den Hauch eines Belegs.
Als besonders deutliche Episode rufe ich auf, dass das Massaker von Srebrenica in unmittelbarer Nachbarschaft einer Kaserne der niederländischen Armee stattfand – und vermutlich ohne die militärische Spezialoperation aus dem aufgeklärten Westen auf „den Balkan“ zumindest so nicht passiert wäre, zumal es das improvisierte Lager von Srebrenica ohne diese in der Form schon gar nicht gegeben hätte. Und nein, auch die humanitäre Operation im Kosovo hat nicht etwa ein Massaker unterbrochen.
Gänzlich kontrafaktisch werden diese Erzählungen, wenn es mit „Freiheit verteidigen“ weitergeht. „Freiheit“ ist, wenn dieses geschundene Wort überhaupt noch irgendwie mit sinnvollem Inhalt zu füllen ist, ein Attribut im Verhältnis zwischen Obrigkeit (sowie deren HandlangerInnen) und Untertanen. Als solches sind seine Belegungen weitgehend invariant gegen die konkrete Obrigkeit[1]; der ganz entscheidende Faktor hingegen ist, was sich die Untertanen bieten lassen[2].
Militär verteidigt nie Freiheit(en)
Im Antagonismus Obrigkeit-Untertanen nun ist das Mittel der nationalen „Verteidigung“, das Militär, aber im Wesentlichen immer[3] auf der Seite der Obrigkeit und mithin gewiss nicht auf der nachvollziehbarer Bedeutungen von „Freiheit“.
„Freiheit verteidigen“ bedeutet demnach (jaja: im Wesentlichen) immer, Militär zu bekämpfen und nie, sich an die Seite irgendeines Militärs zu stellen. Diese Erkenntnis ist fast so fundamental wie ihre weise Schwester: „Wenn bei einer ethischen Erwägung rauskommt, dass du Leute töten sollst, dann hast du dich komplett verrannt.“
Das Thema Unterwerfung und Eroberung wird sehr beeindruckend im wahrscheinlich großartigsten Propagandafilm aller Zeiten, Casablanca von 1942, aufgearbeitet. Die Situation: Rick, der als Nationalität „Säufer“ („drunkard“) angegeben hat, also (in dieser Phase des Films) allen möglichen Patriotismen abgeschworen hat, sitzt so etwa 1941 mit Major Strasser an einem Tisch. Strasser, ein Emissär der deutschen Wehrmacht, will Rick überzeugen, einem aus dem deutschen Machtbereich ins Niemandsland von Casablanca – weitgehend loyal zum französischen Marionettenregime in Vichy, aber halt auch nicht so ganz – entkommenen Antifaschisten nicht zur weiteren Flucht zu verhelfen. Er sondiert Ricks Loyalitäten und fragt diesen, ob Rick sich die Wehrmacht in Paris oder London vorstellen könnte. Rick gibt jeweils geistreiche und sehr unpatriotische Antworten.
Ziel: Keine Lust, uns zu regieren
Schließlich stellt Strasser die Königsfrage zu Ricks Heimatstadt im Versuch, ihn bei Resten von Patriotismus zu packen: „What about New York?“ Rick pariert mit dem wirklich brillianten Satz:
There are certain sections of New York that I wouldn't advise you to try to invade.
Ich finde, das ist ein ausgesprochen erstrebenswertes Ziel für eine Gesellschaft: So zu werden, dass wohlmeinende Menschen Obrigkeiten abraten, sie beherrschen zu wollen.
Ich will dabei gerne zugestehen, dass Casablanca durchaus auch als Geschichte einer antifaschistischen, vielleicht gar patriotischen Läuterung von Rick gelesen werden kann – einer Läuterung übrigens, die interessanterweise im Namen sexuellen Begehrens beziehungsweise Entsagens erfolgt. Die Läuterung geht so weit, dass Rick Strasser am Schluss umpufft (selbstverständlich in Notwehr, aber das ist für diese Überlegung eher zweitranging).
Ist diese Sorte Läuterung erstrebenswert? Nun ja, heute wissen wir einiges, das die Epstein-Zwillinge – die das Drehbuch für den Film geschrieben haben – damals noch nicht wissen konnten: Nazis (und anderen Obrigkeiten) massenhaft nicht gehorchen hat erheblich weniger unerwünschte Nebenwirkungen als Nazis umpuffen. Wichtiger noch: es wirkt besser.
[1] | Und selbstverständlich unabhängig von Nationalität oder „Ethnizität“ (was immer das nun schon wieder sein mag) des obrigkeitlichen Personals. |
[2] | Ganz besonders wichtig in dem Zusammenhang: warum sind die Untertanen vielerorts eigentlich so gefügig? Womit wir beim Nationalismus als einem wesentlichen Ideologem wären, das Untertanen zum Mitspielen bei den imperialen Ambitionen ihrer jeweiligen Obrigkeit motiviert – und damit zum Verzicht auf so gut wie alles, was „Freiheit“ vernünftigerweise bedeuten könnte. Von Einsichten dieser Art ist es nicht mehr weit zur gerade in Olympiazeiten wertvollen Frage, wie und wann Menschen die Anwendung dieses Ideologems einüben. Aber das gehört hier nicht mal mehr in eine Fußnote. |
[3] | In der deutschen Geschichte gab es im Wesentlichen einen Moment, in dem das anders war (die Novemberrevolution). Aber auch da fanden die Soldaten schnell wieder zurück in ihre gewohnte Rolle: die Obrigkeit gegen verschiedene Gruppierungen der Untertanen zu verteidigen (Beweisstück A, Beweisstück B, Beweisstück C, Beweisstück D). |