Tag HeldInnen

Unter diesem Tag will ich dann und wann an Leute erinnern, die, soweit es mich betrifft, etwas gerissen haben. Klar, Heldenverehrung ist scheiße. Aber wenn ich jemals in dem Umfang HeldInnen-Artikel schreiben sollte, in dem ich das gerne machen würde, wäre der Heldenbegriff, der dabei rauskäme, doch so verknittert, dass ich das schon vertreten könnte.

Hoffe ich mal.

  • Unbesungener Held: Der Verkehrsberuhiger Otto Wicht

    Stadtszene mit Klinkerhäusern, vor denen Sträucher und Bäume stehen.  Dazwischen ein Weg, auf dem ein paar Leute laufen.

    Was alles geht, wenn Städte für Menschen und nicht für Autos gebaut werden: eine Straße als Garten in Husum, 2022. Otto Wicht hat den ersten Schritt in diese Richtung getan.

    Im Deutschlandfunk-Kalenderblatt vom 14.11.2023 habe ich zum ersten Mal von einem Menschen gehört, der ungezählte Menschenleben gerettet und ungezählte weitere im ganz großen Stil angenehmer gemacht hat: Otto Wicht, Stadtbaurat in Buxtehude[1]. Er hatte vierzig Jahre zuvor, am 14. November 1983, im Herzen der Bestie – in dem Land, in dem das ganze Elend anfing – die ersten Blumenkübel auf der Konopkastraße aufstellen lassen, um Autos auf wenigstens entfernt menschenverträgliche Geschwindigkeit einzubremsen.

    Herbst 1983. Buxtehudes Autofahrer sind genervt. Plötzlich stehen mal rechts, mal links, kreisrunde Blumenkübel am Fahrbahnrand. Es geht darum, langsamer zu fahren.

    Die niedersächsische Stadt hat am vierzehnten November 1983 die bundesweit erste Tempo-dreißig-Zone eingeführt. [...]

    Die umfunktionierten Betonringe sind eigentlich für den Bau von Kanalisationsleitungen gedacht und werden nach den ersten Unfällen mit Katzenaugen, später mit rot-weißen Verkehrsbaken nachgerüstet.

    Aber hört euch den ganzen Beitrag an; spektakulär finde ich ja vor allem die indignierten Schimpftiraden von AutofahrerInnen, die sich augenscheinlich in ein Grundrecht auf Rumrasen, auf Krach machen, stinken, Menschen verscheuchen, hineindeliriert haben. „Der Verkehr muss doch fließen,“ lässt sich eine vernehmen, als seien Autos „der Verkehr“ und als sei es irgendwie akzeptabel, tonnenweise Stahl mit 15 Metern pro Sekunde gerade mal einen Meter neben ziemlich weichen Zielen durch die Gegend zu ballern.

    Na ja: ich gebe zu, dass Ansichten dieser Art auch vierzig Jahre nach Otto Wichts großem ersten Schritt noch in manchen Köpfen herumspuken. Der DLF-Beitrag lässt ahnen, dass diese Zeitenwende alles andere als einfach war, selbst wenn sich inzwischen sogar ein CDU-Stadtrat – für seine Verhältnisse – einsichtig zeigt und eher kopfschüttelnd zurückblickt auf seine Sprüche aus den Achtzigern:

    Und deswegen haben wir immer gesagt, Herr Wicht, Herr Wicht, die Stadt ist dicht, wenn der Verkehr zum Stocken kam, ne?

    Tja: Schon wieder dieser „Verkehr“, der da stockt. Und nicht etwa im Wesentlichen Blechkäfige von Menschen, die mit hinreichend Empathie mit ihrer Umwelt Fahrrad gefahren und dann auch kein Stau wären.

    An Wichts HeldInnen-Status nagt im Übrigen auch nicht, dass Verkehrsberuhigung damals in der Luft lag:

    Kurz nach den Norddeutschen zogen Berlin-Moabit, Ingolstadt und Mainz, das ostwestfälische Borgentreich und das schwäbische Esslingen nach.

    Auch in Fällen von Zeitgeist braucht es schlicht Menschen, die den ersten Schritt tun und dafür dann die Flak der (in diesem Fall) Autofahrenden abbekommen, ohne auf „aber dort hat das doch prima funktioniert“ verweisen zu können.

    Obwohl Wicht so viele Menschen und Nerven gerettet hat und dafür haufenweise Hass aus der Klientel abbekommen hat, die heute in den schwelenden Resten von Twitter herumschimpft, hat er im Augenblick nicht mal eine Wikipedia-Seite. Ich sollte mich wirklich überwinden und eine schreiben, vielleicht auf der Basis dieses Nachrufs mit ein wenig Ausschmückung aus jenem. Oder findet sich vielleicht einE routinierteR WikipedianerIn, um einem großen Diener von Staat und Bevölkerung ein kleines Denkmal zu setzen?

    [1]Ich wittere schon wieder den Weltgeist am Werk, wenn bei epochale Ereignissen (nein, absolut keine Ironie hier) wie Verkehrsberuhigung Namen wie Buxtehude und Wicht eine zentrale Rolle spielen.
  • 75 Jahre ohne Militär: Costa Rica

    Rechts im Bild ein Bahnsteig, links ein endloser Güterzug.  Auf jedem Wagen stehen zwei Panzer.

    Was ist der Unterschied zwischen der badischen Stadt Bruchsal und San José, der Hauptstadt von Costa Rica? Nun: Im Bahnhof von San José würde nicht plötzlich – wie hier im Juni 2013 – ein Güterzug voller Panzer stehen.

    Bevor deren 75. Jubiläumsjahr vorbei ist, möchte ich an eine der ganz großen zivilisatorischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts erinnern: 1948 löste der damalige Präsident José Figueres Ferrer das Militär in Costa Rica auf, und es hat kein Rezidiv gegeben, obwohl die Nachbarstaaten diesen, ach ja, Fort-Schritt nicht hinbekommen haben – vom Rest der Welt ganz zu schweigen.

    Ich brauchte auch erst eine Erinnerung daran und bekam die im Deutschlandfunk-Kalenderblatt am 1.12.2023. Der 1. Dezember ist der Jahrestag von Ferrers Inititative und ist seit 2020 in Costa Rica ein Feiertag („abolió el ejército“ – take that, „Volkstrauertag“). Peter B. Schumann erwähnte in seinem kleinen Beitrag gute Gründe zum Feiern:

    Die Kaserne wurde zum Nationalmuseum und der Wehretat zum Entwicklungsbudget. Damit konnten das Bildungssystem, das Gesundheitswesen und die Infrastruktur ausgebaut […] werden. […] Costa Rica hat es auch nie bereut. Während die hochgerüsteten Nachbarländer von einem autoritären Regime ins andere und von einer Krise in die nächste taumelten, konnte das kleine Land sich jahrzehntelang zu einer stabilen, prosperierenden Demokratie entwickeln.

    Sehr bemerkenswert fand ich auch die Analyse des Autors zu den Bedingungen für den Erfolg der Abrüstung in Mittelamerika:

    [Costa Rica] war viel kleiner [als seine Nachbarn], weniger kapitalkräftig, die Elite relativ arm […] Die Regierungen hatten [die Armee] allerdings oft vernachlässigt, so dass sie schlecht ausgebildet und schlecht bewaffnet war, eine schwache Institution.

    Also: geringe soziale Stratifikation, wenig physische Basis der Regierung, anderen Regierungen etwas aufzwingen zu können und eine schlecht finanzierte Armee haben in dieser (m.E. glaubwürdigen) Erzählung geholfen, das Militär loszuwerden. Praktischerweise sind das Politiklinien, die wenigstens mir auch unabhängig von Friedenspolitik im engeren Sinn attraktiv erscheinen – angefangen vom Ende der Kriegskredite (Verzeihung, „Sondervermögen“; soll keineR sagen, es habe sich gar nichts getan in Berlin über die letzten 110 Jahre hinweg).

    Kopfportrait eines etwa 60-jährigen Mannes im Anzug mit hoher Stirn, dunklen Haaren und einem ernsten Blick.

