Tag Deutschlandfunk

Der Grund, warum ich die GEZ-Gebühren entschieden verteidige: der Deutschlandfunk. Sein Name ist zwar selten dämlich, und seine Politikredaktion bringt mich regelmäßig zur Verzweiflung. Aber er hat z.B. mit Forschung aktuell oder auch Freistil auch wirklich hervorragende Sendungen. Und spätestens, nachdem ich eine Presseschau gehört habe, erinnere ich mich wieder daran, dass selbst die Politikredaktion in Relation zu privaten Medien immer noch das deutlich kleinere Übel ist.

  • Biologie wie in Borodino

    Ein Ameisenhaufen im Wald, davor ein großer weißer Pilz.

    Nach der Lektüre von Erik Franks Artikel stellt sich die Frage: Betreiben die Ameisen unter dem sichtbaren Pilz-Fruchtkörper (2013 nahe am Edersee) vielleicht eine Pharmafabrik?

    Unter dem Tag Ethikkommission sammele ich hier wissenschaftliche Grobheiten gegen Tiere: Fledermäuse, die wegen Unterdrucks abstürzen, Libellen, die mit dem Rücken nach unten fallen gelassen werden (und schlimmer: deren Augen zugepappt wurden), Wespenköniginnen, die zu, na ja, Hahnenkämpfen proviziert werden. In der Deutschlandfunk-Reihe Forschung aktuell gab es am 3.7.2024 einen weiteren Beitrag zu dieser Liste: Da haben Leute um den Würzburger[1] Biologen Erik Frank Ameisen Teile ihrer Beine abgeschnitten[2].

    Ich vermute, Grundlage des Berichts ist seine Arbeit „Wound Dependent Leg Amputations to Combat Infections in an Ant Society“, erschienen leider im Elsevier-Blatt Current Biology (doi:10.2139/ssrn.4612970 und leider bisher nicht bei libgen verfügbar, um so leidererer, als Elsevier selbst Menschen aus abonnierenden Netzen mit Cookie-Bannern und Registrierung belästigt und die AutorInnen den Kram leider auch nicht auf ordentliche Preprint-Server gelegt haben).[3]

    Wenn mensch sich durch Elseviers Dark Patterns durchmanövriert hat, gehts auch schon im Abstract zur Sache:

    Experimentelle Amputation führte zu höhren Überlebensraten bei Ameisen, deren infizierte Wunden am Oberschenkel lagen, aber nicht, wenn sie am Unterschenkel lagen.

    „Experimentelle Amputation“? „Infizierte Wunden“? Bilder von Schlachtfeldern der napoleonischen Kriege drängen sich in mein Bewusstsein. Das geht bis hin zum Wundfieber, an dem damals Pseudomonaden bestimmt auch regelmäßig beteiligt waren:

    Das Aufbringen von Pseudomonas aeruginosa auf Oberschenkelwunden [der untersuchten Ameisen] resultierte in einer Sterblichkeit von 85% innerhalb von 72 Stunden (N=48), ein Wert, der sehr ähnlich dem war, der für M. analis beobachtet wurde.

    Mensch kann auch sagen: Die Leute haben (in diesem Fall, für die ganze Arbeit waren es viel mehr) 48 Ameisen ein Bein abgeschnitten und dann so fiesen Schmodder auf die Wunde geschmiert, dass fast alle Tiere innerhalb von drei Tagen tot waren.

    Ich sage mal: mit „richtigen“ Tieren (so, mit Pelz und Linsenaugen) hätte das wohl keine Ethikkommission dieses Planeten durchgelassen. Aber ich kann nicht mit Steinen werfen; ich habe ja schon vor zwei Jahren öffentlich gestanden, dass es auch mir gerne mal an Empathie fehlt, selbst bei so offensichtlich sympathischen Geschöpfen wie Fruchtfliegen; und dabei habe ich noch gar nicht mit Mücken und Nacktschnecken angefangen.

    Dennoch hätte ich gerne in dem DFG-Ausschuss mitgehört, der Erik Frank eine Emmy Noether-Gruppenförderung[4] gegeben hat. Ich habe halb im Ohr, wie wer sagt: „Sagt mal, ist das nicht ein wenig wie Käfern die Beine ausreißen? Was ist, wenn TierrechtlerInnen das mal genauer ansehen?“ Wenn das so ähnlich war, hat dann wer anders etwas gesagt wie: „Hör zu, das sind die Ameisen, die wir ohne Not in großer Zahl vergiften, nur damit auf den polierten Terrassensteinen nichts krabbelt“?

    Dabei gestehe ich gerne, dass Franks Ergebnisse beeindruckend sind; dass Ameisen gezielt, also nur bei geeigneten Verletzungen, Chirurgie praktizieren und damit auf recht durchschlagenden Erfolg haben – siehe Abbildung 3 A aus dem Paper:

    Grafik, die Zeit zwischen 0 und 75 Stunden gegen Überlebenswahrscheinlichkt plottet für diverse Szenarien: Ober- und Unterschenkel, steril amputiert oder infiziert, mit Nestpflege oder ohne.  Die infizierten Wunden waren mit Nest-Hilfe nicht wesentlich tödlicher als uninfizierte Wunden, ohne ganz dramatisch viel mehr.

    Rechte: Ich musste meine Erstgeborene an Elsevier verkaufen, und auch dafür darf ich das nicht unter CC-0 verteilen. Zur Not wandere ich in die USA aus und plädiere auf fair use. Ansonsten siehe doi:10.2139/ssrn.4612970.

    – dagegen wäre ich ziemlich hohe Wetten eingegangen, weil ich mir kaum vorstellen kann, wie so komplexes Verhalten in der DNS der Ameisen kodiert sein könnte. Jaja, ein bisschen neugierig bin ich vielleicht auch, was für Antibiosen die dabei einsetzen, aber die Sorte Fragestellung kann mensch wohl getrost der DFG überlassen.

    Einen Einwand muss ich aber doch noch loswerden: Ganz überzeugt bin ich nicht, dass die dramatisch höhere Überlebensrate im Nest tatsächlich auf die Amputation zurückzuführen ist nicht (auch) auf irgendwelche Sorten Nestschutz oder vielleicht wegen Isolation und damit wegen Stress heruntergefahrenem Immunsystem bei den isolierten Tieren – das Stresshormon Cortisol ist zwar nicht ganz so anti-inflammatorisch wie Cortison, aber durchaus auch ein wenig. Da bräuchte es, behaupte ich, schon noch ein paar weitere Experimente.

    Oh nein! Arme Ameisen.

    [1]Na gut: Die Arbeit zum Paper hat er den Affiliations der Ko-Autoren nach zu schließen gemacht, als er in Lausanne (und einem Nationalpark in der Elfenbeinküste) noch auf einen Ruf nach Würzburg hoffte. Das „Würzburger“ ist also ein wenig zu relativieren.
    [2]Der DLF-Journalist Joachim Budde nennt diese Amputation in seinem Beitrag „Simulation“, was, wenn ich mich recht entsinne, noch am ehesten meine Emörungsschwelle überschritten hat.
    [3]Ich kann mich eines tangentialen Kommentars im Kontext meines heiligen Krieges gegen quatschige Metriken nicht enthalten: Der Artikel wurde, als ich ihn während der Suche nach ethisch akzeptablen Preprintquellen gesehen habe, im Netz hoch und runter diskutiert. Dagegen war ich laut Elseviers Downloadzähler erst die dreiundzwanzigste Person, die den Volltext runtergeladen haben soll. Nun glaube ich tatsächlich nicht, dass viele JournalistInnen das ganze Paper gezogen haben, aber zumindest viele KollegInnen werden das getan haben. Was immer die 23, die Elsevier da anzeigt, bedeutet: ich kann mir keine nützliche Größe vorstellen, die sie messen würde. Ich jedenfalls würde gerne mal einen wissenschaftlichen Artikel schreiben, der ein vergleichbares öffentliches Echo hat – während ich 23 Downloads von einem Preprint in nicht völlig exotischen Fächern für ganz normal halte.
    [4]Unglaublich, aber wahr: Die DFG-Webseiten sind ohne Javascript kaputt und, noch krasser, auch mit Javascript, aber ohne Javascript Local Storage. Was für Leute machen solche Webseiten? Und wer nimmt die ab?
  • Replikationskrise: Ärgermanagement mit Schredder und Mülleimer

    Eine unregelmäßig ausgebrochene Bleischeibe mit eigenartigen Zeichen drauf

    Dieses Gekrakel ist auf einem römischen Fluchtäfelchen zu sehen, das im Rheinischen Landesmuseum in Trier ausgestellt ist. Der volle Text (weiter unten auf der Tafel) ist in der Übersetzung des Museums: „Eurer Macht gemäß, Diana und Mars, ihr bindenden, sollt ihr mich von dem Hitzkopf erlösen. Den Eusebius bannt mit Folterkrallen fest, mich aber befreit!“

    Im Januar 2019 lief im Deutschlandfunk-Sendeplatz Wissenschaft im Brennpunkt die hörenswerte Sendung Signifikant oder nicht – Wenn Studien einem zweiten Blick nicht standhalten. Der Titel lässt es ahnen: es ging um die Replikationskrise, die dank Erbsenzählerei bei der Jobvergabe und Wettbewerbsverdichtung die moderne Wissenschaft prägt, und dabei offenbar ganz besonders die Psychologie. In dieser, so heißt es in der Sendung, gelingt es für allenfalls die Hälfte der publizierten Experimente, den behaupteten Effekt bei einer Wiederholung nachzuweisen.

