Tag Umwelt

  • „Rohstoffe in Deutschland“ im Karlsruher Naturkundemuseum

    Ein ziemlich großer Eimer mit Bruchsteinen drin, auf einem orangen Podest mit der Aufforderung, seinen täglichen Rohstoffverbrauch anzuheben.

    Überzeugende Museumspädagogik in der Rohstoff-Ausstellung im Naturkundemuseum Karlsruhe: für unseren Konsum[1] wird jeden Tag pro Nase insgesamt 32 kg Zeug aus der Erde geholt. Bei diesem Exponat kann mensch auf eigene Gefahr versuchen, das anzuheben.

    Zu den Museen, die ich mehr oder minder dank meines Museumspasses im vergangenen Jahr des Öfteren besucht habe, gehört das Naturundemuseum Karlsruhe. Wenn ich zwei Highlights nennen müsste: der Erdbebensimulator ist immer wieder ein Erlebnis, und die Dioramen, in denen ausgestopfte Tiere in idealisierten Ökosystemen arrangiert sind, sind gleichzeitig was fürs Auge und gerade richtig angestaubt für ruhige Kontemplation in Zeiten, in denen ohne Knöpfe und Beamer gar nichts mehr zu gehen scheint.

    Derzeit finden obendrein zwei ziemlich lohnende Sonderausstellungen statt. Da ist erstens „Von Sinnen“ über die Wahrnehmungen von allerlei Organismen. Diese Ausstellung ist allerdings demnächst vorbei. Sollte sie nochmal woanders gezeigt werden, lasst sie euch nicht entgehen, schon allein, weil sie zeigt, wie gut ein Design funktionieren kann, das wahrnehungseingeschränkte Menschen mitnehmen will (und wahrscheinlich auch mitnimmt).

    Noch bis April läuft dagegen „Deutschlands Bodenschätze“, eine kleine Ausstellung, in der ich erschreckend viel Zeit verbracht habe, etwa in Betrachtung einer der Manganknollen, die schon seit meiner Kindheit regelmäßig als Versprechen für hunderte weitere Jahre munteren Extraktivismus' gehandelt werden:

    Eine Art Stein mit vielen Gnubbeln drauf.

    Manganknolle aus der Ausstellung „Deutschlands Rohstoffe“ mit der Beschriftung: „aus dem deutschen Lizenzgebiet bei 117° West/11° 50' Nord aus 4.100 m Wassertiefe.“

    Da Manganknollen ja typischerweise vom Boden des Roten Meers oder (wie hier) der Clarion-Clipperton-Zone[2] gekratzt werden, erschließt sich auch gleich, dass das „Deutschland“ im Ausstellungstitel eher bedeutet „was wir für unsere Wachstumsorgie verschleudern“ als das durch den Genitiv vielleicht naheliegendere „was unter dem von unserer Regierung kontrollierten Gebiet liegt“.

    Die Verheerungen von Einfamilienhaus-, Neu- und Straßenbau

    Genau in diesem Sinn ist auch das ganz oben illustrierte Exponat zu verstehen: Ein Eimer mit einigen Steinen drin, den mensch anheben kann (oder vielleicht auch nicht). Die 32 kg, die der Eimer wiegt, sind eine plausible Quantifizierung des Anteils jedes/r BundesbürgerIn an dem, was die Menschheit in ihrem Produktionsrausch so aus der Erde rauswühlt. Und zwar Tag für Tag für Tag.

    Das mal für einen Moment tatsächlich zu tragen ist durchaus beeindruckend und vor allem instruktiv. Die Alltagserfahrung, also sagen wir, der Kram, den wir in die Mülltonne kippen, ist tatsächlich nur ein kleiner Teil dieser 32 kg. So mag das Heben dieses überraschend schweren Eimers ein Bewusstsein dafür wecken, welche Verheerungen gerade auch unsere Einfamilienhaus-, Neu- und Straßenbauwirtschaft anrichtet.

    Weit weniger konsumkritisch wirkte bei mir der ebenfalls durch hebbare Exponate illustrierte Dichteunterschied zwischen Magnesium, Alu und Stahl. Ich muss mich leider öffentlich zum wenig nachhaltigen Gedanken bekennen: „Mein nächster Computer sollte aber wirklich ein Magnesiumgehäuse haben“.

    Das wiederum führt relativ zwanglos in die Rubrik „warum schießen denn all die Leute im globalen Süden auf uns und unsere Freunde, die sie doch nur befreien wollen?“[3] In diese passt eine per Touchscreen entdeckbare Infografik der Rohstoff-Ausstellung:

    Infografik mit sichtbaren LCD-Pixeln: 69.2 Autos pro Mensch in der BRD, 0.3 in Guinea, dazu der Text: „Das in der deutschen Autoindustrie eingesetzte Bauxit kommt hauptsächlich aus Guinea“.

    Diese Grafik findet sich auch in der wirklich gut gemachten Broschüre „Argumente für eine Rohstoffwende“ des AK Rohstoffe etlicher deutscher NGOs wieder. Guckt euch das mal an, auch wenn ihr nicht in die Karlsruher Ausstellung kommt. Wer danach immer noch meint, wir sollten mal ordentlich grünes Wachstum machen, hat nicht nur ein stark aus der Balance geratenes Hirn-Hintern-Gleichgewicht, sondern dazu noch kein ohne aufwändige Bildgebung feststellbares Herz.

    Mein Herz (zu dem Autofeindschaft allzeit leicht Zugang findet) jedenfalls hat die Broschüre spätestens auf Seite 9 erobert:

    Mehr als 46 Milliarden Liter Benzin und Diesel verbrauchten Pkw in Deutschland im Jahr 2017. Eine reine Antriebswende würde diesen Verbrauch zwar reduzieren, aber auf Kosten eines Mehrverbrauchs von Metallen und Mineralen. Stattdessen wäre es wichtig, die Gesamtzahl der 47 Millionen zugelassenen Pkw in Deutschland deutlich zu reduzieren. Statt einer Antriebswende brauchen wir eine Mobilitätswende.

    [also gut: nur die „Mobilität“ zu wenden wird jetzt das Meadows-Szenario auch nicht bannen – aber trotzdem ist das schön gesagt].

    [1]Jaja, ich weiß, das passiert nicht in erster Linie „für den Konsum“, sondern um „Geld zu verdienen“. Der Unterschied ist tatsächlich ziemlich relevant, denn das hier ist bestimmt keine Verzichtspredigt. Wenn ich schon predige, dann Befreiung: Besser leben mit weniger Dreck.
    [2]Ich sage mutig voraus, dass, wenn die Dinge weitergehen, wie sie bisher verlaufen sind, ihr in den nächsten Jahrzehnten regelmäßig von der CCZ in den Nachrichten hören werdet; insofern lohnt es sich wahrscheinlich, sich die Bezeichnung schon mal zu merken.
    [3]

    Ah, „haben geschossen“ sollte ich hier zutreffender schreiben. Jetzt gerade zählt die einschlägige Wikipedia-Seite nur noch rund 1000 schießbereite BundeswehrlerInnen im globalen Süden, wozu ich großzügig auch die quasikolonial verwalteten (vgl) Länder Kosovo und Bosnien-Herzegowina sowie die Fluchtkontrolle im Mittelmeer zähle.

    Ich vermute sehr stark, dass wir nach der Metrik „deutsche Soldaten im Krieg“ gegenwärtig in der friedlichsten Zeit seit 1996 leben. Damals nämlich ist die Bundeswehr mit 2600 SoldatInnen zur IFOR-Operation nach Bosnien-Herzegowina gezogen, und seitdem war zwischen Mali und Hindukusch durchweg irgendwas, bei dem die verschiedenen Regierungen mit Tarnfleck, Gewehr und der gelegentlichen Bombe in größerem Stil mitmischen wollten.

  • Technoseum: Innovationen für den Umweltschutz von 1910

    Verschiedene kleine Geräte mit Walzen und Kurbeln in einer Vitrine arrangiert.

    Ratet, was das ist. Dann lest weiter.

