Tag Digitalisierung

  • Alles kaputt first, Bedenken second

    Nachdem die Bahn sich weigert, Menschen, die auf ihren Computern selbst root sein wollen, 49-Euro-Tickets zu geben, versuche ich gerade, das Ding vom lokalen Nahverkehrsunternehmen VRN zu kaufen, denn die geben Plastikkarten aus (Lob immerhin dafür). Und weil ich gerade wirklich die Nase voll habe von vermurksten Webseiten (vgl. unten), wollte ich mir das Ding einfach in der „Mobilitätszentrale“ in Heidelberg kaufen. Aber keine Chance:

    Ein Aushang des VRN: das Mobilitätszentrum ist bis auf weiteres am Mittwoch zu, weil die Leute mit 49-Euro-Ticket-Bürokratie beschäftigt sind.

    Mit anderen Worten: Aufgrund des „muss aber digital sein“-Irrsinns, den Bundesverkehrsminister Wissing dem 49-Euro-Ticket verordnet hat, gibts keine Mobilität… szentrale. Ja klasse!

    Mensch vergleiche das insbesondere mit dem entspannten Ablauf beim 9-Euro-Ticket vor einem Jahr. Die Tickets kamen spontan, ohne Abo und ganz normal aus Papier aus dem Automaten, keine Mobilitätszentren mussten schließen, und es gab auch sonst keine nennenswerte Beeinträchtigung der Kundendienste (soweit sie nicht eh schon kaputt waren). Ist es eigentlich schon nachgewiesener böser Wille, wenn Wissing statt eines einfachen und bewährten Verfahrens etwas erzwingt, das rechts und links explodiert?

    Links und rechts? Na klar. Ich versuche seit einer Woche, mir das Juni-Ticket aus der murksigen Bahn-App zu holen und habe dazu mindestens sieben Captchas gelöst, nur im dann immer das hier zu kriegen:

    Foto eines Mobiltelefonbildschirms mit der Meldung 503 Service Unavailable von der Webseite accounts.bahn.de

    Wie oft muss ich das probieren, um bei einem eventuellen Schwarzfahrverfahren keinen Ärger zu bekommen?

    Fast schon überflüssig zu erwähnen, dass vom Bahn-Abo-Support seit letztem Freitag kein Signal kam zu einschlägigen Fehlerberichten außer einer Eingangsbestätigung.

    Nachdem das „Mobilitätszentrum“ zu hatte, habe ich es übrigens doch mit der VRN-Webseite probiert, mit dem erwartbaren Ergebnis. Das Javascript auf https://abo.rnv-online.de/abo/new.aspx landet auf einem luakit mit einem:

    TypeError: $('.nyroModal_2').nyroModal is not a function. (In '$('.nyroModal_2').nyroModal()', '$('.nyroModal_2').nyroModal' is undefined)
    

    in new.aspx (ASP! Für Menschen unter 45: Das sind Active Server Pages, irgendein unsäglicher Microsoft-Scheiß, den ich für längst jenseits von smells funny gehalten habe), Zeile 327 hart, woraufhin die Dialoge nicht mehr gehen (und der blöde Spinner permanent oben auf der Seite steht).

    Mit einem Firefox kommt mensch immerhin weiter, auch wenn das immer noch eine ziemliche Klickerei ist und ich beim ersten Versuch nach all den Einwilligungen magisch wieder neu anfangen musste.

    Sollte wer das lesen, der/die bei der letzten Wahl FDP gewählt („Rasende Porno-Kiffer“, wie fefe so schön gesagt hat) hat: Ohne euch hätten wir immerhin den Wissing nicht, der auch nach Maßstäben von MinisterInnen besonders destruktiv agiert. Schämt euch! Für den ganzen 49-Euro-Scheiß habe ich was gut bei euch.

    Nachtrag (2023-06-07)

    Am Nachmittag habe ich, geduldig wie ich bin, das mit dem Juniticket von der Bahn nochmal probiert. Und siehe da, ich bin an der Authentifizierung vorbeigekommen (ich musste wieder „Planeten“ antatschen).

    Aber was soll ich sagen? Es geht immer noch nicht. Die Meldung, die der „Navigator“ jetzt ausspuckt, ist auch kein Stück besser als das gewohnte 503 von accounts.bahn.de. Wenn ich der Anweisung „Swipe down to Refresh“ folge, bekomme ich nämlich:

    Foto eines Bildschirms mit einem modalen Dialog: „The order could not be found.  Please ensure that you have centered all of the information correctly“

    Was denn für eine „order“? Ich habe keine eingegeben. Ich habe nur runtergeswipt. Welche Information also sollte ich bitte „correctly“ eingeben? Vielleicht anmutiger swipen? Und ja, die Authentifikation scheint ok; jedenfalls zeigt mir das Ding meine Bahncard, wenn ich den entsprechenden Menüpunkt antatsche.

    Was für ein Murks! Funktioniert das überhaupt für irgendwen? Und hat irgendwer auch nur irgendwas vom Abo-Support der Bahn bekommen, das nicht nur die Eingangsbestätigung ist?

    Nach-Nachtrag: Ah. Per Hand hinzufügen (mit dem eigenartigen +-Knopf, der Abo-Nummer und dem Nachnamen) geht. Ha! Was kann da schon schiefgehen?

  • Ach Bahn, Teil 12: „Digitales“ 49-Euro-Ticket

    Foto eines altmodischen Telefons mit einem anonymisierten Barcode im Display

    Das Happy End dieses Artikels: Ich habe das 49-Euro-Ticket auf Rechnern unter meiner Kontrolle (neben dem N900 im Bild auch noch auf meinem ordentlichen Computer).

