Gestern war Jürgen Wagner von der großartigen Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Heidelberg und hat über „Krieg gegen die Ukraine – Russlands Krieg, die westliche Rolle und die Sackgasse Aufrüstung“ referiert (Ankündigung). In einer Zeit, in der praktisch keine öffentliche Äußerung ohne Schaum vorm Mund auskommt, war der im Groben ruhige Verlauf der Veranstaltung eine sehr willkommene Abwechslng. Aber gut, es konnten auch die meisten der (praktisch durchweg grauhaarigen) Anwesenden mit gutem Gewissen sagen: Wir waren gegen die Angriffskriege gegen Serbien, Afghanistan, den Irak, Libyen oder Efrîn auf der Straße – klar sind wir auch gegen den Angriff auf die Ukraine auf der Straße. Wer so viel Routine hat bei der Empörung gegen das staatliche Töten, hat vielleicht wirklich bessere Voraussetzungen, allzu überschäumender Erregung zu entgehen.
Ich nehme ich an, dass Jürgens Online-Vortrag vom 28.3.2022 ziemlich genau dem entspricht, was er gestern erzählt hat, und so empfehle ich das jetzt mal ungesehen. Lohnend ist das unter anderem, weil Jürgen recht überzeugend eines der hässlicheren Narrative der letzten paar Wochen zerlegt: Dass es nämlich eine Appeasement-Politik gegeben habe und diese gescheitert sei, weshalb nun die Aufrüstung (und in der Konsequenz das Niederringen und -werfen des Feindes) alternativlos sei.
Es hat seit 1990 keine „Appeasement“-Politik gegeben.
Beide Teile dieses Narrativs sind Quatsch. Es hat nämlich schon mal keine Appeasement-Politik gegeben. Mal ganz davon abgesehen, dass eine Diffamierung von Entspannungs- und Kompromisspolitik als „Appeasement“ (und damit des Feindes als „Hitler“) an sich schon stark nach übler Demagogie schmeckt: „Der Westen“ hat seit der Niederlage der Sowjetunion konsequent die berühmten „roten Linien“ seiner (nicht nur russischen) Feinde überschritten und hat entsprechende Signale von diesen nonchalant ignoriert. Wer nicht Video gucken will, findet auch auf der Ukraine-Seite der IMI viel Material zu diesem Thema.
Diese Frage ist durchaus relevant, denn: Zur Abwechslung mal nicht blind die eigenen nationalen Interessen durchsetzen wäre durchaus ein Modell für eine antiapokalyptische Außenpolitik nach dem jüngsten Krieg in Europa, gerade auch im Hinblick auf ein Einbremsen der zahlreichen vergleichbaren Gemetzel im globalen Süden.
Was im Übrigen vom Appeasement-Narrativ zu halten ist, zeigt die Entwicklung der deutschen Kriegskasse:
Seit der Eskalation um das Assoziationsabkommen der EU mit der Ukraine stieg das Budget der Bundeswehr von 32,5 Mrd. Euro (2014) auf 46,9 Mrd. (2021) steil an – und das sind nur die offiziellen Zahlen, hinter denen sich noch einmal etliche Milliarden versteckte Militärausgaben verbergen (siehe IMI-Standpunkt 2019/058).
An gleicher Stelle macht Jürgen auch einen weiteren Punkt aus dem Vortrag gestern, und zwar einen, der eigentlich allem Aufrüstungsgerede ohnehin sofort den Boden entziehen sollte:
Die NATO-Militärausgaben sind also heute bereits rund 18mal höher als die Russlands. Augenscheinlich haben die militärischen Ausgabensteigerungen bislang in keiner Weise zu mehr Sicherheit geführt, wie derzeit leider offensichtlich wird.