    Erfreulicherweise verschafft mir mein Museumspass auch im Landesmuseum für Arbeit und Technik in Mannheim – Verzeihung, „Technoseum”, inzwischen – freien Eintritt.

    Da. Ich habe gleich damit aufgemacht: ich konnte das leicht bräsige „Arbeit und Technik“ gut leiden, schon, weil es den historischen Kompromiss der späten 1970er Jahre atmet. Ich stelle mir immer vor, dass Alt-Ministerpräsident Späth damals eine Art Propagandaabteilung für seine Daimler-Bosch-Spätzlesconnection bauen wollte, im seinerzeit noch viel gewerkschaftsgeprägteren Mannheim dabei aber viele Zugeständnisse machen musste. Wie viel Realität auch immer in dieser Fantasie stecken mag: mensch kann noch heute die Internationale hören im Museum, bekommt Einblick in die Elendsviertel der Gründerzeit und findet zwischen all den Wunderwerken dann und wann auch Einsprengsel von Technikfolgenabschätzung.

    Vor diesem Hintergrund war ich bei meinem Museumspass-Besuch neulich hocherfreut, dass ein paar der bunten „Zeitreise“-Klötze weiter an die Gründerjahre des Landesmuseums erinnern. Auf ihnen leitet immer noch ein Botschafter der späten achtziger Jahre in herzigen Videos in noch fernere Zeiten:

    Vier Klötze in kräftigen Farben, Sitzklötze in Blau, ein Monitorklotz in rot.  Auf dem Monitor eine Anzeige „Zeitreisen/Bitte nähertreten“.

    Museumspädagogik der späten 1980er: Ich oute mich hier als Fan.

    Ihr habt geraten, was am Anfang des Texts zu sehen ist?

    Aber eigentlich will ich ja verraten, was die Dinger im Foto oben sind. Nämlich: Das sind verschiedene Maschinen, die erlaubten, Wechselklingen für Nassrasierer zu schärfen und so deren Lebensdauer zu vervielfachen. Das war erkennbar ein nenenswerter Markt, so zwischen 1900 und 1920.

    Ich fand das bemerkenswert, weil zwar Rasierausrüstung aktuell vermutlich bei fast niemandem nennenswert ökologischen Fußabdruck ausmacht, das aber nur daran liegt, dass wir ansonsten so viel Dreck machen. All die Sprays, Geräte, Wässerchen und Einweg-Klingenhalter, die die breite Mehrheit der Menschen beiderlei Geschlechts mittlerweile auf die Entfernung von Haaren verwendet, dürfte schon einige zehn Kilo CO₂-Äquivalent im Jahr ausmachen[1] – pro Nase. Das wäre vermutlich schon im Prozentbereich des gesamten Fußabdrucks eines Menschen von 1910 gewesen, wenn es sich nicht gerade um Fürstinnen oder Soldaten handelte.

    So gesehen betrachtet ihr oben eine der berühmten technischen Lösungen, die uns bei der Bewältungung der Klimakrise helfen sollen, nur, dass die Rede von der Innovation bei Kram aus dem Kaiserreich wirklich nicht mehr passt [Pflichtmitteilung: Ich bleibe überzeugt, dass es für die Klimakrise keine technische Lösung gibt; sie ist ein fundamental wirtschaftliches, also soziales Problem und braucht daher auch soziale Lösungen; im vorliegenden Fall schlage ich Großentspannung in Sachen Körperbehaarung vor.]

    Ich hoffe, mit diesen Blech- und Messingwundern aus der ausgehenden Gaslichtzeit alle Steampunk-Fans des Internets hierher gelockt zu haben. Herzlich willkommen, und wo ihr schon da seid, habe ich ein weiteres Schmankerl aus dem Landesmuseum für euch:

    Ein in Kiloampere geeichter Strommesser und ein Voltmeter, rund, auf Marmorgrund, darüber en Blechschind in Sans-Serif: Turbodynamo II.

    „Turbodynamo II“ klingt wie albernes Technobabble aus Star Trek, ist aber echt. Wenn ich das Arrangement richtig interpretiere, gehörte das gute Stück zum Kleinkraftwerk, das die Waggonfabrik Fuchs – in einem Produkt der Firma könnt ihr im Technoseum Dampfzug fahren – Ende des 19. Jahrhunderts in Heidelberg hat errichten lassen. Die dazugehörige Dampfmaschine wird im Landesmuseum normalerweise ein paar Mal am Tag in Aktion vorgeführt, wenn auch mit anderswo erzeugtem Dampf, so dass niemand Kohle schaufeln muss. Dennoch: Steampunks, kommt nach Mannheim.

    Ein letztes Exponat habe ich noch zu bieten, und zwar eins aus der aktuellen Sonderausstellung zur Geschichte des Rundfunks:

    Auf eine Holzplatte montierte elektrische Bauteile, vor diesen ein großer Drehregler.

    Das ist ein frühes Radio (ein Audion), das eine unbekannte Person im Deutschland der 1920er Jahre gebaut hat.

    Aus diesem Exponat habe ich Hoffnung geschöpft, denn es stellt sich heraus, dass in dieser Zeit der Selbstbau von Radios bei Strafe verboten war; der Grund war wahrscheinlich ein wenig, dass die Erhebung der Rundfunkgebühr durch die Kontrolle des Gerätehandels erleichtert werden sollte.

    Doch versichert die Ausstellung, die Regierung habe sich vielmehr um ausländische Spione besorgt, die durch Radiobasteln leichter mit ihren Auftraggebern hätten kommunizieren können. Die Sorge war auch ganz sicher berechtigt. Der Irrsinn aber, dass eine Obrigkeit aus Angst um ihre Herrschaft ihren Untertanen das Basteln verbietet, der hatte hier keinen Bestand, zumal größere Teile der Bevölkerung eben doch Radios bastelten.

    Der derzeit als Einbahnstraße erscheinende Weg zu immer mehr „Sicherheitsgesetzen“ ist nicht unumkehrbar, schon gar nicht, wenn hinreichend viele Menschen die unerfreulichen Vorstellungen der Obrigkeit von „Sicherheit“ nicht teilen.

    An der Stelle muss ich meine Prinzipien der Trennung von Arbeit und Blog verletzen und eine Anekdote aus den späten neunziger Jahren erzählen. Ich habe damals am ADS gearbeitet, einer großen Datenbank mit fast allem, was in der Astronomie jemals wissenschaftlich publiziert wurde. Weil damals die Leitungen über den Atlantik insgesamt in etwa die Kapazität eines heutigen Haushaltsanschlusses hatten, unterhielten wir Spiegel in etlichen Ländern, darunter auch in Frankreich.

    Die französische Regierung jedoch – ich kratze die Kurve zurück zum Thema – hatte damals ihrer Bevölkerung nennenswerte Kryptographie verboten (kein Witz!), und so durfte das Institut, das den Spiegel betrieb, auch keinen sshd laufen lassen (ich erfinde das nicht). Und deshalb hatten wir für den französischen Spiegel extra irgendeinen haarsträubenden Hack, um trotzdem irgendwie rsyncen zu können. Auch dieser Unsinn ist ein paar Jahre später – längst hatte natürlich praktisch jedeR Netzwerkende in Frankreich ssh, und überall unterstützten auch Browser in Frankreich https – stillschweigend zu Grabe getragen worden.

    Erstaunlicherweise hat das Staatswesen die nicht mehr durch Kryptoverbote gehemmten Umtriebe der Spione seitdem überlebt – und wenn die Freie Kryptographie der Gesellschaft überhaupt einen Schaden zugefügt hat, war der jedenfalls ungleich kleiner als, ich sag mal, die Verheerungen durch Sarkozy, Hollande oder gar Macron.

    Ihr seht: Obrigkeitlicher Zugriff auf die Technologiewahl ihrer Untertanen ist kein Privileg von Kaisern oder mit Freikorps paktierenden Reichspräsidenten. Das machen auch ganz regulär unsere – <hust> demokratisch legitimierten – Regierungen. Aber Menschen, die in Zeiten von Chatkontrolle und Hackertoolparagraphen leben, erzähle ich damit wohl nichts Neues.