    Als zentrale Take-Home-Nachricht aus der Sendung würde ich empfehlen: die Geschichte von den erfolgreichen Männern, die sich schon als Kind beherrschen konnten („Marshmallow-Test”), ist eine bürgerliche Legende.

    Ach, das ist wirklich so?

    Die Marshmallow-Geschichte illustriert ein Muster für (nicht nur psychologische) Arbeiten, die bei mir einen Replikationsalarm auslösen: Kram, der gut in bestehende Denkschemata passt, aber doch noch einen Hauch von „ach, das ist wirklich so?“ hat. 1a Material für Party-Smalltalk, wenn ihr wollt.

    Etwas aus dieser Kategorie kam in den Wissenschaftsmeldungen vom 8.4.2024 im Deutschlandfunk: Die Behauptung ist, dass mensch Ärger viel besser loswird, wenn mensch die Steine des Anstoßes nicht nur zu Papier bringt, sondern dieses Papier auch noch wahlweise wegwirft oder schreddert. Hm. Das Schreddern ist also wichtig… Ist das wirklich so?

    Die Illustration oben lässt ahnen, dass das Muster alles andere als neu ist. Die antiken Fluchtäfelchen folgten einem durchaus vergleichbaren Muster: Schreibe auf, was dich bedrückt, und werde es dann in mehr oder minder ritueller Art wieder los: „Vor allem in Nordafrika, Rom und den östlichen Provinzen pflegte man Flüche, die Bezüge zu Wagenrennen aufwiesen, im Circus oder in Amphitheatern zu platzieren, wobei besonders gefährliche Stellen wie die Wendepunkte bevorzugt wurden. Eine ganze Reihe von Fluchtäfelchen wurde im Trierer Amphitheater gefunden,“ schreibt aktuell die Wikipedia.

    Die moderne Fassung

    Der Artikel hinter dem DLF-Beitrag ist „Anger is eliminated with the disposal of a paper written because of provocation“, Scientific Reports 14, 7490 (2024) doi:10.1038/s41598-024-57916-z von Yuta Kanaya und Nobuyuki Kawai. Von der Anmutung her könnte es die Publikation von etwas wie Kanayas Abschlussarbeit an der Universität von Nagoya sein. Wenn das so ist, hätten Kawai oder spätestens die GutachterInnen, so finde ich, schon intervenieren können, denn an einigen Stellen wirkt der Artikel stilistisch unnötig unbeholfen.

    Eher schrullig fand ich ja bereits die Attributierung „by a philosopher in Imperium Romanum“ für ein Zitat zum Wert des Gleichmuts. Der leicht angestaubt wirkende Verweis auf Griechenundrömer[1] – und schon gar zu einem Thema, das von hier aus gesehen ein Markenzeichen ost- und südasiatischer Weltanschauungen ist – wird durch das gleichzeitige idiomatische Stolpern – wenn schon westliche Antike, hätte zumindest der Name „Seneca“ fallen müssen, und „in Imperium Romanum“ ist wenigstens in seiner Anmutung, das sei eine Art Land, stark ahistorisch – ins Komische gezogen.

    Der Eindruck einer aufgeregten Erstlingsarbeit verstärkt sich etwas später in der Einleitung, als Kanaya und Kawai das vorliegende Projekt mit „aber: DIE KINDER!“ als Teil der Weltrettung zu positionieren versuchen. Ich bin noch nicht mal sicher, ob Wutkontrolle überhaupt eine Rolle spielen kann und sollte bei der Eindämmung von Gewalt gegen und Traumatisierung von Kindern. Aber es ist offensichtlich, dass kein Schütteltrauma verhindert werden wird, weil sich genervte Eltern hinsetzen, „der Schreihals soll jetzt endlich aufhören“ auf einen Zettel schreiben und den dann wegwerfen.

    Jenseits von Stilfragen

    Stilfragen beiseite ist das Paper durchaus lesenswert, zumal der Versuchsaufbau sich immerhin bemüht, irgendwie mit dem Grundproblem psychologischer Studien umzugehen: Sie sind fast nie verblindbar, weil die Leute ja merken, wie sie behandelt werden und was sie tun. Kanaya und Kawai versuchen, das Problem durch Tarnung des eigentlichen Erkenntnisinteresses zu umgehen.

    Um die ProbandInnen (insgesamt gut 100, die meisten davon Studis) zu ärgern, haben sie eine ungerechte, ja beleidigende Beurteilung (für japanische Verhältnisse dürften ein paar der verwendeten Phrasen wie „wer hat diesen Idioten an die Uni gelassen?“ klingen) eines frisch verfassten Aufsatzes gewählt. Nach der Lektüre der Beurteilung durften die ProbandInnen ihre Kränkungen auf einen Zettel schreiben. Diesen mussten sie entweder aufheben oder wegwerfen bzw. schreddern.

    Bemerkenswert fand ich dabei die Genderstruktur der ProbandInnen, die aus der Auswertung ausgeschlossen wurden, weil sie das Experiment durchschaut hatten. Klar sind die Zahlen sehr klein, aber es zeigt sich im ersten Durchgang des Experiments ein überraschend starkes Gender-Signal: von den ProbandInnen waren 37% weiblich, von denen, die es durchschaut haben, 71%.

    Im zweiten, dem Schredder-Experiment (in dem allerdings auch eine andere Demographie rekrutiert worden ist), hat sich dann aber kein solches Signal gezeigt; dort sollen überhaupt nur zwei überrissen haben, worum es ging (na ja: haben sich dabei erwischen lassen). Nun: Dass „Frauen sind empathischer“ nicht replizierbar ist, hätte ich jetzt auch gehofft.

    Zurück zum eigentlichen Experiment: Ich erlaube mir, die mir etwas esoterisch erscheinenden Überlegungen zu „grounded separation“ und die sie adressierenden Details wegzuabstrahieren, und ich spare mir hier die an sich notwendige Überlegung, ob es überhaupt ein Maß für Ärger gibt, ganz zu schweigen davon, ob die Methode der Autoren, dieses zu bestimmen, das eigentlich tut[2].

    Stattdessen zeige ich gleich das zentrale Ergebnis des Papers in diesen beiden Graphen:

    Was mensch sehen soll: In allen Fällen werden relativ ausgeglichene Menschen („baseline“) erfolgreich geärgert („Provocation“) und kommen durch Aufschreiben ihrer Beschwernisse sowie ggf. der Entsorgung des Aufschriebs wieder runter; dabei funktionieren Schredder (volle Punkte rechts) und Papierkorb (volle Punkte links) gleich gut und an der durch die Fehlerbalken angedeuteten Signifikanzgrenze besser als Aufschreiben und Behalten.

    Ich habe offen gestanden Schwierigkeiten, die so eng überlappenden Kurvenverläufe bis zur Provokation zu glauben. Wenn die Fehlerbalken so groß sind wie gezeigt (und das glaube ich bei so Fragebogenmaßen gerne), ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass vier Punktepaare so eng beieinanderliegen. Mindestens ebenso erstaunlich ist, wie nahe die Post-Provocation-Punkte zwischen rechts und links beieinanderliegen, da bei der rechten Retention-Gruppe ein extra Plexiglasgestell ihnen ihre Beschwernisse recht aufdringlich in Erinnerung rief. Dieses Gestell alleine hätte mich schon zusätzlich zu allem anderen verärgert.

