Alle Ausländer total verdächtig: Das Entry-Exit-System der EU

Kurve einer ca. 5m hohen Betonmauer, die von Bereitschaftspolizei bewacht wird.

Das Foto der polizeigeschützten Betonfestung oben entstand 2009 bei einer Demonstration gegen die „GfA“ – das ist ein Euphemismus für Abschiebeknast – Ingelheim. Am Rande dieser Demonstration gegen ein besonders bedrückendes Symbol des deutsch-europäischen Migrationsregimes hörte ich zum ersten Mal von einem, wir mir damals erschien, aus Menschenrechtsgründen chancenlosen Irrsinnsprojekt, nämlich einer Datenbank, in der die EU alle Übertritte von Schengengrenzen aufzeichnen wollte, dem Entry-Exit-System EES.

Ein gutes Jahrzehnt später hat es die Autorilla[1] entgegen meiner damaligen Einschätzung geschafft: Das Ding wird wohl in diesem Jahr online gehen, nachdem die entsprechende Rechtsgrundlage – die EU-Verordnung 2017/2226 oder kurz EES-VO – bereits 2017 die drei EU-Organe, also Parlament, Rat und Komission, passiert hat und am letzten Donnerstag auch der Bundestag ein paar offene Parameter in großer Eile in zweiter und dritter Lesung abgenickt hat. Die Bundestagsdrucksache 20/5333 ist ohne Debatte (wer nachlesen will: S. 88 im Plenarprotokoll: Gegenstimmen: die Linke, Enthaltungen: keine; es ging weiter mit Hilfen für Sportvereine) durchgerutscht, ohne dass es jemand gemerkt hätte.

Die taz zum Beispiel hat in all den Jahren seit 2009 gerade mal zwei Artikel zum EES gehabt, einmal 2014 („Zeigt her eure Hände“) und dann nach der Verabschiedung der EES-VO 2017 („Die EU plant eine Touristendatei“). Angesichts des monströsen Vorhabens finde ich das etwas dünn, denn es geht um:

Fingerabdrücke…

Worüber ich besonders heulen könnte: Die Autorilla hat meine schlimmsten Erwartungen von 2009 noch übertroffen. Gut: Damals war auch das Visa-Informationssystem mit seinen Fingerabdruckdaten für (derzeit) beschämende 50 Millionen „Ausländer“ mit Schengen-Visa noch eine ferne Dystopie, die Bereitwilligkeit, mit der eine breite Mehrheit der Bundestagsabgeordneten die offensichtlich fürchterliche Fingerabdruckpflicht im Personalausweis abgenickt hat, schien eine Sache überwunden geglaubter autoritärer Großaufwallung nach Nineeleven. Damals waren noch nicht mal die Fingerabdrücke im gegen Asylsuchende gerichteten EURODAC zum Spurenabgleich nutzbar. Diese drei Datenpunkte mögen ein Gefühl dafür geben, wie sehr sich der Menschenrechtsabbau im Windschatten von Charlie Hebdo und Breitscheidplatz wieder beschleunigt hat.

Jedenfals: wie bei der Biometrie in den Personalausweisen hat die Autorilla keine Ruhe gegeben und den Kram bei jeder ausländerfeindlichen Mobilisierung wieder ausgepackt. Und jetzt läuft der Mist (fast).

Auch wenn alles am EES furchtbar ist, ist das größte Desaster sicher, dass ab 2023 nun alle NichtschengenianerInnen (und nicht nur die Visapflichtigen, die schon seit ca. 2014 im VIS biometrisch vermessen sind) ihre Fingerabdrücke abgeben müssen, wenn sie in den „Raum der Freiheit“[2] Schengenia einreisen wollen.

Das ist vor allem dramatisch, weil diese Fingerabdrücke für drei bis fünf Jahre suchbar gespeichert werden. Und zur Strafverfolgung und Gefahrenabwehr zur Verfügung stehen.