    Der Held der Auflösung des Militärs in Costa Rica: José Figueres Ferrer, hier im September 1973 (Bildquelle).

    Nun will ich gerne eingestehen, dass mein traditionell zuversichtlicher Blick in eine militärfreie Zukunft ohne Strammstehen, Tschingdarassabum, bunte Kappen und Orden in nur wenigen Momenten meines Lebens nicht bei vielen ZeitgenossInnenen auf ungläubige bis schnappatmende Einwände gestoßen wäre: anfangs „aber… die Russen?!“, dann rasch „aber… die Moslems?!“ und jetzt wieder (meist) „aber… die Russen?!“

    Ganz unabhängig davon, ob Tschingdarassabum und Menschentotschießen geeignet, notwendig und angemessen sind, um Konflikte zwischen den Entietäten zu lösen, denen sich die verschiedenen ZeitgenossInnen zugehörig fühlten: Costa Rica ist tatsächlich gut ohne ausgekommen, und das, obwohl sich recht schnell ein deutliches Wohlstandsgefälle zu den militärbesetzten Nachbarstaaten einstellte[1].

    Zu den qualitativen Effekten der Auflösung des Militärs lohnt ein Blick in die (vermutlich für Mittelamerika stark unvollständige) Liste der Putschversuche in der englischen Wikipedia[2]. Wie der DLF-Autor Schumann schon andeutet, fanden in den Nachbarstaaten – wenn nicht wie in Nicaragua ohnehin über Jahrzehnte das Militär faktisch an der Macht war – alle paar Jahre mal Militärputsche statt (für Honduras verzeichnet: 1956, 1963, 1972, 1975, 1978 und 2009).

    Für Costa Rica hingegen ist nach dem 1.12.1948 nur ein Putschversuch notiert, und der ist gescheitert. De facto war das sieben Jahre nach der Auflösung der Armee ein Versuch der alten Garde, sich wieder die Lizenz zum Schießen und Töten sowie die Alimentierung für dieses Treiben zu verschaffen. Es handelte sich nämlich um eine vom Somoza-Regime in Nicaragua gestützte Rebellion, in der „Calderonistas“, Ex-Soldaten aus der Zeit des vorherigen Potentaten Rafael Calderón, versuchten, wieder einen „normalen“ Staat zu bekommen. Das ist durchaus auch eine Erinnerung daran, dass, wer jetzt Militär macht, eben auch ein schweres Erbe für später schafft.

    Los gings Anfang Januar 1955, als diese Truppen mit Ölgeld aus dem damals ebenfalls erzreaktionär regierten Venezuela vom Herrschaftsgebiet des später in der sandinistischen Revolution untergegangenen Somoza-Clans aus in die costaricanische Kleinstadt Ciudad Quesada einfielen; venezuelanische Militärflugzeuge beschossen derweil verschiedene Städte in Costa Rica. SpielerInnen des Klassikers Junta kennen das Szenario.

    Die Regierung in San José rief daraufhin die OAS an, die (eingestandenermaßen überraschenderweise) Druck auf Nicaragua ausübte; dazu mobilisierte die Regierung in San José ihre Polizei, stellte Milizen auf und widmete vorübergehend Zivilflugzeuge um, was angesichts hinreichender Popularität der Regierung genug war, um die Invasion zusammenbrechen zu lassen.

    Klar wärs schöner gewesen, wenn der versuchte Putsch etwa durch einen zünftigen Generalstreik beendet worden wäre statt durch doch ziemlich paramilitärisches Gedöns. Klar ist aber auch, dass erstens Militärquatsch deutlich weniger Schaden anrichtet, wenn es insgesamt weniger davon gibt, und zweitens, dass auch ohne Militär Grobiane von außen nicht einfach tun und lassen können, was sie wollen.

    Es wird nur für die Grobiane von innen schwieriger, sich richtig grob zu benehmen und bei ihren Streitigkeiten mit den Grobianen von außen halbe Regionen zu verwüsten. Und vielleicht ist entsprechend radikale Abrüstung ja auch mal von unten statt wie in Costa Rica von oben zu bewerkstelligen? Das wäre besser, denn auf eine Figur wie Ferrer werden wir im Land von Clausewitz wahrscheinlich noch lang warten müssen.

    [1]Wie immer ist es schwierig, „Wohlstand” zu definieren und noch mehr zu quantifizieren. Wer an Metriken wie den HDI glaubt, wird Costa Rica 2018 bei 0.78 finden, gegenüber Nachbarstaaten wie El Salvador bei 0.68 oder Honduras bei 0.62 (zum Vergleich sieht das UNDP die BRD bei 0.94); aber dass der Billigflaggen-Staat Panama bei 0.79 und damit gleichauf mit Costa Rica steht, sagt wohl mehr über die Metrik als über reale Verhältnisse im Hinblick auf gutes Leben aus.
    [2]In der Liste der Putsche in der deutschen Wikipedia hat sich noch niemand den beängstigend großen Schuh angezogen, solche Aktivitäten in Mittelamerika zu sammeln.
  • Den fehlenden SchleuserInnen

    Blick auf einen Park mit einer in Luma etwas hervorgehobenen Büste in der Mitte, abgeschlossen von einem Haus mit Fensterläden. Im Vordergrund eine Tafel „Johann Georg Elser“ mit etwas biographischem Text und eine Streugutkiste, auf der ein improvisierter, herausgezoomter Aufkleber angebracht ist: „Georg Elser Gedenken“.

    So sieht die Stelle, an der Georg Elser in die Schweiz hatte fliehen wollen, heute aus: eine Büste in einer Art Park und eine kurze, etwas biedermeierisch wirkende Tafel. Das für mich ergreifendste Stück Erinnerungskultur allerdings war der mit Klebeband an der Streugutkiste fixierte Zettel.

    Für Menschen, die – wie ich gestern – in Konstanz sind und beispielsweise beim Umsteigen zwischen Zug und Katamaran eine halbe Stunde Zeit haben, habe ich einen Besichtigungstipp: Ein paar hundert Meter vom Hafen entfernt, im Garten der Schwedenschanze 10 befindet sich ein Denkmal für Georg Elser, den Antifaschisten, der mehr oder minder im Alleingang das Attentat im Bürgerbräukeller ausgeführt hat.

    Ich finde, die Stelle ist aus mehreren Gründen einen Besuch wert. Erstens hat sie mir klar gemacht, dass Elser nicht nur ein ziemlich begnadeter und politisch engagierter Bastler war. Nein, er hatte auch einen ziemlich plausiblen Plan sowohl für den Tyrannenmord als auch fürs eigene Überleben. Weil ich glaube, dass der Tyrannenmord angesichts der generellen Durchgeknalltheit der damaligen deutschen Bevölkerung wahrscheinlich eh nichts gebracht hätte, ist mir letzteres in seiner unheldischen, überhaupt nicht eschatologisch verblendeten („<Zweck> oder Tod“) Art eigentlich wichtiger.

    Das Denkmal steht nämlich an der Stelle, an der Elser, noch bevor die Bombe im Bürgerbräukeller hochging, in die Schweiz fliehen wollte, und zwar auch heute noch praktisch genau auf der Grenze: Er hatte es schon fast geschafft! Und mehr: Das war nicht einfach ein blinder Fluchtinstinkt. Elser kannte die Stadt Konstanz und ihre Grenzlage, denn er hat in den zwanziger Jahren eine zeitlang dort gewohnt.

    Gerade heute, da „Schleuser“ der Autorilla[1] und ihren TrittbrettfahrerInnen im Wortsinne als Totschlagargument dient, ist der Georg-Elser-Park darüber hinaus ein ein guter Ort, um ein wenig darüber nachzudenken, was Elser erspart geblieben wäre, hätte er damals an dieser Stelle etwas Hilfe gehabt.

    So, wie es war, stand er am 8. November 1939 um 20:45 wenige Meter vor der Schweizer Grenze, als ihn zwei Zöllner erwischten – hätte die nicht irgendwer („Schleuser“) strategisch ablenken können? Es spricht jedenfalls für Elsers planerische Kompetenz, dass weitere 45 Minuten („Kontingenzpuffer“) später die Bombe im Bürgerbräukeller explodierte.