    Ich habe mir ein 49-Euro-Ticket von der Bahn gekauft. Ich hätte das, der Kritik von freiheitsfoo folgend, besser nicht tun sollen, aber das 9-Euro-Ticket hat mir viel Spaß gemacht, und monatliche Kündigung und so… da habe ich verdrängt, dass Wissing von „digital“ geredet hat, was ja bei weniger EDV-affinen Menschen in der Regel heißt: „Ist in meinem Handy“ bzw. „Google macht das für mich“ (also für mich: „Vergiss es“). Da aber eine Bahn-FAQ erklärte, wie mensch das „Ticket in die App“ bekommt, war mein Umkehrschluss, dass das Ticket erstmal nicht in der „App“ ist und also für mich verwendbar. Wegen dieses Fehlschlusses bekam die Bahn meine 49 Euro und ich einen Haufen Ärger.

    Denn nach der Bezahlung kam aber nicht wie gewohnt ein PDF mit dem QR-Code – was für die Bahn wirklich kein Problem wäre –, sondern ein dämlicher Text, der mich aufforderte, das Ticket in meinem „DB Navigator” zu „öffnen“.

    Digitalisierung: Zwei Stunden Arbeit von Kauf bis Erhalt

    Tja: Dieses Programm („App“) gibts jedenfalls offiziell nur mit Google-id und nur auf relativ wenigen Typen von Hardware, und drum habe ich es nicht. Ich knirschte also mit den Zähnen und habe erstmal eine diesbezügliche Frage an die immerhin angegebene Kontaktadresse (Lob: ganz normale Standard-Email) geschickt – aber von da kam nur eine gutgelaunte Eingangsbestätigung zurück:

    Derzeit kann es aufgrund des hohen Bestellaufkommens zu Verzögerungen kommen. Wenn´s [falsches Auslassungszeichen im Original] ein wenig länger dauert: Wir haben Sie nicht vergessen, wir melden uns.

    Nun – bis dahin ist der Mai vorbei, und dann brauche ich auch keine Information mehr.

    Ich knirschte dann heute morgen lauter mit den Zähnen und dachte mir: Na ja, wenn ich mir schon mit dem Bahn-Bonus-Quatsch Android eingetreten habe, kann ich da ja vielleicht noch den „DB Navigator“ dazupacken – ich brauche das ja nur ein Mal im Monat, um den QR-Code runterzuladen. Also bin ich wieder zum etwas dubiosen[1] apkpure.com gegangen. Dort gibt es auch ein paar Dinge, die „DB Navigator“ heißen, aber die alle kommen nicht als apk, sondern als xapk. Hu?

    Mit etwas Recherche stellt sich xapk als so eine Art informeller Standard aus der Android-Piratencommunity heraus, in dem zusammengesetzte Pakete, die Google vermutlich über Abhängigkeiten aus dem Appstore ausliefert, in einer Zip-Datei kommen. In dem Navigator-xapk von apkpure finden sich insbesondere auch zwei Pakete, in deren Dateinamen arm64 drinsteht, und ich begann zu ahnen, dass das ohne dedizierte Telefonhardware wenig Spaß machen würde.

    Tatsächlich habe ich nach ein paar Experimenten mit pm install (so installiert mensch Pakete auf der Android-Shell) und den Nicht-arm64-Paketen, die alle mit nutzlosen und/oder kryptischen Fehlermeldungen endeten, auch aufgegeben.

    Digitalisierung: Datenübertragung durch Foto

    Stattdessen habe ich ein Google-administriertes (aber nicht -registriertes, also: Kein Playstore) Telefon, das mir mal ein netter Mensch überlassen hat, ausgepackt, die ganze Google-Belästigung weggetatscht, ultramutig einen Piraten-xapk-Installer draufgeklatscht, der nun sicher alle meine Credentials zu irgendwelchen Kids in Wladiwostok schickt (ein Glück, dass das nur meine Bahn-Credentials betrifft; trotzdem: Danke, Bahn), wieder Google-Belästigung weggetatscht, den blöden „DB Navigator“ von apkpure draufgebügelt, wieder Google-Belästigung weggetatscht und tatsächlich: Die Bahn hat mir die Karte, die ich gekauft habe, nun auch endlich gegeben:

    Foto eines Mobiltelefons mit einem 49-Euro-Ticket im DB Navigator

    Nur zur Rechtfertigung: Den QR-Code habe ich verwürfelt, mir die Bahn ansonsten das hart errungene Ticket gleich wieder zurückruft.

    Welcome to digital capitalism, wo du erstmal zwei Stunden basteln und fummeln und irgendwelchen Kids aus Wladiwostok Zugriff auf deinen (Wegwerf-) Computer geben musst, damit du neu erworbenen Krempel auch bekommst. Fast so klasse wie Onlinehandel.

    Es gab aber noch ein zweites Problem: Wie bekomme ich den so erkämpften QR-Code nun aus dem Android-Silo raus? Ich habe schnell beschlossen, dass ich überhaupt keinen Nerv habe rauszukriegen, wo die Kiste ihre Screenshots speichert. Mein Kopf ist schon beim Lokalisieren der Chrome-Downloads während meiner Android-x86-Versuche explodiert. Noch weniger Lust hatte ich, zur Datenübertagung einen sshd auf das Telefon zu installieren, das ich Minuten vorher den Kids aus Wladiwostok übereignet hatte.

    Und so habe ich, es lebe die Digitalisierung!, das Foto oben gemacht, es aus der Kamera in einen richtigen Computer gezogen und dort entzerrt. Und so habe ich jetzt ein PNG mit dem QR-Code.

