Erst vor ein paar Tagen habe ich das Wort „Augusterlebnis“ so richtig
wahrgenommen: Es handelt sich um die 1914er-Version der modernen
„Zeitenwende“ von 2022. Auch damals, als sich der Rüstungswettlauf
der 1900er Jahre in einem lang erwarteten Krieg entlud, haben sich viele
Menschen – leider auch welche, die sich als links und/oder intellektuell
verstanden – patriotisch hinter das „eigene“ Land (und dessen Verbündete)
gestellt, als dieses mit hinreichender Entschlossenheit und Tiefe
Kriegspartei wurde.
Ich habe dieses Phänomen schon während „unserer“ diversen Kriege im
ehemaligen Jugoslawien ungläubig bestaunt. Nach dieser Erfahrung war
ich nicht mehr ganz so entsetzt über die vielen Stimmen auch aus in
normalen Zeiten weniger patriotischen Kreisen, die im vergangenen
Frühling fürs Vaterland wieder töten, sterben oder doch wenigstens
waffenliefern wollten.
Ebenfalls nicht überrascht hat mich die Diffamierung jener, die
historische Evidenz beibrachten dafür, dass all das Sterben und Töten
Dinge nicht besser, wohl aber blutiger macht. Je nach individuellem
Geschmack gelten sie neuen wie alten PatriotInnen als Verblendete,
Träumer oder böswillig. Großer Konsens auf allen Seiten ist nach
Augusterlebnissen und Zeitenwenden: Wer nicht schießen will, ist
ausländischer Agent bzw. gleichbedeutend russischer Troll.
Das Manifest der 93
Die Geschichte vom Augusterlebnis von 1914 fand ich, als ich
historische Perspektiven dieser Art mit einer Neulektüre des immer
wieder informativen Ernstfall Frieden von Wolfram Wette (Bremen:
Donat Verlag, 2017) auffrischte. Diese rief mir auch ein für mich
besonders deprimierendes Beispiel für Aufwallungen deutschen
Patriotismus' in Erinnerung: Das Manifest der 93, eine Erklärung, der
sich, während sich die Soldaten im September 1914 an den diversen
Fronten eingruben und die ersten Signale zurückkamen, wie ein
industrialisierter Krieg wohl aussehen könnte, 93 häufig immer noch
recht bekannte „Intellektuelle“ des deutschen Reichs
anschlossen.
Die Wikipedia dokumentiert den vollen Text des Manifests; lasst mich
ein paar Zitate heraussuchen, die besonders nach heute klingen:
Es ist nicht wahr, daß Deutschland diesen Krieg verschuldet hat. Weder
das Volk hat ihn gewollt noch die Regierung noch der Kaiser. Von
deutscher Seite ist das Äußerste geschehen, ihn abzuwenden.
Das erinnert sehr an die Entschlossenheit vieler aktueller PatriotInnen,
mit viel Verve und Empörung die Beiträge zu bestreiten, die „unsere“
Angriffskriege („völkerrechtswidrig“ oder nicht), Grenzverschiebungen,
imperialen Abenteuer und Landnahmen auf dem Weg in den Krieg gespielt
haben. Ganz entgegen dem Augenschein ist in dieser Erzählung die
eigene Seite die personifizierte Friedlichkeit. ImperialistInnen waren
auch damals schon immer („nur“, wo es ein „auch“ bräuchte) die anderen.
Oft genug hat Wilhelm II. in den 26 Jahren seiner Regierung sich als
Schirmherr des Weltfriedens erwiesen.
Außer, wenn er einen Panthersprung vollführte oder seine Flotte
aufrüstete oder… nun, bei genauerer Betrachtung war ihm der Weltfrieden
doch eigentlich immer ziemlich scheißegal. Aber klar, vielleicht hat er
die Flotte ja wirklich gegen Piraten gebraucht, so wie… wir zum Beispiel
mit unserer Operation Atalanta.
Es ist nicht wahr, daß wir freventlich die Neutralität Belgiens
verletzt haben. Nachweislich waren Frankreich und England zu ihrer
Verletzung entschlossen. Nachweislich war Belgien damit einverstanden.