    [1]In dem hier schon öfter zitierten Standardwerk „How Bad Are Bananas“ schätzt Mike Berners-Lee (inflationsbereinigt) 500 g CO₂-Äquivalent pro für Supermarkt-Essen oder ein Auto ausgegebenem Dollar – übrigens gegenüber 6 kg, wenn ihr für den Dollar US-amerikanisches Benzin zu 2010er Preisen gekauft habt. Ganz grob dürftet ihr also auch für einen für plausible Konsumgüter ausgegeben Euro innerhalb eines Faktors drei ein halbes Kilo CO₂ rechnen müssen. Wer dann 100 Euro fürs Enthaaren (ist das realistisch? Ich mach dabei ja nicht mit…) ausgibt, darf dafür zwischen dreißig Kilo und dreihundert Kilo CO₂e veranschlagen (um in die Nähe der höheren Schätzung zu kommen, müsstet ihr jedoch ganz schön viele Schaumdosen mit interessanten Treibmitteln kaufen).
  • Genf vs. die Dauerbeflimmerung

    Foto: Werbedisplay über großer Autostraße

    Auch die Stadt Heidelberg – die in der Altstadt noch nicht mal Dachfenster erlaubt, damit vom Schloss aus alles ordentich aussieht – lässt die Werbefritzen von Ströer Dauerbeflimmerung ausrollen, hier an der Kreuzung Berliner-Jahnstraße, wo es wirklich nur eine Frage der Zeit ist, bis das Gezappel auf dem Bildschirm mal wen so ablenkt, dass er/sie sich oder wen anders kaputtfährt.

    Während die Bahn papiergewordene Cookiebanner verschickt, gibt es an vielen anderen Stellen offenbar durchaus Hoffnung, zumindest ein bisschen weniger menschliche Kreativität und Zeit (von Energie und Rohstoffen ganz zu schweigen) in die Belästigung der Allgemeinheit (etwas beschönigend auch „Werbung“ genannt) fließen zu lassen. So berichtet der DLF-Hintergrund vom 13.4.2022 aus Genf, die dortige Stadtverwaltung wolle ab 2025 alle Plakatwände und vor allem ihre besonders aufdringlichen elektronischen Geschwister abbauen lassen. Das Radiofeature gibt Beispiele für gelungenes, wenn auch weniger ambitioniertes, Zurückdrängen von Außenwerbung: die Stadtverwaltung von São Paulo hat bereits 2007 15'000 Plakatwände demontieren lassen, in Grenoble wurden 2014 immerhin 300 davon durch Bäume ersetzt.

    „Werbefrei für die Freiheit“

    —nicht J. Gauck

    Der DLF lässt weiter Menschen von der Initiative Hamburg Werbefrei zu Wort kommen, über deren Kampf speziell gegen die die leuchtenden und zappelnden Groß- und Riesenbildschirme auch die taz berichtet. Obszöne 45000 kWh Strom im Jahr verpulvert so ein Ding, also etwas wie 5 Kilowatt. Während ich das als „etwa so viel wie ein dauernd fahrendes kleines Auto“ (oder auch: 50 ordentlich reintretende RadlerInnen) umschreiben würde[2], übersetzt es der Aktivist im DLF-Interview das als „fast so viel wie 30 Einpersonenhaushalte“. Die taz hingegen schreibt „wie 15 Zweipersonenhaushalte“[1]. Angesichts solcher Zahlen wäre ich fast versucht, mich des grassierenden Patriotismus ausnahmsweise mal für gute Zwecke zu bedienen: „Werbefrei für die Freiheit“.

    Der taz-Artikel zitiert den Vorsitzenden der Grünen-Fraktion in Hamburg, Dominik Lorenzen, mit den Worten: „Es gibt in der Stadt [sc. Hamburg] eine gute Balance zwischen Werbeflächen und Platz für die Menschen“, was ich schon bemerkenswert finde; der Mann erkennt zwar an, dass Werbung schlecht für die Menschen ist, räumt ihr aber dennoch irgendeine Art von Rechten ein, die mit den Interessen der BewohnerInnen seiner Stadt auszubalancieren sei. Könnte ich ausgeschrieben haben, welcher Natur diese Rechte wohl sein könnten? Ich hoffe nur, dass mein Spamfilter legal bleibt…

    Foto: ein halbes Dutzend Plakatständer auf einem Haufen.

    Dieses Plakat-Ensemble (gleich neben dem Display von oben in der Heidelberger Jahnstraße) wäre nach den versprochenen Genfer Regeln noch ok: A0-Plakate, meist für Kultur oder, na ja, Bildungsveranstaltungen.

    Üblicher ist demgegenüber die Argumentation von Verkehrssenator Tjarks, die die Belästigung der Öffentlichkeit mit städtischen Einnahmen von 27 Millionen Euro (im Jahr 2020) rechtfertigt. Im DLF-Beitrag wird, im Gegensatz zum taz-Artikel, allerdings darauf hingewiesen, dass gerade neue Verträge geschlossen wurden, die den öffentlichen Raum billiger verhökern. In Genf soll die Stadt durch die Planungen viereinhalb Millionen Euro weniger einnehmen. Gegengerechnet: beide Kommunen verkloppen Stadtbild und Nerven der BewohnerInnen für recht einheitlich um die 20 Euro pro Nase und Jahr.

    Zahlen dieser Art dürften auch hinter der sehr schmallippigen Kommunikation stecken, mit der der werbeindustrielle Komplex AktivistInnen in Hannover gerade auflaufen lässt. Dort liegen offenbar 50 Bauanträge vor zur Ausweitung der Dauerwerbe-Beflimmerung (großartiger Begriff aus dem verlinkten Post) durch den Werbekonzern Ströer, Stadt wie Firma (die seit einem Jahr oder so übrigens auch t-online.de betreibt) mauern bezüglich der Details.

    Eine Schote bei der ganzen Geschichte: Nachdem die Aktivistis auf die Ströer-Übersicht zu Werbeanlagen in Hannover gelinkt hatten, um das Ausmaß des Problems zu illustrieren, wurde es Ströer selbst zu peinlich; jetzt ist da nur noch ein 404 („Sie haben womöglich eine falsche oder alte URL aufgerufen“), und leider hilft auch die Wayback-Maschine nicht. Indes ist allzu viel Fantasie nicht nötig, sich 4600 Werbeträger von Ströer in einer Stadt mit 540'000 EinwohnerInnen vorzustellen. In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung müssen damit je rund 100 Menschen eines von diesen Teilen bezahlen.

    Auch in Genf schlägt die Reaktion zurück. Ein „ideologischer Bulldozer“ sei es, die öffentliche Belästigung reduzieren zu wollen, „Zensur in Sowjetmanier“, die, und mit derart verdrehten Argumenten wollen allerlei Rechtsparteien und -verbände eine Volksabstimmung gewinnen, auch zu „weniger Umsatz“ in den Geschäften führen wird, weshalb „Arbeitsplätze verloren“ gehen werden.

    Ich bin immer ganz fassungslos, wenn ich solche Argumentoide höre. An sich ist die Situation nach dem Genfer Modell doch ganz klar: Wir belästigen die Leute weniger, was ja ein großer Vorteil ist. Und dafür müssen wir weniger arbeiten, was ja auch ein großer Vorteil ist. Wie könnte da jemand was dagegen haben?

    Die deutschen Werbefritzen sagen, sie hätten einen Anteil am BIP von 1.3% (sie sprechen von „Marktvolumen“). Rechnen wir die Arbeit ein, die es fürs Aufräumen hinter diesen Leuten braucht, und noch weitere Mühe im näheren Umfeld dieses Geschäfts, sind 2% weniger Arbeit ohne Werbung durchaus realistisch. Das wäre, wenn das auf alle Menschen gleichmäßig verteilt wird, ungefähr eine Stunde weniger Lohnarbeit.

