Tag Autoritäres

  • Nacktscannen oder Strafen: Von den Grenzen der Freiwilligkeit

    Ein weiterer Grund, Viren zu loben: Ich habe es geschafft, fünf Jahre und einen Monat nicht zu fliegen, was im Wissenschaftsbetrieb außerhalb von Pandemien nicht einfach ist. Doch ist jetzt es vorbei: es hilft nichts, wenn ich meinen Job machen will, komme ich für die nächsten drei Wochen nicht um die USA herum, und so musste ich mich heute erneut all den schon halb vergessenen unangenehmen Ritualen einer Flugreise unterziehen.

    Nicht viel Schamgefühl außer Flugscham

    In etwa das unangenehmste Ritual unter diesen ist wohl die „Sicherheitskontrolle“, wobei in Frankfurt inzwischen immerhin das Rausfummeln von Computern sowie in Abhängigkeit von der Mondphase auch anderen Elektrogeräten entfällt. Kennt wer die offizielle Erzählung, welcher Wundertechnik (vielleicht „KI“?) wir diese Erleichterung verdanken? Unter „den Umständen entsprechend gute Nachrichten“ zu rubrizieren ist auch, dass an den dämlichen Nacktscannern weiterhin zu lesen ist, mensch unterwerfe sich ihrer Analyse „freiwillig“.

    Nicht, dass ich viel Schamgefühl jenseits der Flugscham hätte, aber da die Dinger wie kaum etwas anderes für das Geschick des Sicherheits-Industriellen Komplexes stehen, der öffentlichen Hand mit autoritären Versprechen allen möglichen Tech-Plunder unterzujubeln, habe ich zumindest in der BRD immer abgelehnt, sie auf mich anwenden zu lassen. Der Preis dafür war ein Abtasten etwa der Art, die es zuvor für ein Piepen des Metalldetektors gesetzt hatte.

    Demonstrativ grobes Fingern

    Bis vor fünf Jahren haben die Abtastenden in allen vielleicht fünf Fällen, in denen ich bei dem Zirkus mitspielen musste, einen gewissen Respekt für die Entscheidung demonstriert; manchmal fragten sie sogar mit echtem Interesse nach meinen Motiven.

    Heute hingehen hat der Abtaster die Prozedur demonstrativ grob durchgeführt und spürbar viel gründlicher rumgefingert als unter den öffentlichen Narrativen („Sprengstoffgürtel und -schuhe finden“) plausibel. Durch eine (wirklich) milde Rückfrage in dieser Sache ließ sich der Abtaster hinreißen zu einem ranzenden: „Tja, wer nicht in den Scanner geht, kriegt halt das hier“. Ich denke, es ist keine Paranoia, wenn ich in seiner Rede mehr als nur einen Hauch von Strafabsicht wahrgenommen habe.

    Ein weniger schlecht gelaunter Kollege relativierte das zwar ein wenig, indem er meinte, jetzt gerade – „Israel, Palästina“ – sei viel Sorgfalt geboten. Aber dennoch: Wann genau hört Freiwilligkeit auf und wann wandelt sich Sicherheitstheater in Strafe für unbotmäßige Technikverweigerung?

    Ballern ganz offiziell im Mainstream

    Es wäre gut, diese Grenze abgesteckt zu sehen wann immer irgendein autoritärer Quatsch (sagen wir, Fingerabdrücke im Personalausweis oder personengebundene Bahnfahrkarten) daherkommt und es heißt: „Habt euch doch nicht so, es ist ja freiwillig“. Ah… Na gut, speziell bei den Fingerabdrücken im Perser hat sich die Autorilla zugegenermaßen gar nicht erst mit eskalierendem Rumnerven abgegeben und gleich den Zwang ausgerollt.

    Mir selbst nicht klar geworden bin ich darüber, ob das in irgendeiner Beziehung steht zu einer anderen Post-Corona-Änderung am Flughafen: Ballerspiele sind auch dort ganz offiziell im Mainstream angekommen. Am hochsicheren Flugsteig Z in Frankfurt sind sie inzwischen auf einem Salienzniveau mit Toiletten und Raucherzonen:

    Ein Flugsteig, in dem ein paar Leute rumlaufen.  Davor ein quadratisches Schild mit Aufschrift „Gaming“ und einem Piktogramm aus einem stilisierten Gamepad und einem Männerklo-Icon.
  • Antimonarchistische Aktion: In Zukunft „Baiern“ sagen

    Nach Maßstäben eines entschiedenen Antimonarchisten konnte ich bisher relativ viel anfangen mit König Ludwig I von Bayern – immerhin hat er dem Land eine (wenn auch ziemlich lausige) Verfassung gegeben.

    Vor allem jedoch hat er in meiner bisherigen Erzählung im Jahr 1848 für eine leidenschaftliche Affäre mit einer recht resoluten Tänzerin („Lola Montez“, die „Ohrfeigen verteilte und eine Pistole zog“) seine Krone weggeworfen. Das hat selbstverständlich der Freiheit seiner Untertanen nicht viel geholfen – keine Überraschung: „Es rettet uns kein höhres Wesen, kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun“ –, aber in diesem Film war es eine wirklich große und stilvolle Geste.

    Ernüchterung in der Ausstellung

    Meine Ludwig-Toleranz hat etwas abgenommen, seit ich vorgestern mit meinem Museumspass die Ausstellung über Ludwig I im historischen Museum der Pfalz[1] in Speier angesehen habe. Ein Minuspunkt dabei war die Kiste, nach der Baiern (und auch Speier) mit y zu schreiben sei. In den Worten Ludwigs:

    Faksimile einer in einer etwas krakeligen und unleserlichen Schrift verfassten Note.

    Der Grund fürs y in Baiern: „Ich will ferner, daß wo der Name Bayern vorzukommen hat, er wie es eben von mir geschah geschrieben werde, nämlich mit einem y statt i – 20. Oktober 1825 Ludwig.”

    Nicht, dass ich etwas gegen kreativen Umgang mit Sprache hätte oder gegen radikale Eingriffe in die Orthografie, im Gegenteil: Würde Ludwig das heute schreiben, wäre ich der erste, der ihn wegen seines „daß“ reaktionärer Tendenzen verdächtigen würde.

    Politische Rechtschreibung

    Die Konfusionierung der Orthografie durch willkürliche Abweichungen vom Lautprinzip jedoch ist schon für sich blöd. So richtig blöd wird sie dann, wenn sie aus kreuzdummen Gründen passiert. Und das ist nicht nur beim „Thron“ der Fall, sondern unzweifelhaft auch hier: Ludwig I begeisterte sich damals nämlich für das sinnlose Gemetzel des griechischen „Freiheitskriegs“, den ich am Ende meines Chios-Posts wie folgt eingeordnet habe:

    Aus heutiger Sicht wird wahrscheinlich niemand bestreiten, dass das alles Quatsch war. Für die Griechen bestand ihre „Freiheit“ aus einem bayrischen König, der „Griechenland“ zwar exzessiv „liebte“, 1862 aber von einem britischen Schiff evakuiert werden musste, weil seine Machtbasis komplett erodiert war und schon wieder Aufstand herrschte. Sein letzter Nachfolger schließlich ging 1968 unter, als er selbst einen Militärputsch plante, ihm andere Militärs aber zuvorkamen.

    Die sinnlosen Ypsilons des ersten Ludwig Wittelsbach nun sollten eine Art „stand with Greece“ ausdrücken, ein wenig wie Lord Byrons Märtyrertod in gleicher Sache, nur etwas weniger tödlich und vielleicht einen Hauch weniger albern. Letzteres ist einzuräumen, war doch des Königs Begeisterung für diese Sorte Freiheit aus seiner Sicht sogar verständlich. Dies jedenfalls in der Rückschau, denn Ludwig konnte im Endspiel um die Macht in Griechenland einen seiner Söhne als griechischen König installieren (wenn auch vor allem, weil sich die Großmächte erster Klasse beim Aufteilen des osmanischen Kadavers gegenseitig blockiert haben).

    Um welche Sorte Freiheit es dabei ging, mag auch hervorgehen aus der Tatsache, dass Ludwig wenige Jahre nach seinem y-Stunt die 1832 in Hambach (sein Territorium, und er hat seinen Altersruhesitz auch gleich in der Nachbarschaft errichten lassen) feiernden NationalistInnen mit Feuer und Schwert verfolgen ließ und bei der daraufhin etablierten Zentralbehörde für politische Untersuchungen fleißig mitspielte.

    Klar: in Zeiten des zweiten Krimkriegs können wir kaum mit Steinen werfen, wenn Freiheitsgetöse aus HerrrscherInnenmund zusammengeht mit Waffenhandel, Patriotismus, Heldenkult, unfähigen Statthaltern, und natürlich Aufrüstung sowie Grundrechtsabbau im eigenen Land. Aber deswegen müssen wir noch lange nicht patriotisch-pathetischen, romantisch-verlogenen Unfug in alle Ewigkeit weitermachen.

    Lasst uns deshalb einen kleinen Teil der nächsten Rechtschreibreform vorwegnehmen und „Speier“ und „Baiern“ schreiben. Zwei Fallen weniger in der verrückten deutschen Orthografie!

    Ludwig liebt Lyrik

    Was habe ich noch gelernt über den ersten Ludwig Wittelsbach? Nun, vor allem, dass sich seine Lyrik zumindest von der der Vogonen positiv abhebt. Die Ausstellung illustriert das nicht ohne etwas feine Ironie so:

    Spot-erleuchtete Buchstaben an der Wand: „Die Nonne in Himmelsforten“ von Ludwig I: „Ach! Die Zelle/Wird zu Hölle/Wenn das Herz erglüht/Wer in Mauern muss vertrauern/Wenn die Liebe blüht“

    Heinrich Heine, treffsicher wie immer, konterte das mit:

    Herr Ludwig ist ein großer Poet,
    Und singt er, so stürzt Apollo
    Vor ihm auf die Kniee und bittet und fleht:
    Halt ein, ich werde sonst toll, o!

    Außerdem verliert meine Version des Mit-Lola-Montez-Durchbrennens etwas an Überzeugungskraft, wenn die Ausstellung seinen Rücktritt eher darstellt als beleidigten Rückzug, weil ihm der revolutionäre Pöbel von 1848 schlicht immer mehr konstitutionelle Fesseln anlegen wollte. Ich muss den KuratorInnen zugestehen, dass ihre Version glaubhafter ist als meine, die irgendwo zwischen Roman Holiday und Robin Hood zu liegen kommt. Aber natürlich ist sie wirklich nicht dazu angetan, mein antiautoritäres Herz zu bewegen.

    Nicht ganz erwartet hatte ich die Dichte von Bezügen auf Heidelberg im Leben von Ludwig I; so verbrachte er Teile seiner Jugend im heutigen Heidelberger Stadtteil Rohrbach. Wie viele biographische Details führt die Ausstellung das durch recht nett zusammenfingierte königliche Tagebücher zum Selbstblättern ein. Der Band zu Kindheit und Jugend Ludwigs legt ihm neben Träumen von Rohrbach auch revanchistische Gefühle im Hinblick auf die rechtsrheinische Pfalz – ein ehemals bairisches Territorium, mit dem Napoleon in Ludwigs Jugend den Markgraf von Baden entlohnt hatte – in den Mund („an Baden verloren“). Irgendwann muss ich mal mehr recherchieren über alte Feindschaften zwischen (den Herrschern von) Altbayern und Baden.

    Auch kaufte Ludwig W. 1827 die Kunstsammlung der Gebrüder Boisserée, die diese in der späteren Heidelberger Gestapo-Zentrale (und dem heutigen germanistischen Seminar) zusammengetragen hatten, und schuf so den Grundstock der alten Pinakothek in München.

    In einem Schritt ins 20. Jahrhundert

    Weiter hat er das „Ludwig“ zum Namen „Ludwigshafen“ von Heidelbergs schmutziger – größtes Chemiewerk Europas – Schwester im Rhein-Neckar-Raum beigesteuert; vorher hieß der Ort „Rheinschanze“ und war eine Art Mannheimer Brückenkopf am Westufer des Rheins. Allerdings gehörten zu der Zeit beide Ufer auch noch dem gleichen Herrn, eben dem Pfalzgraf bei Rhein, als dessen Erbe Ludwig sich verstand.

    Und, etwas entfernter von sowohl von Ludwig I als auch von Heidelberg: Das historische Museum der Pfalz in Speier selbst verdankt seine Existenz einem Sohn Ludwigs, nämlich dem „Prinzregenten“ Luitpold, der regierte, weil nach dem spektakulären Abgang von Ludwigs Enkel Ludwig II (der mit Neuschwanstein und dem fatalen Bad im Chiemsee) in der Thronfolge ein weiterer Otto Wittelsbach (nicht der, den die Royal Navy aus Griechenland evakuiert hat) dran gewesen wäre. Otto W. allerdings war aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1871 geistig ziemlich derangiert zurückgekommen (was ihn ehrt) und konnte daher zwar König sein, aber dennoch nicht regieren.

    Tatsächlich wird der Initiative des Ludwig-Sohns seit jeher auf dem Haus gedacht; es ist mir nur vorgestern zum ersten Mal richtig aufgefallen:

    Teil-Außenansicht des historischen Museums; auf einer Sandsteinmauer hängt eine Werbefahne für die Ludwig-Ausstellung, links daneben in Gold in die Wand eingelegt: „Regnante Luitpoldo Princ Reg Bav Exstructum AºMDCDVIII”

    Die Jahreszahl 1908 auf der Bauinschrift ist übrigens kein Scherz. Ludwigs Gattin Therese von Sachsen-Hildburghausen (die von der Oktoberfestwiese) hat Luitpold zwar schon 1821 zur Welt gebracht, dieser konnte aber tatsächlich 1908 noch Richtfest in Speier feiern. Er starb erst 1912 – eigentlich erstaunlich für ein Kind des Königs, der gerade so nicht mit Lola Montez durchgebrannt ist.

  • BKA: Telefonsupport ade

    In seinem Volkszählungsurteil erklärte das Bundesverfassungsgericht schon 1983:

    Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffende Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden.

    Diese Erwägung ist, was hinter den Auskunftsrechten steht, die seit den Urzeiten des Datenschutzes bestehen (auch wenn viele Unternehmen sie erst mit den verschärften Sanktionen der DSGVO bemerkt haben). Sie sorgte auch dafür, dass mensch von Anfang bei den diversen Polizeien kostenlos Auskunft verlangen konnte über die dort zur eigenen Person gespeicherten Daten. Seit 2003 hat zusätzlich der Auskunftsgenerator bei datenschmutz.de das etwas weniger nervig gemacht.

    Weil ich diesen Dienst betreibe, fragen mich gelegentlich NutzerInnen, was wohl irgendwelche Auskunfte bedeuten, die sie von Behörden bekommen. So auch neulich, als sich jemand wunderte, wie er in die Datei PIAV-WSK komme – „WSK“ steht hier für Waffen- und Sprengstoffkriminalität. Schon der Namen lässt ahnen: das ist keine Datei, in der mensch gerne einen Eintrag hat.

    Die Speicherung war zudem selbst nach Maßstäben deutscher Polizeidatenbanken besonders wenig nachvollziehbar. Aus dem lakonischen „Landfriedensbruch”, das in der Auskunft stand, konnte jedenfalls ich keine WSK-Relevanz erkennen. Und so dachte ich mir, ich frage mal wieder beim BKA nach. Früher stand auf den Auskünften die Durchwahl zum behördlichen Datenschutzbeauftragten des BKA, der die Auskünfte abwickelt[1], und das hat früher manchmal wirklich geholfen.

    Nicht mehr. Auf den Briefen steht inzwischen nur noch die Nummer der BKA-Telefonzentrale. Böses ahnend rief ich neulich dort an und hörte kaum überrascht irgendeine Warteschleife irgendwas aus dem Telefon quaken. Ich fingerte schon nach dem Auflegeknopf, als sich überraschend schnell doch ein Mensch meldete, dazu noch mit ganz unbeamtigen Sound. Jedoch musste ich „Rückfrage zu Auskunftsersuchen“ nicht fertigsprechen, bevor er auch schon sagte (nicht ganz wörtlich): „Das machen die Datenschützer. Wir haben Anweisung, da nicht hinzuverbinden, und die heben auch nicht ab. Schreiben Sie eine Mail.“

    Diese Einstellung des Telefonsupports mag nur ein kleiner Nadelstich gegen das Menschenrecht auf informationelle Selbstbestimmung (also das „mit hinreichender Sicherheit überschauen” des BVerfG) sein. Aber wer hinreichend oft „sagen wir nicht wegen Gefährdung des Bestands des Bundes“ in halb autogenerierten amtlichen Antwort- oder eher Abwimmelmails gelesen hat, wird ahnen, dass der Wegfall von Gesprächsmöglichkeiten ein durchaus erheblicher Verlust ist. Ich jedenfalls werde erstaunt sein über jedes Faktoid, das das BKA per Mail herauslässt.

    PIAV-WSK und der Landfriedensbruch

    Die Speicherung, die ich gerne geklärt gehabt hätte, war übrigens in gewisser Weise ähnlich beunruhigend wie die Einstellung des Telefonsupports.

    Ihre Vorgeschichte war ein Naziaufmarsch irgendwo und eine Gegenkundgebung von ein paar Antifas, die die Polizei zusammengeknüppelt hat. Wie üblich in solchen Fällen, hat die Polizei allen, die sie testierbar verletzt haben könnte, präventiv ein Landfriedensbruch-Verfahren reingewürgt, weil das gegen mögliche Anzeigen der Opfer zusätzlich immunisiert (nicht, dass es das bräuchte; die polizeiliche Straffreiheit ist seit dem verlinkten amnesty-Bericht von 2004 eher schlimmer geworden). Wie zumindest nicht unüblich – so weit funktioniert der Rechtsstaat des Öfteren noch – hat gleich das erste Gericht das Verfahren wegen Bullshittigkeit eingestellt.

    Das sollte für die Polizei Grund sein, den Vorwurf aus ihren Datenbanken zu löschen („regelmäßig“ heißt das in den zahlreichen Urteilen zur Thematik). Ist es aber schon seit jeher (der verlinkte Artikel ist von 2009) nicht, und es finden sich leider zu viele Gerichte, die die speicherwütigen Behörden davonkommen lassen mit: „Klar müsst ihr im Prinzip löschen, aber was ihr hier macht, geht gerade noch so” (mehr zur Logik der Negativprognose). Die Polizei hört das als: „Speichert eingestellte Verfahren nach Lust und Laune“.

