Wenn die Barbarei im Wortsinn vor der Haustür liegt

Ausschnitt eines Faksimiles eines kursiv getippten Briefs vom 30.6.1942: „Wir bitten um Zuweisung von (60) 100 Ostarbeiter(n), die als Gleisarbeiter […] bei […] der OEG eingesetzt werden sollen.“

In der Ausstellung des Mannheimer Stadtarchivs zeigt sich die Banalität des Bösen fast vor meiner Haustür, denn die Gleise der Stadtbahn durch Dossenheim könnten auch von ZwangsarbeiterInnen verlegt worden sein.

Am letzten Wochenende war ich mit meinem Museumspass im Mannheimer Stadtarchiv, seit einigen Jahren Marchivum genannt. Vorneweg will ich gleich Werbung machen: Geht da hin, wenn ihr mal in der Gegend seid. Zumindest als wir dort waren, war es nämlich dramatisch zu leer für diese erkennbar mit viel Herzblut geschaffene Ausstellung, in der viel über die Stadt und ihre Geschichte zu lernen ist, und das meistens in zumindest interessanter, manchmal sogar wirklich guter Aufarbeitung.

Das sage ich, obwohl es mir viel zu kalt war. Aber schön, das Marchivum ist in einem alten Hochbunker untergebracht, was selbst Anlass ist für eine Art Ausstellungsstück: Nach einer Passage durch einen engen Gang kann mensch in einem Film sehen, wie Menschen dort noch bis 1966 hausten. Es mag sein, dass so ein Bunker wirklich schwer zu heizen ist, und immerhin ist es in den Räumen etwas wärmer als die lokale Jahresdurchschnittstemperatur von 10.5° C.

Ich empfehle den Besuch zudem, obwohl ich nicht überzeugt bin, dass die geschätzt 50 Beamer und nach Hunderten zählenden Monitore wirklich alle ein museumspädagogischer Gewinn sind. Gerade aber in der Dauerausstellung „Was hat das mit mir zu tun?“, die sich mit dem Mannheim unter der Herrschaft der NSDAP beschäftigt, erlauben die zahlreichen Touchscreens, eine Fülle von Archivalien auszustellen und zu kommentieren, die in konventionellerer Präsentation jeden Rahmen und wahrscheinlich auch die Aufmerksamkeitsspannen der meisten BesucherInnen sprengen würden. So, wie es ist, habe ich (außer an meinem Wärmeempfinden) nicht gemerkt, dass ich fünf Stunden im Marchivum verbracht habe.

Die OEG

Zu den für mich besonders eindringlichen Exponaten gehört das Schreiben im Eröffnungsbild, in dem Mitarbeiter der Stadt Mannheim „Ostarbeiter“, also vor allem in der Sowjetunion oder Polen ausgehobene ZwangsarbeiterInnen, anfordern, die dann Schienen der OEG auszubessern oder zu verlegen hatten.

Die OEG wiederum, die Oberrheinische Eisenbahn-Gesellschaft, hat bis 2010 die Schmalspurbahn betrieben, die Heidelberg, Weinheim und Mannheim ringförmig miteinander verbindet; inzwischen ist das die RNV-Linie 5. Ein im Mannheimer Landesmuseum für Arbeit und Technik (heute Technoseum) ausgestelltes Plakat gibt einen Einblick in deren heiterere Aspekte (ich glaube aus den 1950er Jahren):

Ein buntes Plakat mit Kirschblüte und Burgen: „Auch in diesem Frühling und Sommer wieder die beliebten, billigen OEG-Fahrten von Mannheim an die herrliche Bergstrasse!“

In dieser Zeit dienten die OEG-Gleise auch dazu, den Schotter aus den Steinbrüchen von Dossenheim abzutransportieren; daran erinnert hier noch der Straßenname „alte Gütertrasse“.

In dem gruseligen Schreiben oben – offensichtlich hat noch irgendein Vorgesetzter gedacht, mensch solle gleich 100 statt nur 60 Leute zu Tode schinden – von diesem Bähnchen zu lesen, gibt jedenfalls für mich den Verbrechen unserer Großväter eine ganz eigene Gegenwart. Klar, das, was heute in meiner Nachbarschaft zu sehen ist –

Zwei Schmalspur-Schienenstränge im Schotterbett.  Im Vordergrund ein Zweig eines Apfelbaums mit reifen Früchten, im Hintergrund eine Überlandstraße.

– ist alles viel später gebaut worden; wenn ich die Markierungen auf den Schwellen richtig lese, dürften ganz normale Arbeitskräfte diese in den 1990er Jahren verlegt haben. Und dennoch: vor meiner Haustür wurden mit einiger Wahrscheinlichkeit ZwangsarbeiterInnen geschunden[1].