    Wäre das nicht klasse? Kein doofen Blinketafeln mehr und am Freitag eine Stunde früher heimgehen?

    [1]Wer auch immer da gerechnet hat, hat ohnehin falsch gerechnet, denn zwei Leute, die einen Haushalt teilen, werden in aller Regel weit weniger Strom verbrauchen als zwei, die jeweils alleine wohnen. Das ist schon deshalb praktisch unausweichlich, weil die Dauerverbraucher Router und Kühlschrank einfach bzw. doppelt vorhanden sind. Da die 1500 kWh pro Einpersonenhaushalt so in etwa auch bei den EWS-Leuten auf ihren Rechnungen stehen, wird das wohl schon so in etwa hinkommen. Allerdings: In meinem Zweipersonenhaushalt wird sogar Essen und Wasser mit Strom erhitzt, und trotzdem kommen wir insgesamt bei 1300 kWh/Jahr raus. Insofern frage ich mich immer ein wenig: Was machen die Leute alle mit ihrem Strom?
    [2]

    Die Wikipedia sieht in einem Mitsubishi-Kleinwagen einen Elektromotor mit etwa 50 kW Leistung, aber das ist ganz offensichtlich eine Überdimensionierung. Mit 50000 Joule kann mensch gemäß E = mgh (die potentielle Energie ist Masse mal Erdbeschleunigung mal Höhe), ausrechnen, dass so ein Motor eine Tonne

    50000  J ⁄ (1000  kg⋅9.81  m/s2) ≈ 5  m

    in die Höhe bringen kann – und das jede Sekunde ein Mal.

    Stellt euch mal kurz eine Tonne irgendwas vor, und dann, was passiert, wenn mensch die fünf Meter runterfallen lässt. Ihr ahnt, was das für Urgewalten wären. Umgekehrt wird als Reichweite für die Kiste 160 Kilometer genannt, was ich für Zwecke der Überschlagsrechnung in eine Betriebsdauer von drei Stunden übersetze. Bei einer Batteriekapazität von ungefähr 15 kWh ergeben sich dann zwanglos die 5 kW mittlere Leistung bei einem Kleinwagen ohne Klimaanlage.

  • Werkstattbericht: Kohlendioxid auf dem Balkon

    Im November hatte ich mich gefragt, was wohl die recht deutlichen Spitzen der CO₂-Konzentration auf meinem Balkon verursachen mag, die sich da immer mal wieder zeigen. Um Antworten zu finden, habe ich seit Ende Dezember eine längere Messreihe laufen lassen und derweil vierstündlich Windrichtungen von der Open Weathermap aufgenommen. Das, so hoffte ich, sollte zeigen, woher der Wind weht, wenn die Konzentration auffällige Spitzen hat.

    Leider gibt ein schlichter optischer Vergleich von Konzentration (oben) und Windrichtung (unten; hier als Cosinus, damit das Umschlagen von 0 auf 360 Grad nicht so hässlich aussieht) nicht viel her:

    Zwei unterbrochene Kurven, die jeweils recht munter vor sich hinwackeln

    CO₂-Konzentration auf meinem Balkon und Windrichtung für Heidelberg aus der Open Weathermap zwischen Ende Dezember 2021 und Anfang Februar 2022. Die Lücken ergeben sich aus fehlenden Daten zur Windrichtung.

    Tatsächlich hilft es ein wenig, wenn mensch das anders plottet. Unten bespreche ich kurz das Programm, das Wind- und CO₂-Daten zusammenbringt. Dieses Programm produziert auch folgenden Plot in Polarkoordinaten:

    Scatterplot in Polarkoordinaten: Im Wesentlichen ein oranger Ring

    CO₂-Konzentration auf meinem Balkon gegen meteorologische Windrichtung (also: Herkunft des Windes, hier gezählt ab Nord über Ost, so dass das orientiert ist wie eine Landkarte) und farbkodierte Windgeschwindigkeit (in Meter pro Sekunde). Das ist ein PNG und kein SVG, weil da doch viele Punkte drauf sind und Browser mit so großen SVGs immer noch ins Schlingern kommen.

    Ich hatte mich seit einem Monat auf diesen Plot gefreut, weil ich erwartet habe, darin eine ordentliche „Beule“ zu sehen dort, wo die CO₂-Emission herkommt. Gemessen daran ist wirkliche Ergebnis eher ernüchternd. Dort, wo ich die Abgasfahne des Großkraftwerk Mannheim sehen würde, etwas unterhalb der 270°-Linie, ist allenfalls ein kleines Signälchen und jedenfalls nichts, was ich wirklich ernst nehmen würde.

    Etwas deutlicher zeichnet sich etwas zwischen 280 und 305 Grad ab, also Westnordwest. Das könnte die Ladenburger Chemieindustrie oder die BASF in Ludwigshafen sein; zu letzterer haben die kritischen Aktionäre im letzten Jahr angesagt, sie emittiere als Konzern 20 Megatonnen Kohlendioxid im Jahr. Wenn, was nicht unplausibel ist, die Hälfte davon am Standort Ludwigshafen anfällt, würden sich diese 10 Mt ganz gut vergleichen mit den 8 Mt, die ich neulich fürs Großkraftwerk gefunden hatte – die Abschätzung von dort, so eine Abgasfahne könne durchaus die Konzentrationsspitzen erklären, kommt also auch für die BASF hin. Allerdings wird deren Emission angesichts des riesigen Werksgeländes natürlich auch verteilter sein…

    Also: Überzeugend ist das alles nicht. Ein anderes Feature ist jedoch schlagend, wegen weniger Übermalung – die bei beiden Plots ein echtes Problem ist; nächstes Mal muss ich mit halbtransparenten Punkten arbeiten – noch mehr, wenn ich den Polarplot „ausrolle“, also den Winkel von unten nach oben laufen lasse:

    Scatterplot kartesisch: ein starker dunkler Klops bei 230 Grad

    In dieser Darstellung fällt ins Auge, dass die CO₂-Konzentration bei starken (dunkle Töne) Südwest- (um die 225°) -strömungen recht drastisch fällt. Das passt sehr gut zu meinen Erwartungen: Südwestwind schafft hier in der Rheinebene Luft durch die Burgundische Pforte, hinter der im Mittelmeerraum auch jetzt im Winter eifrig Photosynthese stattfindet. Wer drauf aufpasst, sieht die Entsprechungen auch im Polarplot von oben, in dem dann sogar auffällt, dass reiner Südwind gelegentlich noch besser photosynthetisierte Luft heranführt, auch wenn der Wind nicht ganz so stark bläst.

    Demgegenüber ist mir eigentlich alles, was sich im nordöstlichen Quadranten des Polarplots (und hier zwischen 0 und 90 Grad) abspielt, eher rätselhaft. Der doppelseitige Sporn bei genau 90 Grad ist vermutlich auf Datenmüll der Wetterstation zurückzuführen: Wahrscheinlich hat die einen Bias, der bei wenig Wind diese 90 Grad ausspuckt. Selbst nach meiner Interpolation (vgl. unten) ist das noch zu ahnen, wenn mensch die Verteilung der Geschwindigkeiten insgesamt (in rot) und die der Geschwindigkeiten rund um einen auffälligen Hügel rund um 90° Windrichtung herum (in blau) ansieht:

    Zwei Histogramme über Geschwindigkeiten, bei dem das blaue nur im linken Bereich ist

    Die elegante Schleife, die von (0, 500) über (70, 540) nach (90, 510) führt und die im Polarplot ganz alleine außen vor sich hinläuft, dürfte ziemlich sicher teils physikalisch sein. Dass das da so einen Ring macht, dürfte zwar ein Artefakt meiner gewagten Interpolation sein (vgl. Technics). Der Anstieg als solcher und wohl auch die grobe Verortung dürften aber ganz gut hinkommen. Sieht mensch sich das im zeitlichen Verlauf an, entspricht die Schleife der höchsten Spitze in der ganzen Zeitreihe.