    Insofern steht der arme Mensch nun dank LKA Baden-Württemberg als politisch motivierter Krimineller in diversen Datenbanken. Weil fast alle wissen, dass die diversen Staatsschutze Limo-PHWs mit Freude, Fleiß und freier Hand verteilen (übersetzt: Das ist alles Quatsch), ist das zwar ärgerlich, aber vom Schaden her meist noch überschaubar.

    Weniger überschaubar dürfte der mögliche Schaden bei Waffen- und Sprengstoff-Dateien sein, zumal sich das „PIAV” vor dem WSK auf die breit zugreifbare und schwer durchschaubare, wenn auch nicht mehr ganz neue BKA-Superdatenbank bezieht (vgl. Piff, Paff, PIAV von 2017). Während die Einzelregelungen zu PIAV BKA-Geschäftsgeheimnis sind, macht die Auskunft zudem keine verwertbare Angabe zur Frage, wer genau alles die fraglichen Daten sieht und damit vom Waffen- und Sprengstoffverdacht „wissen“ wird.

    Da das BKA die Telefonberatung eingestellt hat, will ich mich mal an einer spekulativen Erklärung der mysteriösen Speicherung versuchen: Im Oktober 2016 hat im beschaulichen Georgsgmünd ein besonders verstrahlter Faschist („Reichsbürger”) einen Polizisten erschossen, der bei der Beschlagnahme seiner – also des Faschisten – Waffen helfen wollte.

    Da es jetzt einer der ihren war – und nicht einer der hunderten anderer Menschen, die FaschistInnen in der BRD in den letzten 30 Jahren umgebracht haben –, ging daraufhin ein Ruck durch die Polizei. Schon nach einigen weiteren, wenn auch weniger tödlichen, Vorfällen dieser Art begann sie, diesem Milleu den Waffenbesitz etwas zu erschweren und ließ sich dafür auch entsprechende Gesetze geben. Disclaimer: Nein, ich glaube nicht, dass das was bringt – aber das ist ein anderes Thema.

    In Zeiten jedoch, in denen die Antisprache vom Extremismus Staatsraison ist, treffen staatliche Maßnahmen „gegen rechts“ natürlich gleich doppelt Linke. Und deshalb vermute ich, dass Menschen mit einem PHW „linksmotivierter Gewalttäter“ (und dafür reichte dem baden-württembergischen LKA schon das eingestellte Polizeischutzverfahren mit Landfriedensbruchgeschmack) ebenfalls keine Waffenscheine mehr bekommen sollen. Sollte es eine nichtleere Schnittmenge von Schützenverein und Antifa geben, dürften bestehende Waffenscheine wohl eingezogen werden.

    Dieser Teil findet ziemlich sicher statt. Spekulativ ist, dass der Mechanismus dazu die PIAV-WSK ist, denn ich habe wie gesagt keine Ahnung von Waffenscheinen und der Art, wie sie vergeben werden. Es ist aber plausibel, dass die Behörden, die sie ausgeben, irgendeine Regelanfrage an die Polizei stellen, und die dann halt Bedenken aus der PIAV-PSK generiert.

    Solange das nur Menschen aus der Schnittmenge von Schützenverein und Antifa trifft, dürfte die Wirkung minimal sein. Aber auch ein Blick in eine trübe Glaskugel reicht mir für die Vorhersage, dass es ein paar Leute ziemlich hart treffen wird, wenn sie plötzlich in den Ruch der Sprengstoffkriminalität kommen. Und wenn es nur ist, dass sie deshalb eine Lehrstelle in einer doofen Behörde verlieren.

    Nachtrag (2023-07-08)

    Wenige Stunden, nachdem ich das geschrieben habe, war ich beim Tag der offenen Tür des Rhein-Neckar-Kreises. Dabei hatte ich Gelegenheit, die Leute, die hier die Waffenscheine ausstellen, nach der PIAV-WSK zu fragen. Die Antwort war nur beschränkt kohärent, aber es klang so, als könnten die Leute dort zwar direkt auf das Bundeszentralregister zugreifen, hätten aber von der PIAV-WSK noch nichts gehört. Das ist zumindest konsistent mit meiner Spekulation.

    [1]

    Tatsächlich machen das fast alle Polizeien so: die behördlichen Datenschutzbeauftragten bearbeiten die Anträge. Mich hat das immer etwas irritiert, denn eigentlich sollten diese den Auskunftsprozess beaufsichtigen und begleiten, und das nicht bei sich selbst tun müssen; ich verweise auf Artikel 39 Abs. 1 DSGVO:

    Dem Datenschutzbeauftragten obliegen zumindest folgende Aufgaben:

    1. Unterrichtung und Beratung des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters und der Beschäftigten, die Verarbeitungen durchführen, hinsichtlich ihrer Pflichten nach dieser Verordnung sowie nach sonstigen Datenschutz­ vorschriften der Union bzw. der Mitgliedstaaten;
    2. Überwachung der Einhaltung dieser Verordnung, anderer Datenschutzvorschriften der Union bzw. der Mitgliedstaaten sowie der Strategien des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters für den Schutz personenbezogener Daten einschließlich der Zuweisung von Zuständigkeiten, der Sensibilisierung und Schulung der an den Verarbeitungsvorgängen beteiligten Mitarbeiter und der diesbezüglichen Überprüfungen;
    3. Beratung — auf Anfrage — im Zusammenhang mit der Datenschutz-Folgenabschätzung und Überwachung ihrer Durchführung gemäß Artikel 35;
    4. Zusammenarbeit mit der Aufsichtsbehörde;
    5. Tätigkeit als Anlaufstelle für die Aufsichtsbehörde in mit der Verarbeitung zusammenhängenden Fragen, einschließlich der vorherigen Konsultation gemäß Artikel 36, und gegebenenfalls Beratung zu allen sonstigen Fragen.

    Bei den Behördenleitungen kommt das aber schon traditionell an als „Na ja, der ganze Hippiequatsch halt“.

  • Irgendwo in Afrika

    Heute morgen durfte im Deutschlandfunk der schwäbische CDU-Bundestagsabgeordnete Thorsten Frei eine Viertelstunde lang weitgehend unwidersprochen „Ausländer raus“ durchdeklinieren, was vermutlich wieder niemand skadalisieren wird. Normalität im Afrikamanagement halt.

    Vielleicht zum Trost ist dem Interviewenden Philipp May ein Lapsus unterlaufen. Ich hoffe ja, er ist dem Stress zuzuschreiben, dem Interviewten nicht ins Gesicht zu sagen, dass er da in einem Fort ziemlichen Faschokram erzählt rechte Narrative bedient:

    May: …werden jetzt zum Beispiel äh ihre Menschen äh ihre Geflüchteten ähm nach nach ähm sagen Sie schnell – Frei: Ruanda – May: Ruanda, danke bitte, äh, danke

    Wenn das ganze Interview nicht so ein fieser Mist wäre, bei dem Menschen mit Bürokratensprache wie „Nichteinreisefiktion“ in Volk und Nicht-Volk sortiert werden, wäre das eigentlich eine schöne Variation des Themas Live.

  • Klarsprache: Frontex braucht einen Neuanfang

    Screenshot mit dem zitierten Text unten und dem Logo des Bundesinnenministerium sowie dessen Fediverse-Handle, @bmi@social.bund.de

    Ich fand 140-Zeichen-Regeln vom Typ Twitter immer etwas fragwürdig – zumal, wenn selbst ein Text-Tweet auch auf der API mit seinen Metadaten dann doch viele Kilobyte Daten überträgt. Aber: manchmal sorgt die Verkürzung der üblichen Worthülsen in politischen Erklärungen überraschend für Klarsprache, oder jedenfalls etwas, das Dinge klarer benennt als möglicherweise beabsichtigt. So trötete das deutsche Innenministerium gestern als O-Ton der Ministerin:

    Deutschland hat sich sehr für einen Neuanfang bei Frontex eingesetzt. Europäisches Recht und Menschenrechte müssen an Europas Außengrenzen eingehalten werden.

    Das ist ohne Zwang zu lesen als: Frontex hat bisher an den Außengrenzen europäisches Recht gebrochen und die Menschenrechte missachtet, und das so systematisch, dass der Laden umgekrempelt werden muss, damit das aufhört. Diese Feststellung ist gewiss keine Neuigkeit für Menschen, die den Umgang der EU mit Geflüchteten oder Noch-Nicht-Geflüchteten auch nur aus dem Augenwinkel beobachten. Regierungsamtlich so klar gesagt schrappt das aber schon ziemlich hart am Affront entlang.

    In der eigentlichen Pressemitteilung ist hingegen mehr Platz. So verschwimmt dort die klare Ansage aus dem Tröt leider etwas in „zentralen Elementen“ und „klaren Haltungen“:

    Deutschland hat sich sehr für einen Neuanfang bei Frontex eingesetzt. Frontex ist für den Schutz der europäischen Außengrenzen ein zentrales Element. Dabei ist unsere Haltung klar: Europäisches Recht und die Menschenrechte müssen an Europas Außengrenzen eingehalten werden.

    Liebe_r ÖffentlichkeitsarbeiterIn des BMI: Wenn der Effekt der klärenden Kürzung Absicht war: Chapeau (und sowieso: Danke, dass ihr helft, den Twitterzwang, den viele Menschen fühlen, abzubauen). Wenn nicht: Ich hoffe, das gibt jetzt keinen Ärger…

  • Rekordverdächtig: 98.5% der Fingerabdrücke beim BKA waren rechtswidrig gespeichert

    Ich wollte schon lange eine Top Ten der radikalsten Übergriffe durch Polizeidatenbanken (ist das dann eigentlich ein „Cyberangriff“?) führen, vielleicht mit der Metrik: Wie viele der gespeicherten Datensätze haben eine rechtliche Überprüfung nicht überlebt (vulgo: waren offensichtlich rechtswidrig gespeichert)?

    Mit drin wäre sicher die „Arbeitsdatei politisch motivierte Kriminalität“ des LKA Baden-Württemberg, die 2005 im Ländle 40'000 politisch motivierte Kriminelle (bzw. ihre FreundInnen) sah. Wer das Bundesland kennt, versteht den Witz.

    Nach ein paar Begehungen durch zwei aufeinanderfolgende Landesbeauftragte für Datenschutz (von Informationsfreiheit war hier damals noch weniger Rede als jetzt) war die AD PMK im Oktober 2011 auf rund 10'000 Datenshätze geschrumpft. Unter Annahme konstanter politischer Kriminalität übersetzt sich das in zu 75% auch in der Einschätzung der Polizei selbst illegal gespeicherte Daten: Das ist schon mal eine Ansage[1].

    Ausweislich des aktuellen 31. Tätigkeitsberichts des BfDI (also des Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit) hat das BKA in einem noch viel heikleren Bereich den Stuttgarter Staatsschutz völlig deklassiert: bei ihm stellten sich maximal 1.5% der fürs Amt gespeicherten Fingerabdrücke als nicht völlig offensichtlich rechtswidrig gespeichert heraus.

    Wenn es keine schlechten Menschen wären…

    Kurz der Hintergrund: Das BKA betreibt „Verbunddatenbanken“, in die alle Polizeien der BRD Daten für alle Polizeien der BRD (und noch ein paar andere Behörden) speichern. Auch wenn die Daten physisch beim BKA liegen, bleiben die einspeichernden Behörden verantwortlich für die Speicherung, haben also insbesondere zu entscheiden, wann die Daten wieder gelöscht werden (müssen).

    Wie alles beim BKA sollen eigentlich auch die Verbunddatenbanken nur für Kriminalität von „länderübergreifender, internationaler oder erheblicher Bedeutung“ genutzt werden. Tatsächlich reicht auch schon mangelnde Kooperation, wenn mensch polizeiliches Pfefferspray ins Gesicht bekommt.

    …wären sie auch nicht in der Datei.

    Wenn nun wer so richtig gar nicht kooperiert hat, unterzieht ihn/sie die Polizei einer erkennungsdienstlichen (oder: ED) Behandlung, wobei die bekannten Verbrecherkartei-Fotos und Fingerabdrücke genommen werden; speziell letztere sind wirklich ernsthaft, denn diese wird die Polizei dauernd gegen Spuren von allen möglichen „Tatorten“ (insbesondere: Gaffer bei Bannerdrops, Flaschen aus Baumhäusern, Werbevitrinen mit Adbusting usf ad nauseam) abgleichen.

    Da ED-Behandlungen per definitionem aedilorum nur stattfinden, wenn „es erheblich“ ist, landen diese Daten auf jeden Fall als „E-Gruppe“ im INPOL-Z-System des BKA. Sie hängen aber am Vorwurf in dem spezifischen Verfahren, in dem sie genommen wurden[2], also im Beispiel von oben etwa Bullenschu…, ähh, „Tätlicher Angriff“ und an dessen Speicherung im KAN des BKA.

    Wenn nun das Land diesen Eintrag löscht – und ja, das findet statt –, müsste eigentlich auch die daran hängende E-Gruppe gelöscht werden. Ihre Speicherung hatte ja einen Zweck, nämlich die Aufklärung und/oder Verhinderung künftigen Schubsens. Wenn sich dieser Zweck erledigt hat – deshalb wird ja rechtslogisch der Haupt-Eintrag gelöscht–, müssen natürlich auch die Fingerabdrücke weg.

    Über 11 Jahre hinweg 4.5 Millionen Fingerabdrücke löschen…

    Das BKA mit seiner Tradition großer Fingerabdruck-Karteien konnte sich dazu aber in der Regel nicht durchringen. Wenn wir schon die schönen Fingerabdrücke haben! Wer weiß, wofür sie nochmal gut sein werden! Und wenn das keine schlechten Menschen wären, wären sie ja erst gar nicht ED-behandelt worden!

    Und so hat das BKA über einige Jahrzehnte hinweg viele dieser verwaisten Einträge in ihrer Datei Erkennungsdienst – heute eben die E-Gruppen – adoptiert, hat also gesagt: „jaja, die Landespolizei braucht diese Daten vielleicht nicht mehr zur Aufklärung und Verhinderung von Straftaten, aber wir, wir brauchen die noch.“

    …macht jede Minute einen illegalen Datensatz weniger.

    So ging das, bis sich im Jahr 2011 der BfDI das Ganze ansah und das BKA darüber aufklärte, dass das so nicht geht. „Das werden schon schlechte Menschen sein“ ist schon rein menschenrechtlich kein „Grund zur Annahme“ (so §484 StPO), dass die Daten mal für Verfolgung oder Verhütung taugen könnten. Es reicht sogar datenschutzrechtlich[3] nicht, jedenfalls nicht für einen so tiefen Eingriff in die Grundrechte der Opfer der amtlichen Speicherfreude. Technisch braucht es zu dessen Rechtfertigung eine Negativprognose, also eine Ansage, warum genau und wie die gespeicherte Person demnächst straffällig werden wird (oder würde, wäre da nicht die Speicherung).

    Die konnte das BKA nicht beibringen. Und so hat das Amt in der Zeit seit 2011 atemberaubende 4.5 Millionen der so adoptierten Fingerabdrucksätze gelöscht. Das Fazit des 31. Tätigkeitsberichts des BfDI (S. 92) ist:

    Die im BKA noch verbleibenden 70.000 E-Gruppen werden derzeit geprüft. Ich habe das BKA gebeten, den Altbestand bis zum 31. Dezember [2022] zu bereinigen.

    Nehmen wir mit maximalen Wohlwollen gegenüber dem BKA mal an, dass sie für all die 70'000 verbleibenden E-Gruppen noch irgendwelche Negativprognosen zusammengezimmert bekommen (haben), so waren doch satte

    1 − (70000)/(4500000 + 70000) = 98.4%

    der Fingerabdrücke rechtswidrig – sagen wir, wie es ist: illegal – in BKA-Computern.

    Das ist, auch nach Maßstäben der deutschen Polizei und bei Einrechnung mildernder Umstände (z.B. verstorbene Verdächtige, vielleicht auch ohne BfDI-Intervention verjährte Datensätze), schon sehr beachtlich. Übrigens nicht nur als eher für Unterhaltungszwecke taugende Metrik, sondern auch in Wirklichkeit: Praktisch sicher sind aus diesen Daten z.B. obszöne (also: als präjustizielle Bestrafung eingesetzte) Hausdurchsuchungen generiert worden.

    Es wäre eigentlich schon schön, wenn das hoffentlich schlechte Gewissen einiger Beamter in Wiesbaden (dort hat das BKA seinen Hauptsitz) diese wenigstens ein paar Mal um sechs Uhr morgens aufschrecken ließe – denn das ist so die klassische Zeit für diese Sorte Hausdurchsuchung.

    [1]Ich will damit natürlich nichts über die restlichen 25% sagen; dass ihre Daten in windigen Staatsschutz-Datenbanken verarbeitet werden, hat jetzt gewiss auch nicht viel mit Rechtsstaat und Menschenrechten zu tun. Aber immerhin war das nicht mehr so offensichtlich rechtswidrig, dass der LfD viel tun konnte oder wollte.
    [2]Okok, das stimmt so nicht, denn in diesem freien Land gibt es durchaus auch zu „Präventionszwecken“ genommene ED-Daten. Aber auch die müssen an anderen Datensätzen dranhängen, die begründen, was da eigentlich präventiert werden soll. Also: das sollten sie.
    [3]Das ist bewusst ein wenig dem „menschenrechtlich“ gegenübergestellt, denn ich werde immer etwas skeptisch wenn ich „datenschutzrechtlich“ lese. Das tut ein wenig so, als sei das halt eine Frage für ParagraphenreiterInnen. Aber das ist es in der Regel nicht. Datenschutz ist vor allem ein Menschenrecht, und wer ihn zu einer quasi bürokratischen Frage zu degradieren scheint, kriegt zumindest meine hochgezogenen Augenbrauen.
  • Die 5-Prozent-Hürde illustriert

    Geteiltes Bild: Links ein gammeliger, zwischen zwei Autobahn-Fahrspuren eingeklemmter Weg mit Fahrradfreigabe, rechts ein großzügiger, zweispuriger Fahrradweg, der in gebührendem Abstand von lärmenden Autos geführt wird.

    Hilft die 5%-Hürde beim guten Regieren? Fahrradwege entlang von Autobahnen als Test: Links die BRD mit 5%-Hürde, rechts die Niederlande ohne. Sucht euch aus, was ihr lieber hättet.

    Auch wenn ich beispielsweise die 5%-Hürde schon rein informationtheoretisch wirklich bitter finde, glaube ich eigentlich, dass das Wahlrecht etwa im Vergleich mit dem aktuell viel stärker bedrohten Versammlungsrecht für eine partizipative Gesellschaft relativ nebensächlich ist.