Von furchtbaren Juristen und anderen Überlebenden

Anzurechnen ist der Marchivum-Ausstellung, dass sie nicht nur über diese Opfer spricht, sondern sich auch der lange und zu guten Stücken immer noch von bangem Schweigen umhüllten Frage widmet, wer eigentlich vor Ort ZwangsarbeiterInnen angefordert, wer Menschen zur Deportation zusammengetrieben (beeindruckt haben mich die Fotos der Wagner-Bürckel-Aktion in Ludwigshafen), wer die ganze Nazi-Justiz betrieben hat.

Ein Beispiel unter vielen für letzteres ist Wilhelm Mackert (noch ohne Wikipedia-Seite), der im NS-Sondergericht Mannheim zahlreiche Zwangssterilisierungen und zwei Justizmorde angeordnet hat – und in den fünfziger Jahren munter weiterurteilen durfte, bis er als stellvertretender Landgerichtspräsident in Pension ging. Dazu gibt es Kurzbiographien und Medien zu Nazigrößen mit besonderem Mannheim-Bezug, am drastischsten vielleicht der Alumnus des Mannheimer Karl-Friedrich-Elitegynmasiums, Rudolf Höß, von dem dieses Foto gezeigt wird:

Familienfoto mit Mutter mit Baby am Arm und drei weiteren kleineren Kindern in der ersten Reihe, dahinter ein Mann in Uniform und neben ihn ein älterer Junge in etwas Uniformähnlichem.

Die Rede von der Banalität des Bösen drängt sich wieder auf, wenn mensch erfährt, dass dieses Foto in der Kommandantenvilla des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau entstanden ist.

Resignation verbreitet das Marchivum dennoch nicht; im Gegenteil, es erzählt durchaus Geschichten von Menschen, die zeigen, dass all die Führer, UnterführerInnen, HelferInnen und Gleichgültigen – die Ausstellung berichtet, dass 70% der Verfahren vorm Sondergericht Mannheim auf Denunziation zurückgingen – durchaus auch anders gekonnt hätten. „Man hat ja nichts machen können“ ist ein Mythos, und eine Station stellt ein paar der Widerständigen vor. Beeindruckt hat mich zum Beispiel August Fend (auch er hat leider noch keinen Wikipedia-Eintrag), Jahrgang 1906 und bis 1933 für die KPD im Mannheimer Bürgerausschuss. Klar, dass er 1934 bis 1936 in Naziknästen einsaß.

1943 zog ihn die Regierung ins Strafbatallion 999 ein, in dem er zur Unterdrückung der Bevölkerung von Korfu beitragen sollte. Nicht faul, bildete er in der Wehrmachts-Werkstatt dort eine Widerstandsgruppe und arbeitete mit den griechischen PartisanInnen zusammen. Solche Handlungen verdienen Aufmerksamkeit, gerade weil Sabotage und Desertion derer, die die Gewalt für die Herrschenden ausüben (also ganz besonders SoldatInnen), zentral für Frieden, Fortschritt und Freiheit sind. Fend ist hier ein großes Vorbild – und er hat, wiederum im Widerspruch zum gängigen „Sie hätten einen ja gleich erschossen“-Narrativ, dennoch überlebt; er wurde immerhin 91 Jahre alt.

Im Erdgeschoss

Im Marchivum gibt es neben der Dauerausstellung im ersten Stock ein Erdgeschoss mit deutlich weniger düsteren Exponaten, die vor allem das moderne Mannheim illustrieren. So war mir zum Beispiel neu, dass es in der Stadt zur letzten Bundesgartenschau dort (1975) auch schon eine klasse Bahn gab, nämlich eine Schwebebahn nach Wuppertaler Vorbild. Die Stadtverwaltung hat diese nach dem Event abreißen lassen, so, wie das auch für die aktuelle, extra für die diesjährige Buga errichteten, Gondelbahn vorgesehen ist. Ich glaube, so ist das mit dem „aus der Geschichte lernen“ nicht gemeint.

In diesem Sinne: Nehmt euch Zeit, wenn ihr das Marchivum besucht. Vergesst aber auf keinen Fall einen Wollpullover.

[1]Tatsächlich ist die Schinderei ganz in der Nähe meiner Wohnung unabhängig von der OEG historisch sicher, denn zwei Häuser weiter befand sich ein anderes Lager für ZwangsarbeiterInnen, die vermutlich in der lokalen Schotterproduktion schuften mussten. Das jedoch war all die Jahre völlig vergessen. Erst in den letzten Jahren ist auf dem Gelände, das bis dahin weitgehend brachlag, eine neue Wohnanlage errichtet worden, und ich fürchte, dass die Baumaschinen vieles, was Licht auf die damaligen Verbrechen hätte werfen können, unwiederbringlich zerstört haben.

Zitiert in: „Rohstoffe in Deutschland“ im Karlsruher Naturkundemuseum

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