Tag Leute

  • Ad hominem 2

    Panorama des Stuttgarter Schlosses

    Einst die Residenz des Herrn Schmid, der nun die Ukraine[1] als Zwischenlager ihm unwillkommener Menschen nutzen möchte: Das Stuttgarter Schloss (CC-BY-SA Grossmummrich).

    Wie ich neulich schon betonte, ist mir selbstverständlich klar, dass im politischen Diskurs Attacken auf fragwürdige charakterliche oder physische Eigenschaften von MachthaberInnen sowie Menschen, die es werden wollen, als unfein gelten.

    Andererseits gehen die guten Sitten™ offensichtlich auch ohne mich vor die Hunde. Aktuelles Beispiel: Der „SPD-Außenpolitiker“ (Deutschlandfunk) Nils Schmidt hat gestern im DLF gefordert, die Menschen, die gerade über Belarus in die EU fliehen, sollten doch in der Ukraine quasi zwischengelagert (eingestanden: das ist nicht Schmids Wort, aber doch nach Bedeutung und Stil das, was er sagt) werden, und zwar im Wesentlichen aus Gründen des Prinzips.

    Er hat sich so nicht nur an dem furchtbaren Diskurs beteiligt, die Fliehenden seien irgendwie eine Waffe oder eine Bedrohung, sondern macht auch die Ansage, er halte die Ukraine – ganz wie die russische Regierung übrigens – für so eine Art Kolonie der EU, über die diese nach ihrem Belieben verfügen kann. Und so fühle ich mich aufgerufen, an eine Geschichte zu erinnern, bei der Schmid vor seiner Zeit als „Außenpolitiker“ in meiner weiteren Umgebung unangenehm aufgefallen ist.

    Bevor er nämlich „Außenpolitiker“ wurde, war er Finanzminister der ersten Grün-Roten Regierung hier in Baden-Württemberg. Als solcher residierte er im Stuttgarter Schloss. Wenn ihr dem Wikipedia-Link folgt, lest ihr dort:

    Seit dem Auszug des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport Anfang 2012 ist es heute noch Sitz des Finanzministeriums [...]

    Der Auszug des Kultusministeriums hat mit Schmid zu tun – seine Amtszeit als Finanzminister begann 2011. Zumindest im Umfeld der Verdrängten ging damals die Geschichte um, das Schloss sei zu CDU-Zeiten zwar groß genug für zwei Ministerien gewesen, für Schmid, sein Ego und das Kultusministerium reiche es aber nicht. Da die CDU-Ära Kultusministerinnen wie Dr. Annette Schavan und Finanzminister wie Gerhard Mayer-Vorfelder – beide gewiss keine Kinder der Bescheidenheit – kannte, fällt es nicht leicht, das zu glauben, aber es ist zweifellos plausibel, dass Schmid nach seiner Wahlniederlage gegen die Grünen einiges zu kompensieren hatte und sich das ganze Schloss sozusagen zum Trost gönnte.

    Ja, das ist alles etwas ad hominem, aber wer im Namen von „Recht und Ordnung“ austeilt wie Schmid in dem DLF-Interview, sollte auf Rückfragen zur eigenen Charakterfestigkeit zumindest vorbereitet sein.

    Bei alldem gestehe ich gerne, dass mich der Furor des Herrn Schmid besonders befremdet, weil er gerade jetzt kommt. Lukaschenko ist sicher neben vielem anderen vorzuwerfen, dass er viele Jahre lang in das schmutzige Grenzregime der EU verstrickt war; im 2019er-Bericht zu Abschiebungen aus der EU heißt es etwa zu Weißrussland:

    A total of 18 Member States reported having approached the authorities of Belarus for readmission matters [das ist hier Schurkensprache für „Abschiebung“] related to its nationals in 2019.

    All of them assessed the overall cooperation with Belarus in the identification procedure as good or very good (except one which rated it as average).

    This is reflected in 13 Member States having a functioning established routine [für Abschiebungen] with Belarus diplomatic missions, with only one informing that it is not effective.

    Gut: die da abgeschoben wurden, waren Menschen mit belarusischen Pässen, aber auch die sollte mensch wohl nicht in ein Land abschieben, das im öffentlichen Diskurs recht konsistent als „letzte Diktatur Europas“ gehandelt wurde (if only it were true). Jedenfalls nicht, wenn mensch anschließend irgendwelche menschenrechtlichen Standards an andere anlegen will.