Selbstvernichtung wäre es gewesen, ihnen nicht zuvorzukommen.
…ganz wie unsere Waffen heute mit dem Einverständnis „der Ukrainer“
helfen, das Land in Schutt und Asche zu legen. Hauptsache (imaginiert
eine quäkende Stimme) „aber der hat angefangen“, denn dann dürfen wir
es auch.
Es ist nicht wahr, daß unsere Truppen brutal gegen Löwen [Zum Kontext:
gemeint waren nicht Tiere, sondern die flandrische Stadt
Leuven/Louvain] gewütet haben. An einer rasenden Einwohnerschaft,
die sie im Quartier heimtückisch überfiel, haben sie durch Beschießung
eines Teils der Stadt schweren Herzens Vergeltung üben müssen.
Auch das eine Invariante des Patriotismus: Massaker verüben die
anderen. Unsere Herzen sind hingegen immer noch schwer, weil uns
ruchlose Feinde zwangen, bei Kundus schlimme Anschläge zu verhindern.
Töten aus Liebe zur Kunst
Weiter im Manifest der 93:
Aber so wenig wir uns in der Liebe zur Kunst von irgend jemand
übertreffen lassen, so entschieden lehnen wir es ab, die Erhaltung
eines Kunstwerks mit einer deutschen Niederlage zu erkaufen.
…denn „verlieren“, verlieren dürfen „wir“ nicht. Selbst wenn dafür
Städte zu Klump gehen, SoldatInnen ungezählte Menschen töten oder
verstümmeln und die, die übrig bleiben, gefälligst fürs Vaterland
frieren und hungern sollen.
Es ist nicht wahr, daß unsere Kriegführung die Gesetze des
Völkerrechts mißachtet. Sie kennt keine zuchtlose Grausamkeit. Im
Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten
Frauen und Kinder die Erde, und im Westen zerreißen Dumdumgeschosse
unseren Kriegern die Brust.
Das, was mensch – von der Kontinuität sprachlicher Figuren, dem
radikalen Othering der Kriegspropaganda abgesehen – aus dieser
Passage wirklich lernen kann: Wie kam es eigentlich dazu, dass heute
„im Westen“ keine Brüste mehr zerrissen werden?
Mensch kann diese Geschichte gewiss als die einer totalen Niederlage
erzählen, durch die Deutschland „geläutert“ worden sei. Weit stimmiger
wird das aber durch die Betrachtung, dass im Gegensatz zur Zeit nach dem
ersten Weltkrieg nach dessen zweiter Ausgabe auf beiden Seiten von Rhein
und Brenner Menschen regierten, die – eingestandenermaßen unter der
gefühlten Bedrohung „aus dem Osten“ – beschlossen haben, die dämlichen
Auseinandersetzungen um die Kontrolle des Elsaß, von Südtirol oder von
Eupen und Malmedy einzustellen und sich zu vertragen, ganz egal, wer
irgendwann mal angefangen hat, diese Landstücke wem anders wegzunehmen.
Ein paar Jahrzehnte später hat sich diese Vernunft – dann schon gegen
heftigen Widerstand – sogar auf Oder, Erzgebirge und Böhmerwald
ausgedehnt. Stellt euch vor, wie furchtbar die Verhältnisse an diesen
Grenzen heute wären, hätte sich damals die „kein Fußbreit unseres
Vaterlands unseren Feinden“-Fraktion durchgesetzt.
Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom
Erdboden getilgt
Zwar möchte heute noch niemand offen das Hohelied des Militarismus singen –
die Geschichte, „ohne starke Armee“ müsse das Land untergehen allerdings
erzählen leider wieder ziemlich viele Leute. Und zwar auch welche,
deren Muttersprache Wörter wie Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz
hervorbringt. Wenn diese wieder Typenbezeichnungen von Panzerhaubitzen
kennen, ist das jedenfalls nicht weit von „deutschem Militarismus“ weg.
Wir können die vergifteten Waffen der Lüge unseren Feinden nicht
entwinden.