    Ein Steinblock mit einer gavierten Inschrift „Ich habe den Krieg verhindern wollen“ und einer Büste von Elser oben drauf.

    Jetzt gerade ist der Elser-Park nicht zugänglich: Das Tor im Vordergrund ist „wegen Sanierungsarbeiten“ abgeschlossen und soll das wohl bis in einem Jahr auch bleiben. Das macht aber nichts: die wesentlichen Dinge sind zu sehen.

    Sein Leidensweg war mit dem Zugriff der beiden programmiert: Gestapofolter im „Hotel Silber“ in Stuttgart, dann KZ Sachsenhausen, dann KZ Dachau (wobei ihn die NS-Schergen offenbar für einen späteren Schauprozess in relativ guter Form hielten). Fast so knapp wie seine Flucht scheiterte auch seine Befreiung: Ein SS-Mann erschoss ihn am 9. April 1945 im Lager Dachau, keine drei Wochen, bevor US-Truppen dort eintrafen.

    Gerade weil er ganz unheldisch nicht sterben wollte und dafür sorgfältig geplant hat: Auf meiner persönlichen Liste großer BastlerInnen der Weltgeschichte hat Georg Elser seit gestern einen erheblich prominenteren Platz.

    Nachtrag (2024-11-21)

    Die Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg hat gerade ein Lese- und Arbeitsheft zu Elser veröffentlicht. Es enthält viel interessantes Material sowohl zu Elser also auch zur LpB, die recht verzweifelt versucht, Elser, der sich ziemlich offensichtlich irgendwo im Bereich des Anarchosyndikalismus verortet hat, irgendwie aus dem Ruch des „Linksextremismus“ <hust> zu „befreien“. So etwas heißt es auf Seite 9:

    [Elser] war Individualist, pochte auf die Grund- und Menschenrechte und verfügte insbesondere im Arbeitsleben über ein ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit. Zwar wählte er bis 1933 Kommunisten, doch hätte er nie in das starre Kollektiv der Partei gepasst.

    In diesem Sinn finde ich auch die Teile der Broschüre, die sich mit der Rezeption Elsers nach der Befreiung befassen, besonders aufschlussreich (etwa A13 oder die Zeittafel auf PDF-Seite 61).

    Eigenartig aktuell wirken übrigens die Sätze, die dem Zitat oben folgen:

    Er durchschaute [tatsächlich: die damalige deutsche Regierung] früh als Tyrannen und Kriegstreiber. Dabei bewies er eine Hell- und Weitsicht, wie sie damals bei den Eliten keineswegs verbreitet war.
    [1]Vgl. dazu diese Fußnote.
  • Zum Antikriegstag: Von Aretha Franklin zu antipatriotischen Gedanken

    Ein Gazebo mit einem Transparent dran: „Internationaler Antikriegstag 1. September 2001.  Wir bleiben dabei: Nein zum Krieg“, dahinter eine Fußgängerzonenszene.

    Als PazifistIn kommt mensch aus dem Told-you-so-Sagen gar nicht mehr raus: Kaum zwei Wochen nach der überschaubaren Heidelberger Kundgebung zum Antikriegstag 2001 – heute vor 22 Jahren – erklärten weltweit viele Herrschende den „Krieg gegen den Terror“. Ich denke, niemand wird bestreiten, dass die Welt jetzt viel besser wäre, wenn sie das gelassen hätten.

    Im Deutschlandfunk-Kalenderblatt vom 16. August 2023 erinnerte Andrea Klasen an den zehnten Todestag von Aretha Franklin. Im Beitrag heißt es:

    Aretha Franklins Weg zum Ruhm ist steinig. Sie wird im März 1942 in Memphis, Tennessee, geboren, hinein in ein Elternhaus voller Musik.

    Als Klasen gegen Ende sagte:

    Am sechzehnten August 2018 stirbt die Soul-Diva mit 76 Jahren in ihrer Heimatstadt Detroit.

    habe ich zuerst gedacht: „Holla, aber es hieß doch am Anfang, Franklin sei in Memphis geboren worden? Hat Klasen nicht aufgepasst?“

    Dann aber kam mir, dass der Text vielleicht eine fortschrittlichere Interpretation des ja wahrlich bestenfalls grenzwertigen Begriffs „Heimat“ anwenden wollte, namentlich weniger Blut und Boden, Eltern und Geburtsort, stattdessen mehr „Wo gefällt es dir eigentlich und wo wohnst du?“

    Das wäre ein sehr erheblicher Fortschritt gegenüber der Sorte von Heimat, die beispielsweise im Namen der (zum Glück stark sklerotischen) Verbände der „Heimatvertriebenen“ lauert. Die dort gewählte Interpretation führt(e) zum Glauben, der Geburtsort lege fest, wo allein auf der Welt ein Mensch glücklich werden könnte, weshalb er oder sie auch dringend Anspruch darauf hat, dort Grund besitzen zu können. Für die „Heimatvertriebenen“ kam dazu, dass die Leute, die seit den jeweiligen Befreiungen der diversen „Heimaten“ von der deutschen Herrschaft dort wohnten, ihnen, also den Rückkehrenden, gefälligst hätten weichen sollen.

    Tja: Leider habe ich Klasens Intention wohl überinterpretiert. Auf meine Frage nämlich, was Franklin wohl in die post-autoindustrielle Wüste Detroit gezogen haben könnte, antwortet die Wikipedia, dass bereits ihre Eltern dorthin gezogen waren, und zwar als es noch eine autoindustrielle Wüste war. So lässt sich aus dem Beitrag eher kein entspannteres Konzept von Heimat belegen.

    Aber natürlich auch nicht sein Gegenteil, zumal ein identitätsreduzierter Heimatbegriff keineswegs neu ist: „Ubi bene ibi patria“, meine Heimat ist, wo immer es mir gut geht, war schon im republikanischen Rom eine Parole gegen auch damals grassierendes Blu-Bo-Säbelrasseln. 1848 drehten Marx und Engels die heimatfeindliche Aufklärung etwas weiter, als sie im Kommunistischen Manifest schrieben: „Die Arbeiter haben kein Vaterland“.

    Nach weiteren 170 Jahren, in denen sich Menschen abgemetzelt haben, weil irgendwelche Grobiane ihnen erzählt haben, sie müssten irgendwelche Heimaten oder Vaterländer „verteidigen” (realistisch: in Schutt und Asche legen), möchte ich zum heutigen Antikriegstag eine Fusion vorschlagen. In Küchenlatein wäre das „ubi patria ibi stupor“, in zeitgenössischem Deutsch Vaterland ist für Deppen.

    Ich habe versucht, diesen entschlossenen FriedensdemonstrantInnen bei der Heidelberger Antikriegstag-Kundgebung 2023 meinen neuen Spruch nahezubringen:

    Ein gutes Dutzend Playmobil-Figuren mit Pace-Fahnen in den Händen.

    Ich hatte keinen Erfolg. Was sind eigentlich die aktuellen PISA-Ergebnisse für Latein? Bestimmt ganz schlimm!

  • Lenard vs. Einstein: Vom langsamen Fortschreiten der Zivilisation

    Erst vor ein paar Tagen habe ich das Wort „Augusterlebnis“ so richtig wahrgenommen: Es handelt sich um die 1914er-Version der modernen „Zeitenwende“ von 2022. Auch damals, als sich der Rüstungswettlauf der 1900er Jahre in einem lang erwarteten Krieg entlud, haben sich viele Menschen – leider auch welche, die sich als links und/oder intellektuell verstanden – patriotisch hinter das „eigene“ Land (und dessen Verbündete) gestellt, als dieses mit hinreichender Entschlossenheit und Tiefe Kriegspartei wurde.

    Ich habe dieses Phänomen schon während „unserer“ diversen Kriege im ehemaligen Jugoslawien ungläubig bestaunt. Nach dieser Erfahrung war ich nicht mehr ganz so entsetzt über die vielen Stimmen auch aus in normalen Zeiten weniger patriotischen Kreisen, die im vergangenen Frühling fürs Vaterland wieder töten, sterben oder doch wenigstens waffenliefern wollten.