    Angesichts dieser Geschichte der Kollusion beim Grenzregime Lukaschenko ausgerechnet dann Verfehlungen vorzuwerfen, wenn er sein Land erstmal nicht mehr als extrabreite Grenzmauer der EU zur Verfügung stellt, das lässt tief blicken im Hinblick auf die Umsetzung eines Ziels, das in der DLF-Presseschau vom 10.12. mit wirklich schockierender Ehrlichkeit aus der Nordwest-Zeitung zitiert wurde:

    Viertens ist auf EU-Ebene eine kollektive Einwanderungspolitik, die sich ausschließlich an den Interessen Europas ausrichtet, noch immer überfällig.

    Raubt nur mir den Atem, wie komplett der Kommentator hier vergessen hat, was das Wort „Asylrecht“ bedeutet[2]? Dass es darum ging, Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen müssen, eine Möglichkeit dazu zu geben?

    Wer so etwas schreibt, ist sich offensichtlich sehr sicher, niemals fliehen zu müssen. Diese Sicherheit sei solchen Leuten gegönnt, und wer mit so viel Patriotismus und Staatsraison gesegnet ist, mag mit der Zuversicht auch richtig liegen. Daraus aber zu schließen, dass auch alle anderen nicht fliehen dürfen, das ist, ich kann es nicht anders sagen, ein klares Merkmal von Schurken.

    Doch ich will versöhnlich enden, denn die Presseschau am nächsten Tag schloss mit folgender Einsicht aus dem Freitag (den natürlich wieder niemand liest):

    Was bei aller Lukaschenko-Verteufelung in vielen Zeitungen vergessen wird: Das ist nicht der Grund, warum diese Leute aus dem Nahen Osten kommen. Sie fliehen vor Kriegen und kriegerischen Folgeschäden aus dem Irak, Syrien oder Afghanistan. Die zugrunde liegenden Konflikte, die ihre Heimat destabilisierten, fanden ohne Beteiligung von Belarus, sehr wohl aber unter maßgeblichem Mitmischen des Westens, darunter EU-Mitgliedern, statt.

    Das hätte ich nicht schöner sagen können.

    [1]Das gerade, während in der Ukraine Corona durch schwindelerregend schnell durch eine offenbar nicht gut immunisierte Bevölkerung läuft: der z-Score (in etwa: Wie viele Standardabweichungen liegt die derzeitige Sterblichkeit über dem langjährigen Mittel?) war dort laut Euromomo vor drei Wochen bei fast 23, in Worten „extraordinarily high“. Aktuellere Zahlen sind wohl wegen Meldeverzug noch sehr unzuverlässig.
    [2]Na gut: Das ist, was Asylrecht bedeutet hat, bevor der Bundestag am schicksalsschweren 26.5.1993 mit dem Artikel 16a Grundgesetz das Asylrecht in der BRD in eine hohle, winddurchpfeifte Ruine verwandelt hat. Zur Erinnerung: Damit wurde die „Drittstaatenregelung“ eingeführt, die, auf EU-Ebene skaliert (u.a. „Dublin II“), letztlich der rechtliche Hintergrund der gespenstischen Vorgänge an der Grenze zwischen Belarus und Polen ist. Aber das ist nochmal eine ganz andere Geschichte.
  • Ad hominem

    Die Ideenwelt der repräsentativen Demokratie hat etliche Ungereimtheiten – was an sich nicht notwendig katastrophal[1] ist, siehe RiwaFiw. Speziell zu Wahlkampfzeiten muss ich aber doch manchmal meinen Kopf bis an die Grenze zum Schleudertrauma schütteln.

    Derzeit ist in Heidelberg etwa das hier plakatiert:

    Wahlplakat mit eigenartigem Brustportrait und einem Slogan

    Klar, mensch könnte das einfach mit „selbst schuld“ wegnicken und weiterfahren. Aber für mich will diese Sorte Plakat einfach nicht zusammengehen mit der öffentlichen Ächtung von Attacken auf die Person von KandidatInnen und PolitikerInnen („ad hominem“), und das nicht nur, weil das Plakat recht unbestreitbar eine ad hominem-Selbstattacke ist.

