In Forschung aktuell am Deutschlandfunk gab es am 9.6. gleich zwei Tiergeschichten, die mich inspiriert haben, mal in die Papers hinter den Geschichten zu schauen. Die erste war die Geschichte von Spinnen, die sich als Ameisen tarnen. Ganz klar wird aus der DLF-Story nicht, worum es aktuell ging; die letzte einschlägige Publikation des Interviewten ist „Insincere flattery? Understanding the evolution of imperfect deceptive mimicry“ von Donald McLean und KollegInnen und ist bereits 2019 im Quarterly Review of Biology erschienen (http://doi.org/10.1086/706769; wie üblich bei Bedarf auf scihub ausweichen). Das ist zwar erkennbar nicht das, worum im Bericht ging (Computersimulation der Erkennung durch die Fressfeinde), aber es stellt die Fragen, um die es hier geht, und vor allem begründet er, warum Mimikry von Ameisen ein besonders geeignetes Modell zur Untersuchung des Phänomens ist: Sie findet nach Aussehen, Geruch und Verhalten statt, es gibt jede Menge Spezies, die sich in der Imitation von Ameisen versuchen, und die meisten davon sind relativ unproblematisch im Umgang.
Der Autor arbeitet übrigens an der Macquarie University in Sydney, Australien, und ich kann diese Gelegenheit zum zitieren des großartigen Bill Bryson nicht vorübergehen lassen:
You really cannot move in Australia without bumping into some reminder of his [des Ex-Gouverneurs Lachlan Macquarie, der offensichtlich eine Tendenz hatte, alles Mögliche und Unmögliche nach sich zu benennen] tenure. Run your eye over the map and you will find a Macquarie Harbour, Macquarie Island, Macquarie Marsh, Macquarie River, Macquarie Fields, Macquarie Pass, Macquarie Plains, Lake Macquarie, Port Macquarie, Mrs. Macquarie’s Chair (a lookout point over Sydney Harbour), Macquarie’s Point, and a Macquarie town. I always imagine him sitting at his desk, poring over maps and charts with a magnifying glass, and calling out from time to time to his first assistant, “Hae we no’ got a Macquarie Swamp yet, laddie? And look here at this wee copse. It has nae name. What shall we call it, do ye think?”
—Bill Bryson: In a Sunburned Country, New York, 2000
Aber zurück zu den Spinnen, die das Interesse der Leute von der Macquarie University geweckt haben. Hingerissen hat mich ja die Vorstellung, wie da Spinnen rumlaufen, die ihr vorderes Beinpaar neben den Kopf halten und hoffen, damit als Ameise durchzugehen, ganz wie Kinder, die mit ihren Zeigefingern die Antennen von Aliens markieren, wobei nicht klar ist, ob die Zeigefinger oder der Gedanke von Antennen auf Alienköpfen alberner sind.
Nun, es stellt sich heraus, dass sie damit ganz gut durchkommen, und zwar, weil ihre Fressfeinde eher darauf schauen, wie sie sich bewegen als wie sie jetzt im Einzelnen aussehen – und für den Bewegungseindruck sind die wippenden Fühler wohl recht relevant. Das wiederum hat mich an eine gute Bekannte erinnert, die seit frühester Jugend ziemlich kurzsichtig ist, jedoch versucht, so unabhängig von Brillen zu bleiben wie es halt geht. Sie hat immer angegeben, sie identifiziere Menschen vor allem anhand ihres Bewegungsstils oder vielleicht auch ihrer Gestik. Das funktioniere auch ohne scharfe Sicht aus großen Entfernungen, letztlich würden auch Strichmännchen reichen, wenn sie sich nur bewegen.
Die Frage, welche Mimikry die Fressfeinde überzeugt, war schon Thema des oben zitierten Artikels von McLean et al, der leider im Hauptteil mehr um evolutionäre Kostenfunktionen geht, und ganz ehrlich: ich glaube an nicht viel davon, denn die entsprechenden Modelle sind gewiss einige Größenordnungen zu schlicht. Echte Ökosysteme haben unzählige Parameter, und wenn mensch zu viele davon weglässt, kommt am Schluss Mumpitz wie das „egoistische Gen“ heraus; ganz so schlimm kommt es hier nicht, aber das Abstandsgebot von ökonomistischer Argumentation befolgen die AutorInnen eben auch nicht so recht. Dafür sind sie wohl auch an der falschen Uni, denn bei Macquarie haben klar die Metriker und Wettbewerbs-Taliban das sagen. Wer bei der Uni nach dem Autor sucht, kommt auf sowas hier als „Profil“:
Ach Mist, jetzt bin ich schon wieder von den Spinnen abgeschweift. Was auch deshalb unfair ist, weil McLean einen gewissen Metrikrealismus an den Tag legt: „Underlying the idea of imperfect mimicry is the assumption that mimetic accuracy can be quantified“ [Hervorhebung von mir]. Und weil das Paper eine, zumindest für Laien wie mich, wirklich ganz schöne Übersicht gibt, wie sich EvolutionsbiologInnen dem Problem nähern, warum wohl Mimikry manchmal richtig schlecht ist. Von „die Täuschenden probieren es gar nicht“ bis „für die Fressfeinde reichts“ ist da viel dabei – und klar, in verschiedenen System werden wahrscheinlich verschiedene Mechanismen am Werk sein.
Worum es neulich im DLF ging, war nun offenbar die „für die Fressfeinde reichts“-Hypthese, die wiederum in ein paar Varianten aufgedröselt wird; in einer Fassung, die ich für viele Zwecke recht überzeugend finde, wäre das etwa: Wenn Fressfeinde mal böse Erfahrungen mit Form V gemacht haben, werden sie vielleicht auch ähnliche Formen meiden, sagen wir W, zumal, wenn sie auch W nicht dringend zum Überleben brauchen. Ziemlich offensichtlich funktioniert das sogar im genetischen Gedächtnis. Jedenfalls glaube ich nicht, dass viele Menschen in meinem Umfeld böse Erfahrungen mit Spinnen und Schlangen gemacht haben, doch haben überraschend viele wirklich ernsthafte Ängste vor Tieren, die aussehen wie Schlangen oder Spinnen.
Und das war dann schon die Geschichte, soweit sie jetzt publiziert ist: Es gibt einen Haufen Varianten von Mimikry, und Spinnen, die ihre Vorderbeine halten, als wären sie Fühler, kommen damit durch, solange die Ameisen, die sie imitieren, nur garstig genug schmecken.
Zitiert in: Ameisen-Ambulanz in der Pandemie Gehorsam macht dumm