    Auf dem N900

    Das wiederum hat den Vorteil, dass ich mein gutes, altes Corona-Impfpass-Skript für den Nokia N900 (vgl. Foto oben) weiterverwenden kann. Das hat während der 3G-Zeiten gut funktioniert: Es zieht das PNG auf den Bildschirm, stellt das Backlight auf krass hell und macht nach 45 Sekunden alles wieder rückgängig – ich war damit fast immer schneller und unproblematischer durch Checkpoints durch als Leute mit der offiziellen App.

    Wer noch einen N900 mit hinreichend originalem Maemo hat, mag das vielleicht nützlich finden (es geht davon aus, dass ihr das Zertifikat als 49-euro.png ins Homeverzeichnis gelegt habt):

    #!/bin/sh
    /usr/bin/dbus-send --print-reply --dest=com.nokia.image_viewer /com/nokia/image_viewer com.nokia.image_viewer.mime_open string:file:///home/user/49-euro.png
    /usr/bin/dbus-send --print-reply --system --dest=org.freedesktop.Hal /org/freedesktop/Hal/devices/computer_backlight org.freedesktop.Hal.Device.LaptopPanel.SetBrightness int32:255
    sleep 45
    /usr/bin/dbus-send --print-reply --system --dest=org.freedesktop.Hal /org/freedesktop/Hal/devices/computer_backlight org.freedesktop.Hal.Device.LaptopPanel.SetBrightness int32:20
    killall image-viewer
    

    Wenn das in /home/user/mybin/passhow.sh steht, geht es gut zusammen mit einer Datei covpass.desktop im Verzeichnis /usr/share/applications/hildon, in der sowas hier steht:

    [Desktop Entry]
    Version=1.0
    Encoding=UTF-8
    Name=covpass
    Icon=covpass
    Exec=/home/user/mybin/passhow.sh
    Type=Application
    

    Ich erwähne im Desktop-File ein Icon namens „covpass“. Damit das was anderes als ein blaues Quadrat anzeigt, müsst ihr ein hübsches PNG (bei mir ist das noch ein stilisiertes Coronavirus, was, finde ich, auch für das doofe 49-Euro-Ticket ganz gut passt) mit dem namen covpass.png nach /opt/usr/share/icons/hicolor/scalable/apps schreiben.

    Damit der Desktop diese Datei sieht: sudo killall hildon-desktop – upstart (ja, das lebt noch im alten Maemo) zieht das dann automatisch wieder hoch.

    [1]„Dubios“ ist in diesem Zusammenhang ein positives Wort, denn bei Google bin ich sicher, dass sie gegen meine Interessen handeln. Bei apkpure hingegen kann ich da noch Zweifel (lat: dūbium, n) haben.
  • Digitalisierung ist: Auf dem kalten Bahnsteig warten

    Foto: Ein Zug steht mit geschlossenen Türen auf dem Bahnsteig, etliche Menschen in verschiedenen Stadien der Verwirrung davor.

    Digitalisierung live: Menschen stehen am kalten Bahnsteig vor einem geheizten Zug. Immerhin scheint die Sonne, so dass die Digitalisierung immerhin etwas für die Vitamin D-Versorgung der Fahrgäste tut.

    Heute, so gegen Neun, im Heidelberger Bahnhof: Der seit dem letzten Fahrplanwechsel dankenswerterweise stündlich und an sich flott pendelnde Regionalexpress nach Karlsruhe fährt ein, Leute steigen aus, Leute steigen ein. Ich habe mich gerade auf dem Sitz zurechtgeruckelt, als eine Durchsage kommt (etwas paraphrasiert):

    Sehr geehrte Fahrgäste, bitte steigen Sie noch einmal kurz aus. Dieses Fahrzeug muss neu gestartet werden.

    Allgemeine Verblüffung. Tatsächlich steigen aber alle aus; Digitalisierung ist ja inzwischen allgegenwärtig. Und so stehen wir auf dem kalten Bahnsteig, während der Zug dann und wann piept, schnauft und blinkt.

    Minuten vergehen. So etwa zur planmäßigen Abfahrtszeit ist der Reboot fertig, wir können wieder einsteigen. Leider fährt der Zug aber immer noch nicht. Muss erst noch die grafische Oberfläche starten? Mit 12 Minuten Verspätung setzt er sich dann doch in Bewegung, und ich werde milde nervös, denn ich soll eigentlich in Karlsruhe den TGV erwischen. Umsteigezeit 9 Minuten. Abenteuer Bahn.

    Ich warte jetzt nur auf eine Durchsage: „Dieser Zug hat derzeit eine Verspätung von 15 Minuten. Grund dafür ist ein Neustart des Fahrzeugs.“ Das wäre immerhin eine nette Abwechslung von „Personen im Gleis“ oder „Verzögerungen bei der Bereitstellung“.

    Warum genau wollten wir nochmal diese Digitalisierung haben?

  • Ach Bahn, Teil 11: Wenn Geschenke schlechte Laune machen

    Eine Papier-Fahrkarte auf dem Bezug von Nahverkehrssitzen in den Bahn

    Sieht zwar digital aus, funktioniert aber und geht schnell: Eine Fahrkarte aus dem Automaten auf den weichen Polstern der Nahverkehrs-Bahn.

    Die Bahn verschickt ja dann und wann mal Gutscheine über einige Euro, einzulösen für Fahrkarten innerhalb eines relativ knappen Zeitraums. Ich zum Beispiel habe gerade einen über 15 Euro, der bis zum 30.11. wegmuss – und ich kann ihn nur einlösen, wenn ich über 50 Euro verfahre. Viele Gelegenheiten dafür gibts bei mir nicht mehr.

    Leider würde dieser Gutschein nur auf der Webseite der Bahn funktionieren, also weder am Automaten noch gar am Schalter. Das war früher (wie in: bevor man „Digitalisierung“ machen musste) kein schlimmes Problem. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich für 15 Euro in Einzelfällen durchaus bereit bin, meine natürliche Abneigung gegenüber Marketing zu überwinden.