    Foto: Stehendes Buch im Halbprofil

    Immer wieder gut für historische Perspektiven auf Deutsche, die in den Krieg ziehen (lassen) wollen: Wolfram Wettes „Ernstfall Frieden“.

    Ebenfalls nicht überrascht hat mich die Diffamierung jener, die historische Evidenz beibrachten dafür, dass all das Sterben und Töten Dinge nicht besser, wohl aber blutiger macht. Je nach individuellem Geschmack gelten sie neuen wie alten PatriotInnen als Verblendete, Träumer oder böswillig. Großer Konsens auf allen Seiten ist nach Augusterlebnissen und Zeitenwenden: Wer nicht schießen will, ist ausländischer Agent bzw. gleichbedeutend russischer Troll.

    Das Manifest der 93

    Die Geschichte vom Augusterlebnis von 1914 fand ich, als ich historische Perspektiven dieser Art mit einer Neulektüre des immer wieder informativen Ernstfall Frieden von Wolfram Wette (Bremen: Donat Verlag, 2017) auffrischte. Diese rief mir auch ein für mich besonders deprimierendes Beispiel für Aufwallungen deutschen Patriotismus' in Erinnerung: Das Manifest der 93, eine Erklärung, der sich, während sich die Soldaten im September 1914 an den diversen Fronten eingruben und die ersten Signale zurückkamen, wie ein industrialisierter Krieg wohl aussehen könnte, 93 häufig immer noch recht bekannte „Intellektuelle“[1] des deutschen Reichs anschlossen.

    Die Wikipedia dokumentiert den vollen Text des Manifests; lasst mich ein paar Zitate heraussuchen, die besonders nach heute klingen:

    Es ist nicht wahr, daß Deutschland diesen Krieg verschuldet hat. Weder das Volk hat ihn gewollt noch die Regierung noch der Kaiser. Von deutscher Seite ist das Äußerste geschehen, ihn abzuwenden.

    Das erinnert sehr an die Entschlossenheit vieler aktueller PatriotInnen, mit viel Verve und Empörung die Beiträge zu bestreiten, die „unsere“ Angriffskriege („völkerrechtswidrig“ oder nicht), Grenzverschiebungen, imperialen Abenteuer und Landnahmen auf dem Weg in den Krieg gespielt haben. Ganz entgegen dem Augenschein ist in dieser Erzählung die eigene Seite die personifizierte Friedlichkeit. ImperialistInnen waren auch damals schon immer („nur“, wo es ein „auch“ bräuchte) die anderen.

    Oft genug hat Wilhelm II. in den 26 Jahren seiner Regierung sich als Schirmherr des Weltfriedens erwiesen.

    Außer, wenn er einen Panthersprung vollführte oder seine Flotte aufrüstete oder… nun, bei genauerer Betrachtung war ihm der Weltfrieden doch eigentlich immer ziemlich scheißegal. Aber klar, vielleicht hat er die Flotte ja wirklich gegen Piraten gebraucht, so wie… wir zum Beispiel mit unserer Operation Atalanta.

    Es ist nicht wahr, daß wir freventlich die Neutralität Belgiens verletzt haben. Nachweislich waren Frankreich und England zu ihrer Verletzung entschlossen. Nachweislich war Belgien damit einverstanden. Selbstvernichtung wäre es gewesen, ihnen nicht zuvorzukommen.

    …ganz wie unsere Waffen heute mit dem Einverständnis „der Ukrainer“ helfen, das Land in Schutt und Asche zu legen. Hauptsache (imaginiert eine quäkende Stimme) „aber der hat angefangen“, denn dann dürfen wir es auch.

    Es ist nicht wahr, daß unsere Truppen brutal gegen Löwen [Zum Kontext: gemeint waren nicht Tiere, sondern die flandrische Stadt Leuven/Louvain] gewütet haben. An einer rasenden Einwohnerschaft, die sie im Quartier heimtückisch überfiel, haben sie durch Beschießung eines Teils der Stadt schweren Herzens Vergeltung üben müssen.

    Auch das eine Invariante des Patriotismus: Massaker verüben die anderen. Unsere Herzen sind hingegen immer noch schwer, weil uns ruchlose Feinde zwangen, bei Kundus schlimme Anschläge zu verhindern.

    Töten aus Liebe zur Kunst

    Weiter im Manifest der 93:

    Aber so wenig wir uns in der Liebe zur Kunst von irgend jemand übertreffen lassen, so entschieden lehnen wir es ab, die Erhaltung eines Kunstwerks mit einer deutschen Niederlage zu erkaufen.

    …denn „verlieren“, verlieren dürfen „wir“ nicht. Selbst wenn dafür Städte zu Klump gehen, SoldatInnen ungezählte Menschen töten oder verstümmeln und die, die übrig bleiben, gefälligst fürs Vaterland frieren und hungern sollen.

    Es ist nicht wahr, daß unsere Kriegführung die Gesetze des Völkerrechts mißachtet. Sie kennt keine zuchtlose Grausamkeit. Im Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder die Erde, und im Westen zerreißen Dumdumgeschosse unseren Kriegern die Brust.

    Das, was mensch – von der Kontinuität sprachlicher Figuren, dem radikalen Othering der Kriegspropaganda abgesehen – aus dieser Passage wirklich lernen kann: Wie kam es eigentlich dazu, dass heute „im Westen“ keine Brüste mehr zerrissen werden?

    Mensch kann diese Geschichte gewiss als die einer totalen Niederlage erzählen, durch die Deutschland „geläutert“ worden sei. Weit stimmiger wird das aber durch die Betrachtung, dass im Gegensatz zur Zeit nach dem ersten Weltkrieg nach dessen zweiter Ausgabe auf beiden Seiten von Rhein und Brenner Menschen regierten, die – eingestandenermaßen unter der gefühlten Bedrohung „aus dem Osten“ – beschlossen haben, die dämlichen Auseinandersetzungen um die Kontrolle des Elsaß, von Südtirol oder von Eupen und Malmedy einzustellen und sich zu vertragen, ganz egal, wer irgendwann mal angefangen hat, diese Landstücke wem anders wegzunehmen.

    Ein paar Jahrzehnte später hat sich diese Vernunft – dann schon gegen heftigen Widerstand – sogar auf Oder, Erzgebirge und Böhmerwald ausgedehnt. Stellt euch vor, wie furchtbar die Verhältnisse an diesen Grenzen heute wären, hätte sich damals die „kein Fußbreit unseres Vaterlands unseren Feinden“-Fraktion durchgesetzt.

    Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt

    Zwar möchte heute noch niemand offen das Hohelied des Militarismus singen – die Geschichte, „ohne starke Armee“ müsse das Land untergehen allerdings erzählen leider wieder ziemlich viele Leute. Und zwar auch welche, deren Muttersprache Wörter wie Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz hervorbringt. Wenn diese wieder Typenbezeichnungen von Panzerhaubitzen kennen, ist das jedenfalls nicht weit von „deutschem Militarismus“ weg.

    Wir können die vergifteten Waffen der Lüge unseren Feinden nicht entwinden.

    Nun gut – wir können es zumindest versuchen.

    Glaubt uns! Glaubt, daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle.

    Dass in den entsprechenden Statements von heute eher von Freiheit und Menschenrechten die Rede ist als von schon damals über hundert Jahre alten Geistesgrößen sowie der „Scholle“, das erkenne ich als klaren Fortschritt an.

    Klar unterschreiben Ekelpakete...

    Deprimierend finde ich das Manifest vor allem, weil sich in dem Kreis der Unterzeichner – es hat wirklich keine Frau ihren Namen hergegeben; wahrscheinlich wurde aber auch keine gefragt – finsterste Schurken mit recht normalen Wissenschaftlern und zum Teil sogar ziemlich fortschrittlich denkenden Menschen mischen.