    Nur leider ist im Nordosten von meinem Balkon nicht mehr viel: Ein paar Dutzend Häuser und dann der Odenwald, also für fast 10 km nur Bäume. Na gut, und ein Ausflugsrestaurant.

    Die aus meiner Sicht plausibelste Interpretation für diese Stelle basiert auf der Beobachtung, dass in der fraglichen Zeit (am 10.1.) wenig Wind wehte, die Temperaturen aber ziemlich niedrig lagen. Vielleicht schauen wir hier wirklich auf die Heizungen der Umgebung? Der Schlot unserer lokalen Gemeinschafts-Gasheizung ist in der Tat so in etwa im Nordosten des Balkons – und vielleicht wurde ja sonst nicht so viel geheizt?

    Technics

    Die wesentliche Schwierigkeit in diesem Fall war, dass ich viel engmaschiger CO₂-Konzentrationen (alle paar Minuten) habe als Windrichtungen (bestenfalls alle vier Stunden), und zudem viele Windrichtungen aus welchen Gründen auch immer (offensichtlich wäre etwa: zu wenig Wind) fehlen. Auf der positiven Seite erzeugt mein Open Weathermap-Harvester weathercheck.py eine SQLite-Datenbank, so dass ich, wenn es nicht furchtbar schnell gehen muss, recht bequem interessante Anfragen laufen lassen kann.

    Mein Grundgedanke war, die beiden einem CO₂-Wert nächsten Wind-Werte zu bekommen und dann linear zu interpolieren[1]. Das ist schon deshalb attraktiv, weil die Zeit (als Sekunden seit 1.1.1970) als Primärschlüssel der Tablle deklariert ist und deshalb ohnehin ein Index darauf liegt.

    Dabei sind aber je nach Datenverfügbarkeit ein Haufen Fälle zu unterscheiden, was zu hässlichen if-else-Ketten führt:

    def get_for_time(self, time, col_name, default=None):
      res = list(self.conn.execute(f"SELECT timestamp, {col_name} FROM climate"
        " WHERE TIMESTAMP BETWEEN ? AND ?"
        " ORDER BY ABS(timestamp-?) LIMIT 2",
        (time-40000, time+40000, time)))
    
      if len(res)!=2:
        if default is not None:
          return default
        raise ValueError(f"No data points close to {time}")
    
      elif abs(res[0][0]-time)<200 and res[0][1] is not None:
        return res[0][1]
    
      elif res[0][1] is None or res[1][1] is None:
        if default is not None:
          return default
        raise ValueError("One or more limits missing.  Cannot interpolate.")
    
      else:
        t1, v1 = res[0]
        t2, v2 = res[1]
        return (v1*(t2-time)+v2*(time-t1))/(t2-t1)
    

    Die Fallunterscheidung ist:

    1. Es gibt überhaupt keine Daten innerhalb von einem halben Tag. Dann kann ich nur einen Fehler werfen; zumindest in unseren Breiten sind Windrichtungen eigentlich schon über kürzere Zeiträume hinweg nur lose korreliert.
    2. Innerhalb von 200 Sekunden der gesuchten Zeit gibt es einen tatsächlichen Messwert, und dieser ist nicht NULL. Dann gebe ich den direkt zurück.
    3. Einer der beiden Werte, die um die gesuchte Zeit herum liegen, fehlt (also ist NULL). Dann kann ich nicht interpolieren und muss wieder einen Fehler werfen. Hier wäre es nicht viel unplausibler als die Interpolation, wenn ich einfach einen nicht-NULL-Wert nehmen würde; aber es wäre doch nochmal ein Stückchen spekulativer.
    4. Ansonsten mache ich einfach eine lineare Interpolation.

    NULL-Werte machen die Dinge immer komplex. Aber wenn ihr euch überlegt, wie viel Stress sowas ohne SQL wäre, ist das, finde ich, immer noch ganz elegant. Im echten Code kommt noch etwas Zusatzkomplexität dazu, weil ich Winkel interpolieren will und dabei immer die Frage ist, wie mensch die Identität von 360 und 0 Grad einrührt.

    Eine vorsorgliche Warnung: aus der Art, wie ich den Spaltennamen hier reinfummele, folgt, dass, wer den Parameter kontrolliert, beliebiges SQL ausführen kann. Sprich: wer diesen Code irgendwie Web-zugänglich macht, darf keine unvalidierte Eingabe in col_name reinlassen.

    Eingestandenermaßen ist diese Sorte von datenbankbasierter Interpolation nicht furchtbar effizient, aber für die 100000 Punkte, die ich im Augenblick plotten will, reicht es. Siehe: Den Code.

    [1]Klar: Windrichtungen über Stunden linear zu interpolieren ist in den meisten Wetterlagen eher zweifelhaft. So, wie ich meine Plots mache, ist es aber nicht wesentlich verschieden davon, die Punkte über den Bereich zu verschmieren. Das wiederum wäre konzeptionell gar nicht so arg falsch.
  • Wes Brot ich ess…

    Ein schrumpeliger Apfel

    Würdest du diesen Apfel in einem Supermarkt kaufen? Geht nicht mehr. Ich habe ihn vorhin gegessen. Also: Das, was Wurm und Balkonlagerung davon übrig gelassen haben. Auf der anderen Seite dürfte das Ding einen Behandlungsindex um die Null gehabt haben – siehe unten.

    Neulich hat die Parteistiftung der Grünen, die Böll-Stiftung, einen Pestizidatlas herausgegeben, eine Sammlung von Infografiken und Karten über den Einsatz von Giften aller Art in der Landwirtschaft. Wie üblich bei diesen Atlanten, haben sie das dankenswerterweise unter CC-BY publiziert, und besser noch: Die Sachen sind auch ohne Javascript leicht zugänglich[1].

    Ich hatte mir davon einige Kopfzahlen erhofft, denn ich habe wirklich kein gutes Gefühl dafür, was so an Giften auf den Feldern (und Weinbergen!) in meiner Umgebung landet und was das bedeutet. In der Hinsicht hatte ich kein Glück. Im Atlas gibts zwar haufenweise Zahlen, aber wirklich überzeugen konnten mich nur wenige, oft genug, weil sie letztlich Metriken ohne Bedeutung sind. Ein gutes Beispiel für diese Kategorie ist die Masse der Agrochemikalen (verwendet z.B. auf S. 11, S. 15, S. 44), die wohl als Proxy für „Umfang des Gifteinsatzes“ stehen soll.

    Das halte ich für profund fehlerhaft. Neonikotinoide, Glyphosat und DDT (um mal ein paar Pole aufzumachen) sind in spezifischer Giftigkeit, Wirkprofilen, Umweltauswirkungen, Kinetik und eigentlich jeder anderen Hinsicht fast völlig verschieden voneinander. „Eine Tonne Pestizid“ sagt daher so gut wie nichts aus. Obendrauf kommt noch ein kleiner Faktor Unsicherheit, ob sich die Masse auf Wirkstoffe, fertige Rezepturen oder irgendwas dazwischen bezieht, aber das wird wohl in diesem Geschäft kaum mehr als einen kleinen Faktor ausmachen – verglichen mit dem Grundproblem (in dem wir vermutlich über Faktoren von einigen tausend sprechen) wohl vernachlässigbar.

    Ähnlich schwerwiegende Einwände hätte ich zur breiten Mehrheit der Zahlen in dem Atlas: Vage beeindruckend, aber immer ein gutes Stück unterhalb der Schwelle von Wohlfundiertheit und allgemeinen Anwendbarkeit, die ein paar Ziffern zu einer Orientierung gebenden Kopfzahl machen könnten.

