Als ich neulich mit meinem Museumspass in Straßburg war (zuvor: zum
Musée Historique) habe ich mir auch im Musée de l'Œuvre Notre-Dame
allerlei Sehenswertes rund um das Straßburger Münster zu Gemüte geführt.
In Analogie zum Speyrer Domschatz und zur entsprechenden Einrichtung
in Basel erlaube ich mir, das Haus für diesen Post „Münsterschatz“ zu
nennen, weil ich zu faul bin, dem Œ eine angemessen beqeueme
Tastenkombination zu geben.
Ich will vorneweg den meist tatsächlich sinnvollen Technik-Einsatz in
diesem Museum loben: VR-Brillen, die schwindelerregende Blicke in den
Turm erlauben, AR-Tablets, die einen Eindruck von der ursprünglich
bunten Erscheinung einiger Statuen geben, kleine 3D-Monitore mit
Hologrammen rekonstruierter Kunstwerke und – ganz Messing und Glas – ein
Teleskop mit Blick aufs echte Münster.
Besser erzählen lassen sich aber andere Geschichten, so etwa die der
heiligen Ursula und ihrer 11'000 „Jungfrauen“, die, so jedenfalls eine
Fassung der Legende, beim Versuch, die auf Köln anstürmenden Hunnen zu
befrieden im 4. Jahrhundert den Märtyrertod gefunden haben sollen. Im
Münsterschatz sieht das in Mittelalter-typisch fragwürdiger Perspektive
so aus:
Natürlich ist die morbide Prämisse von massenhaftem Opfertod
unerfreulich, und ich habe zumindest starke Zweifel, ob die
Schlachtfelder im vierten (oder fünfzehnten) Jahrhundert tatsächlich nur
oder auch nur wesentlich von Männern aufgeräumt wurden.
Andererseits stellt das Bild eine theologische und keine historische
Szene dar, und so ist vorliegend die Frage viel spannender, ob
Heiligenscheine wirklich nach dem Tod weiterschimmern, ob diese also an
den Körper oder nicht doch eher die „Seele“ – wir befinden uns ja tief
in nichtmaterialistischem Terrain – gebunden sind. Wer dazu
Lehrmeinungen kennt, möge sie einsenden.
Der kommerzielle Wert eskalierender Opferzahlen
In Wirklichkeit hat mich das Bild aber aus einem ganz anderen Grund
hingerissen. Es hat mich nämlich daran erinnert, dass die auch nach
Maßstäben von frommen Legenden exorbitante Märtyerinnenzahl bei der
Ursulageschichte plausiblerweise einen profund materiellen Hintergrund
hat.
Jetzt gerade erklärt die Wikipedia dazu:
Die Zahl 11.000 geht möglicherweise auf einen Lesefehler zurück. In
den frühen Quellen ist gelegentlich von nur elf Jungfrauen die Rede.
Deshalb wurde vermutet, dass die Angabe „XI.M.V.“ statt als „11
martyres virgines“ fälschlich als „11 milia virgines“ gelesen wurde.
Allerdings berichtet Wandalbert von Prüm bereits 848 über Tausende
(millia) von getöteten Heiligen.
Ich möchte eine andere Version der Geschichte anbieten, die ich vor
Jahren in einem längst vergessenen Köln-Reiseführer gelesen habe und die
zu gut ist, um nicht erzählt zu werden, auch wenn sie aus Gründen bis
dahin unzureichender wirtschaftlicher Erholung ziemlich klar nicht vor
Wandalberts Berichten aus dem Jahr 848 stattgefunden haben kann – aber
wer weiß schon, ob wir heute wirklich lesen, was Wandalbert geschrieben
hat?