    So steht etwa Philipp Lenard unter der Erklärung, der später in seiner „Deutschen Physik“ die Beiträge von JüdInnen aus der Physik tilgen wollte und der zusammen mit der NSDAP von deutscher Weltherrschaft träumte; seine Wirkungsstätte Heidelberg bekam deshalb das „Institut für Weltpostwesen” neben die Physik am Philosophenweg gestellt, denn das Weltreich, von dem Lenard und seine Freunde träumten, hätte ja schließlich stabile transkontinentale Kommunikation gebraucht.

    Unvermeidlich bei dieser Sorte Aufwallung war natürlich ein Vertreter der Familie Wagner, und zwar einer, dem 1924 nach einem Besuch bei Mussolini nur einfiel: „Alles Wille, Kraft, fast Brutalität. Fanatisches Auge, aber keine Liebeskraft darin wie bei Hitler und Ludendorff.“

    Gut auf dieser Liste macht sich auch Fritz Haber, der später die Giftgas-Kriegsführung erfand und mit seinem Engagement fürs Land seine Frau Clara Immerwahr dazu brachte, sich mit seinem Offiziersrevolver zu erschießen. Oder Ernst Haeckel, der zwar wunderschöne Strukturen der Natur dokumentierte, sich aber ansonsten als rabiater Sozialdarwinist hervortat.

    ...aber dann auch normale Menschen

    Dass solche Menschen patriotische Erklärungen unterzeichnen, wird niemanden überraschen. Dass aber auch viele mehr oder weniger normale Wissenschaftler ihre Namen unter das Papier setzten, finde ich zumindest bedenkenswert.

    Max Planck steht da zum Beispiel, der immerhin an anderer Stelle leichteren Hochschulzugang für Frauen gefordert hatte (vom Manifest hat er sich später wohl distanziert), oder Wilhelm Wien (der vom Verschiebungsgesetz) oder Wilhelm Conrad Röntgen (der mit den Strahlen; auch er soll die Unterschrift später bedauert haben) oder Friedrich Wilhelm Ostwald, den ich vor allem als Begründer einer feinen Buchreihe mit „Klassikern der exakten Wissenschaften“ kenne.

    Und dann stehen da Biowissenschaftler unter der Erklärung, die mit ihrer Arbeit ungezählte Leben gerettet haben: Emil Behring – der Namensgeber meiner alten Schule übrigens; hätte ich das damals mal gewusst – etwa, oder Paul Ehrlich, also der mit dem Institut, von dem während Corona die Rede war, wenn es ums Impfen und Testen ging.

    Vielleicht noch erstaunlicher sind die Bona-Fide-Intellektuellen unter der Erklärung: mit Max Reinhardt eine der zentralen Figuren der Kultur des Weimarer Berlin zum Beispiel oder, in gewisser Weise noch schlimmer, Gerhart Hauptmann, der mit den Webern ein wirklich beeindruckendes Sozialdrama geschaffen hatte (und nach einigen Jahren auch wieder zur Vernunft kam).

    Es war sogar ein Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft mit von der Partie, nämlich der Astronom (und Gründer des Instituts, an dem ich arbeite) Wilhelm Foerster. Als ausgewiesener Pazifist fand er …

  • Bertrand Russell und die Faulheit

    Als ich angefangen habe, an diesem Blog zu schreiben, wollte ich eigentlich regelmäßig über den Wahnsinn ranten, dass wir Unmengen Plunder und „Dienstleistungen“ herstellen, ohne die die Welt eigentlich besser wäre, und dafür sowohl uns selbst als auch den Planeten furchtbar stressen. Wenn ich jetzt sehe, was ich wirklich unter dem Tag Faulheit geschrieben habe: Am Schluss gab es doch immer andere Themen.

    Unterdessen war am 18. Mai der 150. Geburtstag von Bertrand Russell, von dem hier verschiedentlich schon die Rede war, allerdings eher im Zusammenhang mit seiner Philosophiegeschichte und weniger aufgrund seiner Arbeiten an den Grundlagen der Mathematik, seiner zähen Arbeit gegen religiösen Wahn oder seines pazifistischen Elans[1]; mit all dem hat mich Russell schon sehr lange begeistert.

    Erst im Portrait von Russell in SWR2 Wissen am 13.5. (Audio lohnt sich: Russell spricht selbst, Englisch und Deutsch!) jedoch erfuhr ich, dass er mal wegen Aufruf zu Widerstand gegen die Staatsgewalt im Gefängnis saß (zudem im Alter von 89 Jahren) – und, dass er schon 1932 die zornige Diatribe gegen den Unsinn exzessiver Lohnarbeit geschrieben hat, die ich für diesen Blog vorgesehen hatte.

    Sind wir 90 Jahren später klüger?

    Allerdings schrieb Russell seinen kleinen Aufsatz auf dem Höhepunkt der Großen Depression, also unter fantastischen Arbeitslosenraten, und so unterscheidet sich seine Analyse schon in vielem von meiner; der wichtigste Punkt wäre wohl, dass Russell in erster Linie die vorhandene Arbeit gleichmäßiger verteilen wollte, während ich, 90 Jahre später, überzeugt bin, dass die Gesamtmenge an Arbeit drastisch reduziert werden muss und kann, um den allgemeinen Wohlstand zu heben. Aber wir haben eben auch 90 Jahre Produktivitätssteigerung trotz Übergangs in die „Dienstleistungsgesellschaft“ hinter uns, und Russell konnte nichts von Indexfonds, Fidget Spinnern, SAP, SUVs, Nagelstudios, Bundesligafernsehen, Rechteverwertungsgesellschaften, Flimmerwände, TikTok und all dem anderen bunten Mist wissen, mit dem wir uns heute das Leben gegenseitig schwer machen.

    Russells Essay „In Praise of Idleness“ ist beim Web Archive zu haben (fragt mich nicht, wie das gerade mal 50 Jahre nach Russells Tod trotz Contentmafia zugeht; schlechter auf Deutsch), und wo ich ihn schon gelesen habe, möchte ich ein paar der schöneren Zitate hier versammeln, zumal seine Argumente inzwischen vielleicht unvollständig, sicher aber nicht falsch sind. Die Übersetzungen sind jeweils von mir.

    Russell fängt mit etwas an, das zwar zu lang ist, um ein gutes Gaffito zu machen, und vielleicht klingt „rechtschaffen“ („virtuous“) ein wenig angestaubt. Ich würde damit dennoch jeden Tag auf eine Fridays For Future-Demo gehen:

    Ich glaube, dass viel zu viel Arbeit getan wird in der Welt, und dass der Glaube, Arbeit sei rechtschaffen, unermesslichen Schaden anrichtet [...]

    Ursprüngliche Gewalt

    Im Weiteren leitet Russell die „Arbeitsethik“ in etwa dadurch ab, dass früher mal Krieger die Leute, die die Arbeit gemacht haben, nicht dauernd mit Gewalt zwingen wollten, sie zu füttern. Russell, der ja Kommunist gewesen war, bis er Lenin getroffen hat, waren gewiss die Parallelen zu Marx' ursprünglicher Akkumulation[2] bewusst; ich frage mich ein wenig, warum er darauf nicht wenigstens kurz anspielt.

    Und dann kommt seine scharfe Beobachtung, dass es während des ersten Weltkriegs mit all seiner völlig destruktiven Verschwendung den ArbeiterInnen im UK eigentlich besser ging als in Zeiten ganz normalen Wirtschaftens:

    Trotz all [der Verschwendung aufs Töten] war das generelle Wohlstandsniveau der ungelernten LohnarbeiterInnen auf der Seite der Alliierten höher als davor oder danach. Die tatsächliche Bedeutung dieser Tatsache wurde durch Finanzpolitik versteckt: Die Kriegsanleihen ließen es so aussehen, als würde die Zukunft die Gegenwart ernähren. Aber das ist natürlich unmöglich; ein Mensch kann keinen Brotlaib essen, der noch nicht existiert.

    Diese Argumentation zeigt in der anderen Richtung übrigens den Unsinn (oder die Fiesheit) kapitalgedeckter Rentenversicherungen: Wenn in 50 Jahren niemand mehr Brot backt, wird es für all das angesparte und zwischenzeitlich zerstörerische Kapital kein Brot zu kaufen geben – über diesen spezifischen Wahnsinn hatte ich es schon kurz im letzten April.