    Ich will damit nicht sagen, dass da die Autoren Daten absichtlich gegelättet oder frisiert haben. Es gibt eine Unzahl von Fallen, die so gute Übereinstimmungen vortäuschen können – wenn es einfach wäre, wäre es keine Wissenschaft. Ich sage nur, dass ich überhaupt nicht überrascht wäre, wenn sich dieses Ergebnis nicht replizieren ließe oder sich jedenfalls viele Details des Experiments als unwichtig erwiesen.

    Fragen zum Ärgern

    Aber wer weiß? Natürlich machen auch die Autoren quantitative Analysen, irgendeine ANOVA, und in dem Zahlenmeer finden sich dann trotz Bonferroni auch ein paar signifikante Ergebnisse.

    Ich habe ja unabhängig davon rein intuitiv wenig Zweifel, dass sowohl Verbalisieren von Bekümmernissen als auch Zeug kaputtmachen jeweils geeigneten Ärger mindern kann. Nur: Ist es eigentlich wichtig, dass es gerade der Zettel ist, den mensch weghaut? Hätte sich nicht der gleiche Effekt ergeben, wenn die ProbandInnen was ganz anderes kaputt gemacht hätten, vielleicht noch unterschieden nach denen, die etwas Charismatisches (einen Teddybären?) und etwas Widerliches (einen McKinsey-Bericht?) in den Schredder gepackt hätten? Hätten sie auch einfach Holz spalten können?

    Und dann gibts eine weitere gute Frage: Wenn Prüfungen und ihre Bewertungen für so viel Stunk sorgen: Sollten wir sie dann nicht einfach lassen, wo wir doch gerade gelernt haben, wie schlecht das für die Kinder ist? Oder vielleicht lieber erforschen, wie - wenn es doch vernünftige Gründe für sie geben sollte – wir die Prüfungen so gestalten, dass sie weniger zu Ärger als vielmehr zu Motivation führen?

    [1]Jaja, ich weiß schon, dass ich genau das in diesem Blogpost selbst mache. Wer mag, darf das als Selbstironie interpretieren, aber in Wahrheit habe ich halt einen Römerfimmel und habe das Fluchtäfelchen tatsächlich erst vorgestern fotografiert.
    [2]Die Autoren verwenden u.a. einen selbstgebastelten Fragebogen, auf dem ihre ProbandInnen jedem Begriff von (übersetzt) angry, bothered, annoyed, hostile, and irritated eine Zahl zwischen eins und sechs zuordnen, je nach dem, wie sie sich gerade fühlen; „anger experience composite“ nennen die Autoren ihr Maß, was sich für mich schon fast ein wenig nach Aktienindex anhört.
  • Hörtipp: Wir müssen reden anno 2022

    Treuen LeserInnen dieses Blogs wird nicht neu sein, dass ich dauerhaft wirklich schlechtes Gewissen habe, weil ich der patriotischen Filetierung Jugoslawiens durch meine nach der „Wiedervereinigung“ im Machtrausch delirierende Regierung nicht genug Widerstand entgegengesetzt habe und schließlich auch der Vorlage zur Sezession des Donbass im Wesentlichen nur fassungslos zugesehen habe (wenn auch mit Transparenten in der Hand).

    Eine Kundgebung mit einer guten Handvoll Menschen vor Stadthäusern.  Ein rotes Transparent, auf dem „US/NATO out of Yugoslavia“ steht, ist von hinten zu sehen.

    Zum Beleg der „Transparente in der Hand“: Wohnortbedingt konnte ich gegen die Spätphasen des Kosovokrieges nicht in der BRD protestieren. Aber die Antikriegsdemo an der Bostoner Park Street Station am 25. März 2000 (ungefähr der erste Jahrestags unseres Überfalls) habe ich denooch mitgenommen.

    Zur Rechtfertigung dieser Neuauflage alter Imperialismen haben die ApologetInnen der deutschen Politik die Geschichte vom „Völkergefängnis [als Begriff übrigens aus der Mottenkiste der rechten Feinde des ausgehenden Habsburgerreichs herausgeklaubt] Jugoslawien“ erzählt. Einen, wie ich finde, hübschen Kommentar dazu hatte der Deuschlandfunk Ende Dezember 2022: Wir müssen reden: Jugoslawisch.

    Von Dingen überzeugt, die schwer zu glauben sind

    Gleich am Anfang wird darin Vladimir Arsenijević zitiert:

    Nach dem Zerfall von Jugoslawien wurden vier politische Sprachen geschaffen. In Bosnien-Herzegowina spricht man offiziell Bosnisch, in Montenegro Montenegrinisch, in Serbien Serbisch, in Kroatien Kroatisch, aber jeder, der bei klarem Verstand ist, weiß, dass es sich eigentlich um eine einzige Sprache handelt.

    Jaklar, könnt ihr sagen, der ist ja, igitt, Serbe und macht da halt seine Großserbien-Sprüche; interessanterweise gibt es derzeit, vielleicht in so einer Logik, Wikipedia-Seiten über ihn auf Französisch, Katalan, Italienisch und sogar Kroatisch, aber nicht auf Deutsch. Ahem. Aber wenn wer, wie Arsenijević, sagt:

    [D]as ganze nationalistische Projekt beruht darauf, dass Leute von Dingen überzeugt sind, die eigentlich schwer zu glauben sind.

    …dann hat er_sie mein Herz gewonnen. Diese Vernunft auf der Seite „unserer“ Feinde steht übrigens in eklatantem Gegensatz zu Äußerungen „unserer” Verbündeter. Die ehemalige kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović fand – ebenfalls im DLF-Beitrag – die Proposition, es werde wohl schon die gleiche Sprache sein, wenn die Leute ohne Schwierigkeiten miteinander reden können, offensichtlich plausibel, aber unerträgich:

    Diese sogenannte gemeinsame Sprache war ein politisches Projekt, das zusammen mit dem ehemaligen Jugoslawien untergegangen ist und es wird sie nie wieder geben.

    Serbokroatisch als Kunstprodukt? Nur zu!

    Ich will ihr geben, dass, wie sich auch im Laufe der Sendung herausstellt, auch Serbokroatisch ein Kunstprodukt ist, ganz wie Hochdeutsch, Italienisch und Französisch auch. In dem Sinn ist es tatsächlich auch ein politisches Projekt. Christian Foss von der HU Berlin wird im DLF zitiert mit:

    Als Geburtsstunde einer gemeinsamen Sprache würde ich eigentlich das sogenannte Wiener Sprachabkommen von 1850 beurteilen, als sich serbische, kroatische und auch zwei slowenische Intellektuelle, Schriftsteller in einem Wiener Cafe trafen und eine Erklärung aufgesetzt haben, dass sie sich als ein gemeinsames Volk deklarieren, das eine gemeinsame Sprache brauche.

    Das Programm war, eine einheitliche Schriftsprache zu schaffen, andere Dialekte aufzugeben, und das Interessante ist, dass dies, was auf absoluter Freiwilligkeit beruhte, tatsächlich funktioniert hat.

    Nun: Bis Genscher und seine Freunde durchgeknallte Nationalisten vom Schlage eines Franjo Tuđjman dazu nutzten, die Sahnestücke Slowenien und Kroatien EU-tauglich aus Jugoslawien herauszulösen und den ungewaschenen Rest vergleichbar miesen Potentaten zu überlassen. Mensch stelle sich für einen Augenblick eine alternative Geschichte vor, in der die EU wirklich so nett ist wie viele ihrer BewohnerInnen glauben, eine EU, die all den PatriotInnen in den verschiedenen jugoslawischen Republiken gesagt hätte: „Ihr kommt nur entweder gemeinsam in die EU oder gar nicht. Also hört mit eurer scheiß-patriotischen Propaganda auf.“

    Wie es stattdessen Anfang der 1990er aussah in den gerade erst auf deutschen Druck geschaffenen neuen Staaten, beschreibt in der DLF-Sendung eine Journalistin, die über den kroatischen Rundfunk berichtet:

    Es gab eine richtig gehende Besessenheit, alle Worte, die irgendwie serbisch klangen, aus der Sprache zu tilgen und durch kroatische Ausdrücke zu ersetzen.

    Wenn ich die Wahl habe zwischen einem politischen Projekt, das Feindschaften abbauen will und einem, das wie beschrieben Feindschaften schürt, dann liegt meine Sympathie klar bei ersterem. Wenn Leute wie Grabar-Kitarović dem ein Nie Wieder entgegenschwören, ist das ein schlimmes Drama.

