Gehorsam macht dumm
Die zweite Tiergeschichte, die ich neulich angekündigt habe als, nun, interessant in der Forschung aktuell-Sendung vom 9.6. (in den Meldungen ab Minute 21:55), war die, dass gezähmte Rinder ein Viertel weniger Hirn haben als wilde; ein Traditionsanarcho wie ich kann bei so einem Faktoid natürlich dem „Gehorsam macht dumm und gewalttätig“ nicht widerstehen, und so habe ich mir den zugrundeliegenden Artikel genauer angesehen.
Es handelt sich um https://doi.org/10.1098/rspb.2021.0813, „Intensive human contact correlates with smaller brains: differential brain size reduction in cattle types“ von Ana Balcarcel und KollegInnen; die Hauptautorin arbeitet am Paläontologischen Institut und Museum der Uni Zürich, was, in memoriam Tibatong und Zwengelmann, den Urmel-Fan in mir begeistert.
Von der Hirnschrumpfung im Rahmen der Domestikation hatte ich spätestens in einer DLF-Sendung von 2009 („Beschleunigte Evolution“) von Michael Stang gehört. Dort hatte er über schnelle Zuchterfolge bei Damhirschen[1] berichtet:
Das Zuchtziel war klar. Der domestizierte Damhirsch musste seine natürliche Schreckhaftigkeit verlieren und die Nähe des Menschen nicht als störend empfinden. Zugleich sollte die Fleischleistung erhöht werden. Durch Probeschlachtungen konnte Helmut Hemmer feststellen, ob bereits einige Tiere ein verkleinertes Gehirn hatten - eines der entscheidenden Merkmale beim Übergang vom Wildtier zum Nutztier. [...] Heute grasen über 1000 domestizierte Damhirsche auf Wiesen in Deutschland.
Im vorliegenden Artikel wird das deutlich quantitativer:
Domestic cattle have 25.6% smaller brains than wild cattle, according to regressions of EV [Endocranial volume, Gehirnvolumen] versus MZW [Muzzle width, Breite des Mundes, als Stellvertreter für die Körpermasse ...]. The difference between beef and dairy breeds is also significant (ANCOVA, p = 0.010).
Das ist natürlich weit weg von „Gehorsam macht dumm“, aber „25.4%“ weniger Hirn ist, mit drei signifikant aussehenden Stellen, schon eine Ansage.
Eine Ansage allerdings, die ich in Summe nicht so richtig überzeugend belegt finde, nicht mal mit nur einer signifikanten Stelle. Wobei, full disclosure, ich war gleich voreingenommen, denn die Methode von Balcarcel et al waren Schädelmessungen. Nennt mich irrational, aber ich werde ernsthaft nervös, wenn jemand an Schädeln herummisst. Das war schon bei Lavater schlimm, und nach dem durch Pseudowissenschaft gestützten völligen Zivilisationsbruch der Nazi-Phrenologie kann ich auf sowas nicht mehr entspannt, sagen wir sine ira et studio, blicken.
Aber ok, es scheint in dem Fach Konsens zu sein, die Breite des Mundes (ich vermute, der im Deutschen übliche Begriff wird Maulbreite sein, aber lasst mir mal etwas Antispeziezismus) als Maß für das Körpergewicht zu nehmen. Das Hirnvolumen hingegen schätzen die AutorInnen unter Verweis auf John Finarelli über ln(Hirnvolumen) = 1.3143 ⋅ ln(Länge der Schädelhöhle) + 0.8934 ⋅ ln(Breite der Schädelhöhle) - 5.2313. Das ist – von den fantastischen Genauigkeitsbehauptungen abgesehen – so unplausibel nicht: Proportionalität zwischen Logarithmen heißt, dass es da ein Potenzgesetz gibt, was bei der Relation zwischen linearen Größen und einem Volumen naheliegt; Fingerübung im Rechnen mit Logarithmen: bei Kugeln gilt 3 ln(r) + C = ln(V) mit einer Konstanten C.
Dennoch: Sowohl Hirnvolumen als auch die Körpermasse als Bezugsgröße werden in der Arbeit durchweg über Proxies geschätzt. Das mag ok sein – und nein, ich habe nicht versucht, mich von den zur Unterstützung dieser Proxies angeführten Arbeiten überzeugen zu lassen –, aber wer Claims wie
Bullfighting cattle, which are bred for fighting and aggressive temperament, have much larger brains than dairy breeds, which are intensively selected for docility.
ins Abstract schreibt, sollte da, finde ich, schon sagen, dass für die Studie weder Rinder noch ihre Hirne gewogen wurden.