    Doch da bei Wahlrechtsdiskussionen hierzulande regelmäßig eher gefährlicher Unsinn vorgebracht wird wie etwa in Ramaz' Einwurf auf der taz-LeserInnenbriefseite vom 22.3.2023,

    Aus der Weimarer Zeit hat die BRD gelernt, das eine 5-Prozent-Hürde gesund für ein ordentliches Arbeiten ist,

    kann ich schon wieder nicht an mich halten.

    Nein, die Weimarer Republik scheiterte genausowenig an einem „zersplitterten“ Parlament wie an der Inflation. Ich darf mich aus dem verlinkten Post selbst zitieren, weil der Punkt so zentral ist in Zeiten, in denen reaktionäre und autoritäre Versatzstücke weit über das AfD-Milleu hinaus hegemonial sind:

    Die NS-Herrschaft war kein Unfall, keine Folge von „wachsender Zerrissenheit der Gesellschaft“ oder gar der bolschewistischen Sowjetregierung. Nein, sie war offensichtlich Folge der Tatsache, dass die Eliten der Weimarer Republik in Justiz, Polizei, Militär, Wirtschaft und zu guten Stücken auch Politik (nicht jedoch in der Kultur) in ihrer überwältigenden Mehrheit völkisch, nationalistisch, autoritär und jedenfalls rabiat antikommunistisch dachten. Sie teilten das NS-Programm – eingestandenermaßen fast durchweg mit weniger eliminatorischem Antisemitismus – von Anfang an. Das war und ist eine unbequeme Wahrheit für die Befreiten von 1945 und danach, die sich ja sehr häufig in der Tradition dieser Eliten sahen.

    Wer das illustriert sehen möchte, kann ein wenig über Alfred Hugenberg – nebenbei: Alumnus der Uni Heidelberg – nachlesen oder die Entscheidung des ersten Reichspräsidenten, Friedrich Eberts – nebenbei: Sohn der Stadt Heidelberg – erwägen, schon ganz am Anfang der Repulik lieber die protofaschistischen Freikorps die Spartakusaufständischen niedermetzeln zu lassen als mit letzteren zu versuchen, die Schaltstellen der Macht in der Weimarer Republik den Kaiserreich-und-danach-Fans zu entwinden[1].

    Oh, und alles rund um Emil Julius Gumbel herum – nebenbei: rausgeworfen von der Uni Heidelberg – ist ebenfalls sehr aufschlussreich im Hinblick auf die tatsächliche Genese der Herrschaft des NS-Faschismus.

    Nein: die 5%-Hürde ist keine „Lehre aus Weimar“. Sie ist schlicht Ausdruck einer autoritären Sehnsucht nach einer starken Regierung. Die kann mensch schon haben, ohne gleich Faschist zu sein. Nicht statthaft ist aber, eine Abneigung gegen die antipartizipative Regelung als „irgendwie Richtung Nazis“ zu diffamieren. Ausweislich des Aufmacherfotos gilt, wenn schon: Ohne 5%-Hürde macht Radfahren mehr Spaß. Also… vielleicht. Jaja, das ist schon ein kleines Sample, aber es ist immerhin schon größer als das, das die Geschichte von „mit 5%-Hürde wäre nichts aus der NSDAP geworden“ stützen könnte.

    Ich jedenfalls bleibe bei meiner Anti-5%-Parole von hier: Weniger und besser regieren ohne die 5%-Hürde.

    [1]Eine grundsätzliche Reduzierung von Machtausübung wäre natürlich noch besser gewesen, aber das ist von SozialdemokratInnen eingestandenermaßen nicht zu verlangen.
  • Alle Ausländer total verdächtig: Das Entry-Exit-System der EU

    Kurve einer ca. 5m hohen Betonmauer, die von Bereitschaftspolizei bewacht wird.

    Das Foto der polizeigeschützten Betonfestung oben entstand 2009 bei einer Demonstration gegen die „GfA“ – das ist ein Euphemismus für Abschiebeknast – Ingelheim. Am Rande dieser Demonstration gegen ein besonders bedrückendes Symbol des deutsch-europäischen Migrationsregimes hörte ich zum ersten Mal von einem, wir mir damals erschien, aus Menschenrechtsgründen chancenlosen Irrsinnsprojekt, nämlich einer Datenbank, in der die EU alle Übertritte von Schengengrenzen aufzeichnen wollte, dem Entry-Exit-System EES.

    Ein gutes Jahrzehnt später hat es die Autorilla[1] entgegen meiner damaligen Einschätzung geschafft: Das Ding wird wohl in diesem Jahr online gehen, nachdem die entsprechende Rechtsgrundlage – die EU-Verordnung 2017/2226 oder kurz EES-VO – bereits 2017 die drei EU-Organe, also Parlament, Rat und Komission, passiert hat und am letzten Donnerstag auch der Bundestag ein paar offene Parameter in großer Eile in zweiter und dritter Lesung abgenickt hat. Die Bundestagsdrucksache 20/5333 ist ohne Debatte (wer nachlesen will: S. 88 im Plenarprotokoll: Gegenstimmen: die Linke, Enthaltungen: keine; es ging weiter mit Hilfen für Sportvereine) durchgerutscht, ohne dass es jemand gemerkt hätte.

    Die taz zum Beispiel hat in all den Jahren seit 2009 gerade mal zwei Artikel zum EES gehabt, einmal 2014 („Zeigt her eure Hände“) und dann nach der Verabschiedung der EES-VO 2017 („Die EU plant eine Touristendatei“). Angesichts des monströsen Vorhabens finde ich das etwas dünn, denn es geht um:

    Fingerabdrücke…

    Worüber ich besonders heulen könnte: Die Autorilla hat meine schlimmsten Erwartungen von 2009 noch übertroffen. Gut: Damals war auch das Visa-Informationssystem mit seinen Fingerabdruckdaten für (derzeit) beschämende 50 Millionen „Ausländer“ mit Schengen-Visa noch eine ferne Dystopie, die Bereitwilligkeit, mit der eine breite Mehrheit der Bundestagsabgeordneten die offensichtlich fürchterliche Fingerabdruckpflicht im Personalausweis abgenickt hat, schien eine Sache überwunden geglaubter autoritärer Großaufwallung nach Nineeleven. Damals waren noch nicht mal die Fingerabdrücke im gegen Asylsuchende gerichteten EURODAC zum Spurenabgleich nutzbar. Diese drei Datenpunkte mögen ein Gefühl dafür geben, wie sehr sich der Menschenrechtsabbau im Windschatten von Charlie Hebdo und Breitscheidplatz wieder beschleunigt hat.

    Jedenfals: wie bei der Biometrie in den Personalausweisen hat die Autorilla keine Ruhe gegeben und den Kram bei jeder ausländerfeindlichen Mobilisierung wieder ausgepackt. Und jetzt läuft der Mist (fast).

    Auch wenn alles am EES furchtbar ist, ist das größte Desaster sicher, dass ab 2023 nun alle NichtschengenianerInnen (und nicht nur die Visapflichtigen, die schon seit ca. 2014 im VIS biometrisch vermessen sind) ihre Fingerabdrücke abgeben müssen, wenn sie in den „Raum der Freiheit“[2] Schengenia einreisen wollen.

    Das ist vor allem dramatisch, weil diese Fingerabdrücke für drei bis fünf Jahre suchbar gespeichert werden. Und zur Strafverfolgung und Gefahrenabwehr zur Verfügung stehen.

    Klar, wie üblich steht was von „Terrorismus“ und „schwerer Kriminalität“ im Gesetz, auf die die biometrische Fahndung beschränkt sein sollen. Aber speziell für die Verfolgung politischer „Straftaten” (in der Welt der Autorilla: alles oberhalb der Latschdemo) geht das so schnell, dass die lippenbekennenden Einschränkungen praktisch wirkungslos sind. Die Polizei kann in dem Geschäft fast immer Terrorparagraphen aus der 129er-Klasse auspacken und tut das auch – mensch denke etwa an die aktuellen 129er-Verfahren in Leipzig. Wo ihr das doch mal zu peinlich wäre, kann sie immer noch völlig fantastische „Gefahren“ für die Staatsordnung konstruieren. Mein Paradebeispiel für Letzteres ist das 2017er Verbot von indymedia linksunten.

    …wider ausländischen Aktivismus!

    Wenn es soweit ist, schlägt die übliche Biometriefalle zu: Wir hinterlassen überall und ständig biometrische Spuren. Gut, bei den Gesichtern hängt das noch an eher so mäßig funktionierenden Videokameras, aber bei Fingerabdrücken und noch mehr bei Zellmaterial, das grob für DNS-Identifikation taugt, ist mit Mitteln von TeilzeitaktivistInnen nichts zu retten.

    Das weiß auch die Polizei, die in Heidelberg durchaus Fingerabdrücke an wild geklebten Plakaten oder Gafferband bei Bannerdrops genommen hat. Oder von Bierflaschen nach Besetzungspartys in völlig überflüssigerweise für den Abriss vorgesehenen Gebäuden.

    Während es noch keine suchbare Vollerfassung von Fingerabdrücken der Schengen-Untertanen gibt und die entsprechenden Heidelberger Ermittlungen jeweils bis zu unglücklichen ED-Behandlungen ohne Ergebnis blieben, werden (legal eingereiste) AktivistInnen aus Nichtschengenia (ich werfe mal das Wort „Grenzcamp“ ein) bei sowas in Zukunft gleich erwischt. Und obwohl wir Untertanen es vor zwei Jahren nicht hinbekommen haben, die Fingerabdrücke in den Ausweisen etwa durch moderaten Einspruch abzuwenden, gab es gerade letzte Woche Grund zur Hoffnung für uns, dass die Justiz in der Hinsicht um fünf nach Zwölf aushilft.

    Ob ihr das „staatlichen Rassissmus“ nennen wollt oder nicht: Im Effekt ist es das, jedenfalls so lange, bis auch die Fingerabdrücke der SchengenianerInnen suchbar sind. Trotz des verlinkten Hoffnungsschimmers dürfte zumindest das aber dann schon noch irgendwann kommen, wenn sich nicht wieder hinreichend viele Menschen dem entgegenstellen.

    Wie die Herrschaft Freiheitsabbau gerne erstmal an „den Fremden“ ausprobiert – wofür sie meist noch viel Lob aus der „Mitte der Gesellschaft“ bekommt – und erst dann auf die eigenen Untertanen ausrollt, könnt ihr u.a. am nächsten Freitag im Heidelberger Laden für Kultur und Politik im Rahmen der Wochen gegen Rassismus hören.

    Autoritäre Design Patterns: Aufblasen…

    Ich will im Folgenden ein paar besonders pikante Passagen aus den Erwägungsgründen zitieren, weil sie musterhaft Techniken der Autorilla bei der Durchsetzung ihrer Interessen illustrieren.

    Zunächst ist da das Aufblasen von Problemen. Das ursprüngliche Narrativ beim EES war, es brauche die Datenbank absolut dringend, um „overstayer“ zu fangen, Menschen also, die auf einem Touristenvisum einreisen und dann einfach bleiben.

    Vernünftige Menschen zucken bei so etwas mit den Schultern, denn Menschen ohne Papiere gibts nun mal, und es ist auch gar nicht klar, wo eine Datenbank da helfen soll, wenn mensch nicht überall auf den Straßen Ausweiskontrollen haben will (was für vernünftige Menschen kein „wenn“ ist). Die Autorilla hat Anfang der 2010er Jahre aber keine Krise, keinen Anschlag versäumt, ohne irgendwann mit „overstayern“ zu kommen, die entweder Anschläge machen, menschengehandelt wurden oder selbst menschenhandeln.[3]

    Ich finde eher erstaunlich, wie unbekümmert ehrlich die EES-VO in den ersten sechs Erwägungsgründen selbst die Höhepunkte des propagandistischen Trommelfeuers der Autorilla aufzählt:

    (1) In ihrer Mitteilung vom 13. Februar 2008 mit dem Titel „Vorbereitung der nächsten Schritte für die Grenzverwaltung in der Europäischen Union“ legte die Kommission die Notwendigkeit dar…

    (2) Der Europäische Rat hob auf seiner Tagung vom 19. und 20. Juni 2008 hervor, wie wichtig es ist, dass die Arbeit an der Weiterentwicklung der Strategie für den integrierten Grenzschutz der Union fortgesetzt wird…

    (3) In ihrer Mitteilung vom 10. Juni 2009 mit dem Titel „Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Dienste der Bürger“ empfahl die Kommission…

    (4) Der Europäische Rat forderte auf seiner Tagung vom 23. und 24. Juni 2011 dazu auf, die Arbeit an dem Vorhaben „intelligente Grenzen“ zügig voranzutreiben…

    (5) In seinen strategischen Leitlinien vom Juni 2014 betonte der Europäische Rat, […] dass die Union alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente nutzen muss, um die Mitgliedstaaten bei ihrer Aufgabe zu unterstützen…

    (6) In ihrer Mitteilung vom 13. Mai 2015 mit dem Titel „Die Europäische Migrationsagenda“ stellt die Kommission fest, dass mit der Initiative „Intelligente Grenzen“ nun eine neue Phase eingeleitet werden soll…

    Wenn das eine Abwägung ist, hat die Waage jedenfalls nur eine Schale. Ich weise aus demokratietheoretischer Sicht kurz darauf hin, dass sich hier mit Rat und Kommission jeweils Teile der Exekutive die Bälle zuwerfen, bis eine neue Wahrheit durch gegenseite Bestärkung etabliert ist.

    …Bedarf erzeugen…

    Die Erzählung von den overstayern allerdings hat aus autoritärer Sicht (die sich ja um Panikpotenzial, nicht aber um Plausibilität kümmern muss) einen Fehler: Die gewünschte Speicherfrist von drei Jahren kommt dabei nicht raus, denn ginge es nur um die overstayer-Detektion, könne mensch den ganzen Datensatz bei der Ausreise löschen. Was tun? Einfach: Datenbedarf erzeugen, etwa duch die Schaffung hinreichend komplizierter Regeln. Hier:

    Das EES sollte ein automatisiertes Berechnungssystem enthalten. Das automatisierte Berechnungssystem sollte bei der Berechnung der Höchstdauer von 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen Aufenthalte im Hoheitsgebiet der am EES-Betrieb beteiligten Mitgliedstaaten berücksichtigen.

    …Features schmuggeln…

    Allerdings reicht das, genau betrachtet, immer noch nur für Speicherdauern bis zu 180 Tagen aus. Wer einige Jahre lang den Acrobat Reader zum Lesen von PDFs verwendet hat, wird die Lösung kennen: Feature Creep, also das Einschmuggeln immer weiterer Möglichkeiten in ein Verfahren, aus dem die Leute nicht mehr so einfach rauskönnen. Sobald die ohnehin eher desinteressierte Öffentlichkeit erstmal vergessen hat, dass sie den ganzen Mist eigentlich nur gekauft hat, um ungezogene Schengentouris zu zählen, kommt ein ganzes Spektrum von Zwecken aufs Tablett, die mensch, wo die Daten doch schon mal da sind, auch erledigen kann:

    Ziele des EES sollten sein, das Außengrenzenmanagement zu verbessern, irreguläre Einwanderung zu verhindern und die Steuerung der Migrationsströme zu erleichtern. Das EES sollte gegebenenfalls insbesondere zur Identifizierung von Personen beitragen, die die Voraussetzungen hinsichtlich der Dauer des zulässigen Aufenthalts im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht oder nicht mehr erfüllen. Darüber hinaus sollte das EES zur Verhütung, Aufdeckung und Untersuchung terroristischer oder sonstiger schwerer Straftaten beitragen.

    Hu? Wo ist denn jetzt plötzlich der „Terror“ hergekommen? Wer hat die – ohnehin beliebigen, siehe oben – „schweren“ Straftaten aus dem Hut gezaubert? Die protorassistische Präsupposition „wer nicht SchengenianerIn ist, braucht Extraüberwachung, weil sie bestimmt mehr Terror und Schwerkriminalität macht“ hinter diesem kleinen Trick …

  • Deutsch- und Abendland: Vaterlandslosigkeit leider nicht in der taz

    Foto: Jemand hält ein handgeschriebenes Pappschild „Töten fürs Vaterland?  Scheiße.  Immer.  Überall.“

    Mit diesem Pappschild stehe ich derzeit öfters bei den Kundgebungen von „Heizung, Brot und Frieden“ (z.B. nächster Montag). Tatsächlich bin ich überzeugt, dass der Kampf gegen Patriotismus oberhalb der Ebene von Blockseiten durch 2%-Ziele und Haubitzendiskussionen nochmal einen Schwung Priorität gewonnen hat.

    Am letzten Montag erschien in der taz ein Kommentar von Jan Feddersen zum Schwarzer-Wagenknecht'schen „Manifest für den Frieden“ mit dem pompösen Titel „Ruiniertes Lebenswerk“. Auf die Gefahr hin, wie ein zorniger Zeitungsleser zu wirken: Ich fühlte mich aufgerufen, dazu einen Leserbrief unter dem Titel „Ruinierter Kommentar“ zu schreiben. Jedoch…

    …nicht, weil Feddersen ohne erkennbare Skrupel voraussetzt, es sei in Ordnung, Menschen zu erschießen, solange nur „die anderen angefangen haben“. Wenn ich jeweils sowas kommentieren wollte, müsste ich auch jetzt noch in eine dickere Internetverbindung investieren.

    …nicht, weil Feddersen unterstellt, Waffenlieferungen – und gar aus Deutschland – könnten irgendwo „helfen“. Dabei jeweils eine Perspektive zu geben von dem, was Bomben, Gewehre, Streubomben und Haubitzen in Wirklichkeit anrichten, und wie sehr ihr „Einsatz” in den realen Kriegen der letzten 500 Jahre jeweils geschadet statt geholfen hat (zumal im Vergleich zu späterem politischen und noch besser sozialem Umgang), wäre zwar auch jetzt gerade verdienstvoll, doch nicht unterhalb eines Vollzeitjobs hinzubekommen.

    …nicht, weil Feddersen die schlichte Wahrheit, dass Staaten auch dann wiederauferstehen werden können, wenn sie mal überrannt wurden, erschossene Menschen aber nicht[1], als obszön, trist oder Folge von „nicht mehr alles beisammen“ bezeichnet. Es hilft ja nichts, wenn sich Leute die Vorwürfe, obszönes, trauriges oder wirres Zeug zu reden, gegenseitig um die Ohren hauen. Das sind größtenteils Geschmacksfragen und mithin argumentativ nicht zu entscheiden[2].