    Für kontraproduktive Umtriebe dieser Art existiert ein Begriff, der sogar ein Wikipedia-Kapitel hat: Sprachchauvinismus; unterhaltsamer ist der verwandte Artikel zu deutschem Sprachpurismus, der zahlreiche mehr oder minder amüsante Beispiele erwähnt, wie Menschen aus patriotischer Verwirrung das Lexikon verkomplizierten („Mundart“ statt des international verständlichen und ja trotz Mundart immer noch gebräuchlichen „Dialekt“ zum Beispiel) oder es jedenfalls versuchen (beispielsweise „Meuchelpuffer“ statt Pistole im Falle des 17.-Jahrhundert-Volksfans Philipp von Zesen).

    A propos Volksfan: Im Sprachpurismus-Artikel habe ich gerade auch gelernt, dass das (glücklicherweise) immer noch verpönte „völkisch“ schlicht als sprachchauvinistischer Ersatz für das ja gerade leider wieder in Mode geratende „national“ vorgelegt wurde, und zwar erst 1875 von einem besonders unangenehmen Protofaschisten namens Hermann von Pfister-Schwaighusen (nun: seine eigene Wikipedia-Seite relativiert das „wurde“ zu „soll haben“, aber wenn die Geschichte nicht stimmen sollte, so ist sie doch zumindest gut erzählt.

    Es gibt Hoffnung

    Tja: Vielleicht hilft bei solchen Tendenzen KI? Es gibt ein Indiz dafür. Ich habe die DLF-Sendung nämlich wie hier beschrieben von Whisper transkribieren lassen, und die, hust, KI hat aus der Pointe der Geschichte um Tudjmans „Ich freue mich“-Begrüßung für den damaligen US-Präsidenten Clinton und seinen darin verwendeten (vermeintlichen) Serbizismus das hier gemacht:

    Das Problem ist: sretchan ist serbisch, auf kroatisch heißt es sretchan.

    Dass meine „KI“ da nicht zwischen „Serbisch“ und „Kroatisch“ zu unterscheiden vermag, würde ich als Hinweis auf kulturellen Fortschritt werten.

    Noch mehr Hoffnung weckt jedoch die Geschichte der Kinder aus der bosnischen Kleinstadt Jajce, die für gemeinsamen Unterricht demonstriert haben. Vladimir Arsenijević berichtet von dort:

    Wochenlang sind sie auf die Straße gegangen. Ihre Forderung: Sie wollten zusammen in die Schule gehen. Sie hatten Transparente, auf denen sie Birnen und Äpfel gemalt hatten. Ich habe das erst nicht verstanden, und dann haben sie es mir erklärt: Als der Kantonminister für Bildung gefragt wurde, warum er die Segregation im Bildungssystem nicht abschafft, hat er geantwortet, man könne Birnen nicht mit Äpfel mischen.

    Wenn Menschen, die derartigen Überdosen patriotischen Unsinns ausgesetzt waren wie die Opfer deutscher Großmachtpolitik am Balkan, wieder zur Vernunft kommen können, dann gibt es noch Hoffnung.

  • Asteroideneinschläge sind schlecht fürs Bankgeschäft

    Ein rundlicher Stein mit vielleicht 10 cm Durchmesser und einer Delle in der Mitte, darunter eine Museumsbeschriftung: Cheliabynsk 2013

    2013 in Tscheljabinsk war es nur ein recht kleiner Brocken, der vom Himmel fiel und ordentlich Rumms machte[1]. Im Bild ist ein winziges Bruchstück des Brockens, das es ins Naturkundemuseum in Wien geschafft hat. Die Frage der Marktwirtschaft an sowas ist: Was sind die Kosten? Meine Frage ist: Ab welcher Grenze wird diese Frage fragwürdig?

    Zu den fürs Verständnis der Menschenwelt nützlicheren Konzepten, die durch MarxistInnen in den politischen Diskurs kamen, gehört ziemlich fraglos die Entfremdung. Es gibt ganze Bücher darüber, wie genauer zu fassen sei, was Marx in seinen Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten in den 1840er Jahren so beschrieben hat:

    Jedes Produkt ist ein Köder, womit man das Wesen des andern, sein Geld, an sich locken will, jedes wirkliche oder mögliche Bedürfnis ist eine Schwachheit, die die Fliege an die Leimstange heranführen wird.

    Mir gefiel eigentlich immer die knappe Definition: „Entfremdung ist, wenn Menschen nicht mehr als soziale Wesen in Beziehung zueinander treten, sondern als Handelnde auf einem Markt, also durch Austausch von Geld – und am Ende auch nur zu diesem Zweck.“

    Ich will dabei nicht von der Hand weisen, dass diese Sorte Interaktion häufig recht bequem ist. Klar macht es auch mein Leben leichter, wenn ich beim Bäcker einfach einen Schein rüberreichen kann und mit einem Brot rausgehe, ohne argumentieren zu müssen, warum es nötig und richtig ist, mich zu füttern.

    Wenn es allerdings um die Zerstörung von Landstrichen oder Kontinenten durch Einschläge großer Asteroiden geht, wird die entfremdete Denke von Markt und Profit zum Agitprop-Stück über den Irrsinn des Kapitalismus und der Art, wie er die ihn tragende Gesellschaft organisiert. Könnte mensch meinen. Aber hört euch mal diesen Beitrag aus DLF Forschung aktuell vom 24. Januar an. Ich warte hier solange.

    Wer das Stück nicht gehört hat: Untersucht wird ein (überhaupt nicht unplausibles) Szenario, in dem AstronomInnen einen größeren erdkreuzenden Asteroiden entdecken. Schnell wird klar, dass er innerhalb von etwa 10 Jahren die Erde treffen wird. Eifrig wird beobachtet, und mit wachsender Genauigkeit des Orbits wird immer klarer, wo genau er einschlagen und was er dabei zerstören wird.

    Ich hätte bei Simulationen eines solchen Szenarios naiv Überlegungen erwartet, wie mensch die Leute, die im Zielgebiet wohnen, dort rauskriegt, wo sie dann leben sollen, auf wie viel Landfläche mensch verzichten kann, ohne dass es viel Hunger gibt, wie mensch sich vielleicht auf für ein paar Jahre sinkende globale Durchschnittstemperaturen einstellt, sowas halt.

    Im Interview hingegen klingt es, als sehe der Interviewte – Rudolf Albrecht, Mitarbeiter der ESO im Ruhestand – das zentrale Interesse des Artikels so:

    Wenn man [im Zerstörungsgebiet] zum Beispiel ein Haus hat, was wird mit dem Grundstückspreis passieren? Das Haus wird nicht mehr zu verkaufen sein. Was passiert, wenn die Hauspreise gegen Null gehen? Dann zahlen die Leute ihre Hypothekraten nicht mehr. Was passiert, wenn die Leute ihre Hypothekraten nicht mehr bezahlen? Die Banken bekommen Schwierigkeiten.

    Hu? „Ich könnte ja mit dem Weltuntergang an sich gut leben, aber wo kommt dann mein Champagner her?“ „Was für ein Mist, dass ich mich in meinem SUV gerade totgefahren habe; ich hatte ja fünf Cupholder mitbestellt, und den links hinten hatte ich noch gar nicht ausprobiert!“ Ach: diese ganze Überlegung ist so obszön, dass mir gar nicht einfällt, wie ich sie noch persiflieren kann.

    Nun bezieht sich das Interview auf einen Artikel, den Laura Jamschon Mac Garry, Albrecht selbst und Sergio Camacho-Lara unter dem Titel Diplomatic, geopolitical and economic consequences of an impending asteroid threat in den Acta Astronautica 214 (2024) veröffentlicht haben[2]. Dieser Artikel enthält durchaus auch die weit naheliegenderen Überlegungen zu einem rationaleren Umgang mit so einer Krise. Albrechts Überlegungen finden sich dort aber doc, und zwar als Nachteile einer frühen Entdeckung eines gefährlichen Asteroiden:

    On the other hand, there was also a disadvantage associated with the extensive lead time: the economy in the impact corridor would become severely affected, as investments would probably decrease, real estate values would plummet, banks could become insolvent as the population would try to leave the area. The extensive lead time would be a period of considerable political and economic uncertainty, during which time events would take unpredictable turns. Merchant shipping and other trade routes near the risk corridor would be likely to be discontinued around the time of a possible impact. Delivery chains would be interrupted.