Nun gut – wir können es zumindest versuchen.
Glaubt uns! Glaubt, daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als
ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven,
eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle.
Dass in den entsprechenden Statements von heute eher von Freiheit und
Menschenrechten die Rede ist als von schon damals über hundert Jahre
alten Geistesgrößen sowie der „Scholle“, das erkenne ich als klaren
Fortschritt an.
Klar unterschreiben Ekelpakete...
Deprimierend finde ich das Manifest vor allem, weil sich in dem Kreis
der Unterzeichner – es hat wirklich keine Frau ihren Namen hergegeben;
wahrscheinlich wurde aber auch keine gefragt – finsterste Schurken mit
recht normalen Wissenschaftlern und zum Teil sogar ziemlich
fortschrittlich denkenden Menschen mischen.
So steht etwa Philipp Lenard unter der Erklärung, der später in
seiner „Deutschen Physik“ die Beiträge von JüdInnen aus der Physik
tilgen wollte und der zusammen mit der NSDAP von deutscher
Weltherrschaft träumte; seine Wirkungsstätte Heidelberg bekam deshalb
das „Institut für Weltpostwesen” neben die Physik am Philosophenweg
gestellt, denn das Weltreich, von dem Lenard und seine Freunde träumten,
hätte ja schließlich stabile transkontinentale Kommunikation gebraucht.
Unvermeidlich bei dieser Sorte Aufwallung war natürlich ein Vertreter
der Familie Wagner, und zwar einer, dem 1924 nach einem Besuch bei
Mussolini nur einfiel: „Alles Wille, Kraft, fast Brutalität.
Fanatisches Auge, aber keine Liebeskraft darin wie bei Hitler und
Ludendorff.“
Gut auf dieser Liste macht sich auch Fritz Haber, der später die
Giftgas-Kriegsführung erfand und mit seinem Engagement fürs Land seine
Frau Clara Immerwahr dazu brachte, sich mit seinem Offiziersrevolver
zu erschießen. Oder Ernst Haeckel, der zwar wunderschöne Strukturen
der Natur dokumentierte, sich aber ansonsten als rabiater
Sozialdarwinist hervortat.
...aber dann auch normale Menschen
Dass solche Menschen patriotische Erklärungen unterzeichnen, wird
niemanden überraschen. Dass aber auch viele mehr oder weniger
normale Wissenschaftler ihre Namen unter das Papier setzten, finde ich
zumindest bedenkenswert.
Max Planck steht da zum Beispiel, der immerhin an anderer Stelle
leichteren Hochschulzugang für Frauen gefordert hatte (vom Manifest hat
er sich später wohl distanziert), oder Wilhelm Wien (der vom
Verschiebungsgesetz) oder Wilhelm Conrad Röntgen (der mit den Strahlen;
auch er soll die Unterschrift später bedauert haben) oder Friedrich
Wilhelm Ostwald, den ich vor allem als Begründer einer feinen Buchreihe
mit „Klassikern der exakten Wissenschaften“ kenne.
Und dann stehen da Biowissenschaftler unter der Erklärung, die mit ihrer
Arbeit ungezählte Leben gerettet haben: Emil Behring – der Namensgeber
meiner alten Schule übrigens; hätte ich das damals mal gewusst – etwa,
oder Paul Ehrlich, also der mit dem Institut, von dem während Corona
die Rede war, wenn es ums Impfen und Testen ging.
Vielleicht noch erstaunlicher sind die Bona-Fide-Intellektuellen unter
der Erklärung: mit Max Reinhardt eine der zentralen Figuren der
Kultur des Weimarer Berlin zum Beispiel oder, in gewisser Weise
noch schlimmer, Gerhart Hauptmann, der mit den Webern ein wirklich
beeindruckendes Sozialdrama geschaffen hatte (und nach einigen Jahren
auch wieder zur Vernunft kam).
Es war sogar ein Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft mit von der
Partie, nämlich der Astronom (und Gründer des Instituts, an dem ich
arbeite) Wilhelm Foerster. Als ausgewiesener Pazifist fand er …