Wichtig dabei ist, dass St. Ursula in Köln etwas außerhalb der
römischen Stadt CCAA liegt, deren Nordmauer sich weiter
südlich etwa beim heutigen Dom befand. Gleich um die Ecke der Kirche
verläuft die heutige Straße Eigelstein, die auf der Trasse der
Römerstraße von der CCAA Richtung der Colonia Ulpia Traiana (also,
Stadt-Land-Fluss-SpielerInnen aufgepasst: Xanten) verläuft. Menschen
mit Römerfimmel mögen ahnen, was jetzt kommt, denn entlang ihrer
Ausfallstraßen haben die Römer ihre Toten begraben.
Tatsächlich war der eponymische Eigelstein ein bis in die Neuzeit
auffälliges römisches Monumentalgrab. Der Boden unter St. Ursula ist
also voll von römischen Knochen.
Soweit die Fakten. Die Geschichte des Reiseführers war nun, dass die
Originallegende der Ursula elf Gefährtinnen mitgab – die Wikipedia
erwähnt ja auch diese Möglichkeit. Irgendwann hätten dann
geschäftstüchtige ReliquienherstellerInnen versucht, die Knochen der
zwölf Frauen bei St. Ursula zu finden, was ihnen dank der römischen
Bestattungspraktiken leicht gelang.
Nachdem das Geschäft mit den mutmaßlichen Überresten der Heiligen
gut ging, gruben die Leute weiter. Da die CCAA eine große Stadt war,
hatte es auch viele Tote gegeben und mithin auch viel Leichenbrand oder
– aus der vergleichsweise kurzen christlichen Zeit der CCAA, als die
Brandbestattungen außer Mode kamen – auch komplette Skelette.
So fanden sich in der Umgebung von St. Ursula zu viele Knochen
für zwölf Menschen, so viele gar, dass es ein Jammer gewesen wäre, das
Geschäft aufzugeben. Und so sorgten die ReliquienherstellerInnen
kurzerhand dafür, dass die Zahl der Jungfrauen in der offiziellen
Legende verzehnfacht wurde.
Das Spiel der Expansion der Metzelerzählung wiederholte sich, während
das Geschäft exponentiell wuchs, bis es irgendwem bei 11'000 heiligen
Märtyrerinnen offenbar zu dumm wurde oder der Preis für Duodezreliquien
unter die Profitabilitätsschwelle gefallen war. Am Schluss jedenfalls
landeten wirklich absurde Mengen menschlicher Überreste in der „goldenen
Kammer“ von St. Ursula, in der die Wände mit Schädeln und Knochen
tapeziert sind:
Zumindest als ich vor ein paar Jahren mal in Köln war, war die
leicht gruselige Installation noch öffentlich zugänglich. Für Menschen,
die sich gerne von der katholischen Kirche entfremden wollen, ist das
ein lohnender Besuch. Ob hingegen die Geschichte vom Großmassaker
wirklich einen ökonomischen Hintergrund hat: Wer weiß?
Wo Wikipedia-AutorInnen fehlgehen
Widersprechen möchte ich – auch wenn es weit vom Münsterschatz wegfürt –
der Passage
Eine weitere Grabung [nach noch mehr Reliquien von Ursula und ihrer
Schar] wurde zwischen 1155 und 1164 durch die Deutzer Benediktiner im
Auftrag von Erzbischof Arnold II. durchgeführt. Dabei fanden sich
neben Frauen natürlich auch Männer und Kinder-Gebeine.
aus dem aktuellen Wikipedia-Artikel zur heiligen Ursula. Ich würde noch
zugestehen, dass Knochen von Kindern mit den Mitteln des zwölften
Jahrhunderts von denen Erwachsener unterscheidbar waren. Eine
Geschlechtsbestimmung hingegen war aussichtslos. Die klappt notorisch
nicht mal mit Methoden modernerer Archäologie, wie sich regelmäßig
zeigt, wenn irgendwo genetische Analysen einziehen – und selbst dann
bleibt es schwierig, wie etwa die Debatte um den_die „Krieger(in) von
Birka“ zeigt (vgl. z.B. doi:10.1002/ajpa.23308).
