Nur Zählen reicht selten

Ein rot umrandetes Schild vor Bäumen: „Lebensgefahr/Absolutes Betretungsverbot…“

Vergessene Lehren: Kriegsvorbereitung und Rüstung kostet nicht nur Geld, sondern auch (Betretungs-) Freiheit und Leben.

Gegen die Definition von Messgrößen im Bereich des Zusammenlebens von Menschen, meist „Kennzahlen“ oder „Metriken“ oder – kurz vor der Singularität – „Key Performance Indicators“ genannt, wende ich gerne das Flügel-Theorem ein:

Wenn du genug über deine Metrik weißt, um zuverlässig Schlüsse ziehen zu können, kannst du die Schlüsse auch ohne die Metrik ziehen.

Dieser Satz ist natürlich nur eine schnippische Bemerkung, aber erstens ist er wahr und zweitens immer wieder interessant illustrierbar.

Die Illustrationen sind normalerweise leicht oder schwer gruselig. Zu welcher Kategorie mein jüngstes Beispiel gehört, ist wohl Geschmackssache. Zu finden ist es jedenfalls im Deutschlandfunk-Hintergrund vom 5. Mai 2025 mit dem dramatisch fehlfragenden Titel „Aufrüsten in Europa – Wie schnell kann die Industrie liefern?“.

Der Beitrag an sich ist leider nicht mehr weiter bemerkenswert, auch wenn ich nach wie vor nicht fassen kann, wie schnell wir uns wieder an die Erzählung von der eigenen Obrigkeit gewöhnt haben, für deren höhere Machtentfaltung mensch töten und brandschatzen darf und soll. Ein paar Jahre, und zumindest aus dem öffentlich sichtbaren Diskurs ist das Motiv der blutigen Hähne (und ihrer Pläne) verschwunden, der blutigen Hähne, die ihre Untertanen unfassbarerweise durch all die Jahrtausende dazu gebracht haben, einander abzumetzeln.

Mir ist die Erinnerung an die diversen Gedenken zum 100. Jubiläum des ersten Weltkriegs 2014 (ist es Ironie, dass unsere und die russischen Hähne genau in dem Jahr den zweiten Krimkrieg angefangen haben?) noch sehr präsent. Damals waren sich doch noch alle einig, dass im Nachhinein niemand mehr nachvollziehen kann, warum Citoyen wie Untertan an die Richtigkeit und Notwendigkeit ihrer gemeinsamen Orgie des Mordens glaubten. Jedenfalls so lange, bis es zu spät war.

PatriotInnen im Äther

Ganz unerklärbar ist das Vergessen vielleicht nicht, bedenkt mensch, dass etwa in der DLF-Flaggschiffsendung Informationen am Morgen zum Thema praktisch nur noch Personen zu Wort kommen, die rettungslos Patriotismus („unser Imperialismus ist die einzige Medizin, die gegen ihren Imperialismus hilft“) und Militarismus („wenn die andern nicht so wollen wie mir, müssen wir sie zwingen oder töten können“) verfallen sind. Das, übrigens, setzte nicht erst mit der Eskalation im zweiten Krimkrieg von 2022 ein.

Um die Hurra-Dichte im Programm zu quantifizieren, käme, und hier komme ich endlich zum eigentlichen Thema zurück, eine mögliche Metrik ins Spiel: Wie viele MilitaristInnen interviewen die Leute der DLF-Politikredaktion, und wie viele AntimilitaristInnen?[1]

Es könnte sein, dass es beim DLF einen Versuch gibt, für etwas numerische Ausgeglichenheit in einem abgeschwächteren Sinn zu sorgen, denn ausgerechnet in dem oben verlinkten Stück zur nationalen Waffenproduktion kommt eine der profilierteren pazifistischen Organisationen der Republik zu Wort: die großartige Informationsstelle Militarisierung (IMI)[2], von hier schon gelegentlich die Rede war (2021, 2022, 2023 per Nachtrag). „Da seht ihr, es kommen auch Stimmen der Vernunft zu Wort,“ könnte jetzt die zuständige Redaktion verkünden, „wir hatten im Mai 2025 satte dreißig mordkritische Stimmen und gerade mal dreihundertzwanzig mordbefürwortende im Programm und reflektieren damit das Verhältnis der Positionen im Deutschen Bundestag.“

1:10 für den Krieg?

Allein, die Metrik „wie viele Stimmen waren im Programm“ taugt nicht. Der IMI-Vertreter in der Hintergrund-Sendung äußerte sich nämlich wie gesendet nicht zu wirklich relevanten Punkten wie:

  • Wir haben selbst jede Menge Angriffskriege geführt (insbesondere wenn „wir“ den Freien Westen meint; aber auch die Friedensmacht EU ist schon gar nicht schlecht dabei)
  • Was ist das für eine bizarre Verschwendung menschlicher Arbeitskraft? All die Mühe nur, damit SoldatInnen nachher irgendwen effizienter umbringen können? Spinnen wir, dass wir unsere ohnehin schon geschundene Natur noch für so einen Mumpitz vergiften?
  • Was macht eine solche Trivialisierung („wie schnell liefern?“) brutalster Gewalt eigentlich mit der Gesellschaft, in der sie stattfindet?
  • Die Bevölkerung sollte besser mal kein Interesse an der Machtprojektion ihrer Obrigkeit haben, weil das entweder gleich gegen sie geht oder jedenfalls an ihre Butter.
  • Militär ist kein Garant, noch nicht mal ein Förderer der Freiheit, es ist immer Schule und Instrument der Unterdrückung nach innen und außen.