    Glauben wirklich nennenswert viele Menschen, dass wir im Angesicht einer solchen Katastrophe nicht überlegen, wie wir in einer geplanten und überlegten Anstrengung dafür sorgen, dass das kein Riesengemetzel wird, sondern weiter über Grundstückspreise reden?

    Nun gut… Ich gebe zu, dass wir gerade eine ähnliche Situation haben, denn die Klimaänderungen, die wir uns gerade eintreten, werden absehbar zu einem Riesengemetzel führen, und da reden in der Tat immer noch erstaunlich viele von Arbeitsplätzen, Emissionshandel und grünem Wachstum, statt zu planen, wie wir einfach und angenehm den ganzen Mist stoppen und dabei weniger Arbeit, Krach und Stress haben. Die Entfremdung ist zumindest im Hinblick aufs Klima offenbar tatsächlich so weit, dass ganze Gesellschaften ihre schiere Existenz nur übers Geld verhandeln und dabei rauskriegen, dass es wichtiger ist, jetzt in Blechkäfigen zu öden Jobs zu rasen als den Menschen in fünfzig Jahren ein schönes Leben zu ermöglichen.

    Ach weh: Jamschon Mac Garry et al haben vielleicht mehr Weisheit, als ich ihnen aus dem Bauch heraus zugesprochen habe.

    [1]Quantifiziert wäre der Rumms 500 Kilotonnen TNT-Äquivalent oder ein gutes Dutzend Hiroshimabomben, so heißt es. Aber natürlich war die Explosionsdynamik ganz anders, und so waren die Schäden auch viel geringer.
    [2]Nebenbei ein Appell an die Verlage: eine Landing Page fürs DOI-System ist potenziell für die Ewigkeit und garantiert kein guter Platz für technische Spielereien. Dort ganz besonders sollte es keinen Javascript-Zwang geben (so wie bei Acta Astronautica). Wenigstens bei dem Journal treibt Elsevier es jetzt gerade gleich noch wüster: Ohne Übertragung der Referrer-Header geht da nichts Nützliches. Au Weia.
  • Leider kein Sprecher ohne Nerven

    Ich habe mich hier schon des Öfteren als Fan von Live-Medien und dem mehr oder minder professionellen Umgang mit ihren Pannen geoutet – natürlich immer mit besonderer <hust> Mühe, jeden Anschein von Schadenfreude zu vermeiden.

    Vor diesem Hintergrund fand ich den Umgang des anonymen Sprechers[1] mit einer offensichtlichen Panne bei den 16:30-Nachrichen am 23.1.2024 im Deutschlandfunk (ja, ich bin ein wenig hinterher bei meinem asynchronen Radio-Konsum) nachgerade unfassbar professionell. Hört euch das hier mal an:

    (Blättern) Die deutsche Schauspielerin Sandra Hüller ist für einen Oscar nominiert worden […ca 20 Sekunden Sprache…] (Blattern) Die deutsche Schauspielerin Sandra Hüller ist für einen Oscar nominiert worden [weiterer identischer Text]

    Als ich das hörte, war ich hingerissen, wie der Sprecher völlig ungerührt weiterliest, obwohl ihm spätestens nach wenigen Sekunden aufgefallen sein muss, dass er sich gerade wiederholt. Gut – ich hätte jetzt ein „Verzeihung, diese Nachricht hatten wir gerade schon“ eigentlich sympathischer gefunden. Die größere Kunst jedoch ist, so glaube ich, überzeugend so zu tun, als sei gar nichts.

    Bei genauerer Betrachtung stellt sich allerdings heraus, dass für den Sprecher tatsächlich gar nichts war. Folgt mir kurz auf meinem Weg zu dieser Entdeckung.

    Wer im Audio genau hinhört, hört ganz am Anfang ein Blättern; dass da (noch) geblättert wird, hat mich zunächst nicht verunsichert, denn die Werkzeuge von Profis ändern sich langsam. Es ist aus meiner Sicht gut möglich, dass die Leute im DLF noch nicht vom Computer weglesen. Dass vor der Wiederholung nochmal ein Blättern zu hören ist, hat mich auch noch nicht verblüfft. Im Gegenteil ist es höchst plausibel, dass es zur Wiederholung kam, weil zwei Kopien des gleichen Blattes im Nachrichtenstapel lagen.

    Allerdings sahen beim Beschneiden im Audio-Editor die Wellenformen von Blättern und Lossprechen schon ganz verblüffend ähnlich aus. So ähnlich, dass ich mir die Mühe gemacht habe, die Wiederholung unter das Original zu legen und (etwas improvisiert) mithilfe meines pyscreenruler als Hilfslinie aneineinander auszurichten:

    Zwei Wellenformen untereinander, die exakt parallel verlaufen

    Nein: Auch der professionellste Sprecher kann nicht so exakt parallele Signalverläufe hervorbringen.

    Nachtrag (2024-03-02)

    Weil Proteste kamen: Ja, in ganz feinen Details unterscheiden sich die Kurven. Das kommt einerseits vielleicht ein wenig aus der unterschiedlichen Vorgeschichte der beiden Signale, die in die Kompression eingegangen ist. Yor allem ist das etwas, das grob unter dem Begriff unter „Aliasing“ läuft: Wenn ihr einen etwa ein Pixel breiten Gipfel durch zwei Pixel durchschiebt, ist manchmal nur in einem richtig Signal und manchmal in beiden. Hier ist die Lage der beiden Signale bezüglich des jeweils ersten Samples (Audio-Pixel, wenn ihr so wollt) leicht verschieden, und drum „wackelt“ es auf Pixelebene manchmal ein wenig.

    Das ist entweder digital erzeugt oder digital wiederholt worden. Eine Roboterstimme mit dieser Qualität und dann noch beim Deutschlandfunk ist wohl auszuschließen (schon, weil es dort einen Personalrat gibt). Da die Doppelung genau an Satzgrenzen beginnt und aufhört, scheint auch eine natürliche Ursache für die Dopplung – sagen wir, ein Puffer, dessen Fortsetzung nicht rechtzeitig fertig ist und der dann einfach wiederholt wird – jedenfalls sehr unwahrscheinlich (mal abgesehen davon, dass kein plausibler Puffer 20 Sekunden lang wäre).

    Bliebe noch, dass da jemand bewusst geschnitten bzw. geloopt hat. Aber wie geht das? Soweit ich weiß, werden die Nachrichten im DLF live gesprochen, was heißt, dass der Loop mehr oder weniger in Echtzeit produziert worden sein muss. Geht sowas überhaupt? Vor allem aber: Wer sollte das tun wollen? Und warum?

    Fazit im Hinblick auf Live: Leider ist hier kein Nachrichtensprecher ohne Nerven zugange. Wer immer da redet, hatte seinen Job schon getan, als irgendwer anders diesen Loop in seine Sprache einbaute.

    [1]

    Ich glaubte mich zu erinnern, dass die DLF-NachrichtensprecherInnen früher ihre Namen gesagt haben. Haben sie nicht, jedenfalls nicht 2001. Ich habe extra in meinem Archiv nachgehört. Dabei bin ich allerdings über Verkehrsmeldungen gestolpert, die sie damals noch gebracht haben, und darüber bin ich (etwas perverserweise) nostalgisch geworden („Seewetteramt Hamburg“). Für andere DLF-DauerhörerInnen hätte ich hier eine Flashback-Gelegenheit, nämlich die Verkehrsmeldungen vom 24. August 2001, 16:34:

  • Unbesungener Held: Der Verkehrsberuhiger Otto Wicht

    Stadtszene mit Klinkerhäusern, vor denen Sträucher und Bäume stehen.  Dazwischen ein Weg, auf dem ein paar Leute laufen.

    Was alles geht, wenn Städte für Menschen und nicht für Autos gebaut werden: eine Straße als Garten in Husum, 2022. Otto Wicht hat den ersten Schritt in diese Richtung getan.

    Im Deutschlandfunk-Kalenderblatt vom 14.11.2023 habe ich zum ersten Mal von einem Menschen gehört, der ungezählte Menschenleben gerettet und ungezählte weitere im ganz großen Stil angenehmer gemacht hat: Otto Wicht, Stadtbaurat in Buxtehude[1]. Er hatte vierzig Jahre zuvor, am 14. November 1983, im Herzen der Bestie – in dem Land, in dem das ganze Elend anfing – die ersten Blumenkübel auf der Konopkastraße aufstellen lassen, um Autos auf wenigstens entfernt menschenverträgliche Geschwindigkeit einzubremsen.