    Es gibt jedoch auch ohne schlagende Zahlen von werkübergreifender Bedeutung einige Einsichten, die wertvoll sind, so etwa auf S. 33 die Bankrotterklärung der Idee, durch grüne Gentechnik den Pestizideinsatz zu reduzieren. In Brasilien, wo transgene Pflanzen die Landwirschaft vollständig dominieren, sind 2019 47% mehr Pestizide ausgebracht worden als 2009. Gut: Soja (darauf schaut der Rest der Grafik, und das wird wohl auch den Pestizidverbrauch dominieren) ist in diesem Zusammenhang ein schlechtes Beispiel, denn das populäre transgene Soja („Roundup ready“) ist ja gerade designt, um große Mengen Herbizide zu überleben. Dazu sind wieder blind Massen angegeben, und die angesichts galloppierender Rodungen in Brasilien vermutlich rasch wachsende Anbaufläche wäre eigentlich auch noch einzurechnen, wenn die Zahlen einen analytischen Blick erlauben wollten.

    Aussagekräftiger wären für die behandelte Frage Zahlen für Mais gewesen (nämlich den mit der Bt-Abwehr gegen den Maiszünsler) und folglich auch Insektizide beim Mais. Aber seis drum: Die Grafik zeigt auch ohne methodische Strenge, dass es so nicht weiter gehen kann.

    A propos Mais: Dass der mit recht wenig Chemie auskommt, hat mich schon verblüfft:

    Mit "Schlechte Nachrichten für Apfel-Fans" überschriebene Grafik

    Grafik von Seite 14 des Pestizidatlasses. Die Caption im Atlas deutet an, dass der „Behandlungsindex“ etwas wie die mittlere Anzahl von Anwendungen von Pflanzenschutzmitteln ist; ob das wirklich so ist: Wer weiß? CC-BY Pestizidatlas

    Dass Wein heftig pflanzengeschützt wird, ist hier in der Gegend unübersehbar. Bei Hopfen und Äpfeln überrascht es mich aber, denn hiesige Apfelbäume in Streulagen, um die sich im Wesentlichen niemand kümmert, liefern durchaus sehr essbare Äpfel; hinreichend viele und große, um mir den ganzen Winter über die Basis für mein Frühstücksmüsli zu liefern (das Foto oben zeigt den von heute).

    Klar haben fast alle Hautdefekte, und in vielen wohnte auch mal ein Wurm – aber das tut ihrer Essbarkeit wirklich keinen Abbruch. Aus dieser Erfahrung heraus hätte ich erwartet, dass schon mit recht moderaten Interventionen supermarktkompatible Äpfel erreichbar wären. Das stimmt offenbar so nicht. Die letzten 50% zum makellosen Produkt – und wahrscheinlich auch die Spalierzucht in Monokultur – scheinen Äpfel von einer ganz einfachen zu einer ganz heikelen Kultur zu verwandeln.

    Meine Lieblingsgrafik ist schließich auf Seite 39:

    Eine Kopfzahl gibt auch das nicht her. Als Beleg für das alte Motto „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ kann das aber durchaus durchgehen. Und als Illustration dafür, wie problematisch es ist, Wissenschaft – wie wir das in unserer Drittmittelkultur nun mal tun – über Geld zu regulieren.

    [1]Na ja, blöderweise ist ohne Javascript so ein doofes animiertes GIF neben jedem Ding, das runtergeladen werden kann. Tipp an die WebseitenmacherInnen: Wenn ihr diese Sorte Gimmick schon braucht, stattet ihn doch wenigstens mit einem display: none im CSS aus. Per Javascript könnt ihr das display-Attribut dann nach Bedarf konfigurieren. Nettoeffekt: UAs ohne JS (aber mit elementarem CSS) sehen keine blinkenden Trümmer.
  • Kohlendioxid auf dem Balkon

    Nicht offensichtlich korrelierte Kurven von CO_2, Windgeschwindigkeit und Temperatur

    CO2-Konzentrationen auf meinem Straßenbalkon, zusammen mit Windgeschwindigkeiten und Temperaturen. Das ist ein SVG, es lohnt sich also durchaus, in einem separaten Browserfenster in den Plot zu zoomen.

    Ich habe neulich eine längere Zeitreihe mit CO2-Konzentrationen auf meinem „vorderen” Balkon genommen. Zur Einordnung: Das Messgerät steht so etwa 10 Meter über und 15 Meter neben einer halbwegs viel befahrenen Straße. Ob das wohl etwas mit den wilden Schwankungen zu tun hat, die in der Kurve oben vor allem um den 9.11. herum zu sehen sind? Muss ich meine Einschätzung von neulich, einzelne Autos seien selbst im mittleren Nahbereich im CO2 kaum nachzuweisen (nun: an der frischen Luft, natürlich), revidieren?

    Verheizt jemand 100000 Tonnen Kohlenstoff am Tag?

    Wer die Kurven von Windgeschwindigkeit[1] und CO2-Konzentration vergleicht, könnte schon glauben wollen, ohne externe Frischluftzufuhr (also bei niedrigen Windgeschwindigkeiten) gehe das CO2 lokal merklich nach oben. Wirklich überzeugen kann mich aber keine Korrelation zwischen den verschiedenen geplotteten Größen.

    Darum gehe ich die Frage zunächst deduktiv an: woher könnten die enormen Schwankungen der CO2-Konzentration wohl kommen? Wir reden hier von einer Spanne zwischen 260 ppm und über 400 ppm, wobei es vorkommen kann, dass ich innerhalb von wenigen Stunden 100 ppm mehr CO2 sehe. Der langfristig ansteigende Trend macht mir übrigens weniger Sorgen: Wenn die Photosyntheserate Richtung Winter dramatisch sinkt, die Emission aber z.B. wegen Heizung eher zunimmt, ist das angesichts der beschränkten globalen Durchmischung der Atmosphäre auf der Erde zu erwarten[2], auch wenn das vielleicht nicht gerade innerhalb von zwei Wochen vonstatten gehen sollte.

    Mit den Werkzeugen aus dem Artikel zu meiner Heizleistung von neulich kann mensch abschätzen, was so eine Konzentrationsschwankung in einer lokal gut durchmischten Atmosphäre in, sagen wir, verbranntem Kohlenstoff bedeuten würde.

    Dafür muss ich erst überlegen, wie viele CO2-Teilchen ΔNCO2, oder der Bequemlichkeit halber eher welche CO2-Stoffmenge ΔnCO2 = NCO2 ⁄ A („in mol”) es braucht, um die Konzentration (in ppm, also CO2-Molekülen pro Million Teilchen insgesamt) innerhalb eines angenommenen Volumens V um das Δcppm zu erhöhen, das ich aus dem Plot ablese. Gemäß meinen Rezepten von neulich ist das:

    ΔnCO2 = (V)/(Vm)⋅Δcppm⋅106, 

    wobei Vm wieder das Normvolumen ist (22.4 Liter pro mol); das A von oben war die Avogadro-Konstante. Um herauszukriegen, wie viel Kohlenstoff (sagen wir, in Kilogramm) ich verbrennen muss, um diese Änderung quasi durch „frisches“ CO2 hinzukriegen, muss ich das nur noch mit dem Atomgewicht von Kohlenstoff uC multiplizieren.

    Das Atomgewicht ist, weil Kohlenstoffkerne meist 6 Protonoen und 6 Neutronen enthalten, mit 12 g/mol gut abgeschätzt (ganz genau ist das nicht, vor allem weil in der Atmosphäre auch etwas C-13 und sogar ein wenig C-14 herumschwebt). In dieser Kopfzahl steht das Gramm aus historischen Gründen. Das Mol wurde so definiert, dass die Zahl der Nukleonen im Kern so in etwa das Atomgewicht liefert, als in der Wissenschaft das cgs-System (aus Zentimeter, Gramm und Sekunde) seine große Zeit hatte. Würde mensch das Mol in den heutigen SI-Zeiten (na gut: die meisten AstronomInnen bleiben dem cgs verhaftet und reden zum Beispiel über Energien in erg) definieren, wäre die Avogadro-Konstante um einen Faktor 1000 (nämlich den Faktor zur SI-Einheit Kilogramm) größer.