Klar, wie üblich steht was von „Terrorismus“ und „schwerer Kriminalität“ im Gesetz, auf die die biometrische Fahndung beschränkt sein sollen. Aber speziell für die Verfolgung politischer „Straftaten” (in der Welt der Autorilla: alles oberhalb der Latschdemo) geht das so schnell, dass die lippenbekennenden Einschränkungen praktisch wirkungslos sind. Die Polizei kann in dem Geschäft fast immer Terrorparagraphen aus der 129er-Klasse auspacken und tut das auch – mensch denke etwa an die aktuellen 129er-Verfahren in Leipzig. Wo ihr das doch mal zu peinlich wäre, kann sie immer noch völlig fantastische „Gefahren“ für die Staatsordnung konstruieren. Mein Paradebeispiel für Letzteres ist das 2017er Verbot von indymedia linksunten.

…wider ausländischen Aktivismus!

Wenn es soweit ist, schlägt die übliche Biometriefalle zu: Wir hinterlassen überall und ständig biometrische Spuren. Gut, bei den Gesichtern hängt das noch an eher so mäßig funktionierenden Videokameras, aber bei Fingerabdrücken und noch mehr bei Zellmaterial, das grob für DNS-Identifikation taugt, ist mit Mitteln von TeilzeitaktivistInnen nichts zu retten.

Das weiß auch die Polizei, die in Heidelberg durchaus Fingerabdrücke an wild geklebten Plakaten oder Gafferband bei Bannerdrops genommen hat. Oder von Bierflaschen nach Besetzungspartys in völlig überflüssigerweise für den Abriss vorgesehenen Gebäuden.

Während es noch keine suchbare Vollerfassung von Fingerabdrücken der Schengen-Untertanen gibt und die entsprechenden Heidelberger Ermittlungen jeweils bis zu unglücklichen ED-Behandlungen ohne Ergebnis blieben, werden (legal eingereiste) AktivistInnen aus Nichtschengenia (ich werfe mal das Wort „Grenzcamp“ ein) bei sowas in Zukunft gleich erwischt. Und obwohl wir Untertanen es vor zwei Jahren nicht hinbekommen haben, die Fingerabdrücke in den Ausweisen etwa durch moderaten Einspruch abzuwenden, gab es gerade letzte Woche Grund zur Hoffnung für uns, dass die Justiz in der Hinsicht um fünf nach Zwölf aushilft.

Ob ihr das „staatlichen Rassissmus“ nennen wollt oder nicht: Im Effekt ist es das, jedenfalls so lange, bis auch die Fingerabdrücke der SchengenianerInnen suchbar sind. Trotz des verlinkten Hoffnungsschimmers dürfte zumindest das aber dann schon noch irgendwann kommen, wenn sich nicht wieder hinreichend viele Menschen dem entgegenstellen.

Wie die Herrschaft Freiheitsabbau gerne erstmal an „den Fremden“ ausprobiert – wofür sie meist noch viel Lob aus der „Mitte der Gesellschaft“ bekommt – und erst dann auf die eigenen Untertanen ausrollt, könnt ihr u.a. am nächsten Freitag im Heidelberger Laden für Kultur und Politik im Rahmen der Wochen gegen Rassismus hören.

Autoritäre Design Patterns: Aufblasen…

Ich will im Folgenden ein paar besonders pikante Passagen aus den Erwägungsgründen zitieren, weil sie musterhaft Techniken der Autorilla bei der Durchsetzung ihrer Interessen illustrieren.

Zunächst ist da das Aufblasen von Problemen. Das ursprüngliche Narrativ beim EES war, es brauche die Datenbank absolut dringend, um „overstayer“ zu fangen, Menschen also, die auf einem Touristenvisum einreisen und dann einfach bleiben.