    In diesem speziellen Fall würde ich Russell allerdings fragen wollen, ob das ähnlich auch für die britischen Kolonien galt; einige indische Hungersnöte im Megaopferbereich fallen durchaus in die verschiedenen Kriegszeiten, und ich vermute, Russell sieht hier zu guten Stücken lediglich die während Kriegen erheblich größere Kampfkraft nicht allzu patriotischer Gewerkschaften reflektiert.

    Philosophie und Sklavenhaltung

    Wenig später folgt ein weiteres Bonmot, wenn Russell zunächst die immer noch herrschende Ideologie erklärt:

    Warum [sollten Leute ohne Lohnarbeit verhungern und die anderen furchtbar lang arbeiten]? Weil Arbeit Pflicht ist, und Menschen nicht im Verhältnis zu dem bezahlt werden sollen, was sie herstellen, sondern im Verhältnis zu ihrer Tugendhaftigkeit, wie sie durch ihren Fleiß unter Beweis gestellt wird.

    Das ist die Moralität des Sklavenstaates, angewandt auf Umstände, die völlig verschieden sind von denen, unter denen sie entstand.

    Ich merke kurz an, dass Russell als Philosoph dem antiken Sklavenstaat durchaus etwas abgewinnen konnte, denn ohne die Arbeit all der SklavInnen hätten Thales und Demokrit wohl keine Muße gehabt, ihren von Russell sehr geschätzten Gedanken nachzuhängen. Dabei ist er gar nicht so furchtbar darauf fixiert, dass die Leute in ihrer Muße dringend philosophieren[3] müssen:

    Es wird der Einwand kommen, dass, wenn auch ein wenig Muße angenehm ist, die Leute nicht wüssten, mit was sie ihre Tage füllen sollen, wenn sie nur vier Stunden von ihren vierundzwanzig arbeiten müssen. Soweit das in unserer modernen Welt wirklich zutrifft, ist es eine Verdammung unserer Zivilisation; es war jedenfalls in keiner vorherigen Epoche wahr. Es hat vor uns eine Fähigkeit gegeben für Freude und Spiel, die in gewissem Maß von unserem aktuellen Kult der Effizienz gehemmt wird. Der moderne Mensch denkt, dass es für jede Tätigkeit einen Grund außerhalb ihrer selbst geben müsse, dass Dinge nie um ihrer selbst willen getan werden dürfen.

    Die lahmeren Einwände gegen das bedingungslose Grundeinkommen kamen also auch damals schon. Ich stimme Russells Entgegnug aus diesem Absatz herzlich zu, auch wenn er wie ich auch nicht widerstehen kann, kurz darauf von einer generellen Begeisterung für Wissenschaft zu träumen:

    In einer Welt, in der niemand gezwungen ist, mehr als vier Stunden pro Tag zu arbeiten, wird jede Person, die die wissenschaftliche Neugier packt, sich dieser hingeben können, und alle MalerInnen werden malen können, ohne zu verhungern, gleichgültig, wie großartig ihre Bilder sein mögen.

    Nun… Bis zum Beweis des Gegenteils glaube ich fest daran, dass eine Gesellschaft mit minimalem Lohnarbeitszwang eine Gesellschaft von BastlerInnen und Amateurastronominnen sein wird. Schaun wir mal.

    Krieg ist viel Arbeit

    Ich kann dieses Best-of aus Russells Artikel nicht ohne seine Brücken zum Kriegführen beenden. Krieg erwähnt er, wenn er Techniken diskutiert, die die Übersetzung von Produktivitätsfortschritten in weniger Arbeit verhindern:

    Wenn sich alle diese Methoden als unzureichend herausstellen, machen wir Krieg; wir lassen ein paar Leute Explosivstoffe herstellen und ein paar andere diese zünden, ganz als wären wir Kinder, die gerade Feuerwerk entdeckt haben.

    Und dann sagt er in der Abteilung Utopie:

    [Wenn die Leute nicht mehr so wahnsinnig viel arbeiten,] wird der der Hunger nach Krieg aussterben, teils aus diesem Grund [weil die Leute netter und weniger misstrauisch wären] und teils, weil Krieg viel und schwere Arbeit mit sich bringen würde.
  • Heldin: Luise Zietz

    Das DLF-Kalenderblatt vom 27. Januar erinnerte an Luise Zietz, die 100 Jahre zuvor gestorben war. Zietz war die erste Frau im Vorstand einer deutschen Partei – der SPD, ab 1908. Der DLF-Beitrag berichtete auch:

    Während des Ersten Weltkriegs sprach sich Luise Zietz als Pazifistin gegen die Bewilligung von Kriegskrediten aus und wurde aus dem SPD-Parteivorstand geworfen.
    Altes Foto mit Personen drauf

    Luise Zietz neben Friedrich Ebert, im SPD-Parteivorstand von 1909; es ist Zietz hoch anzurechnen, dass sie nicht mehr neben Ebert stand, als dieser mit Wehrmacht und Freikorps die fortschrittlichen Aufstände am Anfang der Weimarer Republik niedermetzeln ließ (Quelle).

    Gerade dieser Punkt hat mir imporiert, zumal ich, bevor diese Sendung in meinem aynchronen Radio kam, den großen patriotischen Taumel in den Informationen am Morgen vom Dienstag miterleben musste. In diesem kamen, soweit ich ihn verfolgt habe, nur Leute zu Wort wie Jürgen Hardt (der immerhin nur die blinde Gewissheit des Patrioten an den Tag legte, „wir“ seien die Guten) oder wie Michael Gahler (der sich zu „totaler Kriegserklärung“ und „völkisch-faschistischem Verständnis“ verstieg – wo sind die Mahner gegen kreischkrumme Vergleiche, wenn mensch sie braucht?) – jedoch niemand, der_die mal über die Symmetrie der Situation geredet hat, dass „wir“ nämlich nicht nur aus russischer Sicht in etwa ebenso schurkig sind wie „sie“, und dass wirklich niemand die doofen Turf Wars zwischen verschiedenen Schurkengangs haben will. Dass die Moderatorin penetrant Bekenntnisse ausgerechnet zu Waffenlieferungen einforderte, tat ein Übriges: Ich sehnte mich intensiv nach aufrechten Pazifistinnen.

    Wie schön wäre es da gewesen, wenn es im SPD-Parteivorstand von 1914 wirklich eine gegeben hätte, die Liebknechts einsame Ablehnung der Kriegskredite – und es wird heute wohl niemand mehr bestreiten, dass er im ganzen weiten Reichstag der einzige war, der sich in dieser Sache vor der Geschichte nicht verstecken muss – unterstützte und dafür noch mit ihrem Amt bezahlt hat.

    Nun, wie die oben zitierte Kurzbiografie zeigt, war das leider nicht so:

    Zwar hatte Luise Zietz 1912 in ihrem Buch Die Frauen und der politische Kampf dazu aufgerufen, sich gegen den drohenden Krieg zu stellen, doch an der Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz 1915 in Bern, die vom Parteivorstand nicht gebilligt worden war, nahm sie nicht teil. Im Laufe der ersten beiden Kriegsjahre scheint sich ihre Einstellung jedoch geändert zu haben. Sie äußerte sich seither deutlich kritischer zur Burgfriedenspolitik der SPD und stellte ihre Mitarbeit im Nationalen Frauendienst ein.

    Zietz war 1914 mit dem ganzen Parteivorstand im patriotischen Taumel und ist mit der SPD in den Krieg gezogen. Ich fühle mich fast versucht, ihre Wikipedia-Seite, die derzeit das verkürzte Narrativ des DLF übernommen hat, diesbezüglich zu verbessern. Aber immerhin hatte sie Augen im Kopf und ein Mindestmaß an Mitgefühl, und so hat sie schließlich ihren Fehler eingesehen. 1917 hat sie die USPD mitgegründet, was durchaus als erfolgreicher Beitrag zur Dämpfung von Patriotismus und mithin zur Verkürzung des Gemetzels gelten darf. Zudem hat sie später als USPD-Abgeordnete erfreulichen Klartext geredet, etwa als die Ebert-SPD von Mutterschutz und elementaren Beschäftigtenrechten bei Krankheit nichts mehr wissen wollte: „Kapitalsinteressen wurden höher bewertet als warmes Menschenleben“.