    …nicht, weil er einem Staat oder „Volk“ so viel Identität zuspricht, dass er oder es ein Selbst habe, dem es zu helfen gelte (und zwar durch Intensivierung des Tötens realer Menschen). Dagegen hat schon Brecht gepredigt, und der Erziehungauftrag, statt „Volk“ einfach mal „Bevölkerung“ zu sagen und zu denken, wird auf unpatriotischere Tage warten müssen.

    …noch nicht mal, weil er eine Parallele zwischen dem heutigen Russland und dem Deutschland unter der Regierung der NSDAP zieht. Das ist zwar speziell von einem Deutschen, der vermutlich nicht viel mehr als 25 Jahre nach der Befreiung von dieser Regierung geboren wurde, schon sehr schlechter Geschmack, aber, ach ja, wenn ich Willy Brandt seinen schönen Ausbruch „Er ist ein Hetzer, der schlimmste seit Goebbels”[3] nicht verübele, hätte ich irgendein „seit dem 24.2.2022 wird zurückgeschossen“ schon noch weggelächelt.

    Nein, was auch nach den eingestandenermaßen schon heruntergekommeneren Maßstäben der Zeitenwende immer noch nicht geht, ist, die Höhepunkte der deutschen Kriegs- und Massenmordzüge unter der NS-Regierung irgendwie in Relation zu setzen zu heutigen Handlungen, schon gar von den RechtsnachfolgerInnen derer, die diesem Treiben damals wesentlich ein Ende gesetzt haben.

    Tatsächlich hat die taz am vergangenen Mittwoch (nach „Meinungsfreiheit“ suchen) auch einen Platz für den antifaschistischen Teil meines Leserbriefs gefunden. Da sich aber für den vaterlandslosen Teil kein Platz fand und ich auch diesen für wichtig und, wenn ich das selbst sagen darf, gelungen halte, will ich euch die Vollversion nicht vorenthalten:

    Ruinierter Kommentar

    Jan Feddersens Kommentar über einen Aufruf zu Verhandlungen im Ukrainekrieg wäre „selbstverständlich durch das hohe Gut der Meinungsfreiheit“ gedeckt, wie er sagt, wäre da nicht der letzte Satz, der Russlands Agieren in der Ukraine mit dem Nazi-Wüten gegen das Warschauer Ghetto gleichsetzt. Warum das grundsätzlich nicht geht und für Deutsche schon zwei Mal nicht, haben Nolte, Habermas und Stürmer 1986/87 abschließend geklärt (Wikipedia: Historikerstreit).

    Anstandsfragen beiseite: auch rein praktisch würde ein durchaus zulässiger Vergleich zum ersten Weltkrieg einiges an Verwirrung aufklären können. Es lohnt sich, die damaligen Attacken der Verfechter eines Siegfriedens nachzulesen[4], die vaterlandslosen Gesell_innen vorhielten, sie wollten, je nach Geschmack, das idealistische Deutsch- oder gleich das Abendland an, je nach Geschmack, das materialistische Albion oder die barbarischen Horden aus der asiatischen Steppe verfüttern. Welche Seite scheint aus heutiger Sicht attraktiver?

    —Anselm Flügel (Heidelberg)

    Geständnis: In der Einsendung hatte ich die antipatriotische Vorlage „Deutsch- oder […] Abendland“ übersehen und nur „Deutschland oder […] Abendland“ geschrieben, was eingestandenermaßen die literarische Qualität erheblich beeinträchtigt. Bestimmt hätte die taz das ganz abgedruckt, wenn ich da nur rechtzeitig dran gedacht hätte…

    Nachtrag (2023-02-27)

    Ein paar Tage später kam die taz übrigens mit einer Art Kundenbindungs-Massenmail rüber, in der Sie wörtlich schrieben:

    Sie muten sich mit der Zeitungslektüre jeden Tag Nachrichten und Meinungen außerhalb Ihrer so genannten Komfortzone zu. Wie halten Sie das nur aus? Wir wissen es nicht.

    Ach – wenn es nur um die Komfortzone ginge… Derzeit allerdings sind die Fragen: Beschleunigte Remilitarisierung der deutschen Gesellschaft? Oder können wir das der Welt doch noch eine Weile ersparen? Dass die Antworten für unsere Nachbarn weit mehr als Komfortverluste bedeuten, das zumindest sollten wir aus dem 20. Jahrhundert mitgenommen haben.

    [1]Es sei denn, Jesus käme vorbei und schöbe massiv Überstunden. Aber soweit ich das übersehe, ist das zumindest innerhalb der letzten 10'000 Jahre nicht passiert.
    [2]Na gut, das mit dem „wirr“ lässt sich im Prinzip schon entscheiden, aber nur, wenn mensch sich darüber einigt, ob die in der Fußnote eben erwähnte Jesus-Option irgendwie realistisch ist. Und das lassen wir mal lieber, denn nur der Patriotismus hat zu noch mehr blutiger Uneinigkeit geführt als die Jesus-Frage.
    [3]Ca. 1985 in einer Nachwahl-„Elefantenrunde“ über den späteren Stuttgart 21-Vermittler Heiner Geißler.
    [4]Ergänzung fürs Blog: Ich denke da insbesondere an Lenard vs. Einstein.
  • „Seit bald acht Jahrzehnten nicht mehr“?

    Plot einer Badewannenkurve; die Ränder sind Mai 2022 und Februar 2022

    Der Olivindex mal als Linie geplottet (oh: das ist mit einem Acht-Tage-Gauß geglättet).

    Ich lese immer noch flächendeckend die Presseschau im Deutschlandfunk, um meinen Olivindex fortzuführen. Gedacht als grobes Maß für die bedenkliche Mischung aus Kriegsbegeisterung und Patriotismus ist der Olivindex in Wirklichkeit der Anteil der in der Presseschau vertretenen Kommentare, die ersichtlich voraussetzen, dass an deutschem Militär und deutschen Waffen die Welt genesen könnte oder gar müsste.

    Seit dem letzten Mai habe ich am Fuß jeder Blog-Seite unter „Kriegsfieber aktuell“ jeweils eine Visualisierung dieser Scores als olive Farbbalken. Oben hingegen zeige ich das Ganze mal als klassischeren Plot, unter Wiederverwendung der Gauß-Glättung aus der Untersuchung der CO₂-Zeitreihe[1].

    Es wäre wahrscheinlich interessant, das allmähliche Absinken des journalistischen Kriegsfiebers zwischen Mai und Juli mit den Ereignissen zu korrelieren, das kurzfristige Wiederaufflackern im Laufe des Septembers – ich glaube, im Wesentlichen im Gefolge der russischen Teilmobilmachung –, die kühleren Herzen im November und Dezember und das Wiederanschwellen des Bocksgesangs hin zu den weiter wachsenden Waffenlieferungen der letzten Zeit. Aber das ist wahrscheinlich eine Arbeit, die mit mehr historischer Distanz besser von der Hand gehen wird.

    Ich erzähle das jetzt gerade alles nur, um zu motivieren, wie ich auf den Preisträgertext gekommen bin für den

    Horst-Köhler-Preis für beunruhigend ernst gemeinte Worte.

    Der aktuelle Preisträger ist die Pforzheimer Zeitung, die ausweislich der gestrigen DLF-Presseschau (wenn der Link kaputt ist: sorry, der DLF depubliziert den Kram immer noch rasend schnell) ausgerechnet die doch eher zahme Frage der Faeser-Kandidatur mit folgendem ziemlich unprovozierten Ausfall kommentiert:

    Bundesinnenministerin will die 52-Jährige bis zur Hessen-Wahl bleiben – also ‚nebenher‘ auch noch Wahlkampf machen. In einer Phase, in der die nationale Sicherheit Deutschlands so wichtig ist wie seit bald acht Jahrzehnten nicht mehr.

    Ummmm. Acht Jahrzehnte sind achtzig Jahre, 2023-80 gibt 1943. Damals war nach Ansicht des Pforzheimer Kommentators die „nationale Sicherheit“, zumal von „Deutschland“ ganz besonders „wichtig“? Uiuiuiui… Nun. Pforzheim. Die Stadt, in der bei den Landtagswahlen 2016 24.2% der Abstimmenden die AfD gewählt haben – damit waren die damals stärkste Kraft im Wahlkreis.

    Eine gewisse Logik liegt da schon drin. Unterdessen herzlichen Glückwünsch an den/die PreisträgerIn.

    [1]Nun: weil mir hier die Ränder wichtig waren, habe ich etwas mehr „Sorgfalt“ (mensch könnte auch von „Großzügigkeit” reden) auf das Padding am Anfang und Ende der Zeitreihe verwendet, also die Stellen, an denen der Glättungskern über die Daten rausreicht. Ich mache das jetzt gerade durch Fortschreibung der jeweiligen Randelemente; das gibt diesen an den Rändern viel zu viel Gewicht, aber es ist immer noch besser als einfach mit Nullen fortzuschreiben. Wer mag, kann mein Tricksen in der smooth_gauss-Funktion in olivin ansehen.
  • Radikale Opportunität: Die BRD klagt gegen italienische Naziopfer

    Herbstliches Foto: halbuniformierierte Männer mit Verbindungskäppis stehen auf einem Parkplatz

    Oberhalb von Heidelberg befindet sich auf dem Ameisenbuckel ein Friedhof, auf dem Soldaten des Kaisers und der NSDAP-Regierung „geehrt“ werden. Hier also liegen die, um deren Opfer es in diesem Post gehen sollte. Bis vor ein paar Jahren (hier: 2007) trafen sich zum „Volkstrauertag“ dort oben aktuelle Militärs, reaktionäre Verbindungsstudis und Leute von der Stadt, um… Ja, wozu eigentlich?

    So wertvoll es ist, wenn gerade Staaten sich an Recht gebunden fühlen – und so doof es ist, wenn sie das mutwillig nicht tun –, mensch sollte gerade in Zeiten, in denen (jedenfalls verlautbart) „für das Völkerrecht“ getötet wird, nicht vergessen, dass Recht von denen gesetzt wird, die die Gewaltmittel dazu haben, und dass Rechtsetzung zwischen Staaten eine in der Regel recht unappetitliche Angelegenheit ist.

    Eine bedrückende Demonstration irritierender Rechtspraxis fand im April 2022 statt. Damals hat das wohl nicht viel Presseecho gegeben; ich jedenfalls bin erst durch späte Lektüre der Ausgabe 3/22 der Zeitung der Roten Hilfe (S. 44ff) darauf aufmerksam geworden. Dies hier ist ein Versuch, der Geschichte – die noch nicht vorbei ist – noch etwas mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen.

    Schon im April fantasierten ja große Teile der deutschen Regierung öffentlich darüber, wie Putin und seine Truppe vor diversen internationalen Gerichten stehen würden[1]. Gleichzeitig jedoch, nämlich am 29.4., reichte genau diese Regierung eine Klage gegen Italien beim Internationalen Gerichtshof ein, um sich Immunität bei der Verfolgung von wirklich erschreckenden Kriegsverbrechen zu verschaffen (Einordnung bei der LTO).[2]

    Warnung an PatriotInnen: Der gesamte Großraum dieser Klage[3] ist ein dichtes Minenfeld für Überzeugungen, „Deutschland“ (also: seine diversen Regierungen) sei irgendwie für die Verteidigung von Freiheit und Menschenrechten qualifiziert.

    Grundsätzlich geht es darum, dass die paar verbliebenen Menschen, die sowohl Massaker deutschen Militärs im zweiten Weltkriegs als auch die Zeit seitdem überlebt haben, vor Gerichten in Italien (und übrigens auch Griechenland) Entschädigungsansprüche durchgeklagt haben. Tatsächlich wurden sogar schon verschiedentlich deutsche Vermögenswerte beschlagnahmt (Beispiel im Gefolge des Massakers im griechischen Distomo: Das Goethe-Institut in Athen).

    Nur haben deutsche Regierungen immer so heftigen Druck auf die Regierungen in Rom und Athen ausgeübt, dass diese, Gewaltenteilung hin, Gewaltenteilung her, ihrer Justiz regelmäßig in die Parade gefahren sind. Auf Zeit spielen lohnt hier, denn das Problem der Überlebenden wird sich ja in ein paar Jahren von selbst „gelöst” haben.

    Das Verfahren vom letzten April nun versucht, ein paar weitere Schlupflöcher zu stopfen, die vorherige Verfahren in Den Haag nationalen Gerichten gelassen haben, um die Doktrin staatlicher Immunität im Krieg (und auch sonst) zu umgehen. Den Haag hat schon 2012 für die BRD entschieden; es ist kaum davon auszugehen, dass die italienische Regierung eine starke Verteidigung aufbauen wird, nachdem sie in all den Jahren deutschem Druck nicht viel entgegengesetzt hat.

    Diese Sorte Umgang mit Recht („Bomben auf die Infrastruktur sind zwar pfui, gehen aber bei uns und unseren Freunden schon in Ordnung“) läuft unter dem Label „Opportunität“. Sie steht ganz wie in Rom oder Athen angewandt auch in unserer Strafprozessordnung. Schaut zum Beispiel mal auf §153d StPO:

    § 153d Absehen von der Verfolgung bei Staatsschutzdelikten wegen überwiegender öffentlicher Interessen

    (1) Der Generalbundesanwalt kann von der Verfolgung von Straftaten der in § 74a Abs. 1 Nr. 2 bis 6 und in § 120 Abs. 1 Nr. 2 bis 7 des Gerichtsverfassungsgesetzes bezeichneten Art [das ist eine Sammlung politisch aufgeladener Normen aus dem Strafgesetzbuch] absehen, wenn die Durchführung des Verfahrens die Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik Deutschland herbeiführen würde oder wenn der Verfolgung sonstige überwiegende öffentliche Interessen entgegenstehen.

    (2) Ist die Klage bereits erhoben, so kann der Generalbundesanwalt unter den in Absatz 1 bezeichneten Voraussetzungen die Klage in jeder Lage des Verfahrens zurücknehmen und das Verfahren einstellen.

    Ich muss bei solchem Text ja an Andreas Temme denken. Aber soweit ich weiß, hat gegen ihn noch nicht mal wer ein Verfahren eröffnet, das des 153d bedurft hätte.

    [1]So berichtet der DLF am 9.4., ausgerechnet „Bundespräsident Steinmeier hat sich für einen Prozess gegen Russlands Präsidenten Putin und Außenminister Lawrow vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ausgesprochen.“ Ich habe „ausgerechnet“ geschrieben, weil Steinmeier als Chef des Bundeskanzleramts (nicht nur) zur Zeit des deutschen Angriffs auf Restjugoslawien 1999 selbst an offener Aggression beteiligt war, als oberster Geheimdienstchef obendrein in Verwantwortung für die BND-Operationen Richtung UCK, zu denen er spätestens jetzt für Aufklärung sorgen könnte. Und dann: er hat sich bis heute nicht bei Murat Kurnaz entschuldigt.
    [2]Whoa, ruft ihr, deine Überschrift ist Clickbait, weil die Regierung ja gegen Italien klagt und gar nicht gegen Naziopfer? Na ja, vielleicht ist es ein ganz klein wenig Clickbait, aber mal ehrlich: Wenn ihr nur knapp den Mordorgien deutscher Truppen entgangen wärt, und die Rechtsnachfolger von deren Befehlshabern würden jetzt solche Verfahren einleiten: Würdet ihr nicht finden, dass diese Klagen gegen euch gehen?
    [3]Angefangen von der Weigerung der Staatsanwaltschaft Stuttgart, ein Verfahren wegen des Massakers von Sant'Anna di Stazzema zu führen, nachdem die BRD schon abgelehnt hatte, 2005 in Italien verurteilte SS-Männer auszuliefern (vgl. Berichterstattung in der taz vom 23.3.2013).
  • Von der Banalität der Banalität des Bösen

    Als Hannah Arendt den Prozess gegen Adolf Eichmann beobachtete, prägte sie den Begriff der Banalität des Bösen, die erschreckende Einsicht, dass Menschen gelegentlich die schlimmsten Grausamkeiten aus Motiven begehen, wie sie uns auch im Alltag bewegen. Bei Eichmann, der damals die Tragödie eines einfachen Beamten aufführte, der sozusagen in Ausprägung von Sekundärtugenden die fabrikmäßige Vernichtung von Millionen von Menschen organisiert hat, war das zwar Quatsch. Er war, weitab von Alltagsrassissmus, ein rabiater, von glühendem Antisemitismus angetriebener Faschist (vgl. die Sassen-Interviews). Die Banalität des Bösen ist dennoch sehr real, wenn auch glücklicherweise in Ligen weit unterhalb industriellen Massenmords.

    Ein überraschend deutliches Beispiel dafür findet sich in der taz von diesem Wochenende: Ein Interview mit Wolfgang Schäuble, in dem dieser Einiges über die Beweggründe seiner schrecklichen Politiken verrät. Lasst mich zwei Datenpunkte zum Beleg seiner scheinbar gewissenlosen, autoritären Schurkigkeit beibringen.

    (1) Als Finanzminister (2009-2013) hat er nach der Lehman Brothers-Bankenkrise wesentlich den Einriss des (bereits zuvor eher rudimentären) griechischen Sozialstaats orchestriert (Troika-Politik); ein wenig davon lässt sich im DLF-Hintergrund Politik vom 16.8.2018 nachlesen. Auch für erklärte Metriken-SkeptikerInnen wie mich eindrücklich ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung der Lebenserwartung in Griechenland nach Weltbank-Daten. Aufgeteilt in die Zeit vor (Prä) und nach (Post) dem großen Schäuble-Sozialabbau in Griechenland und mit linearen Fits der Entwicklung vor (bis 2011) und nach dem Greifen der Troika-Maßnahmen (ab 2012) sieht das so aus:

    Ein Plot mit einem klaren Knick im Jahr 2012: Vorher ziemlich linearer Anstieg, danach Stagnation

    Was passiert, wenn schwäbische Hausfrauen Sozialpolitik machen: Lebenswerwartung in Griechenland (Daten: CC-BY-SA Weltbank).

    Da mag 2020 ein wenig Corona dabei sein, das Ende des Anstiegs der Lebenswerwartung war jedoch auch vorher schon sonnenklar. Wer will, kann aus dieser Kurve mit einigem Recht schätzen, dass Schäubles Politik den GriechInnen inzwischen zwei Lebensjahre geraubt hat. Und wer sich schon so weit in diese Sorte Metriken begeben hat, kann auch gleich weiterrechnen.