Vernünftige Menschen zucken bei so etwas mit den Schultern, denn Menschen ohne Papiere gibts nun mal, und es ist auch gar nicht klar, wo eine Datenbank da helfen soll, wenn mensch nicht überall auf den Straßen Ausweiskontrollen haben will (was für vernünftige Menschen kein „wenn“ ist). Die Autorilla hat Anfang der 2010er Jahre aber keine Krise, keinen Anschlag versäumt, ohne irgendwann mit „overstayern“ zu kommen, die entweder Anschläge machen, menschengehandelt wurden oder selbst menschenhandeln.[3]

Ich finde eher erstaunlich, wie unbekümmert ehrlich die EES-VO in den ersten sechs Erwägungsgründen selbst die Höhepunkte des propagandistischen Trommelfeuers der Autorilla aufzählt:

(1) In ihrer Mitteilung vom 13. Februar 2008 mit dem Titel „Vorbereitung der nächsten Schritte für die Grenzverwaltung in der Europäischen Union“ legte die Kommission die Notwendigkeit dar…

(2) Der Europäische Rat hob auf seiner Tagung vom 19. und 20. Juni 2008 hervor, wie wichtig es ist, dass die Arbeit an der Weiterentwicklung der Strategie für den integrierten Grenzschutz der Union fortgesetzt wird…

(3) In ihrer Mitteilung vom 10. Juni 2009 mit dem Titel „Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Dienste der Bürger“ empfahl die Kommission…

(4) Der Europäische Rat forderte auf seiner Tagung vom 23. und 24. Juni 2011 dazu auf, die Arbeit an dem Vorhaben „intelligente Grenzen“ zügig voranzutreiben…

(5) In seinen strategischen Leitlinien vom Juni 2014 betonte der Europäische Rat, […] dass die Union alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente nutzen muss, um die Mitgliedstaaten bei ihrer Aufgabe zu unterstützen…

(6) In ihrer Mitteilung vom 13. Mai 2015 mit dem Titel „Die Europäische Migrationsagenda“ stellt die Kommission fest, dass mit der Initiative „Intelligente Grenzen“ nun eine neue Phase eingeleitet werden soll…

Wenn das eine Abwägung ist, hat die Waage jedenfalls nur eine Schale. Ich weise aus demokratietheoretischer Sicht kurz darauf hin, dass sich hier mit Rat und Kommission jeweils Teile der Exekutive die Bälle zuwerfen, bis eine neue Wahrheit durch gegenseite Bestärkung etabliert ist.

…Bedarf erzeugen…

Die Erzählung von den overstayern allerdings hat aus autoritärer Sicht (die sich ja um Panikpotenzial, nicht aber um Plausibilität kümmern muss) einen Fehler: Die gewünschte Speicherfrist von drei Jahren kommt dabei nicht raus, denn ginge es nur um die overstayer-Detektion, könne mensch den ganzen Datensatz bei der Ausreise löschen. Was tun? Einfach: Datenbedarf erzeugen, etwa duch die Schaffung hinreichend komplizierter Regeln. Hier:

Das EES sollte ein automatisiertes Berechnungssystem enthalten. Das automatisierte Berechnungssystem sollte bei der Berechnung der Höchstdauer von 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen Aufenthalte im Hoheitsgebiet der am EES-Betrieb beteiligten Mitgliedstaaten berücksichtigen.

…Features schmuggeln…

Allerdings reicht das, genau betrachtet, immer noch nur für Speicherdauern bis zu 180 Tagen aus. Wer einige Jahre lang den Acrobat Reader zum Lesen von PDFs verwendet hat, wird die Lösung kennen: Feature Creep, also das Einschmuggeln immer weiterer Möglichkeiten in ein Verfahren, aus dem die Leute nicht mehr so einfach rauskönnen. Sobald die ohnehin eher desinteressierte Öffentlichkeit erstmal vergessen hat, dass sie den ganzen Mist eigentlich nur gekauft hat, um ungezogene Schengentouris zu zählen, kommt ein ganzes Spektrum von Zwecken aufs Tablett, die mensch, wo die Daten doch schon mal da sind, auch erledigen kann:

Ziele des EES sollten sein, das Außengrenzenmanagement zu verbessern, irreguläre Einwanderung zu verhindern und die Steuerung der Migrationsströme zu erleichtern. Das EES sollte gegebenenfalls insbesondere zur Identifizierung von Personen beitragen, die die Voraussetzungen hinsichtlich der Dauer des zulässigen Aufenthalts im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht oder nicht mehr erfüllen. Darüber hinaus sollte das EES zur Verhütung, Aufdeckung und Untersuchung terroristischer oder sonstiger schwerer Straftaten beitragen.