Es bleibt, aus einem Beitrag über ein spanisches Kupferzeit-Grab in
DLF-Forschung aktuell vom 7. Juli diesen Jahres zu zitieren, in dem
Christiane Westerhaus lapidar feststellt:
Zu oft projizierten Forscher ihr eigenes Rollenbild auf die
Wissenschaft.
Da das für mittelalterliche Benediktinermönche sicher nochmal verschärft
gilt, wäre ich versucht, die Stelle in der Wikipedia zu
Etliche der dabei auftauchenden Knochen klassifizierten die Mönche
auch als die Überreste von Männern.
zu korrigieren. Mal sehen, ob ich dieses Fass aufmachen möchte.
Hunde am Münster
Der Straßburger Münsterschatz hat nicht nur meine Erinnerung an die
wilde Ursula-Geschichte aus Köln aufgefrischt, sondern auch den etwas
piefigen Goethe- bzw. Dumont-Claim „Man sieht nur, was man weiß“ dick
unterstrichen. Ich war nämlich ziemlich überrascht, als im Museum immer
wieder Hunde-Plastiken zu sehen waren, darunter einige, denen ich
durchaus ein gewisses Viralitätspotenzial zusprechen würde:
Der Begleittext erläutert, dass diese Figuren viele der zahlreichen
Dachspitzen des in glorioser Zuckerbäckergotik erbauten Münsters zieren.
Das war mir nie vorher aufgefallen, auch nicht, als ich vor Jahren mal
hochgestiegen bin.
Als ich aber wieder vor der Tür des Münsterschatzes und mithin vor dem
Münster selbst stand, fiel mir sofort das hier ins Auge:
– und gleich danach bemerkte ich viele weitere Hunde oder hundeartige
Wesen auf allen möglichen Spitzen. Wo sie mir mal aufgefallen waren,
konnte ich nicht mehr verstehen, wie mir diese Merkwürdigkeit vorher
hatte entgehen können. Gruselige Wasserspeier, klar, das ist ja
praktisch die Definition von Gotik – wer guckt da noch hin? Aber Hunde
auf allen Türmen? Wer hat sich das ausgedacht? Und warum?
Was nicht mehr im Münsterschatz ist
Gerade im Vergleich mit dem Domschatz in Speyer fällt auf, dass im
Straßburger Münsterschatz praktisch nichts Goldenes ausgestellt wird. Es
gibt demgegenüber haufenweise Steine, ein wenig Plunder aus
verarbeitetem Elfenbein und noch ein paar Objekte, bei denen sich viele
wünschen werden, sie hätten sie nicht gesehen. Ich führe mal dieses,
nun, „Objekt“ aus dem Besitz eines der Fürstbischöfe als Beispiel an:
Der Grund für die Abwesenheit allzu prunkvoller Albernheiten ist
einfach: in Straßburg hatten die Leute 1789ff eine zünftige Revolution –
ich hatte dazu ja neulich schon philosophiert. Bei der Gelegenheit
haben die dritten und vierten Stände dem fürstbischoflichen Hof einen
Besuch abgestattet und den Kram, der wertvoll oder nützlich erschien,
rausgetragen und vergesellschaftet.
Besonders beeindruckend fand ich, dass sie die Bücher aus dem Palais
Rohan, dem Amtssitz des Fürstbischofs, in die bürgerliche Stadtbücherei
integriert haben. Schade allein, dass sie dort verbrannt sind, wenn ich
mich recht entsinne, aufgrund des Wütens der deutschen Truppen von 1870
(auch dazu vgl. neulich) – aber das ist den RevolutionärInnen nun
wirklich nicht vorzuwerfen.
Wer mehr über diese Geschichte wissen will, sollte ins Straßburger
Kunstgewerbemuseum (Musée des Arts décoratifs) gehen, in dem der Raum
der damals sozialisierten Bibliothek heute (für 7.50 oder halt einen
Museumspass) zugänglich ist Vielleicht habe ich dazu demnächst noch
etwas mehr zu sagen.