    Luise Zietzs anfängliche Unterstützung des ersten Weltkriegs ist schon ein wenig erschütternd, zumal sie vor der nationalen Erregung von 1914 offenbar recht vernünftige Ansichten zur Nation und dem Töten für diese geäußert hat. Aber die Demonstration, dass mensch sich von Kriegspolitik abwenden kann, dass mensch bereit ist, für die Einsicht in die eigene patriotische Verblendung auch einen Posten im Parteivorstand aufzugeben: Davon bräuchte es heute erneut viel mehr, hier bei „uns“ wie auch bei all den „sie“-s rund um den Globus. Weil Zietz diese Großtat 1917 hinbekommen hat, ist sie durchaus eine echte Heldin; vielleicht etwas gebrochen, aber doch Heldin.

  • SARS-2 ist in etwa fertig

    Ich beobachte derzeit fasziniert die Reihenfolge der Beiträge in Nachrichtensendungen. Wir haben Corona-Zahlen, die noch vor zwei Monaten helle Panik ausgelöst hätten – 200000 gemeldete Neuinfektionen am Tag, eine bundesweite 7-Tages Inzidenz über einem Prozent –, und entsprechende Meldungen kommen zumindest bei ARD und DLF, wenn überhaupt, weit hinter Mumpitz wie der Frage, ob wohl ein Herr Merz oder ein Herr Brinkhaus der CDU-Fraktion im Bundestag vorsitzen wird (mal ehrlich: Wer wirds merken?).

    Aber vielleicht ist das auch besser so; denn auch wenn sich das derzeitige Tempo wahrscheinlich noch nicht durchhalten lässt, wenn sich die Altersverteilung der Infizierten nach oben verschiebt, mag es sein, dass es ohne grobe Notbremsen gerade jetzt geht, und wenn der nächste Winter halbwegs normal laufen soll, sollten wir auch gar nicht so arg einbremsen (und auch nicht im Interesse der 70-Jährigen).

    Gestern allerdings hätte es eine spektakuläre Nachricht gegeben, die ich ganz vorne in meine Sendung gepackt hätte, wenn ich Redakteur wäre: Mit Omikron ist SARS-2 in gewissem Sinn fertig. Woher ich das weiß? Nun, meine Lieblingsrubrik im RKI-Wochenbericht kommt schon seit langem von der Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI; ich hatte die schon mal zitiert), die Woche um Woche berichtet, was so umgeht an Erregern von Atemwegserkrankungen. Im Bericht von gestern findet sich das auf Seite 14, und da steht:

    In der virologischen Surveillance der AGI wurden in KW 3/2022 in insgesamt 66 von 112 eingesandten Proben (59 %) respiratorische Viren identifiziert. Darunter befanden sich 23 Proben mit SARS-CoV-2 (21 %), 15 mit humanen saisonalen Coronaviren (hCoV) (13 %), zwölf mit Rhinoviren (11 %), elf mit humanen Metapneumoviren (10 %), jeweils drei Proben mit Parainfluenzaviren (3 %) bzw. mit Respiratorischen Synzytialviren (RSV) (3 %) sowie eine Probe mit Influenzaviren (1 %).

    Das ist spektakulär, weil, wenn ich nichts übersehen habe, nie zuvor während der ganzen Pandemie SARS-2 in den Infektionszahlen unsere gewohnten humanen Coronaviren überholt hat.

    Und es heißt ziemlich sicher: SARS-2 ist jetzt bis auf einen kleinen Faktor so gut an den Menschen angepasst, wie das Coronaviren halt können – die anderen vier hatten ja schon mindestens hundert Jahre Zeit für ihre Optimierung (der jüngste könnte seit 1889 umgehen; zumindest vermuten viele Leute, die Russische Grippe könne die letzte wirklich tödliche Coronapandemie vor SARS-2 gewesen sein), und wenn SARS-2 in deren Liga aufgestiegen ist, wird es wohl keine weltbewegenden Erfindungen mehr machen können; in diesem Sinne wäre es, na ja, „fertig“.

    Mensch könnte spekulieren, SARS-2 könne einen Vorteil haben, weil es für die meisten Menschen hier immer noch neu ist, während sie die anderen vier schon aus dem Kindergarten kennen. Per Bauchgefühl bezweifele ich den Vorteil allerdings, denn die vielen Geimpften – und niemand ist gegen eines der anderen Coronaviren geimpft – machen es SARS-2 vermutlich ziemlich ähnlich schwer wie die vorhergegangenen Infektionen den anderen.

    Zum Schluss nochmal Fanpost an die AGI: Ich halte das für hochrelevante Forschung mit minimalem Eingriff in die Privatsphäre von Kranken, small data im besten Sinn (wobei ich zugebe, dass mir das noch besser gefallen würde, wenn das Sample etwas größer wäre; in Zeiten wie diesen sollten sich doch 500 bis 1000 Proben finden). In meiner Fantasie sind die AGI-Leute und ihre Sentinelpraxen so wie die Waldläufer im Herrn der Ringe, die durch die Wildnis ums Auenland streichen und, ohne dass es viele merken, die Augen offen halten. Helden!

  • Joe Hills Asche und die bessere Zukunft

    „I dreamed I saw Joe Hill last night, alive as you and me“ – so fängt ein Klassiker des Arbeiterlieds an, der mich spätestens bei „And smiling with his eyes,/ says Joe, what they could never kill/ went on to organize“ immer sehr ergriffen hat, auch in seinen Aktualisierungen wie etwa I dreamed I saw Judi Bari last night von David Rovics.

    Was ich nicht wusste: In das Bewusstsein der (halbwegs) modernen Linken hat das Lied Joan Baez gebracht, als sie es beim Woodstock Festival aufführte. Trivia? Klar. Noch viel mehr davon habe ich gestern gehört, als der Deutschlandfunk-Freistil vom 12.12.2021 („Die Asche von Joe Hill”) in meinem asynchronen Radio drankam.

    Diese Sendung hätte ich offen gestanden als außerhalb der Grenzen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks liegend eingeschätzt. Einerseits, weil es um grenzwertig kannibalistische Praktiken geht – allerdings stark grotesk-gutgelaunte (lest zumindest mal die Zusammenfassung). Das ist nicht anders zu erwarten, da Abbie Hoffman im Spiel ist, der schon mal als Angeklagter in Richterroben auflief, sich mit dem Stinkefinger vereidigen ließ und wesentlichen Anteil hatte, dass um ein Haar ein Schwein US-Präsidentschaftskandidat (statt des heute zu Recht vergessenen Hubert Humphrey) geworden wäre.

    Andererseits finde ich die Sendung doch recht DLF-mutig, weil sie am Ende schon nachgerade revolutionär wird. Schon die Beschreibung der blutigen Repression gegen die Wobblies in den USA bereitet auf klare Worte vor:

    Mit dem Eintritt der USA in den ersten Weltkrieg erlebten die Wobblies eine brutale Verfolgung. Sie wurden als unpatriotisch gebrandmarkt [ich hoffe doch: zu Recht!], viele wurden verhaftet, einige gelyncht, manche verließen das Land.

    Dies ist natürlich auch eine Erinnerung daran, dass es schlicht keine größere Katastrophe gibt als Kriege und es wirklich Zeit wird, auch im Interesse des liberalen Rechtsstaats endlich Schluss zu machen mit all dem Militärquatsch.

    Vor allem aber schließt der Film mit der Sorte revolutionärem Optimismus, der mir in der derzeitigen radikalen Linken eigentlich fast überall fehlt. Ich mache ja die generelle Miesepetrigkeit, Coolness und Belehrsucht in unseren Kreisen schon etwas mitverantwortlich dafür, dass „konservative“ bis faschistische Gedanken in erstaunlich vielen Studihirnen (und, schlimmer noch, unter weniger Privilegierten) Raum greifen.