Hu? Wo ist denn jetzt plötzlich der „Terror“ hergekommen? Wer hat die – ohnehin beliebigen, siehe oben – „schweren“ Straftaten aus dem Hut gezaubert? Die protorassistische Präsupposition „wer nicht SchengenianerIn ist, braucht Extraüberwachung, weil sie bestimmt mehr Terror und Schwerkriminalität macht“ hinter diesem kleinen Trick merkt da schon niemand mehr.

…Digitalisierung beschwören…

Wenn aber doch, geht immer noch der Digitalisierungs-Move, also das Versprechen, irgendwelche staubig wirkenden Prozesse „so mit Apps“ zu machen, in diesem Fall:

Dieses System sollte an die Stelle der Verpflichtung treten, die Reisepässe von Drittstaatsangehörigen abzustempeln, die für alle Mitgliedstaaten gilt.

Dass die Stempelei im Vergleich zu Fotos, Fingerabdrücken, ETIAS-Anträgen und all dem anderen Irrsinn einfach und schnell ist, das würden nur verbohrte, ewiggestrige Feinde der Digitalisierung anmerken.

Ähnlich würden auch nur solche MaschinenstürmerInnen einwenden, es wäre noch schneller, den ganzen Mumpitz insgesamt zu lassen, wenn der EU-Gesetzgeber seine Ausrede für die exorbitante Dreijahresfrist für die Speicherung der Fingerabdrücke hinrotzt:

Es ist ausreichend, die Daten in Bezug auf Drittstaatsangehörige, die die Dauer des zulässigen Aufenthalts eingehalten haben, zu Grenzmanagementzwecken drei Jahre lang im EES zu speichern, damit sich Drittstaatsangehörige vor Ablauf dieses Zeitraums nicht erneut im EES erfassen lassen müssen. Mit dieser dreijährigen Datenspeicherfrist wird die Notwendigkeit häufiger Neuerfassungen reduziert, was allen Reisenden zugutekommen wird, da sich sowohl die durchschnittlich für den Grenzübertritt benötigte Zeit als auch die Wartezeit an Grenzübergangsstellen verkürzen wird.

Der Digitalisierungs-Move funktioniert auch prima, um die an sich gebotene Abschottung zum Visa-Informationssystem niederzureißen, indem munter Anwendungsfälle beschrieben werden, ohne datensparsamere Alternativen zu erwähnen, geschweige denn zu erwägen:

Die Interoperabilität zwischen dem EES und dem VIS sollte durch einen direkten Kommunikationskanal zwischen dem Zentralsystem des VIS und dem Zentralsystem des EES hergestellt werden, damit die das EES verwendenden Grenzbehörden in der Lage sind, durch eine VIS-Abfrage visumbezogene Daten zur Anlegung oder Aktualisierung von Ein-/Ausreisedatensätzen oder Einreiseverweigerungsdatensätzen abzurufen, an den Grenzen, an denen das EES eingesetzt wird, durch den direkten Abgleich der Fingerabdrücke mit dem VIS die Gültigkeit eines Visums zu überprüfen und die Identität des Visuminhabers zu verifizieren, und die Identität eines Drittstaatsangehörigen, der von der Visumpflicht befreit ist, durch Verwendung der Fingerabdrücke mit dem VIS zu verifizieren.

Ummm… Was? Was genau hat das jetzt mit Fingerabdrücken zu tun und warum sollte dazu ein ganz normaler Ausweis nicht reichen? Warum soll, wer sowas macht, nicht einfach im VIS nachsehen? Und wenn das bisher nicht geht, warum genau ist das dann in Zukunft menschenrechtlich ok?