    Griechenland hat um die 107 EinwohnerInnen. Mithin sterben dort jedes Jahr um die 105 Menschen (weil sie so in etwa 102 Jahre alt werden). Wenn die jetzt im Schnitt zwei Jahre kürzer leben, gehen aufgrund von Schäubles Politik Jahr für Jahr rund 200'000 Lebensjahre in Griechenland verloren. Das lässt sich noch etwas krasser ausdrücken: Wer ein mittelgroßes Stadion mit 104 Plätzen, also in etwas wie den…

    …mit 60-Jährigen (die noch eine Restlebenswerwartung von 20 Jahren haben) füllt, das dann mit einer hinreichend großen Bombe sprengt und innerhalb eines Jahres das Stadion wieder aufbaut, um das Ganze zu wiederholen: So jemand sorgt für ein vergleichbares Blutbad.

    Das ist kein Unfall. Schäuble hat eine so konsequente Verarmungs- und Privatisierungspolitik gerade auch im Gesundheitswesen erzwungen, dass über deren Ergebnisse von vorneherein keine Zweifel bestehen konnten. Er kann schlicht nicht sagen, dass er das Gemetzel nicht gewollt habe.

    (2) Als Innenminister (1989/1990 und wieder 2005-2009) hat Schäuble legendär im Bereich der Menschenrechte gewütet. Erwähnt seien hier etwa

    • die Erfindung der „Antiterror“-Datei, mit der unter anderem das uns von den Alliierten geschenkte Trennungsgebot von Polizei und Geheimdienst ziemlich obsolet würde (wenn nicht das Misstrauen zwischen Polizei und Geheimdiensten noch einen gewissen Restschutz böte).
    • in diesem Zusammenhang die Erfindung eines „Supergrundrechts auf Sicherheit“, das noch jede Aushebelung von Menschenrechten rechtfertigen würde und so quasi die Urmatrize autoritärer Politik darstellt.
    • die wesentliche Beförderung (gut: im Einklang mit seinen Länderkollegen) des Staatstrojaners, auch wenn er, als sein Werk 2011 spektakulär explodierte, schon dem Finanzministerium vorsaß.
    • die drastische Ausweitung von „Zuverlässigkeitsprüfungen” im Vorfeld der Fußball-WM der Männer 2006, seit der es ganz normal ist, dass über Menschen, die, sagen wir, Würstel in Fußballstadien verkaufen wollen, Auskunft bei den Polizeien eingeholt wird und so die üblichen und willkürlichen Datenspeicherungen der Exekutive existenzgefährdend werden können.
    • die Aushandlung und Durchsetzung des Vertrags von Prüm, mit dem unter anderem diese willkürlichen Daten über politisch missliebige und andere Personen quer durch Europa verschoben werden dürfen.
    • die Nutzung dieses Mechanismus beim NATO-Jubiläum 2009 in Baden-Baden, Kehl und Straßburg, um mutmaßliche GegendemonstrantInnen von den französischen Behörden abfangen zu lassen, nachdem Gerichte Schäuble untersagt hatten, das von deutschen Behörden erledigen zu lassen.
    • vergleichbar das wüste Vorgehen gegen die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm im Jahr 2007 mit großflächigen Hausdurchsuchungen im Vorfeld, gewaltigen Sperrzonen, militärischen Polizeieinsätzen und Polizeieinsätzen des Militärs („russische Verhältnisse“ sagte damals sogar Attac; weniger gleichmütige Stimmen haben weit drastischere Bilder).

    Undsoweiterundsofort. Ich könnte weiter machen mit den Fiesheiten, die er in den Einigungsvertrag mit der DDR hat reinschreiben lassen, seiner düsteren Rolle in der Kohl-Spendenaffäre, seiner Verwicklung in Cum-Ex oder vielem mehr. Keine Frage: Schäuble ist ein Schurke, der konsequent immer auf der falschen Seite jeder Geschichte stand.

    Und was erzählt dieser Mensch nun im taz-Interview, warum er im Jahr 2000 in der Politik geblieben ist, warum er also letztlich die Mehrzahl der hier aufgezählten Schurkigkeiten begangen hat?

    Als ich nach der Spendenaffäre als Fraktions- und Parteivorsitzender zurückgetreten war, war für mich eigentlich klar, dass ich nicht mehr für den Bundestag 2002 kandidieren werde. Aber für einen 60-Jährigen, der seit 10 Jahren im Rollstuhl sitzt und seit 30 Jahren in der Politik ist, waren die Möglichkeiten, etwas anderes zu machen, nicht so groß. Ich wollte keinen Lobbyposten. [...] Ich war vor 1972 in der Steuerverwaltung und bin Lebenszeitbeamter mit Rückkehranspruch. Aber mit 60 Jahren in die Steuerverwaltung zurückzukehren, war auch keine attraktive Idee.

    Also im Groben: Er hat den sozialen Abstieg gefürchtet.

    Ein schon damals alter, aber machtgewohnter Mann hat all den Schaden angerichtet, weil er sich um sein Ansehen sorgte. Und das in einer bemerkenswerten Verdrehtheit, denn auf die Frage, warum er wohl keinen Lobbyposten wollte, antwortet er: „Ich mache nicht alles.“ Was wohl zu lesen ist als: Die Leute, die sich kaufen ließen, um Einfluss auf die Politik zu nehmen (ein paar Beispiele: Kohl für Kirch, Fischer für BMW, Koch für Bilfinger Berger, Schröder für Gazprom oder gar Oettinger für Rosatom und mein Liebingsbeispiel Berninger für Mars) sind irgendwie noch schlechter als jemand, der hunderttausende Lebensjahre raubt und das Grundgesetz rupft.

    Nun wäre es ja denkbar, dass Schäuble auch mit weniger fieser Politik den Sozialstatus erhalten hätte, den er haben wollte. Wie kam er also ausgerechnet auf die Schurkereien, die er wirklich verfolgt hat? Er erläutert das so:

    Ich hatte immer meinen eigenen Kopf. Aber ich bin loyal. [...] Ich habe Kohl gesagt: Ich mache, was er machen würde, wenn er sich mit den Dingen beschäftigen würde. Ich mache, was in seinem Interesse ist. Das ist mein Verständnis von Loyalität.

    Das war schon lange meine Vermutung: Wenn Leute Politik machen, die offensichtlich eklig oder falsch ist, liegt es fast immer daran, dass sie irgendwem und vor allem irgendwas (typisch: dem, was sie „Volk“ nennen; siehe) gegenüber loyal sein wollen und dieser Loyalität Einsicht und Empathie unterordnen.

    Und ja, ich glaube tatsächlich, dass Leute wie Schäuble solche Bekundungen ernst meinen. Anders könnten sie, denke ich, mit all dem Mist, den sie mit ihrer „Verantwortungsethik“ angerichtet haben, gar nicht leben, jedenfalls, wenn ihre Boshaftigkeit tatsächlich banal ist. Das wiederum schien mir bei Schäuble bereits angesichts seines naiven Gequatsches von schwäbischen Hausfrauen schon immer nahezuliegen. Das Interview in der taz hat diesen Eindruck noch verstärkt.

  • Mehrfach geschachtelte Chutzpe

    Foto: "Wir protestieren gegen das Verbot dieser Symbole" über einem Satz von Fahnen und Wimpeln kurdischer Organisationen und deinem Öcalan-Portrait.

    In der taz vom Wochenende: Der saarländische Flüchtlingsrat und die Aktion 3. Welt Saar unterlaufen geschickt das übelriechende Verbot von allerlei Fähnchen und Wimpeln diverser kurdischer Organisationen. Solche Hacks braucht es, wenn Innenministerien über Jahrzehnte hinweg geschlossen autoritäre „Lösungen“ durchzudrücken versuchen.

    Seit Hans-Dietrich Genscher und Otto G. Lambsdorff 1983 ihren Parteifreund Gerhart Baum als Innenminister gestürzt haben, waren eigentlich alle Innenministerien von Bund und Ländern – mitsamt ihrer Aufsicht über Polizei und den staatsanwaltlichen Teil der Justiz – durchweg von menschenrechtsfeindlichen, autoritären Rechtsauslegern der jeweiligen Regierungen besetzt. Namen wie, uh, Old Schwurhand Friedrich Zimmermann, Boris Pistorius, Jörg Schönbohm, Otto Schily, Manfred Kanther oder Abschiebungen-zum-Geburtstag Horst Seehofer jagen teils auch Jahrzehnte nach dem Ende der Unwesen ihrer Träger Menschen mit minimalem bürgerrechtlichem Instinkt wahlweise Schauer über den Rücken oder Zornesröte ins Gesicht.

    Hoffnungen, das könne bei der gegenwärtigen Amtsinhaberin anders werden, die sich ja immerhin in Sachen NSU 2.0 mal in diskutabler Weise geäußert hat, erwiesen sich als weitgehend vergebens, wie nicht nur ihr jüngstes Trommeln für die Ursünde Vorratsdatenspeicherung zeigt. Ein Blick in die aktuellen Gesetzesvorhaben aus ihrem Haus gleicht einem Aufmarsch der Polizei-Bruderschaft:

    Insbesondere hat Faeser nicht die skandalöse Kriminalisierung von indymedia linksunten durch ihren Vorgänger aufgehoben – was sie per Federstrich tun könnte –, und sie tut auch nichts gegen die bizarren Verfolgungen von Menschen, die Abzeichen einiger kurdischer Organisationen tragen, die die türkische Regierung nicht mag. Spätestens seit dem Flüchtlingsdeal mit den Machthabern in der Türkei wird zum Beispiel verfolgt, wer die falschen Kombinationen von Gelb, Grün und Rot durch die Straßen trägt; einige davon könnt ihr im Aufmacherbild bewundern.

    Nun bin ich spätestens seit meinen Berichten zu kurdischer PKK-Skepsis in meiner Chios-Geschichte allzu großer Euphorie Richtung PKK sicher unverdächtig. Dennoch: im Genre der bewaffneten Aufstände der Gegenwart ist die PKK mit ihrem doch deutlich über das übliche „unser Boss soll Kalif sein anstelle des Kalifen“ hinausgehenden Programm schon ein Lichtblick, und es gibt nun wirklich keinen menschenrechtsverträglichen Grund für die verbissene Wut, mit der deutschen Innenministerien nachgeordnete Behörden hinter deren Wimpeln herermitteln.

    Aber wenn autoritäre Politik im Wesentlichen unkontrolliert walten kann, hilft Kreativität. So wie bei der Beilage in der taz vom Wochenende, die ich oben dokumentiere. Was dort zu sehen ist, ist ein Forttransparent einer Demo, die mit dem Zeigen der inkriminierten Symbole davonkam, weil sie ja dokumentieren musste, worum ihr Protest geht. Die beiden Organisationen, die das Flugblatt herausgegeben haben, haben das eins weitergedreht: Sie können die verbotenen Zeichen drucken, weil sie Widerstand gegen das Verbot dokumentieren.

    Nun, und ich kann das jetzt nochmal eine Runde weiterdrehen: Ich darf die Zeichen zeigen, weil ich Leute loben will, die mit Chutzpe und Kreativität die autoritären Betonköpfe aus den verschiedenen Innenministerien gekonnt ausspielen. Dafür schwinge sogar ich mal eine Fahne. Eine? Fünfzehn!

  • Ach, Fraport: Verdrängung von Armut

    Neulich war ich mal wieder am Frankfurter Flughafen[1], und als ich mich bei der Gelegenheit etwas umgesehen habe, ist mir das hier aufgefallen:

    Foto: Mülleimer mit: „Jede unberechtigte Entnahme wird als Diebstahl angezeit“

    Die Kreativität, Armut in der Gestalt von FlaschensammlerInnnen aus den Hallen vor den Business Lounges ausgerechnet über das Eigentumsrecht am Müll anderer Leute fernhalten zu wollen, verdient eine zweifellos einige, wenn auch entsetzte, Bewunderung.

    Allerdings stellt sich bei diesem haarsträubenden Rechtskonstrukt die interessante Frage: Kann eigentlich Fraport da klagen? Habe ich, wenn ich etwas in diesen Mülleimer werfe, es damit Fraport geschenkt? Und was ist, wenn ich, Pfand gehört daneben, mein Leergut einfach neben den Mülleimer stelle – bleibe ich dann nicht Eigentümer, um so mehr, als Fraport mich ja womöglich deshalb verfolgen könnte?

    Wie auch immer: Die Schurken von der Startbahn West haben es mit diesem Schild geschafft, nicht nur die Supermärkte mit ihrem verbissenen Feldzug gegen das Containern zu toppen – immerhin verfolgen die Supermärkte noch Leute, die Krempel nehmen, den sie selbst weggeworfen haben. Nein, Fraport wirkt hier als Sympathieträger für die Bahn, die zwar arme Menschen durchaus auch mal belästigt und dafür allerlei Hausordnungstricks aufruft; Aggression gegen FlaschensammlerInnen im Auftrag der Bahn ist mir aber noch nie aufgefallen.

    [1]Disclaimer: Das mag sich so anhören, als müsste ich jetzt Flugscham haben, aber das ist nicht so. Über Teilnahme-an-Fragwürdigen-Treffen-Scham können wir reden.
  • Hart durchgreifen gegen Aggressoren?

    CDU-Wahlplakat mit Slogan: "Hart durchgreifen"

    1999 zeigte sich die hesssische CDU ganz besonders autoritär. Das Plakat warb um Stimmen bei der Landtagswahl am 7.2.1999, kurz vor dem Überfall auf Restjugoslawien, um den es ab hier gehen soll (CC-BY-SA KAS).

    Glücklicherweise ebbt die patriotische Aufwallung vom Frühling des Jahres allmählich ab, und selbst die kommerzielle Öffentlichkeit scheint sich, wenn auch nur in glazialem Tempo, auf die Einsicht zu besinnen, dass das Töten von Menschen nur zu mehr Gemetzel führt. Dennoch ist die Ansicht, der Aggressor müsse auf jeden Fall ordentlich bestraft werden, bevor mensch mit dem Töten aufhören könne, immer noch alarmierend häufig zu lesen.

    Mal die Frage beiseite, ob „der Aggressor“ selbst im Ukrainekrieg so sicher zu bestimmen ist: Das ist natürlich ein ganz massives Nachgeben gegenüber der autoritären Versuchung. Die Fantasie, mit Gewalt und Strafe Verhalten anderer gestalten zu können, funktioniert schon im Strafrecht allenfalls so la-la, obwohl der Staat verglichen mit jenen, die er seiner Disziplin unterwerfen will, praktisch unbegrenzte Gewaltmittel hat. Der Plan, den Umgang von ja innerhalb von ein paar Größenordnungen gleichstarken Staaten[1] gewaltförmig zu zivilisieren, ist hingegen von vorneherein ein Rezept für endloses Blutvergießen.

    Als Bewohner der Bundesrepublik Deutschland bin ich tatsächlich ziemlich froh, dass es diese Sorte Strafgericht zwischen Staaten nicht gibt, denn ich habe keine Lust, für die diversen Angriffskriege meiner Regierungen und ihrer Freunde bestraft zu werden, um so weniger, da ich über die Jahre gegen sie alle angekämpft habe.

    Beweismittel: Ein Bericht der OSZE

    Ein besonders schlagendes Beispiel für strafwürdiges Verhalten liefert der erste ordentliche[2] Angriffskrieg der BRD-Geschichte, der Angriff auf das ohnehin schon gerupfte Restjugoslawien im Jahr 1999. Das Rationale damals war, es müsse dringend „ein neues Auschwitz verhindert werden“ (so Außenminister Josef Fischer). Parallelen zum heutigen Bullshit von der „Entnazifizierung der Ukraine“ dürfen gesehen werden; und klar ging es in beiden Fällen in Wirklichkeit darum, Klientelregimes der jeweiligen Gegenseite – die Milošević-Regierung von Restjugoslawien für Russland damals, die Seliniski-Regierung für „uns“ heute – zu schwächen oder idealerweise gar zu stürzen. Nebenbei: die weitere Geschichte des serbischen Staates lässt ahnen, dass diese Sorte gewaltsamen Regime Changes in der Regel nicht so richtig toll funktioniert.

    Wie dünn die Geschichten mit dem zu verhindernden „Auschwitz“ und den Hufeisenplänen waren, war damals genauso klar wie es die Schwächen der öffentlich beteuerten Kriegsgründe auf allen Seiten heute sind. Insbesondere stand während des gesamten Kosovokriegs auf der Webseite der OSZE der Bericht einer Beobachtermission, die bis kurz vor „unserem“ Angriff die Dinge im Kosovo im Auge behielt (Backup als PDF).

    Ich möchte hier ein paar Ausschnitte aus diesem Bericht vorstellen, um zu zeigen, wie sehr „wir“ damals Aggressor waren und wie fadenscheinig die Vorwände für den Überfall.

    Während der Umfang der militärischen Auseinandersetzungen im Februar abgenommen hat, setzte die UCK ihre Angriffe auf die serbische Polizei fort. Das umfasste isolierte Zusammenstöße und sporadisch Schusswechsel, zeitweise auch den Einsatz schwerer Waffen durch die Jugoslawische Armee.

    Also: keine Frage, da haben Leute aufeinander geschossen, aber das war dennoch klar ein Guerillakrieg von Freischärlern[3] und mitnichten irgendein „Vernichtungsfeldzug“ im Stil der deutschen Armee der 1940er Jahre. Das war nicht die gleiche Liga, das war nicht das gleiche Stadion, das war nicht mal die gleiche Sportart – eine Feststellung, auf die ich übrigens auch im Hinblick auf die aktuellen Kämpfe Wert lege.

    Polizei im Schwarzenegger-Stil

    Sehen wir mal an, wie das konkret aussah:

    Am 20. Januar [1999] endete eine polizeiliche Durchsuchung im Gebiet von Mitrovica in einem Schusswechsel und dem Tod von zwei UCK-Mitgliedern. Der Zwischenfall wurde von der OSZE-Mission durchgehend beobachtet. Die Polizei umstellte zwei Häuser und forderte die BewohnerInnen auf, sich zu ergeben. Diese reagierten mit Feuer aus Kleinwaffen. Eine Vermittlung durch die OSZE-Mission scheiterte, als die BewohnerInnen das Feuer mit panzerbrechenden Raketen eröffneten. Die Polizei antwortete mit Flak-Feuer. Die Leichen von zwei UCK-Kämpfern wurden gefunden. Es wurde geschätzt, dass 10 weitere BewohnerInnen geflohen waren.