    Digitalisierung ist, wenn Menschen, die keinen Bock drauf haben, Computer verwenden müssen.

    Inzwischen jedoch hat sich die Bahn digitalisiert. Digitalisierung ist, ich habe schon mal drüber geschrieben, wenn alles außer Werbung und Ausforschung kaputt ist. Jedenfalls, bis mensch es einmal aus- und wieder eingeschaltet hat. So auch heute bei der Bahn, nur, dass ich die nicht powercyclen kann.

    Um halb neun versuche ich zum ersten Mal zu buchen. Ich muss ein hCaptcha mit „Tassen mit Kaffee“ lösen. Ich füge mich: Für 15 Euro mache ich ein Mal sogar so einen Scheiß. Nach erfolgreichem Lösen (ob das wirklich immer Kaffee war in den Tassen? Wer weiß?) bekomme ich aber nur ein „429 Too Many Requests“ von der Bahn.

    Ich fluche und verfluche das giftige Geschenk der Bahn, zumal ich schon ahne, was kommt, wenn ich einen Reload mache. Klar: ich bekomme das nächste Captcha. Libellen. 7 Euro 50 pro gelöstem Captcha sind allmählich schon unterhalb der Grenze meiner Käuflichkeit. Wird aber sowieso nichts, denn „429 Too Many Requests“.

    Um den Zorn auf das Bahn-Management etwas abkühlen zu lassen und den Computer-Leuten der Bahn etwas Zeit zu geben, den Mist geradezuziehen, beschließe ich, das um 11 Uhr nochmal zu probieren.

    Digitalisierung ist, wenn es Werbung zeigt und dann abstürzt.

    Ich lese meine Mails. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen, denn die Bahn schreibt:

    Subject: Aktualisieren Sie Ihr Konto

    Ihr Administrator hat soeben beantragt, dass Sie Ihr Deutsche Bahn-Konto aktualisieren, indem Sie folgende Aktion(en) ausführen: requiredAction.CONFIGURE_TWO_FACTOR_AUTH. Klicken Sie auf den untenstehenden Link, um diesen Prozess zu starten.

    https://accounts.bahn.de/auth/realms/db/login-actions/action-token?key=<691 byte base 64>

    Wie bitte? Wozu soll ich mich Zwei-Faktor-authentifizieren, wenn ich nicht mal ohne so Klimbim reinkomme? Warum bitteschön soll ich zum Fahrkartenkauf in Zukunft ein Telefon brauchen, das mir Anweisungen gibt, welche Zahlen ich in einen Computer zu tippen habe, damit die Bahn sich herablässt, mein Geld zu nehmen?

    Es geht hier ja wirklich nicht um Fort Knox oder die Codes der Atombomben in Büchel, sondern allenfalls darum, dass mal wer auf meine Kosten Zug fahren könnte. Das Risiko dafür schätze ich übrigens nach 20 Jahren elektronisch gekauften Bahnfahrkarten als im Wesentlichen verschwindend ein, um so verschwindender, als die Bahn ja noch nicht mal bona fide-KundInnen online Karten verkauft. Jedenfalls nicht mir.

    Und dann, ganz ehrlich, Bahn: Ihr kriegt ja nicht mal mehr eure normale Infrastruktur auch nur ansatzweise auf Reihe. Wie könnt ihr da irgendeine Hoffnung hegen, etwas wie 2FA so hinzubekommen, dass das nicht nur bei Neumond und Nipptide tut, was es soll?

    Digitalisierung ist, wenn alles außer Werbung und Ausforschung kaputt ist.

    So ist auch das Ende der Geschichte absehbar. Ich bereue, dass ich keinen Screenshot gemacht habe. hCaptcha ist weiter online, aber offensichtlich im Spott-Modus: Kaninchen am Strand. KANINCHEN AM STAND?!? Solche Witze finde ich nicht lustig, wenn ich gerade merke, dass ich für fünf Euro pro Runde Tassen, Libellen und Kaninchen am Stand angeklickt habe. Au weia. Baisse an der Börse, auf der meine Würde gehandelt wird (einschlägiger Dilbert-Strip).

    Die Pointe war wenig überraschend, dass auch das wieder nur auf ein 429 Too Many Requests führte. Am Bahnhof hingegen hatte ich meine Fahrkarte am Automaten in ungefähr einer Minute, ganz ohne Captcha und 2FA, und ganz ohne Versuchung, irgendeinen Marketingquatsch mitzumachen.

    Ich war schon ein fanatischer Feind der Digitalisierung (also: Menschen, die keinen Bock drauf haben, müssen Computer verwenden), sobald sie wer erfunden hatte. Mein Fanatismus hat heute morgen viel Nahrung bekommen. Und nein, nur weil der Fahrkartenautomat einen Computer hat und seine NutzerInnen gelegentlich demütigt, ist er noch lang keine Digitalisierung; dafür funktioniert er zu zuverlässig, schnüffelt zu wenig und verlangt nicht von mir, Code von ihm unbesehen auf meinem Computer laufen zu lassen.

    Vielleicht fängt er an, Digitalisierung zu sein, wenn er erstmal Werbespots zeigt, bevor er Karten druckt. Und dabei abstürzt.

  • Ach, Bahn, Teil 1: Captchas und Bodensee

    Alte Waggons und eine Dampflok

    Einen Vorteil hat die dysfunktionale Bahn: Mensch sieht etwas von der Welt, für mich und heute etwa dieses Stück Bahnromantik am Bahnhof von Rottweil.