…und natürlich Alternativlosigkeit…

Einfach. Wegen der Alternativlosigkeit. Die EES-VO-AutorInnen mussten den Datenschutz-Leuten das Eingeständnis geben, dass die Fingerabdrückerei eine Menschenrechtsverletzung ist. Aber leider gehts halt nicht anders:

Die Verwendung biometrischer Daten ist trotz des Eingriffs in die Privatsphäre der Reisenden aus zwei Gründen gerechtfertigt. Erstens können Drittstaatsangehörige, die sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten befinden, jedoch — wie dies bei irregulären Migranten häufig der Fall ist — keine Reisedokumente oder sonstigen Ausweispapiere mit sich führen, anhand der biometrischen Daten zuverlässig identifiziert werden. Zweitens ermöglichen biometrische Daten einen zuverlässigeren Abgleich der Ein- und Ausreisedaten von Bona-fide-Reisenden. Die Verwendung von Gesichtsbildern in Kombination mit Fingerabdruckdaten, ermöglicht es, die Gesamtanzahl an Fingerabdrücken, die zu erfassen ist, zu reduzieren, und dabei dasselbe Ergebnis hinsichtlich der Genauigkeit der Identifizierung zu erzielen.

Wilde Behauptungen, die zusammenbrechen würden, sobald mensch überlegt, ob da überhaupt Probleme sind und wenn ja, ob die vorgeschlagenen Mittel überhaupt geeignet sind. Aber wer mit hinreichender Zuversicht sagt, das brauche es halt, kommt damit meistens durch, spätestens, wenn die einzige Alternative, die vielleicht doch aufscheinen darf, eine noch üblere Dystopie ist.

Besonders kaltschnäuzig kommt der Alternativlosigkeits-Trick in der EES-VO beim Abgleich mit Tatortspuren, die ganz natürlich ist,

wenn beispielsweise an einem Tatort als einziger Beweis Fingerabdruckspuren gefunden wurden.

Konsequenterweise braucht es dann aber auch einen Fingerabdruckabgleich für die eigenen Untertanen, richtig? Hmja, noch nicht. Noch könnte das die Bevölkerung beunruhigen. Diese Scheibe der Salami muss noch ein wenig warten.

…verziert mit viel Datenschutzbarock

Immer gut macht sich beim Rumsäbeln an der Grundrechtssalami das großzügige Verkleben von Datenschutzbarock. Etwa so:

Eine Suchabfrage in der Datenbank des EES sollte im Sinne der Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungs­ zwecke und zur Verhütung, Aufdeckung oder Untersuchung einer terroristischen oder sonstigen schweren Straftat als verhältnismäßig angesehen werden, wenn ein überwiegendes Interesse der öffentlichen Sicherheit besteht. Suchabfragen müssen ordnungsgemäß begründet und im Hinblick auf das genannte Interesse verhältnismäßig sein.

Ja. Nun, das sind die Minimalanforderungen. Ohne das müsste die Justiz Datenverarbeitende einsperren, Gesetz oder nicht. Erwähnenswert wären nur darüber hinausgehende Beschränkungen der Grenz- und Repressionsorgane – doch die gibt es nicht. Wie üblich in dem Geschäft, geht die Autorilla mindestens bis an das Äußerste, was Grund- und Menschenrechte hergeben. In der Regel gehen sie aber darüber hinaus, weshalb ja Gesetze im Bereich von „Freiheit, Sicherheit und Recht“ eigentlich immer in der Justiz scheitern.

Was aber leider nicht viel hilft, denn die Justiz steckt die Menschenrechte bei jedem Verurteilen der Autorilla doch ein wenig zurück. Das ist das Drama: Jede Niederlage der Autorilla ist auch ein kleiner Sieg für sie.

Jetzt noch kämpfen?

Was die Frage aufwirft: Ist da noch was zu machen?

Meine Vermutung: Nein. So, wie EuropäerInnen schon seit geraumer Zeit vor der Einreise in die USA am ETIAS-Altar ihre persönlichen Daten und Kreditkartennummern opfern mussten, müssen das jetzt halt auch die, die geordnet nach Schengenia einreisen wollen. Ein fieser Stinkefinger, der internationalen Aktivismus gefährlicher macht, der auch recherchierbare Fingerabdrücke für die Untertanen Schengenias näherbringt. Aber, um das mal in den Gesamtzusammenhang von Reisefreiheit zu bringen, nicht annähernd vergleichbar mit dem, was die Leute durchmachen, die die EU mit aller Gewalt abwehrt.