    Herbst 1983. Buxtehudes Autofahrer sind genervt. Plötzlich stehen mal rechts, mal links, kreisrunde Blumenkübel am Fahrbahnrand. Es geht darum, langsamer zu fahren.

    Die niedersächsische Stadt hat am vierzehnten November 1983 die bundesweit erste Tempo-dreißig-Zone eingeführt. [...]

    Die umfunktionierten Betonringe sind eigentlich für den Bau von Kanalisationsleitungen gedacht und werden nach den ersten Unfällen mit Katzenaugen, später mit rot-weißen Verkehrsbaken nachgerüstet.

    Aber hört euch den ganzen Beitrag an; spektakulär finde ich ja vor allem die indignierten Schimpftiraden von AutofahrerInnen, die sich augenscheinlich in ein Grundrecht auf Rumrasen, auf Krach machen, stinken, Menschen verscheuchen, hineindeliriert haben. „Der Verkehr muss doch fließen,“ lässt sich eine vernehmen, als seien Autos „der Verkehr“ und als sei es irgendwie akzeptabel, tonnenweise Stahl mit 15 Metern pro Sekunde gerade mal einen Meter neben ziemlich weichen Zielen durch die Gegend zu ballern.

    Na ja: ich gebe zu, dass Ansichten dieser Art auch vierzig Jahre nach Otto Wichts großem ersten Schritt noch in manchen Köpfen herumspuken. Der DLF-Beitrag lässt ahnen, dass diese Zeitenwende alles andere als einfach war, selbst wenn sich inzwischen sogar ein CDU-Stadtrat – für seine Verhältnisse – einsichtig zeigt und eher kopfschüttelnd zurückblickt auf seine Sprüche aus den Achtzigern:

    Und deswegen haben wir immer gesagt, Herr Wicht, Herr Wicht, die Stadt ist dicht, wenn der Verkehr zum Stocken kam, ne?

    Tja: Schon wieder dieser „Verkehr“, der da stockt. Und nicht etwa im Wesentlichen Blechkäfige von Menschen, die mit hinreichend Empathie mit ihrer Umwelt Fahrrad gefahren und dann auch kein Stau wären.

    An Wichts HeldInnen-Status nagt im Übrigen auch nicht, dass Verkehrsberuhigung damals in der Luft lag:

    Kurz nach den Norddeutschen zogen Berlin-Moabit, Ingolstadt und Mainz, das ostwestfälische Borgentreich und das schwäbische Esslingen nach.

    Auch in Fällen von Zeitgeist braucht es schlicht Menschen, die den ersten Schritt tun und dafür dann die Flak der (in diesem Fall) Autofahrenden abbekommen, ohne auf „aber dort hat das doch prima funktioniert“ verweisen zu können.

    Obwohl Wicht so viele Menschen und Nerven gerettet hat und dafür haufenweise Hass aus der Klientel abbekommen hat, die heute in den schwelenden Resten von Twitter herumschimpft, hat er im Augenblick nicht mal eine Wikipedia-Seite. Ich sollte mich wirklich überwinden und eine schreiben, vielleicht auf der Basis dieses Nachrufs mit ein wenig Ausschmückung aus jenem. Oder findet sich vielleicht einE routinierteR WikipedianerIn, um einem großen Diener von Staat und Bevölkerung ein kleines Denkmal zu setzen?

    [1]Ich wittere schon wieder den Weltgeist am Werk, wenn bei epochale Ereignissen (nein, absolut keine Ironie hier) wie Verkehrsberuhigung Namen wie Buxtehude und Wicht eine zentrale Rolle spielen.
  • 75 Jahre ohne Militär: Costa Rica

    Rechts im Bild ein Bahnsteig, links ein endloser Güterzug.  Auf jedem Wagen stehen zwei Panzer.

    Was ist der Unterschied zwischen der badischen Stadt Bruchsal und San José, der Hauptstadt von Costa Rica? Nun: Im Bahnhof von San José würde nicht plötzlich – wie hier im Juni 2013 – ein Güterzug voller Panzer stehen.

    Bevor deren 75. Jubiläumsjahr vorbei ist, möchte ich an eine der ganz großen zivilisatorischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts erinnern: 1948 löste der damalige Präsident José Figueres Ferrer das Militär in Costa Rica auf, und es hat kein Rezidiv gegeben, obwohl die Nachbarstaaten diesen, ach ja, Fort-Schritt nicht hinbekommen haben – vom Rest der Welt ganz zu schweigen.

    Ich brauchte auch erst eine Erinnerung daran und bekam die im Deutschlandfunk-Kalenderblatt am 1.12.2023. Der 1. Dezember ist der Jahrestag von Ferrers Inititative und ist seit 2020 in Costa Rica ein Feiertag („abolió el ejército“ – take that, „Volkstrauertag“). Peter B. Schumann erwähnte in seinem kleinen Beitrag gute Gründe zum Feiern:

    Die Kaserne wurde zum Nationalmuseum und der Wehretat zum Entwicklungsbudget. Damit konnten das Bildungssystem, das Gesundheitswesen und die Infrastruktur ausgebaut […] werden. […] Costa Rica hat es auch nie bereut. Während die hochgerüsteten Nachbarländer von einem autoritären Regime ins andere und von einer Krise in die nächste taumelten, konnte das kleine Land sich jahrzehntelang zu einer stabilen, prosperierenden Demokratie entwickeln.

    Sehr bemerkenswert fand ich auch die Analyse des Autors zu den Bedingungen für den Erfolg der Abrüstung in Mittelamerika:

    [Costa Rica] war viel kleiner [als seine Nachbarn], weniger kapitalkräftig, die Elite relativ arm […] Die Regierungen hatten [die Armee] allerdings oft vernachlässigt, so dass sie schlecht ausgebildet und schlecht bewaffnet war, eine schwache Institution.

    Also: geringe soziale Stratifikation, wenig physische Basis der Regierung, anderen Regierungen etwas aufzwingen zu können und eine schlecht finanzierte Armee haben in dieser (m.E. glaubwürdigen) Erzählung geholfen, das Militär loszuwerden. Praktischerweise sind das Politiklinien, die wenigstens mir auch unabhängig von Friedenspolitik im engeren Sinn attraktiv erscheinen – angefangen vom Ende der Kriegskredite (Verzeihung, „Sondervermögen“; soll keineR sagen, es habe sich gar nichts getan in Berlin über die letzten 110 Jahre hinweg).

    Kopfportrait eines etwa 60-jährigen Mannes im Anzug mit hoher Stirn, dunklen Haaren und einem ernsten Blick.

    Der Held der Auflösung des Militärs in Costa Rica: José Figueres Ferrer, hier im September 1973 (Bildquelle).

    Nun will ich gerne eingestehen, dass mein traditionell zuversichtlicher Blick in eine militärfreie Zukunft ohne Strammstehen, Tschingdarassabum, bunte Kappen und Orden in nur wenigen Momenten meines Lebens nicht bei vielen ZeitgenossInnenen auf ungläubige bis schnappatmende Einwände gestoßen wäre: anfangs „aber… die Russen?!“, dann rasch „aber… die Moslems?!“ und jetzt wieder (meist) „aber… die Russen?!“

    Ganz unabhängig davon, ob Tschingdarassabum und Menschentotschießen geeignet, notwendig und angemessen sind, um Konflikte zwischen den Entietäten zu lösen, denen sich die verschiedenen ZeitgenossInnen zugehörig fühlten: Costa Rica ist tatsächlich gut ohne ausgekommen, und das, obwohl sich recht schnell ein deutliches Wohlstandsgefälle zu den militärbesetzten Nachbarstaaten einstellte[1].

    Zu den qualitativen Effekten der Auflösung des Militärs lohnt ein Blick in die (vermutlich für Mittelamerika stark unvollständige) Liste der Putschversuche in der englischen Wikipedia[2]. Wie der DLF-Autor Schumann schon andeutet, fanden in den Nachbarstaaten – wenn nicht wie in Nicaragua ohnehin über Jahrzehnte das Militär faktisch an der Macht war – alle paar Jahre mal Militärputsche statt (für Honduras verzeichnet: 1956, 1963, 1972, 1975, 1978 und 2009).