    Ich gebe zu: Wenn die Polizei mit Flak-Geschützen rumfährt, ist klar was nicht in Ordnung. Aber wenn sie das tut, weil irgendwer mit Panzerfäusten auf sie schießt, ist gleichzeitig offensichtlich, dass mehr Waffen und mehr Rumballern die Situation gewiss nicht verbessern werden. Übrigens finde ich recht beeindruckend, dass da 10 Leute trotz Polizeiflak davongekommen sind. Ich will im Angesicht von Flak lieber nicht von verhältnismäßigem Einsatz von Gewalt sprechen, aber verglichen mit so manchem Waffengebrauch der deutschen Polizei müssen die damals den Abzug eher verhalten bedient haben.

    Bemerkenswert ist ebenfalls, dass das offensichtlich wie eine recht normale Polizeiaktion anfing, so mit Umstellen und Durchsagen und allem. Zum Vergleich, wie sowas in einem „richtigen“ Krieg aussieht (wohlgemerkt: immer noch kein „Vernichtungskrieg“), sei der Artikel Fallujah during the Iraq War aus der englischsprachigen Wikipedia und einige der verlinkten Quellen empfohlen; diese Lektüre hilft übrigens auch beim Nachvollziehen der Genese eines Zivilisationbruchs vom Kaliber des IS.

    Parenthetisch kann ich bei der Alliteration von Polizei und Panzerfaust nicht anders, als genüßlich §69 des Polizeigesetzes Baden-Württemberg zu verlinken.

    Terroristen!

    Aber weiter im OSZE-Bericht:

    Die UCK hat am 22. Januar fünf alte serbische ZivilistInnen aus Nevoljane (westlich von Vucitrn) entführt. Sie teilte der OSZE-Mission mit, dass die Geiseln an die OSZE übergeben würden, wenn die Polizei ihre Arbeit in der Gegend von Vucitrn einstellen würde […] Die OSZE-Mission hat die Entführung dieser ZivilistInnen mit Nachdruck als einen Akt des Terrorismus verurteilt.

    Eingestanden: anständige Leute sagen nicht Terrorismus. Aber da das nun mal Politprofis waren, die damals die Dinge im Kosovo begutachteten, sei ihnen die Gaunersprache gegönnt. Wichtiger für die Frage der Legitimation unserer Aggression ist jedoch: Diese Sorte von Entführen und Erpressen ist auch nicht gerade das, was mensch unmittelbar vor dem „Auschwitz“ von Außenminister Fischer erwarten würde.

    Unterdessen gab es tatsächlich eine Ecke, in der die UCK richtig Krieg gespielt hat:

    Am 28. und 29. Januar gab es Berichte über Mörser-, Panzer- und Maschinengewehrfeuer südlich von Podujevo in Richtung des Dorfes Kisela Banja. Es gibt keine Berichte über Opfer, jedoch wurden in der Gegend zahlreiche Personen auf der Flucht beobachtet. Der fortgesetzte Stellungskrieg zwischen UCK und den Sicherheitskräften in diesem Gebiet, in dessen Rahmen beide Seiten Gräben gezogen und Stellungen vorbereitet haben, war über den gesamten Berichtszeitraum hinweg besonders besorgniserregend. […] Die OSZE-Mission hat gegen die Verletzung der Waffenstillstandsregeln durch beide Seiten protestiert.

    Der Punkt hier ist: es war nicht etwa so, dass die jugoslawische Armee im Falluja-Stil durch die Dörfer gezogen wäre und Kram kaputt gehauen hätte. Nein, es gab einfach ein Widerstandsnest, das sie nicht haben erobern können. Angenommen, irgendwelche Radikalkurpfälzer würden sich am Heidelberger Schloss…

    Foto: das Heidelberger Schloss mit wilden Wolken

    …verschanzen: wie würde wohl die Regierung in Berlin reagieren? Ich denke, auf diese Frage konnen wir Antworten aus der Geschichte bekommen.

    Mafia-Methoden

    Zurück ins Restjugoslawien des Jahres 1999:

    Die Gewalt in den Städten hat im Februar stark zugenommen. Pristina, Mitrovica, Pez, Urosevac haben alle derartige Zwischenfälle erlebt. In ihnen wurden fünf Menschen getötet und mehr als ein Dutzend verletzt. Im schlimmsten dieser Fälle wurde am 6. Februar eine Bombe außerhalb eines kleinen albanischen Ladens in Pristina gezündet. Sie tötete den Besitzer und zwei PassantInnen, darunter eine Teenagerin.

    Es gab weitere Berichte, wie die UCK „polizeiliche“ Gewalt unter den AlbanerInnen ausübte und Strafmaßnahmen durchführte gegen Personen, die der Kollaboration mit den Serben beschuldigt wurden […] Die meisten Opfer waren gut ausgebildete Männer, von serbischer Seite beschrieben als „loyale Bürger von Serbien“. Sie wurden durch Schüsse in den Kopf getötet.

  • Über die Gute Gewalt

    In der taz vom vergangenen Wochenende fand sich ein Interview mit Franziska Giffey, in dem sie sagt:

    Manche glauben, dass sie gewisse gewalttätige Aktionen nach dem Motto rechtfertigen können, der Zweck heilige die Mittel: „Unsere Gewalt ist in Ordnung, denn es ist doch gute Gewalt.“ Aber solche Aktionen sind durch nichts zu rechtfertigen.

    Das ist eine lobenswerte Position. Mal sehen, ob sie mit dieser Verurteilung von Gewalt unabhängig vom verfolgten Zweck in ihrer Partei auch dann durchkommt, wenn es nicht um Eier, sondern um Granaten geht.

  • Computerlinguistik ethisch abgerutscht

    Wie prioritär die Auflösung der Bundeswehr ist, zeigt derzeit nicht nur die allabendliche Berichterstattung zu den Folgen von Krieg[1]. Nein, eine von der Gesellschaft getragene Armee macht diese – die Gesellschaft – auch furchtbar anfällig für anderweitige autoritäre Versuchungen. So ist schon Existenz einer Armee das Nachgeben gegenüber der maximalen autoritären Versuchung, denn ihr zugrunde liegt ja die Überzeugung, eine große Klasse von Problemen ließe sich lösen, indem mensch hinreichend viele der richtigen Menschen tötet – und dieses Töten sei auch gerechtfertigt, wenn nicht gar geboten.

    Außerhalb des engeren Tötungsgeschäfts fallen militärisch insprierte Antworten normalerweise etwas weniger final aus, doch bleibt auch dort ethisch kaum ein Stein auf dem anderen, wenn die Armee interveniert. Ein gutes und aktuelles Beispiel ist das Projekt, von dem die Computerlinguistin Michaela Geierhos von der Universität der Bundeswehr in Computer und Kommunikation vom 9.4.2022 berichtet.

    Im Groben will die ihre Gruppe statistische und vielleicht linguistische Werkzeuge („künstliche Intelligenz“) zur – immerhin noch polizeilichen und nicht militärischen – Massenüberwachung von Telekommunikation nutzen. In den Geierhos' Worten:

    …den Ermittler zu unterstützen, überhaupt mal zu erkennen, was es in Millionen von Zeilen, wo kommen da überhaupt Namen vor von Personen, was ist ne Adressangabe, gehts jetzt hier um Drogen oder gehts vielleicht um ganz was anderes.

    Mit anderen Worten: Die Polizei soll richtig viele Menschen abschnorcheln – denn sonst kommen ja keine „Millionen von Zeilen“ zusammen – und dann per Computer rausbekommen, welche der Überwachten die bösen Buben sind. Das ist der gute, alte Generalverdacht, und Menschen mit einem Mindestmaß an menschenrechtlichem Instinkt werden so etwas ganz unabhängig von den verfolgten Zwecken ablehnen. Grundfeste des Rechtsstaats ist nun mal der Gedanke, dass allenfalls dann in deine Grundrechte eingegriffen wird, wenn es einen begründbaren Verdacht gibt, du habest gegen Gesetze verstoßen – und auch dann können nur sehr konkrete Hinweise auf schwere Verstöße so schwere Eingriffe wie die „TKÜ“ rechtfertigen (vgl. §100a StPO).

    Transparent: Wer nichts zu verbergen hat ist langweilig

    2008 zierte dieses Transparent das Berliner bcc, während der CCC dort tagte.

    In den Beispielen von Geierhos hingegen geht es um ein von vorneherein zweckloses Unterfangen wie die repressive Bekämpfung des illegalen Handels mit und Gebrauchs von Rauschmitteln. Das völlige Scheitern dieses Ansatzes ist ein besonders schönes Beispiel dafür, wie trügerisch die autoritäre Versuchung ist. Wie so oft mögen die (staats-) gewalttätigen Lösungsansätze naheliegend sein. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie tatsächlich funktionieren, schon gar nicht auf Dauer. Und da habe ich noch nicht mit den schweren Nebenwirkungen angefangen.

    Leider ist auch der Moderator Manfred Kloiber – versteht mich nicht falsch: das ist, soweit ich das nach Plaudereien mit ihm im DLF-Studio beim Chaos Communication Congress beurteilen kann, ein sehr netter Mensch – schon der autoritären Versuchung erlegen, wenn er fragt:

    Auf der anderen Seite würde man sich ja wünschen, dass man genau davon [z.B. von Drogengeschichten] ein unabhängiges System findet, was eben halt über die Bereiche hinweg Kriminalität oder anormale Vorgänge feststellen kann.

    Ich weiß nicht, ob ihm klar war, was er sich da wünscht, und die eher stolpernden Worte mögen andeuten, dass die Frage so nicht geplant war. Jedenfalls: Eine universelle Verhaltensüberwachung, die nonkonformes Verhalten (nichts anderes sind ja „anormale Vorgänge“ im sozialen Kontext) polizeilicher Intervention zugänglich machen soll? Wer könnte sich sowas unter welchen Umständen zur Lösung welcher Probleme wünschen?

    Zum „wer“ kann mensch immerhin schon mal antworten: Wissenschaftlerinnen der Universität der Bundeswehr, denn Geierhos antwortet ungerührt:

    Ja, das ist eine sehr große Vision, aber von dieser Vision sind wir leider noch weit entfernt.

    (Hervorhebung von mir).

    Zu weiteren „Kriminalitätsbereichen“, in denen Geierhos ihr digitales Stahlnetz gerne auswerfen würde, sagt sie:

    Also, Wirtschaftskriminalität, wie gesagt, schwieriger, dass wir das synthetisch herstellen können […] Aber so Chatprotokolle, Telegram und wie sie alle heißen, da kann man definitiv ansetzen, wir gucken uns aber auch an, Hasskriminalität beispielsweise, Mobbing, dass es in die Richtung geht.

    Klar, das sind Probleme, deren autoritäre Behandlung (in Wahrheit wohl: Verschlimmerung) das Aushebeln selbst noch basalster Menschenrechtsstandards rechtfertigt.

    Oh je. Wie genau haben Costa Rica und Island es geschafft, ihr Militär loszuwerden? Können wir das bitte auch ganz schnell haben?

    [1]Bei den Bildern vom Krieg bleibt, nebenbei, zu bedenken, dass an ihnen im Gegensatz zum offenbar noch verbreiteten Eindruck nichts neu ist: Armeen, auch „unsere“ Armeen und die „unserer“ Verbündeten, haben seit jeher und auch in den letzten Jahren ganz ähnliche und noch schlimmere Gräuel angerichtet. Dass nennenswert viele sogar halbwegs gutwillige Menschen die aktuellen Gräuel zum Anlass nehmen, „unsere“ Fähigkeiten zum Anrichten von Gräueln verbessern zu wollen: Das wird künftige HistorikerInnen wohl ebenso verwundern wie uns heute die Freude, mit der nennenswerte Teile der kaiserlichen Untertanen in den ersten Weltkrieg gezogen sind. Mich verwundert schon heute beides in gleichem Maße. Aber das ist nun wirklich nicht Thema dieses Artikels.
  • Jede vierte Stimme nicht im Parlament vertreten

    Balkendiagramm mit Wahlergebnis

    Stimmenanteile der verschiedenen Listen bei der Wahl im Saarland gestern. Wahlbeteiligung: 61.4%. Rechte beim Saarland.

    Mensch muss meine informationstheoretischen Bedenken vom letzten Oktober im Hinblick auf die repräsentative Demokratie nicht teilen, um die 5%-Hürde wirklich befremdlich zu finden: Warum genau sollten „Minderheiten“, denen deutlich mehr als jedeR zwanzigste StaatsbürgerIn angehören kann[1], nicht im Parlament vertreten sein?

    Dies ist eine sehr ernste Frage, wenn wer „die Bevölkerung“ im Parlament „abgebildet“ sehen will. Hinter diesem Bild von der Abbildung steht die (sicher zutreffende) Prämisse, dass da eben nicht ein „Volk“ einen Willen hätte und per Wahl eine Art kollektive Sprecherin gefunden hätte. Nein, dieses Bild erkennt an, dass die Regierten ein mehr oder minder buntes Häufchen Leute sind, die sich über allerlei Fragen ziemlich uneins sind. Sollen zumindest die wesentlichsten ihrer Perspektiven im Parlament reflektiert sein (an der Stelle kommt übrigens der Einspruch der Informationstheorie, denn es wird sicherlich mehr als 20 relevantere Perspektiven geben), fällt mir wirklich keine plausible Begründung mehr ein, warum eine Initiative, zu der sich schon mal fünf von hundert Menschen verabreden können, nicht nur nicht an Regierung beteiligt sein, sondern nicht mal eine Stimme im Parlament haben soll.

    26% der Bevölkerung machen die absolute Mehrheit im Parlament.

    Ein weiterer Seiteneffekt der 5%-Hürde hat gestern im Saarland besonders zugeschlagen. Wer nämlich die Stimmen aller von ihr aus dem Parlament gekickten Parteien zusammenzählt, kommt auf 23% (es sei denn, die Grünen rutschen doch noch rein). Wie in der Überschrift gesagt: Fast jede vierte Stimme ist damit nicht im Parlament vertreten. Das ist mehr als die Hälfte des Stimmenanteils der SPD (26% der Bevölkerung, 43.5% der abgegebenen Stimmen) und damit einer (unter diesen Umständen) sehr komfortablen absoluten Mehrheit. Dieses Viertel der WählerInnen sehen die, von denen sie sich vertreten lassen wollten – die z.B. für sie Parlamentsanfragen hätten stellen können – nicht im Parlament.

    Das ist bitter, denn bei aller Kritik an der Sorte Parlamentarismus, bei der die Exekutive bei Strafe ihres Untergangs die Legislative immer an der kurzen Kandare halten muss, sind gerade die Mittel der Opposition – die Anfragen ganz besonders – ein wichtiges Mittel politischer Einflussnahme. Hier in Baden-Württemberg z.B. fehlt die Linke im Landtag schon, weil auf diese Weise bis heute unklar ist, welche Bomben und Panzerfäuste die Polizei gekauft (und gar eingesetzt?) hat, nachdem ihr das die vorletzte Verschärfung des Polizeigesetzes erlaubt hat; die SPD, die die Verschärfung damals mit den Grünen zu verantworten hatte, geriert sich in dieser Angelenheit immer noch auffallend exekutiv.

    Zum praktischen Ärger tritt, dass selbst bei der – eigentlich im Sinne der Partizipation ausgegangenen – letzten Prüfung von Sperrklausen vor dem Bundesverfassungsgericht (2BvE 2/13 u.a., 2014-02-26) in der Urteilsbegründung noch die reaktionäre Klamotte durchschien, die Parteienvielfalt in der Weimarer Republik habe den Faschismus ermöglicht. In Randnummer 54 schreibt das Gericht verklausulierend:

    Eine große Zahl kleiner Parteien und Wählervereinigungen in einer Volksvertretung kann zu ernsthaften Beeinträchtigungen ihrer Handlungsfähigkeit führen.

    Die darunterliegende Erzählung war schon bei der Einführung der 5%-Hürde in den 1950er Jahren eine ebenso abwegige Schutzbehauptung wie entsprechende Behauptungen zur Inflation: Wer das Paktieren des SPD-Reichspräsidenten mit den reaktionärsten Elementen einer ohnehin in weiten Bereichen noch vormodernen Gesellschaft bereits in der Gründungsphase des Staates ansieht, wird sich eher fragen, wie es die halbwegs liberalen Institutionen überhaupt bis zur Machtübergabe 1933 geschafft haben.

    Weniger und besser regieren ohne die 5%-Hürde.

    Klar dürfte „das Regieren“ etwas mühsamer werden, wenn die Bevölkerung im Parlament feinkörniger vertreten ist. Aber die ganze Geschichte mit Demokratie und Volkssouveränität wurde auch nicht gemacht, damit es eine konkrete Regierung einfacher hat. Entstanden ist sie als Reaktion auf Rabatz, der wiederum Folge war von regelmäßig katastrophalem Agieren von Regierungen, die autoritären Versuchungen zu sehr nachgegeben haben.

    Dass mehr Partizipation (oder, wenn ihr wollt, Demokratie) es Regierungen schwerer macht, über Einwände signifikanter Teile der Regierten hinwegzuregieren: das ist kein Bug, das ist ein Feature. Und wenn ihr mal darüber nachdenkt, was z.B. die Bundesregierungen der letzten 20 Jahre so beschlossen haben – mal angenommen, es wären nur die 10% konsensfähigsten Gesetze durchgekommen: Wäre das nicht eine viel bessere Welt?

    Immerhin öffnet das oben zitierte Karlsruher Urteil die Tür für Verbesserungen recht weit, wenn es in RN 57 heißt:

    Eine einmal als zulässig angesehene Sperrklausel darf daher nicht als für alle Zeiten verfassungsrechtlich unbedenklich eingeschätzt werden. Eine abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung kann sich ergeben, wenn sich die Verhältnisse wesentlich ändern. Findet der Wahlgesetzgeber in diesem Sinne veränderte Umstände vor, so muss er ihnen Rechnung tragen.

    Zum Abschluss doch nochmal Informationstheorie: die 5%-Hürde beschränkt ja die Zahl der maximal im Parlament vertretenen Parteien auf 20 (und das auch nur theoretisch, denn die Bevölkerung müsste schon extrem gut geplant abstimmen, um jeder Partei gerade genau 5% der Stimmen zukommen zu lassen). Der Zweierlogarithmus von 20 ist 4.322. Zu deutsch: Mit der Hürde ist der Informationsgehalt der Wahlentscheidung hart auf gut 4 bit gedeckelt. Aua.