In geeignetem Kontext wären nüchterne Aussagen wie diese durchaus aus dem IMI-Umfeld hörbar; aber ich wäre auch mit irgendwas anderem zufrieden gewesen, das die Militarisierung der Gesellschaft glaubhaft kritisiert.

Rostiger Stacheldraht in einer Vitrine

Militär und Paramilitär als Schule und Instrument der Unterdrückung: Stacheldraht aus einem deutschen Zwangsarbeitslager der 1940er Jahre in Berlin-Rudow, wie er 2024 in einer Ausstellung im Frankfurter Archäologischen Museum zur Archäologie der NS-Verbrechen zu sehen war.

Im Mund verdreht

Wirklich aus den O-Tönen von IMI-Mitarbeiter Andreas Seifert ausgewählt hat der DLF-Autor Caspar Dohmen stattdessen:

[Die Rüstungsproduktion in der BRD] ist heute noch ein Viertel von dem, was man sozusagen mal in den achtziger und neunziger Jahren als normal erachtete.

(Subtext IMI: Es gibt Fortschritt. Subtext DLF: Aufrüstung ist der Normalfall, und unser aktuelles Schwächeln ist brandgefährlich.)

Man hat sozusagen jeden [Rüstungshersteller] für sich wursteln lassen, und unter den Innovationssachen ist es tatsächlich so, das hat ja auch funktioniert. In Deutschland gibt es unglaublich viele Technologieträger, und international kauft man bei deutschen Firmen ein. Selbst die US-Amerikaner lassen ihre Panzer mit Getrieben aus Deutschland bestücken, weil das einfach günstiger ist, weil das besser ist, weil wir da mehr Ahnung haben, als wenn sie das alles bei sich selber machen.

(Subtext IMI: Guckt mal die furchtbare Kontinuität der Panzerbauer an, die schon die Tatwerkzeuge für die Wehrmacht geliefert haben, und beachtet den Filz zwischen Herstellern, Händlern und Vollstreckern des Todes. Subtext DLF: Wir sind ganz gewaltig wer, und wenn wir unsere Industrie nur machen lassen, trifft bald wieder mindestens jeder Schuss einen Russ.)

Immerhin: Seifert hat das letzte Wort mit einer Sentenz, die in normalen Zeiten das Ende aller Überlegungen zur Herstellung von Bomben und Raketen wäre:

Unsere Rüstungsgüter würden Märkte finden, aber damit exportieren wir Waffen, von denen wir dann im Zweifelsfall nur wieder über irgendwelche Kriege in anderen Ländern wieder von ihnen hören werden. Ist das sinnvoll?

Doch auch hier bleibt nach der Sendung, wie sie nun mal war, vom Subtext der IMI (Rüstungsindustrie zieht zwangsläufig Rüstungsexporte, diese zwangsläufig Kriege nach sich: hören wir besser auf damit) wenig übrig. Mir scheint, Dohmen hofft eher auf den Schluss: Lasst uns nicht wieder in die Falle gehen zu glauben, wir hätten genug Waffen; lasst uns einfach immer weiter kaufen und das Problem taucht gar nicht auf.

Die Moral von diesem Post: Als Metrik ist wie-oft-zitiert nicht gut, denn viel wesentlicher als die sprechende Person (oder Organisation) ist, was gesendet wird. Mensch kommt also, ebenfalls ganz typisch für diese Sorte Metrik, ums wirkliche Zuhören nicht rum.

[1]Wenn diese Kategorisierung etwas holzschnittartig scheinen mag: ich denke, als einfacher Test kann die Antwort auf die Frage dienen: „Soll die deutsche Regierung für ihre Macht töten lassen dürfen oder nicht?“. Nach den Erfahrungen in Costa Rica finde ich den Vorschlag naheliegend, etwa ähnlich viele Menschen zu interviewen, die diese Frage mit Nein beantworten wie solche, die die Idee von Blut für Macht ganz selbstverständlich finden.
[2]Peinlich übrigens, dass der DLF die IMI als „Thüringer“ Institution beschreibt. Ich kann mir nicht recht vorstellen, dass Autor Caspar Dohmen nicht mitbekommen hat, dass die IMI seit Jahrzehnten in Tübingen sitzt. Wo der Fehler dann lag, kann ich nicht recht einschätzen: Tippt beim DLF vielleicht wirklich noch wer vom Diktaphon ab?

Letzte Ergänzungen