    Wie viel hoffnungsvoller klingt, womit Otis Gibbs die HörerInnen aus der Sendung entlässt (Übersetzung des DLF; das Original, wo ich es hören kann, scheint mir noch eine Spur ergreifender):

    Ich habe ein sehr gutes Gefühl, was die Zukunft angeht, und ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit, bis sehr gute Sachen in Amerika passieren. Jetzt lastet noch eine Dunkelheit auf uns allen, und ich spüre sie wie jedeR andere auch. Aber ich treffe auch Menschen, die einem Mut machen, und sie sind alle jung. Sie sind Idealisten. Wir müssen nur diese schreckliche Zeit, in der wir leben, überleben, bis die jungen Leute das Ruder übernehmen und die Welt zu einem viel besseren Ort machen.

    So ganz von selbst wird das wohl nicht gehen, aber es ist jedenfalls der viel bessere Ansatz als… na ja, wie ich gerade damit zu hadern, dass unser schnarchiger DGB beängstigend nahe dran ist an der One Big Union, die Joe Hill und die Wobblies mal im Sinn hatten. Jaja, ich hadere ja schon nicht mehr.

  • Nerd des Monats: Friedrich Schmiedel

    Titel: Der einzige Artikel von Schmiedel im Internet

    Als großer Fan von der Deutschlandfunk-Sendung Forschung aktuell höre ich natürlich auch (wenn auch mit Verzögerung) jeden Tag die sehr empfehlenswerte Sternzeit.

    In der vom 2. Februar hat (denke ich mal) Dirk Lorenzen daran erinnert, dass vor 90 Jahren, am 2.2.1931, Friedrich Schmiedl die erste Postrakete hat fliegen lassen, und die Geschichte klang so irre, dass ich das mal genauer wissen wollte:

    Die erste Postrakete brachte rund hundert Briefe vom Schöckel, einem Berg bei Graz, ins nur wenige Kilometer entfernte Sankt Radegund. Die Raketen waren ferngesteuert und landeten sanft am Fallschirm – eine Meisterleistung des Ingenieurs.

    [...] Nach dem erfolgreichen Erstflug begann ein regelmäßiger Postraketendienst in der Umgebung von Graz.

    und vor allem:

    Nach dem Raketen-Aus vernichtete Friedrich Schmiedl seine Unterlagen, damit sie nicht für Rüstungszwecke genutzt werden konnten – und er lehnte etliche Stellenangebote von Militärs aus verschiedenen Ländern ab.
    Eingang des Instituts für Weltraumwissenschaften

    Das Grazer Institut für Weltraumwissenschaften ist leider nicht nach Schmiedel, sondern nach dem Entdecker der kosmischen Strahlung, Victor Hess, benannt. Immerhin hat auch er nicht mit den Nazis kollaboriert, ist nach dem Übergang vom Austrofaschismus zur Naziherrschaft in Österreich in die USA geflohen – und er war Lehrer von Schmiedel.

    Der Wikipedia-Artikel zur Raketenpost ist zwar bezüglich des „regelmäßigen Postraketendiestes“ doch etwas skeptischer, und klar ist das aus heutiger Sicht eine ziemlich irre Idee. Aber wahrscheinlich war sie in ihrer Zeit nicht viel irrer als die Idee eines globalen paketvermittelten Computer-Netzwerks in den Anfängen des ARPANet.

    Nach etwas Schmökern im Netz kann ich jedenfalls bestätigen: Schmiedl war ganz klar ein großer Bastler; allein die Raketen so zu starten bzw. zu steuern, dass sie die Briefe tatsächlich so grob dorthin brachten, wo sie hinsollten, ist mit der damaligen Technologie ein halbes Wunder. Und er war bewegt von Interesse an der Sache und natürlich dem Plan, irgendwann mal in den Weltraum zu kommen. Ein Nerd, kein Zweifel.

    Dass er jede Verwicklung in staatliches Töten („Militär“) konsequent und unter erheblichen zumindest materiellen Einbußen abgelehnt hat, macht ihn, so finde ich, noch dazu zu einem Vorbild. Und drum verleihe ich Schmiedl hiermit feierlich den Titel Nerd des Monats.

    Während ich im Netz rumgestöbert habe, um etwas etwas mehr über Schmiedel rauszukriegen (und viel scheint nicht online zu sein), ist mir irgendwann klar geworden, dass ich eine großartige Gelegenheit verpasst habe, Schmiedl näher zu kommen: Ich war nämlich vor ein paar Jahren mal Referent bei einer Konferenz im Institut für Weltraumwissenschaften der österreichischen Akademie der Wissenschaften, das bestimmt nicht ganz zufällig in Graz ist. Leider wusste ich nichts von der Geschichte und habe deshalb nicht im Institut nach Erinnerungen geforscht – er ist ja erst 1994 gestorben, es könnten also durchaus noch Leute dort arbeiten, die ihn gekannt haben – und auch sein Grab nicht besucht. Schade.

    Was mich beim Stöbern noch überrascht hat: Der Wikipedia-Artikel zur Raketenpost schreibt, erst nach einem Unfall, bei dem 1964 zwei Menschen gestorben waren, seien in der Bundesrepublik Experimente mit ernsthafteren Raketen für Privatpersonen verboten worden. So ein Verbot hätte ich genau angesichts der militärischen Interessen, die Schmiedel aus dem Gebiet gedrängt haben, viel früher erwartet.

    Schmiedels Geschichte finde ich jedenfalls inspirierend. Und siehe da: das ADS weist immerhin einen Artikel von ihm nach: Early postal rockets in Austria. Und siehe noch weiter: Das Web Archive hat einen Scan des Artikels (ganzer Band von archive.org; original kommt das vom NASA NRTS, aber deren Interface ist Mist), der vielleicht, wenn du das liest, schon am ADS verlinkt ist.

    Der Artikel ist alles, was ich von Schmiedel selbst have finden können. Daher hier noch ein paar Ausschnitte, die, finde ich, seine Art, visionären Ideenreichtum mit konkreten technischen Lösungen zu verbinden, ganz gut illustrieren:

    [Die hübsche und gar nicht tödliche Passage von P1/Halley im Jahr 1910] marked a new phase in human thought after it became evident that space was not that hostile; one could dare to explore it. [...]

    In the 1920s I started some preliminary rocket experiments towards space flight. But first of all I had to convince my professors, who considered my ideas on space flight as a scientific illusion because of my youthful eagerness to assume that space flight was possible. [...] under the hood of a vaccum pump I fired tiny rockets and tested their efficiency while the air was evacuated.

    [...Mein Stratosphärenballon] was furnished with magnetized steel wires to hold it in a predetermined east-west position [...] Furthermore, the steel wires had to hold an aluminum flag (300 cm x 7 cm) in a certain position relative to the Sun so that it could reflect the Sun's rays to an observation post on Earth. Thus one could pursue the position of the balloon despite its height.

    [...] my stratoballoon carried some silveracide which would explode at a high altitude [...so that] dispersed matter could be moved out of the Earth's gravitational field by solar light pressure.

    [Meine Test-Postrakete] V-5 carried letters where I stated “...it is theoretically possible to deliver mail from Europe to America via rockets within 40 minutes” [...]

    In April 1931 I launched three sounding rockets with home-made recording equipment: a spectrograph with Zeiss prisms, and instruments to record the pressure, height, and vibrations [...] One rocket was constructed like a Greek column with parallel grooves along the longitudinal axis that had been worked into the aluminum casing to prevent rotation during the flight [...] The second rocket, on the other hand, I provided with diagonal grooves in its casing for fast rotation. My purpose was to improve guiding accuracy [...]

    I launched the [V-8] rocket with a selen cell as an optical control which should have set its course toward a lighted balloon [...]

    Later, I destroyed nearly all of my research notes and photographs of rocket launches and proceedings, for fear they might be used by the military.

    Nee, wirklich: der Krieg ist mal ganz definitiv nicht der Vater aller Dinge.

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