Wie ich neulich schon betonte, ist mir selbstverständlich klar, dass im politischen Diskurs Attacken auf fragwürdige charakterliche oder physische Eigenschaften von MachthaberInnen sowie Menschen, die es werden wollen, als unfein gelten.
Andererseits gehen die guten Sitten™ offensichtlich auch ohne mich vor die Hunde. Aktuelles Beispiel: Der „SPD-Außenpolitiker“ (Deutschlandfunk) Nils Schmidt hat gestern im DLF gefordert, die Menschen, die gerade über Belarus in die EU fliehen, sollten doch in der Ukraine quasi zwischengelagert (eingestanden: das ist nicht Schmids Wort, aber doch nach Bedeutung und Stil das, was er sagt) werden, und zwar im Wesentlichen aus Gründen des Prinzips.
Er hat sich so nicht nur an dem furchtbaren Diskurs beteiligt, die Fliehenden seien irgendwie eine Waffe oder eine Bedrohung, sondern macht auch die Ansage, er halte die Ukraine – ganz wie die russische Regierung übrigens – für so eine Art Kolonie der EU, über die diese nach ihrem Belieben verfügen kann. Und so fühle ich mich aufgerufen, an eine Geschichte zu erinnern, bei der Schmid vor seiner Zeit als „Außenpolitiker“ in meiner weiteren Umgebung unangenehm aufgefallen ist.
Bevor er nämlich „Außenpolitiker“ wurde, war er Finanzminister der ersten Grün-Roten Regierung hier in Baden-Württemberg. Als solcher residierte er im Stuttgarter Schloss. Wenn ihr dem Wikipedia-Link folgt, lest ihr dort:
Seit dem Auszug des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport Anfang 2012 ist es heute noch Sitz des Finanzministeriums [...]
Der Auszug des Kultusministeriums hat mit Schmid zu tun – seine
Amtszeit als Finanzminister begann 2011. Zumindest im Umfeld der
Verdrängten ging damals die Geschichte um, das Schloss sei zu CDU-Zeiten
zwar groß genug für zwei Ministerien gewesen, für Schmid, sein Ego und
das Kultusministerium reiche es aber nicht. Da die CDU-Ära
Kultusministerinnen wie Dr. Annette
Schavan und Finanzminister wie Gerhard Mayer-Vorfelder – beide
gewiss keine Kinder der Bescheidenheit – kannte,
fällt es nicht leicht, das zu glauben, aber es ist zweifellos plausibel,
dass Schmid nach seiner Wahlniederlage gegen die Grünen einiges zu
kompensieren hatte und sich das ganze Schloss sozusagen zum Trost gönnte.
Ja, das ist alles etwas ad hominem, aber wer im Namen von „Recht und Ordnung“ austeilt wie Schmid in dem DLF-Interview, sollte auf Rückfragen zur eigenen Charakterfestigkeit zumindest vorbereitet sein.
Bei alldem gestehe ich gerne, dass mich der Furor des Herrn Schmid besonders befremdet, weil er gerade jetzt kommt. Lukaschenko ist sicher neben vielem anderen vorzuwerfen, dass er viele Jahre lang in das schmutzige Grenzregime der EU verstrickt war; im 2019er-Bericht zu Abschiebungen aus der EU heißt es etwa zu Weißrussland:
A total of 18 Member States reported having approached the authorities of Belarus for readmission matters [das ist hier Schurkensprache für „Abschiebung“] related to its nationals in 2019.
All of them assessed the overall cooperation with Belarus in the identification procedure as good or very good (except one which rated it as average).
This is reflected in 13 Member States having a functioning established routine [für Abschiebungen] with Belarus diplomatic missions, with only one informing that it is not effective.
Gut: die da abgeschoben wurden, waren Menschen mit belarusischen Pässen, aber auch die sollte mensch wohl nicht in ein Land abschieben, das im öffentlichen Diskurs recht konsistent als „letzte Diktatur Europas“ gehandelt wurde (if only it were true). Jedenfalls nicht, wenn mensch anschließend irgendwelche menschenrechtlichen Standards an andere anlegen will.
Angesichts dieser Geschichte der Kollusion beim Grenzregime Lukaschenko ausgerechnet dann Verfehlungen vorzuwerfen, wenn er sein Land erstmal nicht mehr als extrabreite Grenzmauer der EU zur Verfügung stellt, das lässt tief blicken im Hinblick auf die Umsetzung eines Ziels, das in der DLF-Presseschau vom 10.12. mit wirklich schockierender Ehrlichkeit aus der Nordwest-Zeitung zitiert wurde:
Viertens ist auf EU-Ebene eine kollektive Einwanderungspolitik, die sich ausschließlich an den Interessen Europas ausrichtet, noch immer überfällig.
Raubt nur mir den Atem, wie komplett der Kommentator hier vergessen hat, was das Wort „Asylrecht“ bedeutet[2]? Dass es darum ging, Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen müssen, eine Möglichkeit dazu zu geben?
Wer so etwas schreibt, ist sich offensichtlich sehr sicher, niemals fliehen zu müssen. Diese Sicherheit sei solchen Leuten gegönnt, und wer mit so viel Patriotismus und Staatsraison gesegnet ist, mag mit der Zuversicht auch richtig liegen. Daraus aber zu schließen, dass auch alle anderen nicht fliehen dürfen, das ist, ich kann es nicht anders sagen, ein klares Merkmal von Schurken.
Doch ich will versöhnlich enden, denn die Presseschau am nächsten Tag schloss mit folgender Einsicht aus dem Freitag (den natürlich wieder niemand liest):
Was bei aller Lukaschenko-Verteufelung in vielen Zeitungen vergessen wird: Das ist nicht der Grund, warum diese Leute aus dem Nahen Osten kommen. Sie fliehen vor Kriegen und kriegerischen Folgeschäden aus dem Irak, Syrien oder Afghanistan. Die zugrunde liegenden Konflikte, die ihre Heimat destabilisierten, fanden ohne Beteiligung von Belarus, sehr wohl aber unter maßgeblichem Mitmischen des Westens, darunter EU-Mitgliedern, statt.
Das hätte ich nicht schöner sagen können.
[1] | Das gerade, während in der Ukraine Corona durch schwindelerregend schnell durch eine offenbar nicht gut immunisierte Bevölkerung läuft: der z-Score (in etwa: Wie viele Standardabweichungen liegt die derzeitige Sterblichkeit über dem langjährigen Mittel?) war dort laut Euromomo vor drei Wochen bei fast 23, in Worten „extraordinarily high“. Aktuellere Zahlen sind wohl wegen Meldeverzug noch sehr unzuverlässig. |
[2] | Na gut: Das ist, was Asylrecht bedeutet hat, bevor der Bundestag am schicksalsschweren 26.5.1993 mit dem Artikel 16a Grundgesetz das Asylrecht in der BRD in eine hohle, winddurchpfeifte Ruine verwandelt hat. Zur Erinnerung: Damit wurde die „Drittstaatenregelung“ eingeführt, die, auf EU-Ebene skaliert (u.a. „Dublin II“), letztlich der rechtliche Hintergrund der gespenstischen Vorgänge an der Grenze zwischen Belarus und Polen ist. Aber das ist nochmal eine ganz andere Geschichte. |