    [1]Bei 100% Wahlbeteiligung und universellem Wahlrecht sind 5% ein Mensch von 20. Bei 60% Wahlbeteiligung wie im Saarland und gleichmäßiger Wahlausübung wären es eineR von 12, der/die nach der 5%-Logik vernachlässigbar wäre. Da die Wahlausübung stark mit der Zugehörigkeit zu Interessengruppen (z.B. bei Kindern: 0% Wahlbeteiligung…) korreliert, können aber noch weit größere Teile der Bevölkerung durch die 5%-Hürde ausgeschlossen sein.
  • Ella: Fast ein Jahr im Gefängnis

    Gerade an dem Tag, an dem in meinen Überlegungen zu Wahlen und Informationstheorie anmerkte, bedeutender als Wahlen sei für die politische Partizipation „eine Justiz, die es häufig genug doch noch schafft, diesen wenigstens dann und wann ein wenig Schutz vor den Übergriffen der Exekutive zu geben“, fand eine verteilte Uraufführung eines Films statt, der Zweifel am „häufig genug“ ziemlich nachhaltig vertieft.

    Es geht darin um den Fall von „Ella“ oder auch „UP1“ für „Unbekannte Person 1“, die seit der brutalen Räumung des Dannenröder Forsts im letzten November im Gefängnis sitzt. Der Fall folgt dem von den Rondenbarg-Prozessen allzu bekannten Muster, bei dem die Polizei lebensgefährliche Einsatzmethoden – im Dannenröder Forst insbesondere das Durchtrennen lebenswichtiger Seile – durch absurd aufgeblasene Vorwürfe gegen die Opfer dieser Einsätze in irgendeinem Sinne zu rechtfertigen versucht; in Ellas Fall kommt sicher noch einiger Zorn über ihre erfolgreiche Personalienverweigerung dazu.

    Einsatzszene

    Ein Sequenz vom Anfang des Ella-Films: Ein Polizist wirft einen Aktivisten von einem Baum runter. Die öffentliche Zurückhaltung angesichts erschreckend gewalttätiger Räumungstechniken im Wald (na gut, inzwischen: Autobahnbaustelle) ist jedenfalls im Hinblick auf künftige Möglichkeiten politischer Partizipation schon ziemlich beunruhigend.

    Die erste Gerichtsinstanz hat dabei mitgemacht, und nun soll sie noch weitere 16 Monate im Gefängnis schmoren. Ohne große Öffentlichkeit wird das wohl auch so kommen, denn ein Landgerichtsprozess geht normalerweise nicht im Eiltempo. Und dann hilft auch ein Freispruch nichts mehr.

    Sowohl im Hinblick auf Ellas Schicksal als auch auf die Diskussion indiskutabler Polizeitaktiken finde ich den Film also höchst verdienstvoll. Wer ihn verbreiten kann, möge das tun, z.B. von youtube; wer das Ding ohne google bekommen will, möge sich per Mail rühren, dann lege ich es auf von mir kontrollierten Webspace (ich spare mir die 800 MB in der Erwartung, dass eh alle zu youtube gehen).

    Nachtrag (2022-05-10)

    Meine Spekulation, es sei bei der ganzen Einsperrerei im Wesentlichen um Ellas Weigerung gegangen, ihre Personalien abzugeben, gewinnt an Substanz. Die Staatsgewalt lässt Ella jetzt, da sie ihre Identität preisgegeben hat, frei, wie die taz berichtet. Die Entscheidung wird den mitredenden Behörden leicht gefallen sein, denn sie werden alle nicht wild sein auf eine weitere Klärung der inzwischen offizell gewordenen Tatsache, dass „die Beamten die Unwahrheit gesagt hatten“ (so die taz sehr staatsfreundlich) und des offensichtlichen Desinteresses beider Gerichtsinstanzen, die Polizei beim Lügen zu erwischen. Zumindest die zweite Instanz kannte ja (vermutlich) den hier besprochenen Film.

  • Gehorsam macht dumm

    Eine Kuh schert aus der Herde aus, um zu fressen.

    Nicht alle Rinder sind immer brav und gefügig. Ob diese Kuh wohl ein besonders schmales Maul hat? Das würde ihr nämlich, mit der Methode des Papers, ein größeres Hirn bescheinigen.

    Die zweite Tiergeschichte, die ich neulich angekündigt habe als, nun, interessant in der Forschung aktuell-Sendung vom 9.6. (in den Meldungen ab Minute 21:55), war die, dass gezähmte Rinder ein Viertel weniger Hirn haben als wilde; ein Traditionsanarcho wie ich kann bei so einem Faktoid natürlich dem „Gehorsam macht dumm und gewalttätig“ nicht widerstehen, und so habe ich mir den zugrundeliegenden Artikel genauer angesehen.

    Es handelt sich um https://doi.org/10.1098/rspb.2021.0813, „Intensive human contact correlates with smaller brains: differential brain size reduction in cattle types“ von Ana Balcarcel und KollegInnen; die Hauptautorin arbeitet am Paläontologischen Institut und Museum der Uni Zürich, was, in memoriam Tibatong und Zwengelmann, den Urmel-Fan in mir begeistert.

    Von der Hirnschrumpfung im Rahmen der Domestikation hatte ich spätestens in einer DLF-Sendung von 2009 („Beschleunigte Evolution“) von Michael Stang gehört. Dort hatte er über schnelle Zuchterfolge bei Damhirschen[1] berichtet:

    Das Zuchtziel war klar. Der domestizierte Damhirsch musste seine natürliche Schreckhaftigkeit verlieren und die Nähe des Menschen nicht als störend empfinden. Zugleich sollte die Fleischleistung erhöht werden. Durch Probeschlachtungen konnte Helmut Hemmer feststellen, ob bereits einige Tiere ein verkleinertes Gehirn hatten - eines der entscheidenden Merkmale beim Übergang vom Wildtier zum Nutztier. [...] Heute grasen über 1000 domestizierte Damhirsche auf Wiesen in Deutschland.

    Im vorliegenden Artikel wird das deutlich quantitativer:

    Domestic cattle have 25.6% smaller brains than wild cattle, according to regressions of EV [Endocranial volume, Gehirnvolumen] versus MZW [Muzzle width, Breite des Mundes, als Stellvertreter für die Körpermasse ...]. The difference between beef and dairy breeds is also significant (ANCOVA, p = 0.010).

    Das ist natürlich weit weg von „Gehorsam macht dumm“, aber „25.4%“ weniger Hirn ist, mit drei signifikant aussehenden Stellen, schon eine Ansage.

    Eine Ansage allerdings, die ich in Summe nicht so richtig überzeugend belegt finde, nicht mal mit nur einer signifikanten Stelle. Wobei, full disclosure, ich war gleich voreingenommen, denn die Methode von Balcarcel et al waren Schädelmessungen. Nennt mich irrational, aber ich werde ernsthaft nervös, wenn jemand an Schädeln herummisst. Das war schon bei Lavater schlimm, und nach dem durch Pseudowissenschaft gestützten völligen Zivilisationsbruch der Nazi-Phrenologie kann ich auf sowas nicht mehr entspannt, sagen wir sine ira et studio, blicken.

    Aber ok, es scheint in dem Fach Konsens zu sein, die Breite des Mundes (ich vermute, der im Deutschen übliche Begriff wird Maulbreite sein, aber lasst mir mal etwas Antispeziezismus) als Maß für das Körpergewicht zu nehmen. Das Hirnvolumen hingegen schätzen die AutorInnen unter Verweis auf John Finarelli über ln(Hirnvolumen) = 1.3143 ⋅ ln(Länge der Schädelhöhle) + 0.8934 ⋅ ln(Breite der Schädelhöhle) - 5.2313. Das ist – von den fantastischen Genauigkeitsbehauptungen abgesehen – so unplausibel nicht: Proportionalität zwischen Logarithmen heißt, dass es da ein Potenzgesetz gibt, was bei der Relation zwischen linearen Größen und einem Volumen naheliegt; Fingerübung im Rechnen mit Logarithmen: bei Kugeln gilt 3 ln(r) + C = ln(V) mit einer Konstanten C.

    Dennoch: Sowohl Hirnvolumen als auch die Körpermasse als Bezugsgröße werden in der Arbeit durchweg über Proxies geschätzt. Das mag ok sein – und nein, ich habe nicht versucht, mich von den zur Unterstützung dieser Proxies angeführten Arbeiten überzeugen zu lassen –, aber wer Claims wie

    Bullfighting cattle, which are bred for fighting and aggressive temperament, have much larger brains than dairy breeds, which are intensively selected for docility.

    ins Abstract schreibt, sollte da, finde ich, schon sagen, dass für die Studie weder Rinder noch ihre Hirne gewogen wurden.

    Gesetzt jedoch, die Korrelationen zwischen den Schädelmaßen auf der einen und Körpermasse und Hirnvolumen auf der anderen Seite hauen wirklich hin[2]: Ganz laienhaft finde ich ja schon die Metrik „Hirnvolumen zu Körpermasse“ nicht ganz so überzeugend. Immerhin dürfte ja „relativ mehr Fleisch“ bei Nutzrindern auch ein Zuchtziel gewesen sein, und so kann das Verhältnis nicht nur wegen weniger Hirn, sondern genauso gut wegen mehr sonstiger Masse kleiner ausfallen. Das wäre übrigens auch plausibel im Hinblick auf größere Hirn-zu-Körper-Verhältnisse bei Kampfstieren (die Balcarcel et al finden), denn fette Kampfstiere erfüllen ihren Zweck vermutlich eher weniger gut.

    Ähnlich wenig überzeugt haben mich die Grafiken der Arbeit. Die zentralen Aussagen werden mit Punktwolken mit reingemalten Regressionsgeraden belegt. In dieser Darstellung fällt alles Mögliche in Auge (z.B. „alle Wildrinder sind rechts oben“, einfach weil diese größer sind, oder „die Geraden der Kampfrinder sind steiler“, was, wenn ich das richtig sehe, das Paper weder nutzt noch erklärt), während die eigentlich in den Tests verwendeten Achsenabschnitte (entsprechend Faktoren nach Delogarithmierung) durch eigene Rechnung bestimmt werden müssten und jedenfalls optisch unauffällig sind.

    Deshalb wollte ich probieren, mir geeignetere Plots auszudenken und habe versucht, die laut Artikel auf figshare bereitgestellten Rohdaten zu ziehen.

    Ach weh. Das ist schon wieder so ein Schmerz. Zunächst figshare: Nichts geht ohne Javascript (wie schwer kann es sein, ein paar Dateien zu verbreiten? Wozu könnte Javascript da überhaupt nur nützlich, geschweige denn notwendig sein?) und das CSS versteckt völlig unnötigerweise die Seitengröße. Dazu: Google analytics, Fonts von googleapis.com gezogen; ich bin ja kein Freund von institutional repositories, bei denen jede Uni-Bibliothek ihren eigenen Stiefel macht, aber mal ehrlich: so ein Mist muss jetzt auch nicht sein, nur um ein paar Dateien zu verteilen. Dann doch lieber Murks der lokalen Bibliothek.

    Die Datei mit den Daten sorgt nicht für Trost: Ich hatte mich schon auf so ein blödes Office Open XML-Ding („Excel“) eingestellt, aber es kam in gewisser Weise noch schlimmer: Was mensch bei figshare bekommt, ist ein PDF mit einigen formatierten Tabellen drin. An der Stelle habe ich dann aufgehört. Screen Scraping mache ich nur in Notfällen.

    Dabei will ich an der Grundaussage („Domestikation macht Hirne relativ kleiner“) nicht mal zweifeln; das mit dem „dümmer“ allerdings (was meine Sprache ist, nicht die der AutorInnen) ist natürlich gemeine Polemik, und das Paper zitiert Dritte, die vermuten, die Reduktion des Hirnvolumens gehe vor allem aufs limibische System, „a composite of brain regions responsible for the processing of fear, reactivity and aggression“. Aber das Paper hat, soweit ich als interessierter Laie das erkennen kann, keine sehr starken Argumente für diese Grundaussage.

    Dennoch habe ich nicht bereut, in das Paper reingeschaut zu haben, denn ich habe so erfahren, dass es Rinder gibt, deren Zweck es ist „to decorate the landscape“, vor allem die halbwilden Chillingham-Rinder. Die Idee, Rinder zu halten, damit der Park etwas hübscher aussieht: das finde ich hinreißend.

    [1]Hauskatzen, so hieß es irgendwo anders, haben Hirne wie ihre waldlebenden Verwandten. Damit wären sie Wildtiere, deren Habitat zufällig unsere Wohnungen sind. Das würde manches erklären…
    [2]Der Physiker in mir würde bei sowas gerne die Schätzungen für die systematischen Fehler vergrößern, und so eine ganz grobe Fehlerbetrachtung hätte diesem Paper sicher gut getan.
  • Antisprache: Extremismus

    „Extremismus“ ist sozusagen die Mutter aller Antisprache, Sprache also, die entworfen ist für Kommunikation, die bei gelungenem Sprechakt bei den EmpfängerInnen Information zerstört statt bildet.

    Entsprechend viele haben sich um Abrüstung des Begriffs (und der verwandten „Hufeisentheorie“) bemüht. Schon 2007 etwa schloss sich die Grüne Jugend der damals populären Strömung „gegen jede Extremismustheorie“ an (Abschnitt 9.1 im damaligen Selbstverständnis) – gerade bei denen bemerkenswert, denn 14 Jahre später werden die Leute, die das damals geschrieben haben, allmählich in die Parlamente gekommen sein, die die Etats der Inlandsgeheimdienste („Verfassungsschutz“, VS) abnicken.

    Das ist relevant, denn ohne den VS gäbe es ziemlich sicher gar keinen „Extremismus“. Diese These ist weniger steil als sie klingt. Als ersten Hinweis biete ich mal, dass zu keiner Zeit mehr Gerede über „Extremismus“ im Blätterwald raunt als gerade jetzt, wo der Bundes-VS mal wieder seinen „Bericht“ (ich wollte nicht „Kampfschrift“ schreiben, aber Bericht ohne Anführungszeichen fand ich jetzt auch nicht treffend) vorgestellt hat.

    Tatsächlich haben mich schon neulich zwei Nachrichten inspiriert, endlich mal einen Antisprache-Post über das E-Wort zu schreiben. Erstens hatte der Deutschlandfunk am 9. Juni:

    Die russische Justiz hat mehrere Organisationen des inhaftierten Kremlkritikers Nawalny endgültig verboten. Ein Gericht in Moskau stufte die Vereinigungen als extremistisch ein.

    und dann, am 10. Juni:

    Das [hessische] Landeskriminalamt durchsuchte die Wohnungen und Arbeitsplätze von sechs Mitgliedern des Spezialeinsatzkommandos. [...] Ermittler waren den Angaben zufolge im Rahmen einer anderen Untersuchung zufällig auf die rechtsextremen Handynachrichten gestoßen.

    Was haben Nawalny und die hessischen Polizisten mit Nazineigungen gemeinsam? Gemeinsam mit, sagen wir, den Leuten, die den Weiterbau des offensichtlichen Irrsinnsprojekts A49 im Dannenröder Forst verhindern wollten und die auch unter dem Label „Extremismus“ in den Fokus der Geheimdienste wie unter Polizeiknüppel kamen?

    Nur eines: Sie sind den jeweiligen Regierungen ernsthaft unangenehm. Das, und nichts anderes, ist die eigentliche (für weiter unten: „wissenschaftliche“) Bedeutung von „Extremismus“.

    Gut, die meisten Leute, die von „Extremismus“ reden, geben sich große Mühe, von dieser Bedeutung abzulenken. Die sinnzerstörende Wirkung entfaltet das Wort tatsächlich nur, wenn das diffuse Grauen im Angesicht von Nazi-Polizisten, die quälen, wen sie als „Ausländer“ oder Linke einschätzen gegen die netten Leute vom Danni eingesetzt werden kann (oder halt, wenn ihr Putin seid, gegen Querulanten wie Nawalny). Und das ist wichtig, denn gerade die Danni-Leute (und in Russland wahrscheinlich eben auch eine Figur wie Nawalny) werden von allen außer den betonköpfigsten Schurken geliebt. Ohne den Aufruf von Bildern blindwütig mordender IS-Gläubischer (oder muttermordender Nazispinner aus Hanau) ist robuste staatliche Reaktion – sagen wir, wochen- (Danni), monate- (auch Danni) oder jahrelanges (Nawalny, nochmal Danni) Wegsperren – in solchen Situationen in der Öffentlichkeit schwierig zu verkaufen.

    Nettes und Fortschrittliches mit Fiesem und Reaktionärem verrühren und damit diskreditieren: Das ist die Nettowirkung des Extremismusbegriffs. Wenig überraschend kommt er genau aus der fiesen und reaktionären Ecke, nämlich aus den damals noch intensiv von Altnazis durchsetzten Verfassungsschutzbehörden. Anfang der 1970er Jahre machten sie sich erkennbar Sorgen, weil die allgemeine Sympathie für die unter anderem durch die aufkommenden Berufsverbote gepeinigten „Radikalen“ (so hießen die damals; vgl. Radikalenerlass) in dem Maß zunahm, wie die Avantgarde von 68 gesellschaftlicher Mainstream wurde. Da musste was Neues her, zumal der ähnlich verrührende „Totalitarismus“, der gegen realsozialistische Umtriebe noch prima – und noch dazu mit erheblicher Plausiblität – zog, für kiffende Blumenkinder und wenig später bunte HausbesetzerInnen offensichtlich nicht passte.

    Und so wurde der „Extremismus“ im Bericht des BfV von 1973 geboren – wobei ich vermute, dass es international Vorbilder gegeben haben wird. Wenn nicht, würde inzwischen sogar Wladimir Putin dem deutschen Inlandsgeheimdienst nachplappern. Ich kann gar nicht so genau sagen, warum ich diesen Gedanken besonders furchtbar finde.

    Bis heute wird „Extremismus“ als Konzept wie als Wort vom VS genährt. Die scheinbare Glaubwürdigkeit eines so eindeutig antisprachlichen und breit kritisierten Begriffs in der heutigen Zeit wird erzeugt von Männern wie Armin Pfahl-Traughber, Eckhard Jesse und Uwe Backes, die aus dem Umfeld von Geheimdienst und politischer Polizei in die Akademia aufgestiegen sind und dort VS-Berichte durch Zitate adeln – VS-Berichte, deren krudes politisches Gerüst sich umgekehrt auf die aggressive Scheinwissenschaft der genannten Herren (und noch einer Handvoll weiterer) aufbaut. Diese zirkuläre Legitimation funktioniert immerhin so gut, dass taz-Autor Volkan Ağar in der taz von heute dem Bundesinnenministerium vorwirft, der Bundeszentrale für politische Bildung vorgeschrieben zu haben, eine „wissenschaftliche Linksextremismusdefinition“ durch eine des VS zu ersetzen. Der „Wissenschaftler“, zu dessen Produkten übrigens BMI und Bildzeitung selbst die bpb zuvor genötigt hatten: Armin Pfahl-Traughber. Au weia.