Gesetzt jedoch, die Korrelationen zwischen den Schädelmaßen auf der einen und Körpermasse und Hirnvolumen auf der anderen Seite hauen wirklich hin[2]: Ganz laienhaft finde ich ja schon die Metrik „Hirnvolumen zu Körpermasse“ nicht ganz so überzeugend. Immerhin dürfte ja „relativ mehr Fleisch“ bei Nutzrindern auch ein Zuchtziel gewesen sein, und so kann das Verhältnis nicht nur wegen weniger Hirn, sondern genauso gut wegen mehr sonstiger Masse kleiner ausfallen. Das wäre übrigens auch plausibel im Hinblick auf größere Hirn-zu-Körper-Verhältnisse bei Kampfstieren (die Balcarcel et al finden), denn fette Kampfstiere erfüllen ihren Zweck vermutlich eher weniger gut.
Ähnlich wenig überzeugt haben mich die Grafiken der Arbeit. Die zentralen Aussagen werden mit Punktwolken mit reingemalten Regressionsgeraden belegt. In dieser Darstellung fällt alles Mögliche in Auge (z.B. „alle Wildrinder sind rechts oben“, einfach weil diese größer sind, oder „die Geraden der Kampfrinder sind steiler“, was, wenn ich das richtig sehe, das Paper weder nutzt noch erklärt), während die eigentlich in den Tests verwendeten Achsenabschnitte (entsprechend Faktoren nach Delogarithmierung) durch eigene Rechnung bestimmt werden müssten und jedenfalls optisch unauffällig sind.
Deshalb wollte ich probieren, mir geeignetere Plots auszudenken und habe versucht, die laut Artikel auf figshare bereitgestellten Rohdaten zu ziehen.
Ach weh. Das ist schon wieder so ein Schmerz. Zunächst figshare: Nichts geht ohne Javascript (wie schwer kann es sein, ein paar Dateien zu verbreiten? Wozu könnte Javascript da überhaupt nur nützlich, geschweige denn notwendig sein?) und das CSS versteckt völlig unnötigerweise die Seitengröße. Dazu: Google analytics, Fonts von googleapis.com gezogen; ich bin ja kein Freund von institutional repositories, bei denen jede Uni-Bibliothek ihren eigenen Stiefel macht, aber mal ehrlich: so ein Mist muss jetzt auch nicht sein, nur um ein paar Dateien zu verteilen. Dann doch lieber Murks der lokalen Bibliothek.
Die Datei mit den Daten sorgt nicht für Trost: Ich hatte mich schon auf so ein blödes Office Open XML-Ding („Excel“) eingestellt, aber es kam in gewisser Weise noch schlimmer: Was mensch bei figshare bekommt, ist ein PDF mit einigen formatierten Tabellen drin. An der Stelle habe ich dann aufgehört. Screen Scraping mache ich nur in Notfällen.
Dabei will ich an der Grundaussage („Domestikation macht Hirne relativ kleiner“) nicht mal zweifeln; das mit dem „dümmer“ allerdings (was meine Sprache ist, nicht die der AutorInnen) ist natürlich gemeine Polemik, und das Paper zitiert Dritte, die vermuten, die Reduktion des Hirnvolumens gehe vor allem aufs limibische System, „a composite of brain regions responsible for the processing of fear, reactivity and aggression“. Aber das Paper hat, soweit ich als interessierter Laie das erkennen kann, keine sehr starken Argumente für diese Grundaussage.
Dennoch habe ich nicht bereut, in das Paper reingeschaut zu haben, denn ich habe so erfahren, dass es Rinder gibt, deren Zweck es ist „to decorate the landscape“, vor allem die halbwilden Chillingham-Rinder. Die Idee, Rinder zu halten, damit der Park etwas hübscher aussieht: das finde ich hinreißend.
[1] | Hauskatzen, so hieß es irgendwo anders, haben Hirne wie ihre waldlebenden Verwandten. Damit wären sie Wildtiere, deren Habitat zufällig unsere Wohnungen sind. Das würde manches erklären… |
[2] | Der Physiker in mir würde bei sowas gerne die Schätzungen für die systematischen Fehler vergrößern, und so eine ganz grobe Fehlerbetrachtung hätte diesem Paper sicher gut getan. |