    Für Costa Rica hingegen ist nach dem 1.12.1948 nur ein Putschversuch notiert, und der ist gescheitert. De facto war das sieben Jahre nach der Auflösung der Armee ein Versuch der alten Garde, sich wieder die Lizenz zum Schießen und Töten sowie die Alimentierung für dieses Treiben zu verschaffen. Es handelte sich nämlich um eine vom Somoza-Regime in Nicaragua gestützte Rebellion, in der „Calderonistas“, Ex-Soldaten aus der Zeit des vorherigen Potentaten Rafael Calderón, versuchten, wieder einen „normalen“ Staat zu bekommen. Das ist durchaus auch eine Erinnerung daran, dass, wer jetzt Militär macht, eben auch ein schweres Erbe für später schafft.

    Los gings Anfang Januar 1955, als diese Truppen mit Ölgeld aus dem damals ebenfalls erzreaktionär regierten Venezuela vom Herrschaftsgebiet des später in der sandinistischen Revolution untergegangenen Somoza-Clans aus in die costaricanische Kleinstadt Ciudad Quesada einfielen; venezuelanische Militärflugzeuge beschossen derweil verschiedene Städte in Costa Rica. SpielerInnen des Klassikers Junta kennen das Szenario.

    Die Regierung in San José rief daraufhin die OAS an, die (eingestandenermaßen überraschenderweise) Druck auf Nicaragua ausübte; dazu mobilisierte die Regierung in San José ihre Polizei, stellte Milizen auf und widmete vorübergehend Zivilflugzeuge um, was angesichts hinreichender Popularität der Regierung genug war, um die Invasion zusammenbrechen zu lassen.

    Klar wärs schöner gewesen, wenn der versuchte Putsch etwa durch einen zünftigen Generalstreik beendet worden wäre statt durch doch ziemlich paramilitärisches Gedöns. Klar ist aber auch, dass erstens Militärquatsch deutlich weniger Schaden anrichtet, wenn es insgesamt weniger davon gibt, und zweitens, dass auch ohne Militär Grobiane von außen nicht einfach tun und lassen können, was sie wollen.

    Es wird nur für die Grobiane von innen schwieriger, sich richtig grob zu benehmen und bei ihren Streitigkeiten mit den Grobianen von außen halbe Regionen zu verwüsten. Und vielleicht ist entsprechend radikale Abrüstung ja auch mal von unten statt wie in Costa Rica von oben zu bewerkstelligen? Das wäre besser, denn auf eine Figur wie Ferrer werden wir im Land von Clausewitz wahrscheinlich noch lang warten müssen.

    [1]Wie immer ist es schwierig, „Wohlstand” zu definieren und noch mehr zu quantifizieren. Wer an Metriken wie den HDI glaubt, wird Costa Rica 2018 bei 0.78 finden, gegenüber Nachbarstaaten wie El Salvador bei 0.68 oder Honduras bei 0.62 (zum Vergleich sieht das UNDP die BRD bei 0.94); aber dass der Billigflaggen-Staat Panama bei 0.79 und damit gleichauf mit Costa Rica steht, sagt wohl mehr über die Metrik als über reale Verhältnisse im Hinblick auf gutes Leben aus.
    [2]In der Liste der Putsche in der deutschen Wikipedia hat sich noch niemand den beängstigend großen Schuh angezogen, solche Aktivitäten in Mittelamerika zu sammeln.
  • Kritischer Hörtipp: „Afrika im Aufbruch“

    Eine relativ leere breite Straße mit Hochhäusern drumrum und Palmen drauf.

    Luanda im Jahr 2013 (inzwischen sieht es noch viel schlimmer aus): Hochhäuser, breite Straßen und jede Menge Beton. Will mensch wirklich zu sowas aufbrechen? Foto CC-BY Fabio Vanin

    Im November brachte der Deutschlandfunk im Hintergrund (täglich 18:40 bis 19:00) eine kleine Reihe mit dem Titel „Afrika im Aufbruch“. Das war zunächst recht erfreulich, denn die Erzählung dabei war nicht die typische beim europäischen Blick nach Süden.

    Es war nämlich nicht (in erster Linie) die Rede von Mord, Totschlag, Bürgerkrieg mit Macheten oder „Wellen“ von Menschen, die „gegen unsere Grenzen branden“. Es lohnt sich durchaus, sich die alternativen und vermutlich erheblich repräsentativeren Erzählungen anzuhören:

    Im Detail allerdings tun viele der Geschichten doch weh. Ich bin selbst schon hineingewachsen in eine Welt, in der der Name „3. Welt-Laden“ nicht mehr ohne Anführungszeichen denkbar war, in der Probleme mit Begriffen wie „Entwicklungsland“ Gemeinplätze waren. Das Wort behauptet ja ganz offen, dass „die anderen“ sich doch bitte „entwickeln“ sollen, etwas weniger offen dazuzudenken „zu uns hin“. Damals haben kritischere Menschen vielleicht „Trikont“ gesagt (Folgen), woraus heute eher „globaler Süden“ geworden ist.

    In der DLF-Serie hingegen wird nun zwar durchaus im Kultur- und Identitätsbereich von Dekolonisierung geredet, ökonomisch aber ist fast alles geradezu erschreckend orthodox. In der Sendung vom 14.11. zum Beispiel sagt ein Manager eines südafrikanischen „Start-ups“, das Rohstoffextraktion mit Großindustrie verbinden will:

    Wir haben die Chance, eine brandneue Megaindustrie in Afrika aufzubauen. Die Batterien sollen zuerst hier auf dem Kontinent genutzt werden. Siebzig Prozent Afrikas hat keine stabile Energieversorgung, ohne Strom keine Industrialisierung. Wenn wir dieses Problem durch Speichermöglichkeiten lösen, kann mehr produziert werden, Jobs werden geschaffen und Armut abgebaut.

    Der Gedanke, dass Armut heute nicht daher kommt, dass die Leute zu wenig arbeiten (bzw. produzieren), blitzt zwar kurz vorher im Zusammenhang mit Botswana mal auf, aber hier wie auch ganz schlimm in der Bezahl-Apps-Folge ist die Präsupposition ganz klar, dass auch „die Afrikaner“ unseren Unsinn kopieren sollen.

    Und Unsinn ist es, wenn sich möglichst viele Menschen jeden Tag für eine Stunde in einen rollenden Blechkäfig einsperren, um dann für acht Stunden lästigen Mist zu tun, der typischerweise unter Freisetzung von viel Dreck die Welt in der Regel schlechter macht (Herstellung von Autos und anderen Waffen, Werbung und anderen Rauschmedien, Finanz-„Produkten“ und anderen legalen Suchtstoffen, Einfamilenhäusern und Ölpipelines, Glyphosat und High Fructose Corn Syrup und so weiter und so fort).

    Um den Irrsinn ganz rund zu machen, haben die TeilnehmerInnen dieser Veranstaltung trotz historisch notwendig einmaliger Verschwendung von Naturressourcen immer noch (und nicht mal ohne Grund) Schiss, ob sie nächstes Jahr noch ein Dach über dem Kopf haben oder ob die Rente „zum Leben reicht”, mehr Angst vermutlich als Durchschnittmenschen in weiten Teilen des gegenwärtigen Afrika.

    Würde mensch dagegen einfach vernünftig überlegen, was das Minimum an Produktion ist, das die Grundbedürfnisse aller Menschen dauerhaft und verlässlich deckt, und zwar bei minimaler Belastung für Umwelt und Mensch: Nun, das wäre dann wirklich das „Überspringen“ von Fehlern des Nordens, das mal kurz in der Sendung vom 16.11. anklang. Stattdessen macht Antje Diekhans das Überspringen dort fest zunächst an Festnetz- gegen Mobiltelefonie und mittelbar ausgerechnet an „Fintech“ – mal ehrlich: lässt sich eine wüstere Verschwendung menschlicher Kreativität vorstellen?

    Dabei gestehe ich offen, dass ich keine Ahnung habe, wer in den verschiedenen Gegenden dieses Fünftels der Landfläche der Erde weniger europäische Ansätze vertritt. Klar wird die Wachstums-Religion in Afrika so verbreitet sein wie hier auch. Insofern mag mensch argumentieren, dass Afrika im Aufbruch einfach guter Journalismus ist, also eine Betrachtung der Welt, wie sie halt mal ist. Vielleicht passt mir auch nur das Wort „Aufbruch“ nicht, obwohl ja niemand sagt, dass du nur wohin aufbrechen kannst, wo es besser ist.