    Ja, klar, es ist wohlfeil, über die Bahn zu ranten. Andererseits ist es auch unmöglich, mit der Bahn zu reisen und es nicht zu tun. Drum genehmige ich mir das gleich mal in mehreren Teilen. Wobei: Ich bin die Segnungen der Privatisierung nach meinen coronabedingten Zugpausen auch einfach nicht mehr gewöhnt. Vielleicht gibt es gar nicht mehr so viele weitere Teile von „Ach, Bahn“, wenn ich mich erstmal wieder in die Realitäten privatisierter Infrastruktur gefunden habe (vgl. auch Post-Wettbewerb).

    Sprinter und Antisprinter

    Ich fahre gerade von Heidelberg auf die Insel Reichenau. Das sind so etwa 200 Kilometer. Weil ich um 12 Uhr angekommen sein soll, musste ich in Heidelberg um 7:02 losfahren, fünf Stunden vorher. Ok, vielleicht sollen ja Leute eh nicht so viel durch die Gegend fahren, aber wenn ich gestern bei heise lese, die Bahn wolle „mit Inlandsflügen konkurrieren“ und hole künftig zwischen Berlin und Köln eine halbe Stunde raus: Nun, so sehr Flugzeuge viel Dreck und großflächig Lärm machen, das weit größere Problem sind immer noch Autos. In Konkurrenz zu denen werden netto fünf Stunden für 200 km, zumindest solange es Autobahnen gibt, nicht viele Leute auf die Schiene ziehen.

    Oder, in den Worten der taz zu den neuen Sprintern aus dem Heise-Artikel: „Dreimal täglich je Richtung fährt dann zum Beispiel ein Zug ohne Unterbrechung direkt von Berlin nach Köln. Pech gehabt, wenn man in einen Ort dazwischen will.“

    Ja, klar, die komplizierte und langsame Verbindung für mich und heute liegt bestimmt auch daran, dass derzeit die Schwarzwaldbahn nicht fährt. Oh Verzeihung, dass da Schienenersatzverkehr ist. Tja. Ich würde, dies bedenkend, als ein Infrastrukturziel vor dem Ausbau auf 350 km/h-Strecken vorschlagen: Möglichst viele Strecken so ausbauen, dass weitere Bauarbeiten ohne Schienenersatzverkehr und Zugverlegungen durchgeführt werden können. Das würde mir gerade als wichtiger Punkt erscheinen, um die Bahn als Autoalternative glaubhaft zu machen. Zugegeben, vielleicht erscheint mir dieser Punkt wichtiger als er ist, weil ich öfters in der weiteren Umgebung der Stuttgart 21-Katastrophe unterwegs bin. Dort nämlich litt tatsächlich die Mehrheit meiner Zugfahrten in den letzten 10 Jahre darunter, dass Züge, die meine Verbindung viel angenehmer gemacht hätten, baustellenbedingt nicht fuhren.

    Erlaubt mir kurz einen Extra-Nostalgie-Jammer bezüglich der speziellen Heidelberg-Bodensee-Relation: Ich bin alt genug, um mich an den Interregio zu erinnern, der einstmals direkt von Heidelberg nach Konstanz fuhr; ich weiß zwar nicht mehr, wie lang der wirklich brauchte, aber es wäre ja schon mal großartig, wenn ich nicht alle halbe Stunde wieder alles zusammenpacken und umsteigen müsste.

    Ach, Bahn. Sollten die Leute, die damals das Einstampfen der Interregios zu verantworten hatten, schon tot sein, hat der Teufel hoffentlich noch ein paar Grad draufgelegt in dem Teil der Hölle, in den sie gefahren sind.

    Von einem, der mit der Bahn-Webseite interagierte

    Ähnliche Wünsche hege ich im Hinblick auf die Leute, die derzeit an der Bahn-Webseite schrauben. Beim Buchen gestern: Ich logge mich auf bahn.de ein, gebe meine richtigen Credentials ein. Ein Captcha poppt auf. Ich soll nacheinander Fahrräder und Boote markieren. Ich überlege schon, einfach zu Hause zu bleiben, tue der Bahn aber trotzdem den Gefallen. Ich klicke mich zum Bezahlen durch, lasse dort meine gewohnte SEPA-Lastschrift angeklickt.

    Doch irgendwie mag die Bahn das nach nochmaligem Überlegen nicht mehr und schreibt auf der nächsten Seite in Rot: „Die folgenden Zahlungsmöglichkeiten bestehen für diese Reise“ (oder so ähnlich). Lastschrift ist jetzt ohne weitere Erklärung verschwunden. Nach einem tiefen Durchatmen wähle ich Kreditkarte. Ein paar Felder poppen auf, doch kann ich dort nichts eingeben (und, wohlgemerkt, das ist ein hundsordinärer Firefox, nicht mein üblicher Luakit; ich erwarte von der Bahn ja schon gar nicht mehr Browserunabhängigkeit). In einem Versuch, dem Bahn-Code eine zweite Chance zu geben, mache einen Reload. Eine kurze Fehlermeldung, und dann loggt mich der Bahn-Kram aus.

    Ich brülle laut und fluche, knirsche mit den Zähnen und fantasiere von Teufeln an großen Schaltpulten, die die Temperatureinstellung von „fies“ auf „jenseits der Spezifikation“ drehen. Ich wechsele auf einen fast unkonfigurierten, erweiterungslosen Chromium. N-n-n-n-och ein Captcha! Lokomotiven und Lkws dieses Mal. Ich bin jetzt noch heiser von der Fluchkaskade, die sich an dem Punkt meiner Kehle entrang. Immerhin ging vom Chromium aus die SEPA-Lastschrift. Warum auch immer.

    Captchas! C-a-p-t-c-h-a-s!