    Wie auch immer: Wenn ich mir mal vorstelle, dass das, was ich da auf meinem Balkon messe, repräsentativ für den Umkreis von 10 km und bis in eine Höhe von 2 km wäre (mensch ahnt schon: Ich eröffne hier eine Reductio ad absurdum), komme ich auf ein Volumen von

    V = 2⋅π⋅(10  km)2⋅(2  km) ≈ 1.3⋅1012  m3

    was mit Vm ≈ 0.02 m3 ⁄  mol, einer Änderung von 100 ppm, die mensch als Sprung am 9. und 10.11. sehen kann, sowie der Formel oben auf

    ΔmC  = uC(V)/(Vm)⋅Δcppm⋅106  ≈ 0.012 kg ⁄ mol(1.3⋅1012  m3)/(0.02 m3 ⁄  mol)⋅100⋅10 − 6  ≈ 8⋅107  kg

    oder achzigtausend Tonnen verbrannten Kohlenstoff führt. Das klingt nach richtig viel und ist es auch. Aber das Volumen, das ich hier betrachte, sind eben auch 1200 Kubikkilometer, und wer sich erinnert, dass ein Kubikmeter eines normalen Gase bei Normalbedingungen um die 1 kg wiegt, kann leicht ausrechnen, dass die Luft in diesem Volumen 1.2⋅1012  kg (oder 1.2 Milliarden Tonnen – Luft in großen Mengen ist überhaupt nicht leicht) wiegen wird. Dieser ganze Kohlenstoff macht also ungefähr 0.07 Promille (oder 70 Milionstel) der Masse der Atmosphäre aus, was ganz gut mit den 100 ppm in Teilchen zusammengeht, die wir in die ganze Rechnung reingesteckt haben.

    Andersrum gerechnet

    Tatsächlich kann mensch die Kohlenstoffmasse, die eine Erhöhung der Teilchenkonzentration in einem Gasvolumen bewirkt, auch so herum abschätzen. Der Umrechnungsfaktor von Teilchen- zu Massenkonzentration ist der Faktor zwischen den Dichten von CO2 und Luft. Das Verhältnis dieser Dichten ist wiederum das der jeweiligen Atommassen, solange jedes Teilchen das gleiche Volumen einnimmt; das schließlich folgt aus der Annahme, dass die Gase ideal sind, was wiederum für unsere Abschätzungen überallhin gut genug ist.

    Für CO2 ist das mit den überwiegend vorkommenden Isotopen von Sauerstoff und Kohlenstoff 16 + 16 + 12 = 44, für Luft, wenn wir nur auf den Stickstoff N2 schauen, 14 + 14 = 28. Demnach macht 1 ppm in der Teilchenzahl von CO2 44 ⁄ 28 ≈ 1.6 ppm in der Masse aus, solange die CO2-Konzentration so gering ist, dass tatsächlich N2 die Dichte dominiert.

    Andererseits macht Kohlenstoff nur 12 ⁄ 44 ≈ 0.3 an der Masse im CO2 aus, die Zunahme an Kohlenstoff ist demnach nur ein Drittel von dem gerade berechneten 1.6, also etwas wie 0.5. Folglich werden aus 100 ppm Änderung in der Teilchenzahl etwas wie 100⋅0.5 = 50  ppm Änderung in der Masse; wer das genauer rechnet, bekommt auf diese Weise natürlich das gleiche Resultat wie oben raus.

    Wie herum mensch das auch rechnet, es ist klar, dass niemand in der kurzen Zeit so viel Kohlenstoff verbrennt. Ein schneller Reality Check: Meine Kohlendioxid-Kopfzahl war, dass die BRD 2/3 Gigatonnen im Jahr emittiert, was mit dem C/CO2-Verhältnis von 0.3 von oben ungefähr 200 Megatonnen Kohlenstoff entspricht, oder irgendwas wie gut 500000 Tonnen am Tag. Damit wäre die Zunahme, die ich hier sehe, rund ein Sechstel des gesamten Kohlenstoffbudgets der BRD, und mehr, wenn der Anstieg schneller als in einem Tag vonstatten geht: Das ist (fast) natürlich Quatsch.

    Aber was ist es dann? Noch immer gefällt mir die These ganz lokaler Schwankungen nicht. Wenn hier wirklich nur das CO2 von Autos und Heizungen nicht mehr weggepustet würde, müsste die Korrelation zwischen CO2 und Wind viel deutlicher sein.

    Ist es eine die Abgasfahne des GKM?

    Nächster Versuch: Rund 12 km westlich von meiner Wohnung läuft das Großkraftwerk Mannheim („GKM“). Wenn das Volllast fährt und meine Wohnung in seine Abgasfahne kommt, könnte das so ein Signal geben?

    Nun, so ein Kraftwerk liefert ungefähr 1 Gigawatt elektrische Leistung (wie mir der Wikipedia-Artikel dazu gerade verrät: darunter 15% des deutschen Bahnstroms), was bei einem Wirkungsgrad von 1/3 (ok, bei modernen Kohlekraftwerken ist das noch ein wenig mehr, aber als Kopfzahl taugt es) auf 3 Gigawatt thermische Leistung führt (tatsächlich nennt die Wikpedia eine Bruttoleistung von 2146 MW für das GKM).

    Aus den 394 kJ/mol, die bei der Verbrennung von Kohlenstoff frei werden (vgl. den Artikel zu meiner thermischen Leistung) könnte mensch jetzt die CO2-Emission aus der Bruttoleistung ableiten, aber ich bin mal faul und sehe beim WWF nach, der für Kraftwerke dieser Größenordnung ansagt, für eine Kilowattstunde Strom (wir sind dann also wieder bei der Nutzleistung) werde rund ein Kilogramm CO2 emittiert.

    Wenn das Kraftwerk also Volldampf (rund ein GW netto) macht, wird es etwa

    109  W⋅0.001 kg ⁄ Wh = 106 kg ⁄ h

    CO2 emittieren, also etwa 1000 Tonnen, was wiederum mit unserem 0.3-Faktor zwischen Kohlenstoff und CO2 zu einem Kohleverbrauch von 300 Tonnen pro Stunde führt.

    Damit leert das Kraftwerk unter Vollast ein Großes Rheinschiff in zehn Stunden – das scheint mir zwar schon sehr schnell zu gehen, ist aber auch nicht gänzlich unplausibel. Gegenrechnung: Das WWF-Dokument von oben nennt 7.7⋅109  kg ⁄ a als CO2-Emission des GKM im Jahr 2006. Mit der Ur-Kopfzahl π ⋅ 1e7 Sekunden pro Jahr übersetzt sich das in eine mittlere Emission von etwa 200 kg pro Sekunde oder gut 1000 Tonnen pro Stunde. Das passt fast zu gut, denn als jemand, der das Kraftwerk von seiner Leseecke aus sehen kann, kann ich zuverlässig sagen, dass das Ding keineswegs durchläuft. Andererseits hatte das Kraftwerk 2006 auch noch einen Block weniger, und überhaupt ist in der Rechnung genug Luft für Stillstandszeiten.

    Nehmen wir …

  • Kopfzahlen 2: Wir fressen der Welt die Haare vom Kopf

    Im Hintergrund Politik vom 9.9.2021 habe ich die schockierendste Zahl dieses Jahres gehört. Das Thema wird dort so eröffnet:

    1,6 Milliarden Hektar Ackerflächen gibt es auf der Erde. Nach den Zahlen des Umweltbundesamtes wächst nur etwa auf einem Fünftel davon Nahrung für die menschliche Ernährung. Auf den übrigen vier Fünfteln wird dagegen Tierfutter und Biosprit produziert.