    Schön, das ad hominem-Tabu war schon immer mehr deklariert als gelebt (was gerade die zugeben müssen, die sich gerne öffentlich nach Herbert Wehner und Franz Josef Strauß sehnen), aber als normative Richtschnur des Handelns ist es im Wesentlichen unbestritten. Wenn also Kritik ad hominem nicht statthaft ist: Warum zeigt dann die Mehrheit der Wahlplakate „ernstzunehmender“ Parteien die Portraits der KandidatInnen und nicht etwa, sagen wir, eine politische Position oder wenigstens ein hübsches Bild zur Aufwertung des Straßenraums, Dinge jedenfalls, die anzugreifen nicht Tabu ist?

    Der „Digitalturbo“ im Plakat oben zählt übrigens mangels Bedeutung nicht als politische Position. „Digitalisierung“ ist Antisprache, versucht also aktiv, nichts zu sagen. „Turbo“ hingegen ist eine dämliche Autometapher, der positiv nur die radikale Selbstentlarvung zuzurechnen ist. Der Kluge führt unter dem Lemma Turbine aus:

    1. turbo (-inis) m. „Wirbel; alles, was sich im Kreis dreht“

    Ich erfinde das nicht.

    Eine politische Position, die tatsächlich etwas bedeutet, wäre etwa public money, public code gewesen, oder vielleicht „hohe Hürden bei Zugriff auf Tk-Bestandsdaten“ (cf. Post vom 2021-01-31). Doch, sowas passt auf ein Plakat, und mit etwas Mühe kriegt mensch auch Muggels erklärt, was das jeweils bedeutet. Allerdings müsste ich bei einem „Master of Public Policy“ (was Nusser ausweislich seiner Online-Biografie ist) zunächst noch überzeugt werden, dass der Kandidat tatsächlich Einsicht hätte in das, was er da sagen würde.

    Da seine Parole leer ist: was eigentlich soll mensch kritisieren als das Restplakat, also das Bild? Wenn das Bild nur die Person zeigt, wird die Kritik notwenig ad hominem. Das ist besonders bitter, wenn der Kandidat aussieht, als habe er starke Schwierigkeiten bei der Ablösung von der Mutter (oder jedenfalls bei der Impulskontrolle). Hand aufs Herz: Wer hatte bei Nussers Foto nicht gleich das Bild im Kopf vom pummeligen Einzelgänger in der Schule, der Verachtung und Hänselei der Mitschülis jetzt durch Dampfplaudern im Machoclub FDP kompensiert? [Mitschülis von Nusser: wie irrig ist diese Fantasie?]

    Wer solche, eingestandermaßen üblen, Reflexe nicht haben will: Wie gesagt, thematische Bilder statt Köpfe auf Plakaten würden sich anbieten, bei der selbsternannten Wachstumspartei FDP vielleicht viele Autos und viel Beton oder so. Weniger ansprechend als die Portraits der KandidatInnen wird das in der Regel auch nicht sein, solange nicht gerade Rana Plaza oder Union Carbide in Bhopal als Symbole für die Segnungen des Freihandels herhalten müssten.

    Besser wärs aber wahrscheinlich, ganz auf Fotos zu verzichten, etwa nach US-Vorbild:

    Vorgarten mit Wahlschildern, auf denen nur Namen stehen

    Um euch die Arbeit zu ersparen, anhand der Namen herauszubekommen, wann und wo die Szene spielt: Das Foto entstand 2002 in Massachussetts, und die schon etwas extreme Botschaftsdichte mag damit zusammenängen, dass der Vorgartenbesitzer im liberalen Jamaica Plain Werbung für alle möglichen Kandidaten der Republicans machte. Mensch sieht: Rechte Trolle sind keine Erfindung des facebook-Zeitalters.

    So oder so: Wahlwerbung in den USA ist, soweit ich das sehe, immer noch, wenn Leute die Namen ihrer LieblingskandidatInnen in den Vorgarten stellen (ok, und am Straßenrand mit Namenschildern winken). Keine Fotos, keine leeren Slogans.

    Ich glaube ja, das ist weit mehr im Geist der repräsentativen Demokratie, bei der Menschen ja genau nicht etwa die wählen sollen, die aussehen wie sie selbst; von Lookismus-Prävention will ich gar nicht anfangen. Der größte Vorteil aber: ästhetische Tiefschläge wie der folgende aus dem Jahr 1998 unterbleiben:

    Wahlplakat von Karl A. Lamers
    [1]Nur zur Vorsicht sollte ich wohl sagen, dass ich damit natürlich mitnichten repräsentative Demokratie befürwortet haben will; eine dahingehende Beurteilung aus informationstheoretischer Sicht verspreche ich schon mal für demnächst.

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