    For the record: Wenn du wem was verkaufen willst, dann verschwende nicht seine/ihre Zeit mit Captchas. Das ist wirklich ein No-no. Niemand will Objekt verhaltenspsychologischer Experimente sein, und auch nicht von Dingen, die so aussehen. Vielleicht kannst du deine NutzerInnen dazu bringen, da mitzumachen, wenn du so tust, als würdest du ihnen was schenken. Aber wenn sie dir Geld geben, dann musst du im Zweifelsfall Leute bezahlen, um Robots rauszufiltern (wenn es das schon brauchen sollte, was ich in den meisten Fällen bestreiten würde); zur allergrößten Not ist vielleicht noch eine knappe Texteingabe zur Robot-Abwehr („Textcha“) statthaft.

    Völlig absurd ist es natürlich, ein Captcha bei korrekt eingegebenen Credentials zu verlangen. Woher bitte sollten Robots die haben? Was denken sich diese Leute? Wenn das eine Abwehr von Clients sein sollte, die die (eingestanderenmaßen etwas mühsame) Interaktion mit der bahn.de-Webseite automatisieren: Öhm… Was genau wäre das Problem mit denen?

    Oh: Und wenn dich jemand auf so einen solchen Fehler hinweist (das habe ich in diesem Fall schon vor zwei Wochen per Mail an die Bahn-Kontaktadressee gemacht): Reagiere irgendwie. Ein „nur ein wenig Geduld, wir arbeiten an einer Fehlerlösung“ wäre zwar nicht optimal, ist aber immerhin besser als gar nichts. Überflüssig zu erwähnen, dass die Bahn für „gar nichts“ optiert hat.

    Auf der positiven Seite: Die Strecke zwischen Stuttgart und Singen ist hübsch, gerade hier in der Gegend von Horb. Ohne die Schließung der Schwarzwaldbahn hätte ich das wahrscheinlich nie gesehen.

  • Ad hominem

    Die Ideenwelt der repräsentativen Demokratie hat etliche Ungereimtheiten – was an sich nicht notwendig katastrophal[1] ist, siehe RiwaFiw. Speziell zu Wahlkampfzeiten muss ich aber doch manchmal meinen Kopf bis an die Grenze zum Schleudertrauma schütteln.

    Derzeit ist in Heidelberg etwa das hier plakatiert:

    Wahlplakat mit eigenartigem Brustportrait und einem Slogan

    Klar, mensch könnte das einfach mit „selbst schuld“ wegnicken und weiterfahren. Aber für mich will diese Sorte Plakat einfach nicht zusammengehen mit der öffentlichen Ächtung von Attacken auf die Person von KandidatInnen und PolitikerInnen („ad hominem“), und das nicht nur, weil das Plakat recht unbestreitbar eine ad hominem-Selbstattacke ist.

    Schön, das ad hominem-Tabu war schon immer mehr deklariert als gelebt (was gerade die zugeben müssen, die sich gerne öffentlich nach Herbert Wehner und Franz Josef Strauß sehnen), aber als normative Richtschnur des Handelns ist es im Wesentlichen unbestritten. Wenn also Kritik ad hominem nicht statthaft ist: Warum zeigt dann die Mehrheit der Wahlplakate „ernstzunehmender“ Parteien die Portraits der KandidatInnen und nicht etwa, sagen wir, eine politische Position oder wenigstens ein hübsches Bild zur Aufwertung des Straßenraums, Dinge jedenfalls, die anzugreifen nicht Tabu ist?

    Der „Digitalturbo“ im Plakat oben zählt übrigens mangels Bedeutung nicht als politische Position. „Digitalisierung“ ist Antisprache, versucht also aktiv, nichts zu sagen. „Turbo“ hingegen ist eine dämliche Autometapher, der positiv nur die radikale Selbstentlarvung zuzurechnen ist. Der Kluge führt unter dem Lemma Turbine aus:

    1. turbo (-inis) m. „Wirbel; alles, was sich im Kreis dreht“

    Ich erfinde das nicht.

    Eine politische Position, die tatsächlich etwas bedeutet, wäre etwa public money, public code gewesen, oder vielleicht „hohe Hürden bei Zugriff auf Tk-Bestandsdaten“ (cf. Post vom 2021-01-31). Doch, sowas passt auf ein Plakat, und mit etwas Mühe kriegt mensch auch Muggels erklärt, was das jeweils bedeutet. Allerdings müsste ich bei einem „Master of Public Policy“ (was Nusser ausweislich seiner Online-Biografie ist) zunächst noch überzeugt werden, dass der Kandidat tatsächlich Einsicht hätte in das, was er da sagen würde.

    Da seine Parole leer ist: was eigentlich soll mensch kritisieren als das Restplakat, also das Bild? Wenn das Bild nur die Person zeigt, wird die Kritik notwenig ad hominem. Das ist besonders bitter, wenn der Kandidat aussieht, als habe er starke Schwierigkeiten bei der Ablösung von der Mutter (oder jedenfalls bei der Impulskontrolle). Hand aufs Herz: Wer hatte bei Nussers Foto nicht gleich das Bild im Kopf vom pummeligen Einzelgänger in der Schule, der Verachtung und Hänselei der Mitschülis jetzt durch Dampfplaudern im Machoclub FDP kompensiert? [Mitschülis von Nusser: wie irrig ist diese Fantasie?]

    Wer solche, eingestandermaßen üblen, Reflexe nicht haben will: Wie gesagt, thematische Bilder statt Köpfe auf Plakaten würden sich anbieten, bei der selbsternannten Wachstumspartei FDP vielleicht viele Autos und viel Beton oder so. Weniger ansprechend als die Portraits der KandidatInnen wird das in der Regel auch nicht sein, solange nicht gerade Rana Plaza oder Union Carbide in Bhopal als Symbole für die Segnungen des Freihandels herhalten müssten.