    Auch wenn mir klar war, dass bei der „Wandlung“ von Soja und Getreide in Steaks oder Eier zwischen 70% und 95% des Nährwerts verlorengehen[1] – „Wandlung“ ist hier eingestandenermaßen ein wenig euphemistisch –, hatte ich diese danach relativ naheliegende Konsequenz nicht auf dem Schirm: 80% der Äcker auf diesem Planeten gehen im Groben in „unsere“ (also die der reichen Länder) Völlerei. Derweil:

    Und trotzdem gehen immer noch mehr als 800 Millionen Menschen hungrig zu Bett. Und viele davon sind selbst Kleinbauern – und Kleinbäuerinnen. Sie erwirtschaften auf einem Bruchteil der weltweiten Ackerfläche bis zu 70 Prozent der menschlichen Nahrung, gesicherte Zahlen gibt es hier nicht […]

    Also: unsere tolle, marktgestählte, industrielle Landwirtschaft trägt plausiblerweise nur zu 30% zur Welternährung bei, obwohl sie den Großteil der intensiv zur Nahrungsmittelproduktion nutzbaren Landfläche in Anspruch nimmt (und um die 10% der CO2-Emissionen verursacht). Das war, was mich wirklich schockiert hat.

    Wenn „unsere“ Firmen im globalen Süden für die Produktion unseres Tierfutters und, schlimmer noch, unseres „Biosprits“ Land requirieren und den dortigen Kleinbauern wegnehmen („Landgrabbing“), ist das schlicht ein Hungerprogramm. Wieder mal frage ich mich, wie die Leute in, sagen wir, hundert Jahren auf uns zurückblicken werden.

    Kopfzahlen für große Flächen

    Unterdessen sind die 1.6 Milliarden Hektar von oben ein guter Anlass, meine Kopfzahlen für „große“ Flächen loszuwerden. Erstmal: Ein Hektar ist ein Quadrat, dessen Diagonale ein Mensch in etwa zwei Minuten durchläuft. Nämlich: Ein nicht allzu hektischer Mensch läuft so gegen 4 km/h oder etwas mehr als einen Meter pro Sekunde. Die Diagonale eines Quadrats mit 100 Meter Kantenlänge (eben ein Hektar) sind 100 Meter mal √2 oder rund 150 Meter[2]. Bei einem guten Meter pro Sekunde dauert es also rund 120 Sekunden von Ecke zu Ecke durch die Mitte.

    Ansonsten ist die bessere Einheit für große Flächen der Quadratkilometer, also 100 ha. Mithin: 1.6e9 ha (1.6 ⋅ 109 ist in meinem Eingabeformat ReStructuredText echt lästig zu schreiben, weshalb ich mir hier die in eigentlich allen nichtantiken Programmiersprachen übliche Schreibweise genehmige) sind 1.6e7 oder 16 Millionen km².

    Wie viel ist das? Etwas albernerweise weiß ich immer noch die Fläche der alten Sowjetunion, des in meiner Kindheit größten Staats der Erde: das waren 22 Millionen km². Es gibt also global etwas weniger Acker als das, was mal alles zur Sowjetunion gehörte. Ich denke, der zeitgemäße Ersatz sind einerseits Afrika[3] mit 30 Millionen km² und andererseits die USA und China mit jeweils rund 10 Millionen km². Ich finde, auf diese Weise kriegt mensch schon mal ein Gefühl, wie die global genutzte Ackerfläche auf einer Weltkarte aussähe – und wie viele Wüsten, Tundren, Hochgebirge, Wildnisse oder Parkplätze es so geben wird.

    A propos Welt: Die Erde hat bei einem Radius von etwa 6000 km eine Fläche von 4 π (6000 km)² oder 450 Millionen km² oder auch 15 Mal Afrika, wobei mensch nicht vergessen sollte, dass im Fall der Erde 70% der Fläche von Meeren eingenommen wird und also Afrika deutlich über 20% der Landfläche ausmacht.

    Zwecks Gefühl und Abschätzung merke ich mir noch, dass die BRD eine Fläche von rund 350'000 km² hat (oder, für Leute, die sich das so leichter merken können: eine Drittelmillion). Kombiniert mit der Kopfzahl für Afrika heißt das: die BRD passt 100 Mal in Afrika rein. Von der Fläche her. Vom Ressourcenverbrauch her… eher so zwei Mal[4].

    Die Fläche von Baden-Württemberg ist 35'000 km². Das ist bequem zu merken, weil es einen Faktor zehn kleiner ist als die BRD, und ist als Größenordnung für ernstzunehmende Bundesländer auch sonst ganz brauchbar (die Spanne reicht von 71'000 km² für Bayern bis 16'000 km² für Schleswig-Holstein, also alles grob innerhalb von einem Faktor zwei, was für viele Abschätzungen überallhin reicht).

    So eine Zahl im Kopf ist beispielsweise praktisch, wenn mensch am Neckar steht und abschätzen will, wie viel Wasser da wohl fließt: Sein Einzugsgebiet wird so etwa die Hälfte des Landes sein (fürs einfache Rechnen: 20'000 km²), und es wird da zwischen 500 und 1000 mm pro Jahr regnen (800 mm Niederschläge pro Jahr sind keine unvernünftige Schätzung für normale Gebiete in der BRD). Wegen einfacher Rechnung nehmen wir hier mal 1000 mm, und dann müssten über dem Einzugsgebiet jedes Jahr 20e3 km² ⋅ 1e6 m²/km² ⋅ 1 m an Wasser runterkommen, also irgendwas wie 20e9 m³. Einiges davon wird, gerade im Sommer, verdunsten oder auch von Planzen in Sauerstoff verwandelt, bevor es in Heidelberg vorbeikommt; das Problem verschiebe ich aufs Ende des übernächsten Absatzes.

    20 Milliarden Kubikmeter pro Jahr sind etwas unhandlich, wenn mensch gerade auf den Fluss guckt. Wie sieht es pro Sekunde aus? Nun, ein Jahr hat etwas wie 3e7 Sekunden (vgl. die klassische Kopfzahl in Kopfzahlen 1), also wird der mittlere Abfluss vom Neckar was wie 20/3 ⋅ 10², also rund 670 m³/s sein. Tatsächlich gibt die Wikipedia 145 m³/s für den Pegel Mannheim an.

    Gut: wir liegen einen Faktor vier zu hoch, aber das ist für so eine Abschätzung schon ok, zumal der tatsächliche Abfluss übers Jahr hinweg um weit mehr als so einen Faktor schwanken wird. Wers genauer haben will: das wirkliche Einzugsgebiet sind nur 13'934 km², und dann ist da der Evapotranspirationswert (vgl. Erläuterung in der Wikipedia), dessen Einfluss nicht ganz einfach anzubringen ist, schon, weil einiges des verdunsteten Wassers ja noch im Einzugsgebiet wieder abregnet oder -taut. Egal: Ein Faktor vier ist oft gut genug.

    Letzte Kopfzahlen in dieser Rubrik: Größere europäische Städte wie Berlin oder Hamburg haben so gegen 1000 km² (in Wirklichkeit: 892 bzw. 755), kleinere Städte wie Heidelberg eher so 100 km² (in Wirklichkeit: 109).

    [Alle Flächenangaben hier aus den jeweils erwartbaren Wikipedia-Artikeln]

    [1]Das sind FAO-Schätzungen, die z.B. die gesetzliche Unfallversicherung grafisch schön aufgemacht hat. Die FAO-Quellen habe ich auf die Schnelle nicht im Netz gefunden.
    [2]Eine nicht direkt flächige Kopfzahl obendrauf: √2 ist ungefähr 1.44, und der Kehrwert ungefähr 0.7. Ein wenig flächig ist das aber auch: Die Fläche eines A4-Blatts ist (theoretisch genau) (√2)-(2⋅4) m², für A3 ist sie (√2)-(2⋅3) m² usf. Messt und rechnet selbst oder lest einfach im Wikipedia-Artikel zu Papierformaten nach, warum das so ist.
    [3]Asien (55 Millionen km²) eignet sich nicht so gut als Referenz, weil zu viele Leute Europa als separaten Kontinent abrechnen und zumindest ich mir nie sicher wäre, ob meine Fläche mit oder ohne Europa zählt (die 55 Millionen zählen den ganzen Kontinent, also mit den Gebieten westlich von Ural und kaspischem Meer).
    [4]CO2-Emission der BRD aus Kopfzahlen 1: 2/3 Gigatonnen; für Afrika insgesamt gibt das dort zitierte Our World in Data-CSV 1.4 Gigatonnen.

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Letzte Ergänzungen