An der Frage, ob nun die Geheimdienste den EES-Datenschatz auch nutzen dürfen sollen oder nicht – der Bundesbeauftragte für den Datenschutz macht das Thema in seinem 31. Tätigkeitsbericht (S. 54) auf – hätte ich mich schon vor Donnerstag nicht abgekämpft[4], denn das ist im Vergleich zur biometrischen Vollerfassung für Polizeizwecke eine Petitesse. Und natürlich ist das Moblilisierungspotenzial gegen einen Angriff auf die Menschenrechte der „anderen“ nochmal bescheidener als bei, sagen wir, den Fingerabdruck-Persos, und auch da haben wir ja im Groben nichts auf die Straße bekommen.

Aber irgendwann, irgendwann kommt bestimmt die Überwachungsgesamtrechnung, nach der nicht nur das Bundesverfassungsgericht seit jetzt auch schon fast einer Dekade ruft. Versprochen. Bis dahin können wir munter mit Hannes Wader singen:

El pueblo unido jamás será vencido!

Steht auf und singt! Ein neues Lied beginnt!
Ein neuer Kampf die Zukunft uns gewinnt […]
Faschistenpack!
Es kommt, es kommt der Tag
Der Siegestag, dann wird die [Überwachungsgesamt-]Rechnung präsentiert

Nachtrag (2023-06-29)

Nichts ist so traurig, dass es nicht auch lustig sein kann: Die EU kriegt das EES doch nicht mehr dieses Jahr an den Start. Und wer weiß, vielleicht ist das ja alles so kaputt, dass sie es am Schluss doch wegwerfen? Neuer Termin ist jedenfalls der Sommer 2024.

[1]

Mit „Autorilla“ bezeichne ich hier die

fluide, aber doch beeindruckend handlungsfähige radikalautoritäre Avantgarde aus Polizeien unter Führung des BKA, Innenministerien, Polizeigewerkschaften, den „Innenpolitiker_innen“ der meisten Parteien und der Bildzeitung.

get connected 4/2020

Der zitierte Artikel schlägt für diese Koalition den Begriff „Schmuz“ (nach Schily, Maaßen, Uhl und Zierke) vor – aber erstens ist mir das zu nahe an „Schmutz“, was mir unangemessen scheint, da ja auch die Autorilla aus Menschen besteht. Und zweitens kennt diese Leute glücklicherweise ja kaum mehr jemand.

[2]Nicht meine Erfindung. So vor fünf Jahren gab es keinen Grundrechtsabbau ohne die Beschwörung der „European area of freedom, security and justice”.
[3]Ein mustergültiges Beispiel des Aufblasens nebensächlicher Probleme zur Durchsetzung autoritärer Narrative war übrigens das Phantasma der Langzeitstudierenden, das die Bildungsfraktion der Autorilla zur Durchsetzung von Studiengebühren in der BRD in den 1990er Jahren aufblies. Dieses Beispiel lässt aber auch hoffen, denn von den „Langzeitstudenten“ ist selbst in reaktionärsten Diskursen längst nichts mehr zu hören, und ein recht milder Aufstand hat die Studiengebühren überall (na gut: außer im Reich von Theresia Bauer) wieder weggepustet.
[4](Nachtrag 2023-03-20) Wo ich nochmal drüber nachgedacht habe, gäbe es einen Grund, bei Geheimdiensten doch mehr auf der Bremse zu stehen: Bei denen ist das Risiko nochmal deutlich größer, dass sie ihren KollegInnen aus den Herkunftsstaaten der Gespeicherten illegal Fingerabdrücke beschaffen. Allerdings dürfte in diesem Fall der technische Datenschutz schon helfen; erstens wird es vermutlich gar nicht so einfach sein, die Fingerabdrücke aus der Datenbank zu bekommen, und zweitens werden auch Geheimdienstanfragen protokolliert. Das allein dürfte schon reichen, um das System für Geheimdienste ganz grundsätzlich unattraktiv zu machen.

Zitiert in: Den fehlenden SchleuserInnen

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