    Besser wärs aber wahrscheinlich, ganz auf Fotos zu verzichten, etwa nach US-Vorbild:

    Vorgarten mit Wahlschildern, auf denen nur Namen stehen

    Um euch die Arbeit zu ersparen, anhand der Namen herauszubekommen, wann und wo die Szene spielt: Das Foto entstand 2002 in Massachussetts, und die schon etwas extreme Botschaftsdichte mag damit zusammenängen, dass der Vorgartenbesitzer im liberalen Jamaica Plain Werbung für alle möglichen Kandidaten der Republicans machte. Mensch sieht: Rechte Trolle sind keine Erfindung des facebook-Zeitalters.

    So oder so: Wahlwerbung in den USA ist, soweit ich das sehe, immer noch, wenn Leute die Namen ihrer LieblingskandidatInnen in den Vorgarten stellen (ok, und am Straßenrand mit Namenschildern winken). Keine Fotos, keine leeren Slogans.

    Ich glaube ja, das ist weit mehr im Geist der repräsentativen Demokratie, bei der Menschen ja genau nicht etwa die wählen sollen, die aussehen wie sie selbst; von Lookismus-Prävention will ich gar nicht anfangen. Der größte Vorteil aber: ästhetische Tiefschläge wie der folgende aus dem Jahr 1998 unterbleiben:

    Wahlplakat von Karl A. Lamers
    [1]Nur zur Vorsicht sollte ich wohl sagen, dass ich damit natürlich mitnichten repräsentative Demokratie befürwortet haben will; eine dahingehende Beurteilung aus informationstheoretischer Sicht verspreche ich schon mal für demnächst.
  • Michel Foucault vs. Corona

    Weil ich es neulich von der GEW hatte: ein weiterer Grund, warum ich 20 Jahre, nachdem es hip war, einen Blog angefangen habe, war eine Telecon im April letzten Jahres und die GEW.

    Na gut, es war nicht direkt die Telecon und eigentlich auch gar nicht die GEW.

    Tatsächlich hatte ich damals aber die erste Lehrsituation im engeren Sinne via Telecon, und kurz danach ich eine Epiphanie dazu, warum sich Lehre über Videokonferenzen so scheiße anfühlt. Dazu habe ich dann einen Artikel geschrieben, den ich, ermutigt von GEW-KollegInnen, gerne in der B&W (das ist die monatlich an alle Mitglieder in Baden-Württemberg verschickte Zeitschrift) untergebracht hätte – so brilliant fand ich ihn. Ahem.

    Nun, was soll ich sagen, die Redaktion war skeptisch, um das mal vorsichtig zu sagen. Ich habe da auch einiges Verständnis dafür, denn im letzten Juni gings bestimmt hoch her in Sachen computervermitteltem Unterricht, und da wären Einwürfe, die Videokonferenzen mit wüsten Folterszenen in Verbindung brachten, bestimmt nicht hilfreich gewesen.

    Aber schade fand ich es doch. Ich hatte aber nicht wirklich einen Platz, um sowas geeignet unterzubringen.

    Jetzt habe ich einen. Und damit: „Wider das Panopticon – Michel Foucault und der Unterricht via Videokonferenz“.

  • Antisprache: Digitalisierung

    Wenn Menschen miteinander reden, kann das verschiedene Gründe haben. Sie können gemütlich plaudern, sie können sich beschimpfen, sie können versuchen, sich Kram zu verkaufen – sie können aber auch einen Diskurs führen, also Ideen austauschen, entwickeln oder kritisieren. Für die letztere Funktion ist eine Sprache sehr hilfreich, die klar und präzise ist, in der insbesondere Begriffe nachvollziehbare „Signifikate“ (also Mengen von bezeichneten „Objekten der Anschauung oder des Denkens”) in der wirklichen Welt haben.

    Oft genug aber haben Sprecher_innen genau an Klarheit und Präzision kein Interesse – ganz besonders, wenn von oben nach unten kommuniziert wird. Herrschaft funktioniert besser, wenn den Beherrschten nicht ganz so klar wird, dass ihr Wille, ihre Interessen, im Hintergrund stehen. Dann sind plötzlich Begriffe hilfreich, die Gedanken verwirren, nicht klären, die Informationen nicht übertragen, sondern zerstreuen. „Globalisierung“ ist ein Beispiel oder auch „Arbeitgeber“, „Verantwortung“ „Terrorismus“ oder „Lernzielkontrolle“ sind weitere.

    Für Begriffe, die so funktionieren, bin ich irgendwann mal auf den Begriff Antisprache gekommen: So wie Antimaterie und Materie, zusammengebracht, zu Strahlung reagieren, reagieren Antisprache und Sprache zu... ach, ich hätte jetzt gerne „Verstrahlung“ gesagt, weil es so gut passt, aber nein: letztlich Verwirrung.

    Das Stück Antisprache, das (vielleicht gemeinsam mit „Populismus“) in den letzten paar Jahren die steilste Karriere genommen hat, ist „Digitalisierung”. Der Begriff ist fast nicht kritisiert worden, jedenfalls nicht aus der Perspektive, was das eigentlich sei und ob das, was da alles drunter fallen soll, überhaupt irgendwie zusammengehört. Ich kann mal wieder nicht lügen: eine Motivation für dieses Blog war, mal öffentlich dazu zu ranten.