    Wie geht es besser? Nun, wie immer: Hinschauen und sagen, worum es wirklich geht. Die PolizistInnen des Frankfurter SEK sind eklig nicht, weil sie der Regierung peinlich sind, sondern weil sie RassistInnen sind, autoritäre Positionen vertreten, vielleicht AntisemitInnen sind – wer weiß, nachdem ja statt konkreter Information bisher nur „Rechtsextremismus“ im Raum steht? Wäre es nicht wirklich hilfreich, wenn klar wäre, ob es da auch groben Sexismus geht, ob nur um den üblichen Autoritarismus („die Polizei sind die Guten“) oder ob dort auch preppermäßige Putschpläne ausgeheckt wurden?

    Fängt mensch an, solche Fragen zu stellen, zeigt sich auch bald, warum das autoritäre Establishment den „Extremismus“ so sehr präferiert gegenüber dieser Sorte von Hinschauen: Jemand wie Seehofer vertritt offensichtlich erznationalistische Positionen (wenn er sich etwa über Abschiebungen zum Geburtstag freut), Leute, die 2% des Bruttoinlandsprodukts fürs organisierte Töten ausgeben wollen, sind klar MilitaristInnen („Lasst uns Menschen töten, um meine Interessen durchzusetzen“), und wer meint, „Hasskriminalität“ durch mehr Befugnisse für die Polizei beikommen zu können, dürfte sehr offen für autoritäre Gedankengänge sein (eine wirksamere Alternative wäre z.B., die Bildzeitung unrentabel zu machen, die, soweit ich als Vertreter offener Standards das sehe, weit mehr für die Verbreitung von Hass tut als alle Facebook-Trolle zusammen). All diese Dinge sind kritikabel, sogar unappatitlich, führen bei konsequenter Umsetzung in gefährliche Nähe von Faschismus – und nichts davon bewegt sich irgendwo dort, wo der VS „Extremismus“ sieht.

    Die Leute im Danni hingegen wollen glaubhaft größtmögliche Befreiung vom Auto. Sowohl Befreiung als auch weniger Autos sehe wohl nicht nur ich sehr gerne. Und so geht das auch mit vielen anderen „Linksextremismen“: Von Deutsche Wohnen-Enteignung über die Auflösung von NATO und VS über entschlossenere Schritte gegen den Klimawandel und das Massensterben im globalen Süden bis zu grundsätzlicherer Kritik an unseren Produktionsweisen sind die meisten Anliegen sehr gut nachvollziehbar, immer mit dem Herz, sehr oft auch mit dem Hirn. Ohne „Extremismus“ bräuchte es Argumente gegen diese Anliegen. Und die sind entweder schwer zu ersinnen oder entlarvend für die Anliegen der Gegner.

    Ohne „Extremismus“ leben heißt mithin zu fragen, was Leute wirklich wollen und nachzudenken, wie weit das Freiheit, Gleichheit und Solidarität (oder was immer mensch nun als Leitplanken annimmt) voranbringt – oder die jeweiligen Gegenteile.

    Klar, das ist im Regelfall viel mehr Arbeit (insbesondere auch als der schlichte Verweis „vom VS beobachtet“), aber so ist das mit der intellektuellen Ehrlichkeit. Und genauso klar, häufig sind die Ergebnisse nicht so ganz eindeutig, wie etwa bei Alexei Nawalny. An sich mag mensch ja Sympathien hegen für Menschen, die Herr Putin anstrengend findet; ich fürchte aber, angesichts von Nawalnys tatsächlichen Überzeugungen, die kaum weniger autoritär wirken als die der KremlparteigängerInnen, bleibt allenfalls generelle Solidarität gegen Repression übrig als Motivation, ihm irgendwie beizuspringen.

    Nach diesen Worten ist ein Blick in die DLF-Presseschau von heute besonders ernüchternd: Selbst der Süddeutsche, deren Heribert Prantl sich nach dem Auffliegen des NSU den Forderungen nach Auflösung des VS angeschlossen hatte, gelingt allenfalls milder Spott im Angesicht überkritschen Masse von Antisprache im „Bericht“ des Inlandsgeheimdienstes. Alle anderen extremisieren („rechts wie links“ die beim Verbreiten von VS-Material unvermeidliche NOZ, „die Demokratie [und natürlich nicht wie schon seit Jahrzehnten Nichtkartoffeln, Punker und Penner] angegriffen“ beim Tagesspiegel, „Facebook, Telegram & Co [und selbstverständlich nicht Bildzeitung und VS selbst]“ als Jaucheschleudern bei der Südwest-Presse, „Militanz nimmt auch in der linksextremistischen Szene zu“ bei der Mitteldeutschen Zeitung) als gäbe es kein Morgen. Seufz.

  • Immer auf die Linken

    In ihrem Engagement „gegen Rechts“ beschränkt sich die Regierung im Wesentlichen auf autoritäre Maßnahmen, also Verbote und Drohungen. Das ist schade, denn das Runtertönen des regierungsamtlichen Nationalismus („deutsche Interessen wahren“), Militarismus („Fähigkeit zur Machtprojektion“), Autoritarismus (§114 StGB, um mal was besonders Schlagendes zu erwähnen; die Rote Hilfe Berlin dazu) und der vielen anderen rechten Versatzstücke („Flüchtlingskrise“, „wegsperren, und zwar für immer“ usf) könnte erstens vielleicht wirklich was bringen und würde zweitens nicht am Ende in aller Regel menschenfreundliche Anliegen treffen.

    Für die Beobachtung, nach der „Gesetze gegen Rechts“ (aktuell z.B. das verschärfte Hassgesetz) am Ende in aller Regel Linke treffen, habe ich gerade ein Beispiel gefunden, das ich gar nicht in diese Kategorie gepackt hatte: Den Entzug der Gemeinnützigkeit der VVN/BdA. Dabei hatte das Berliner Finanzamt der Antifa-Organisation eine dicke Steuernachforderung geschickt unter Hinweis auf erstens den Bericht des bayrischen Inlandsgeheimdienstes („Verfassungsschutz”, VS), der die VVN/BdA als staatsfeindlich listet.

    Der Eintrag als solcher wäre ja nicht schlimm, denn dass der VS aus Schurken besteht und aufgelöst werden muss, ist nicht erst seit Maaßen klar. Jedoch hat der Gesetzgeber zweitens 2009 dem §51 Abgabenordnung (AO) – der Einleitung zur Regelung von Steuerbegünstigung und Gemeinnützigkeit – einen Absatz 3 hinzugefügt, in dem es heißt:

    Bei Körperschaften, die im Verfassungsschutzbericht des Bundes oder eines Landes als extremistische Organisation aufgeführt sind, ist widerlegbar davon auszugehen, dass die Voraussetzungen des Satzes 1 [ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige, mildtätige oder kirchliche Zwecke] nicht erfüllt sind.

    – der VS hat mithin ein effektives Vetorecht für die Anerkennung steuerlicher Begünstigung, was nicht weit weg ist von der Methode der Klassifikation als ausländischer Agent durch das Justizministerium in Russland[1]. Wie das die beschließenden ParlamentarierInnen mit einem transparenten, gewaltengeteilten Staatsmodell zusammenbekommen haben, ist mir schleierhaft.

    Aber stellt sich raus: sie haben sich wohl als antifaschistisch bewegt gewähnt, denn §51 (3) AO entstand als Folge des gescheiterten Verbotsprozesses gegen die NPD. Zur Erinnerung: 2001 bis 2003 hatten Bund und Länder versucht, die NPD vor dem Bundesverfassungsgericht verbieten zu lassen. Das scheiterte 2003, weil die diversen Inlandsgeheimdienste sich weigerten, ihre MitarbeiterInnen abzuziehen und Vertrauenspersonen abzuschalten, so dass klar hätte werden können, wie viel der Organisation tatsächlich nicht nur aus Geheimdienst besteht. Wo auf dem Spektrum von „NPD decken“, „die eigene Existenzgrundlage aufbauen“ und „unfähig sein“ das anzusiedeln war, bleibt bis auf Weiteres dem eigenen Geschmack überlassen (vgl. auch Wikipedia zum ersten NPD-Verbotsverfahren).

    Tatsäche ist jedenfalls: Der VS hat die NPD gerettet, und nun dachten sich vermutlich nicht ganz übelmeinende Personen aus der Restpolitik, der Laden sollte zumindest nicht noch anders als über den VS in großen Mengen staatliches Geld bekommen. Dazu hätte eine Änderung im Parteiengesetz gereicht (und selbst das hätte ich als schlechte Idee klassifiziert). Dass auch die ganz normale Vereine regulierende Abgabenordnung geändert wurde, nun, das könnten weniger wohlmeinende Menschen auf den Fluren der Ministerien angeleiert haben. Vielleicht war es aber auch wirklich nur der Versuch, proaktiv Schlupflöcher zu stopfen.

    Nun, zehn Jahre später wandte das Finanzamt Berlin das in sogar halbwegs glaubhaftem antifaschistischem Furor geänderte Gesetz gegen die größte antifaschistische Organisation der BRD.

    Das hat letztes Jahr für einige Mobilisierung und viele Eintritte in die VVN/BdA gesorgt, nicht jedoch für eine Änderung des anrüchigen §51 (3) AO. Stattdessen haben sich Finanzamt Berlin und VS Bayern elegant aus der öffentlichen Schusslinie genommen, indem der VS Bayern seine Einschätzungen nur noch auf den bayrischen Landesverband der VVN beschränkt und das Finanzamt Berlin daher die Bundesorganisation nicht mehr als unerwünscht einstufen muss.

    Was aber heißt: Der nächste VS, der einen Laden plattmachen will, der sich auf Steuerbegünstigung verlässt, kann das immer noch tun.

    [1]In Russland sind im Laufe der Jahre eine Art Trucker-Gewerkschaft und eine Selbsthilfe-Organisation von Diabetiker_innen in den Fokus des ausländische-Agenten-Apparats gekommen. Dass VS und Finanzamt immerhin auf die VVN-BdA und nicht etwa auf Männergesangsvereine losgehen: das macht Hoffnung im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit der deutschen Bürokratie jedenfalls im Vergleich zur russischen.
  • Offene Haftbefehle, politisch

    Mit einiger Verspätung habe ich gerade Bundestagsdrucksache 19/15346 durchgelesen, hauptsächlich, um herauszufinden, wie es wohl mit PIAV weitergegangen ist, dem dystopischen Projekt des BKA, dem Wildwuchs der Polizeidatenbanken ausgerechnet dadurch ein Ende zu machen, dass im Wesentlichen alle alles finden und lesen können (gut, das ist jetzt etwas vereinfachend, aber aus allen Erfahrungen mit dem bestehenden BKA nicht sehr weit extrapoliert).

    Der Lerneffekt der Lektüre in Sachen PIAV war überschaubar, aber dafür bin ich auf eine beim BKA betriebene Datei „Übersicht offener Haftbefehle PMK“ gestoßen, die so beschrieben wird:

    Tabellenausschnitt mit Dateizweck: „Tabellarische Übersicht von Grundinformationen (Personalien/letzter Aufenthaltsort/Angaben zum Haftbefehl) zu Fahndungen von Peronen, die mindestens den Status eines Verdächtigen im Bereich PMK haben und zu denen ein offener Haftbefehl besteht.

    Wenn ich die Spalte 6 (vom Innenministerium etwas unzutreffend „Zweck“ überschrieben) richtig interpretiere, lässt das BKA bei jedem Haftbefehl (die kommen vermutlich wegen der ebenfalls beim BKA liegenden Haftdatei bei ihnen vorbei) eine Abfrage gegen ihre verschiedenen Datenbanken laufen. Dabei wäre schon mal interessant, welche das konkret sind: Nur der KAN? Die Gewalttäter-Dateien? Auch die Top-Secret-Amtsdateien?

    Sofern sich bei dieser Suche an der zu verhaftenden Person ein personengebundener Hinweis (PHW) wie LIMO, REMO oder AUMO zeigt, wird offenbar ein neuer Eintrag in dieser Haftbefehl-PMK-Datei generiert, und zwar ganz egal, ob die der Haftstrafe zugrundeliegende Straftat irgendwas mit mutmaßlichen Gesinnungen zu tun haben könnte oder nicht.

    Ich hätte dazu ein paar Fragen:

    • Hat da jemals jemand einen tatsächlichen Zweck formuliert? Also anfangend mit: „Wenn jemand wegen eines Waffendelikts einfahren soll und es ist ein Fascho, dann ist es gut™, wenn wir wissen, dass ein Fascho und nicht nur irgendwer wegen eines Waffendelikts einfahren soll.“
    • Hat dann wer gesagt, wie „dann ist es gut“ zu irgendeinem Nutzen werden könnte, der dem doch recht drastischen Eingriff in die Menschenrechte der Betroffenen proportional sein könnte?
    • Warum brauchts dann dazu, Schwarzfahrende mit und ohne Protesthintergrund verschieden zu behandeln? Ich biete übrigens eine 1:1-Wette an, dass von den Leuten, deren politischer PHW irgendeine Wurzel in der Realität hat, die breite Mehrheit Linke sind, die wegen entweder Dope oder Schwarzfahren einfahren sollen; meine Fantasie reicht nicht, für so eine Speicherung auch nur irgendeine Rechtfertigung zu finden jenseits von „lass uns die Zecken noch etwas ärgern“.
    • Hat da jemals jemand von einer Datenschutzbehörde draufgeschaut? Meine Arbeitshypothese: Die Prüfenden hat der Schlag getroffen, weshalb sie das nicht gleich laut im Datenschutzbericht angeprangert haben (dem BKA untersagen können sie ja leider in der Praxis nicht viel).

    Als schwacher Trost bleibt, dass die PHWs, die in den verschiedenen Datenbanken so vergeben sind, selbst weitgehend beliebig sind und Datenschutzprüfungen nur in Ausnahmefällen überstehen. Das setzt zumindest mal große Fragezeichen hinter die Eignung dieser Datei für eigentlich alles, denn Leute im Wesentlichen nach dem Zufallsprinzip in eine Datei stecken mag beim BKA Routine sein, für alle anderen ist es schlicht fieser Quatsch.

    Das tröstet ein wenig, denn menschenrechtsfeindlicher Quatsch schlägt immerhin nur nach dem Zufallsprinzip ein. Das ist immer noch besser als zielgerichtete Spezialunterdrückung für politisch aktive Menschen.

    Nachtrag (2021-06-05)

    Stellt sich raus: Das ist in Wirklichkeit relativ harmlos und jedenfalls nicht die Idee der Polizei. Die Datei wurde eingerichtet, um Bundestagsanfragen zu offenen Haftbefehlen gegen vermutliche FaschistInnen beantworten zu können, und weil das BKA extremistisch der Extremismustheorie anhängt, haben sie dann gleich alles, was sie in PMK einordnen, in eine Datei gekippt. Warum sie nicht einfach ein bisschen SQL laufen lassen zur Beantwortung der Anfragen, verstehe ich nicht ganz; freie Anfragen über so kitzligen Beständen sind zwar vom Datenschutz her ziemlich kritisch, aber wenn die Ausgabe so stark aggregiert ist wie hier, wäre das sicher milder gegenüber einer eigenen und dauerhaften Datenbank-Tabelle (einem View?).

    Auf der anderen Seite: Wenn die Polizei diese Tabelle gar nicht wollte, bleibt als Haupt-Ärger vor allem die völlig unklare Zweckbestimmung. Hätten sie gleich gesagt, worum es geht, hätte ich mir den ganzen Post sparen können.

  • Wie im Klischee

    Das Bild der EU als „Friedensmacht“, die allenfalls mit etwas Geld die Verhältnisse in der Welt milde verbessert, war natürlich schon immer Quatsch. Die Rücksichtslosigkeit, mit der Kommission und Rat rassistische und neokoloniale Agenden mit Gewalt durchsetzen („gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitk“ oder GASP) sah jedoch zu Zeiten der Lomé-Abkommen durchaus deutlich harmloser aus (wobei auch diese viele Millionen Menschenleben erheblich verkürzt haben dürften [1]).

    Die GASP nun verbindet sich derzeit sehr direkt mit der blutigen Migrationspolitik der EU, beispielsweise im Aufbau von Return Case Management-Systemen. Das sind Verfahren, die der EU Zugriff auf Repressionsdatenbanken der Herkunftsländer von Geflüchteten geben. Damit auch die Regierungen der Herkunftsländer etwas davon haben, finanziert die EU wo nötig deren Auf- und Ausbau, inklusive Vollerfassung der Fingerabdrücke der Bevölkerungen.

    Wie das genau aussieht, und wie nebenbei der sicherheits-industrielle Komplex der EU gefüttert wird, hat im letzten November Privacy International (PI) am Beispiel des Senegal dokumentiert: ein Laden namens Civi.Pol, angesiedelt zwischen Rüstungsindustrie sowie französischem Geheimdienst und Innenministerium, baut eine Fingerabdruckdatenbank für sowohl die dortige Regierung als auch das EU-Deportationsmanagement.

    PI hat den Artikel sehr treffend mit diesem offizielle Pressefoto der EU illustriert:

    Ndiaye und Avramopoulos dinieren

    Bildrechte beim Audiovisual Service der Europäischen Kommission; Nutzung für Zwecke der Verbreitung EU-bezogener Information.

    Hier trifft sich der Außenminister des Senegal, Mankeur Ndiaye, mit dem Migrationskommissar der EU, Dimitris Avramopoulos, und schon auf den ersten Blick ist klar, wer hier wem etwas erklärt, wer finster gucken darf und wer lächeln muss, und dass hier Anweisungen in kleinem Rahmen erteilt werden, die die Öffentlichkeit nichts angehen. Es ist auch kein_e Protokollführer_in in Sicht.

    Das Bild ist von 2016; vermutlich ging es bei diesem Gespräch also nicht direkt um den von PI diskutierten Deal. Dass aber die EU meint, ihre Verhandlungen mit Ländern im globalen Süden so illustrieren zu müssen und zu können, das ist zumindest in meiner Welt schon in sich ein Skandal.

    [1]Literaturtipp dazu: Brigitte Erler, Tödliche Hilfe, Freiburg 1985. Leider auch nicht in der Imperial Library of Trantor.

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