Wer also immer meint, jetzt als Folge der Empörung über Putins Töten die „eigenen“ Fähigkeiten zum Töten ausbauen zu sollen, dürfen oder müssen, sollte besser glaubhafte Geschichten liefern, wie genau der russische Angriff auf die Ukraine nicht stattgefunden hätte, wenn „wir“, sagen wir, 20-mal mehr oder 30-mal mehr oder 100-mal mehr als „die Russen“ fürs Töten ausgegeben hätten. Szenarien, die mehr als 100-mal mehr fürs Militär ausgeben wollen als Russland, gelten nicht, denn das würde wahrscheinlich selbst unsere Volkswirtschaften überlasten, von den verheerenden Wirkungen auf den Rest der Welt ganz zu schweigen.
Allerdings dreht sich die Spirale logisch und moralisch fragwürdiger Erzählungen im patriotischen Taumel weiter und lässt die behaupteten Sachzwänge der Tötungsmittelspirale inzwischen hinter sich.
Die Auszeichnungen für das aktuell krummste „Argument“ muss wohl an Dominic Johnson gehen, der gestern in der taz in einem Kommentar mit dem eigenartig selbstbezüglichen Titel „Putins verquere Logik“ ein Aufrüstungsargument versucht, das, nun, verquer ist:
Vielleicht hofft der russische Präsident, dass im Westen die üblichen Mahner weiter davor warnen, Russland zu „provozieren“ – so als ob Russland nicht schon unprovoziert schlimm genug agiert. Zu befürchten ist aber eher, dass diese Entwicklung gewollt ist. Putin zeichnet gegenüber dem russischen Volk ein Zerrbild des Westens als aggressive Kraft, die die russische Zivilisation im Namen der europäischen Liberalität zerstören will. Mit seiner Gewalt will er jetzt den Westen dazu bringen, diesem Zerrbild zu entsprechen – damit Russland als Führungsnation eines aggressiven „Antiwestens“ auftreten kann. Die Ukraine ist dafür Putins Fußabtreter.
Gerade deswegen aber ist der Kurs, die Nato zu stärken, richtig und alternativlos.
Kurz: „Unsere Aufrüstung ist gut für Putin. Lasst uns mehr aufrüsten!“ Und ich dachte, „wir“ sollten „Putin stoppen“?
Vielleicht missverstehe ich Johnson aber auch. Ich komme ja schon bei der konventionelleren Begeisterung für Waffen und HeldInnen nicht recht mit, etwa wenn heute morgen in der DLF-Presseschau der Vorwurf des Münchner Merkurs wiederholt wurde:
Schwere Waffen [...] will der Kanzler den heldenhaft gegen Putins Vernichtungsarmee kämpfenden Ukrainern weiterhin nicht liefern.
Woher kommt so eine Denke, so eine Schreibe bei Leuten, die doch vor gerade mal acht Jahren mit einer Haltung von „bedauernswerte, verwirrte Schlafwandler” dem Kriegsgejubel und -kreditieren von 1914 gedacht haben?
Wenn wir uns heute empören dürfen, jeden Kompromiss und jede Verhandlung ablehnen, dann durften es die Kaiser, Zaren, Könige und Präsidenten damals auch. Nicht vergessen: Die Zaren, Könige und Präsidenten waren mit Terroristen im Bund, die die geliebte Thronfolgerin für erhebliche Teile der heutigen Ukraine feige und brutal ermordet haben – von den imperialen Politiken überall in der Welt, die uns von unserem verdienten Platz an der Sonne fernhalten, mal ganz zu schweigen.
Die Kaiser wiederum haben furchtbare Massaker bei ihren eigenen imperialen Abenteuern angerichtet und hielten große Teile ihrer Bevölkerung in bitterer Armut, während sie selbst in Saus und Braus lebten. Klar, dass das die Könige, Präsidenten und Zaren nicht hinnehmen konnten.
Bullshit? Jaklar. Aber warum hören dann so viele Menschen bis hinein in die Linkspartei – für die ja der Burgfrieden quasi der Gründungsmythos ist – den heutigen Varianten solcher Erzählungen zu?
Zitiert in: Hart durchgreifen gegen Aggressoren? Computerlinguistik ethisch abgerutscht