Die Ideenwelt der repräsentativen Demokratie hat etliche Ungereimtheiten – was an sich nicht notwendig katastrophal[1] ist, siehe RiwaFiw. Speziell zu Wahlkampfzeiten muss ich aber doch manchmal meinen Kopf bis an die Grenze zum Schleudertrauma schütteln.
Derzeit ist in Heidelberg etwa das hier plakatiert:
Klar, mensch könnte das einfach mit „selbst schuld“ wegnicken und weiterfahren. Aber für mich will diese Sorte Plakat einfach nicht zusammengehen mit der öffentlichen Ächtung von Attacken auf die Person von KandidatInnen und PolitikerInnen („ad hominem“), und das nicht nur, weil das Plakat recht unbestreitbar eine ad hominem-Selbstattacke ist.
Schön, das ad hominem-Tabu war schon immer mehr deklariert als gelebt (was gerade die zugeben müssen, die sich gerne öffentlich nach Herbert Wehner und Franz Josef Strauß sehnen), aber als normative Richtschnur des Handelns ist es im Wesentlichen unbestritten. Wenn also Kritik ad hominem nicht statthaft ist: Warum zeigt dann die Mehrheit der Wahlplakate „ernstzunehmender“ Parteien die Portraits der KandidatInnen und nicht etwa, sagen wir, eine politische Position oder wenigstens ein hübsches Bild zur Aufwertung des Straßenraums, Dinge jedenfalls, die anzugreifen nicht Tabu ist?
Der „Digitalturbo“ im Plakat oben zählt übrigens mangels Bedeutung nicht als politische Position. „Digitalisierung“ ist Antisprache, versucht also aktiv, nichts zu sagen. „Turbo“ hingegen ist eine dämliche Autometapher, der positiv nur die radikale Selbstentlarvung zuzurechnen ist. Der Kluge führt unter dem Lemma Turbine aus:
- turbo (-inis) m. „Wirbel; alles, was sich im Kreis dreht“
Ich erfinde das nicht.
Eine politische Position, die tatsächlich etwas bedeutet, wäre etwa public money, public code gewesen, oder vielleicht „hohe Hürden bei Zugriff auf Tk-Bestandsdaten“ (cf. Post vom 2021-01-31). Doch, sowas passt auf ein Plakat, und mit etwas Mühe kriegt mensch auch Muggels erklärt, was das jeweils bedeutet. Allerdings müsste ich bei einem „Master of Public Policy“ (was Nusser ausweislich seiner Online-Biografie ist) zunächst noch überzeugt werden, dass der Kandidat tatsächlich Einsicht hätte in das, was er da sagen würde.
Da seine Parole leer ist: was eigentlich soll mensch kritisieren als das Restplakat, also das Bild? Wenn das Bild nur die Person zeigt, wird die Kritik notwenig ad hominem. Das ist besonders bitter, wenn der Kandidat aussieht, als habe er starke Schwierigkeiten bei der Ablösung von der Mutter (oder jedenfalls bei der Impulskontrolle). Hand aufs Herz: Wer hatte bei Nussers Foto nicht gleich das Bild im Kopf vom pummeligen Einzelgänger in der Schule, der Verachtung und Hänselei der Mitschülis jetzt durch Dampfplaudern im Machoclub FDP kompensiert? [Mitschülis von Nusser: wie irrig ist diese Fantasie?]
Wer solche, eingestandermaßen üblen, Reflexe nicht haben will: Wie gesagt, thematische Bilder statt Köpfe auf Plakaten würden sich anbieten, bei der selbsternannten Wachstumspartei FDP vielleicht viele Autos und viel Beton oder so. Weniger ansprechend als die Portraits der KandidatInnen wird das in der Regel auch nicht sein, solange nicht gerade Rana Plaza oder Union Carbide in Bhopal als Symbole für die Segnungen des Freihandels herhalten müssten.
Besser wärs aber wahrscheinlich, ganz auf Fotos zu verzichten, etwa nach US-Vorbild:
Um euch die Arbeit zu ersparen, anhand der Namen herauszubekommen, wann und wo die Szene spielt: Das Foto entstand 2002 in Massachussetts, und die schon etwas extreme Botschaftsdichte mag damit zusammenängen, dass der Vorgartenbesitzer im liberalen Jamaica Plain Werbung für alle möglichen Kandidaten der Republicans machte. Mensch sieht: Rechte Trolle sind keine Erfindung des facebook-Zeitalters.
So oder so: Wahlwerbung in den USA ist, soweit ich das sehe, immer noch, wenn Leute die Namen ihrer LieblingskandidatInnen in den Vorgarten stellen (ok, und am Straßenrand mit Namenschildern winken). Keine Fotos, keine leeren Slogans.
Ich glaube ja, das ist weit mehr im Geist der repräsentativen Demokratie, bei der Menschen ja genau nicht etwa die wählen sollen, die aussehen wie sie selbst; von Lookismus-Prävention will ich gar nicht anfangen. Der größte Vorteil aber: ästhetische Tiefschläge wie der folgende aus dem Jahr 1998 unterbleiben:
[1] | Nur zur Vorsicht sollte ich wohl sagen, dass ich damit natürlich mitnichten repräsentative Demokratie befürwortet haben will; eine dahingehende Beurteilung aus informationstheoretischer Sicht verspreche ich schon mal für demnächst. |
Zitiert in: Ad hominem 2 Wahlen und Informationstheorie Bingo zur Wahl