    Tatsächlich gehören die unzähligen Dinge, die unter „Digitalisierung” subsumiert werden (die „Extension des Konzepts“ sagt der Semantiker in mir) nämlich schlicht nicht zusammen. Noch nicht mal „halt was mit Computern“ umfasst, sagen wir, Automatisierung in der Industrie, Habituierung der Menschen an extern kontrollierte Ausspielkanäle von Medien und Waren („smartphones“, „smart TVs“), Rechnernutzung in Bildung und Ausbildung, Ausweitung des Netzzugangs, Sensoren aller Art in politischer und sozialer Repression, die Wikipedia, Dauererfassung von Herzfrequenz und Körpertemperatur, Open Access in der Wissenschaft und „autonome“ Autos (was wiederum nur ein kleiner Ausschnitt von dem ist, was mit „Digitalisierung“ schon so bemäntelt wurde. Weil ja da eben auch tatsächlich freundliche und nützliche Dinge dabei sind, taugt auch nicht mein zeitweiser Versuch einer Definition: „Digitalisierung ist, wenn wer will, dass andere Computer benutzen müssen“.

    Wenn das alles nichts miteinander zu tun hat, warum würde jemand all diese Dinge in einen Topf werfen wollen, einmal umrühren und dann „Digitalisierung“ draufschreiben? Und warum kommt das Wort eigentlich jetzt, wo eigentlich so gut wie alles, was von Rechnereinsatz ernsthaft profitiert, schon längst computerisiert ist?

    Wie häufig bei Antisprache verbinden sich da verschiedene Interessen, und am Anfang steht meist ein letztlich politisches Interesse an Tarnung. Wer „Digitalsierung“ sagt, definiert Rechnereinsatz als Sachzwang, und das ist saubequem, wenn mensch mit Leuten redet, deren Arbeit dabei verdichtet wird, die enger überwacht werden, ihr Einkommen verlieren oder ganz schlicht keinen Lust haben, noch ein Gerät um sich zu haben, von dem sie nichts verstehen. „Digitalisierung“ klingt wie etwas, das passiert, nicht wie etwas, das wer macht.

    Ein Hinweis darauf, dass „Digitalisierung“ etwas mit der Durchsetzung von EDV-Einsatz gegen unwillige Untergebene zu tun haben könnte, liefert übrigens auch, dass der Begriff im deutschen Sprachraum so groß ist (und warum es etwa auf Englisch kein „digitisation“ in vergleichbarer Rolle gibt): es gibt hier ein vergleichsweise breites Bewusstsein für Datenschutz (gelobt sei der Volkszählungsboykott der 1980er!), und je klarer jeweils ist, was Leute jetzt mit Computern machen sollen, desto mehr Widerstand gibt es.

    Die Popularität von „Digitalisierung“ kann also auch verstanden werden als die Reaktion der verschiedenen Obrigkeiten auf das (vorübergehende?) Scheitern von elektronischen Gesundheitskartem und Personalausweisen, auf regelmäßige Rückschläge bei Kameraüberwachung an der Bäckereitheke und Tippzählerei im Bürocomputer.

    Die Erleichterung der Durchsetzung „unpopulärer Maßnahmen“ (mehr Überwachung, mehr Komplikation, abstürzende Kühlschränke) durch Vernebelung der tatsächlichen Gründe und Interessen ist ein generelles Kriterium von Antisprache. Wo scheinbar kein realer Akteur etwas durchsetzt, sondern ein unerklärbarer Zeitgeist weht, müssen auch diese „Maßnahmen” nicht mehr begründet werden. Ganz besonders drastisch ist das derzeit in den Schulen, denn eigentlich weiß niemand so recht, was dort mit Computern in der Schule anzufangen wäre – jenseits von „wir machen in Physik einen Zeitlupenfilm und berechnen aus den Einzelbildern Momentangeschwindigkeiten“ habe ich da bisher noch nicht viel Glaubhaftes gehört. Na ja, ok, und dann halt noch jetzt gerade als Videotelefone, aber das hat natürlich außerhalb einer Pandemie für keine_n der Beteiligten Sinn.

    „Digitalisierung“ hat, wie viele andere Antisprache auch, einen Booster, nämlich die trojanische Semantik. Dabei wird Kram, den wirklich keine_r will, mit einer Hülle von Populärem umgeben. Beispielsweise ist „Digitalisierung“ in den Hirnen vieler Menschen mit dem (für sie) positiven Gedanken an ihr Mobiltelefon und die vielen schönen Stunden, die sie mit ihm verbringen, assoziiert.

    Wer nun offensiv stromkundenfeindliche Technik wie zeitauflösende Stromzähler („smart meter“) durchsetzen will, kann auf weniger Widerstand bei den künftigen Opfern hoffen, wenn sie diese „smart meter“ in einer Wohlfühl-Bedeutungswolke von TikTok und Tinder einhergeschwebt kommen. Sie sind nicht ein Datenschutz-Disaster, die kommen mit der Digitalisierung, sie sind doch nur ein kleiner Preis, den du für die tollen Möglichkeiten zu bezahlen hast, die dein Smartphone dir bietet.

    Das gehört auch etwas zur oben gestellten Frage, warum das Gerede von „Digitalisierung“ gerade dann so anschwoll, als eigentlich alles, was Rechner sinnvoll tun können, schon von ihnen erledigt wurde: Wenn die Branche weiter wachsen will, dürfen ihre Kund_innen noch weniger als zuvor danach fragen, wozu der autonom nachbestellende Kühlschrank eigentlich gut ist. „Digitalisierung“ wäre dann die schlichte Ansprache: Frage nicht nach dem Warum, denn alle machen jetzt Digitalisierung, und wenn du das nicht machst, bist du ein Bedenkenträger, der bald ganz furchtbar abgehängt sein wird.

    Ganz falsch ist das bestimmt nicht. Aber auch nicht die ganze Wahrheit, wofür ich neulich einen wunderbaren Beleg gefunden habe. Und der ist so toll, der ist Material für einen anderen Post.

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