    Auf die im Eingangsbild symbolisierte Entwicklung in Luanda (verlinkt ist die Regierungsversion) hat mich übrigens ein Vortrag von Boniface Mabanza Bambu im Juni 2023 hingewiesen. Von ihm gibt es auch einiges Kontrastprogramm zur Aufbruch-Serie im Netz, z.B. seinen Artikel in Uneven Earth vom Juni 2019 oder auch ein Interview mit dem programmatischen Titel Die EU sollte Afrika in Ruhe lassen in der taz vom April (vgl. dazu). Oder, wegen der BASF-Connection für Leute im Rhein-Neckar-Raum besonders relevant, seine Abhandlung zum achten Jahrestag des Marikana-Massakers.

  • Vom Verlust des schlanken, effizienten Beamtenapparats

    Verwitterte Pfosten, ein verwittertes Sportfeld, ein verwitterter Unterstand mit einem alten Autoreifen davor, alles überzogen von rotem Staub.

    Bahnprivatisierung nicht als Symbolbild: So sah es 2015 in Cook, Southern Australia aus. Verfallen ist das Nest in der Nullarborebene, weil der Staat die Eisenbahn aufgegeben hat. Gut: vielleicht wäre es auch verfallen, wenn noch was anderes als Tourizüge fahren würde, weil die wartungsaufwändigeren Dampfloks verschwunden sind. Das Bild ist trotzdem eine gute Illustration des Konzepts „Privatisierung“.

    Heute stand in einem (offenbar noch nicht anderweitig veröffentlichen) Mailing des Bündnisses Bahn für Alle folgende bedenkenswerte Passage:

    Bundesbahn und Reichsbahn hatten von 30 Jahren zusammen 6.000 Bahndirektoren, bei insgesamt fast doppelt so vielen Beschäftigten wie heute. Aktuell haben wir 20.000 Bahnmanager, die im Durchschnitt geschätzt pro Kopf 100.000 Euro im Jahr kosten. […] Macht zusammen allein zwei Milliarden Euro jedes Jahr.

    Ich würde auch in diesem Fall nicht viel auf die konkreten Zahlen geben; die Flügel'sche Regel: „Wenn du genug weißt, um Metriken richtig zu interpretieren, brauchst du die Metriken nicht mehr“ gilt sicher auch hier, wo schon mal unklar ist, ob „Direktor“ bei der Bundesbahn irgendwas mit einem modernen „Manager“ zu tun hatte.

    Weiter wäre zu prüfen, ob nicht auch die alten DirektorInnen wie ihre modernen NachfolgerInnen in der Mehrheit für den Bahnbetrieb eher schädlich als nützlich gewesen sein werden. Und kommen zu den 20'000 hier berichteten ManagerInnen noch welche von all den anderen Unternehmen, die die öffentliche Hand für den Betrieb des ÖPNV bezahlt? Oder sind die schon drin?

    Auf all das kommt es jedoch gar nicht so sehr an, denn qualitativ ist sicher, dass durch Maßnahmen im weiteren Privatisierungsbereich eigentlich immer eine im Vergleich schlanke und billige öffentliche Verwaltung ersetzt wird durch einen Apparat von GeschäftsführerInnen, JustiziarInnen und ihren Stäben, die sich mit komplizierten Firmengeflechten beschäftigen („S-Bahn Rhein-Neckar“ vs. „DB Regio Oberbayern“ vs. „DB Station und Service“), deren Zweck wiederum selten übers Steuersparen, Lohndrücken und Aushebeln von Betriebsratsrechten hinausgeht. Reporting, Compliance und Investor Relationships beschäftigen weitere Menschen, die sich durch die höhere Handelsschule (Mikro und Makro) gekämpft haben. Na gut: immerhin die Investor Relationships haben sie bei der Deutschen Bahn inzwischen hoffentlich wieder rückgebaut.

    Nachtrag (2023-10-17)

    Als ich letztes Wochenende in Bad Friedrichshall aus einem überfüllten Zug in einen etwa genauso überfüllten anderen Zug umgestiegen bin, ist mir zum Thema bizarre Sub-Subunternehmen der Deutschen Bahn noch das hier untergekommen:

    Eine rostfarbene Strebe eines Güterwagens mit aufgesprühten weißen Buchstaben „DB Schenker Rail Automotive GmbH [...] Mail: dispo@dbschenker-atg.com“

    Der Twist an der Sache:

    $ dig +short dbschenker-atg.com
    $
    

    Mit anderen Worten: die merkwürdige „Automotive“ GmbH, die da irgendwer mit viel juristischer Beratung hat gründen lassen, ist schon so lange tot, dass nicht mal mehr wer die Domain anmeldet, auf die das längst für irgendeine andere Briefkastenfirma rollende Material noch verweist.

    Da wundert mich eigentlich auch nicht mehr, dass die Wayback-Maschine für eine hypothetisch zum Unternehmen gehörende Webseite nur einmal ein Signal hatte. Im Juni 2019 war da: „Hier entsteht in Kürze eine neue Internetpräsenz.“ Mergers and Aquisitions im Endstadium.

    Nachtrag (2023-10-22)

    Und gleich noch ein DB-Subunternehmen, für dessen Existenz ich mir keine gutartige Erklärung vorstellen kann: DB Training („Ihr Anbieter im Bereich Corporate Learning & Development“). Allerdings: Das Impressum der Webseite redet nur von der Deutschen Bahn AG. Vielleicht tut das Ding ja nur so, als sei es ein eigenes Unternehmen und ist in Wahrheit „nur“ eine Abteilung (wie es ja auch nur vernünftig wäre)? Potjomkinsche Unternehmen als Verneigung vor dem immer noch herrschenden Zeitgeist?

    Wer weiß? Gehört habe ich von der… nun, Entietät jedenfalls in einem mich ebenfalls zum intensiven Kopfschütteln anregenden Hintergrund Politik im Deutschlandfunk, nämlich dem vom 9.10.2023, „Wie die Schiene gemeinwohlorientiert werden soll“. Hauptgrund des Kopfschüttelns: Zwar zählt der Beitrag durchaus zutreffend ein paar der Kritikpunkte an der Bahnprivatisierung seit den 1990ern (jenseits der mutwilligen Zerstörung eines vergleichsweise effizienten BeamtInnenapparats) auf – aber er fragt weder, warum diese Kritik nur für die Schienen und nicht auch für den Verkehr darauf gelten soll, noch fragt er, wozu mensch wohl den ganzen Unternehmensfirlefanz braucht, wenn das doch ohnehin „gemeinwohlorientiert“ sein soll.

    Vor allem aber stellt er nicht all den Dampfplauderern, die im Beitrag streiten, ob die „Infrastrukturgesellschaft“ der DB gehören soll oder sonstwem anders, die an sich naheliegende Frage: „Wir hatten doch schon mal eine doch ganz gut funktionierende Bahn. Sollten wir für den Anfang nicht erstmal dahin zurückgehen, wo wir offensichtlich falsch abgebogen sind und dann von dort sehen, wo ein besserer Weg langführt?“

    Mithin ist praktisch unvermeidlich, dass bei einer Privatisierung das Verhältnis von denen, die nützliche Arbeit tun (Züge warten, Verspätungsdurchsagen machen) zu denen, die diese nützliche Arbeit verwalten („Management”) schrumpfen wird. Das Ergebnis ist vielerorts sichtbar: die kaputte Bahn, die teueren, verrottenden ex-Sozialwohnungen, ein Geschäftsgebaren von Telefonunternehmen, das von offenem Betrug nur mit Mühe zu unterscheiden ist – und Systemlotto dort, wo einst ein Postamt war. Oh, na gut; manche Orte (hier: Dossenheim) haben im Vergleich auch Glück gehabt:

    An einer Arkade eines 70er-Jahre-Baus hängt ein Schild „Postfiliale und Restpostenshop“, davor ein Gelber Postkasten.

    Unverständlich bei all dem ist nur: Wie kommt das Major Consensus Narrative[1] eigentlich mit der Vorannahme durch, mit Privatisierungen und Wettbewerb gingen „Effizienzgewinne“ einher? Klar, Privatisierung führt in der Regel zu zum Teil drastischer Lohndrückerei, aber selbst wenn mensch die sozialen Kosten dieser Lohndrückerei externalisiert, dürfte das Reibungsverluste in der eingangs zitierten Größenordnung kaum ausgleichen können.

    Leider sorgen all die Management-Jobs umgekehrt für eine weitgehende Unumkehrbarkeit der Privatisierungen außerhalb von katastrophalen Ereignissen: Zu viele gut bezahlte Jobs als Frühstücksdirektor oder Chief Information Officer der Privatbahn Hintertupfing AG würden verschwinden. Die Leute, die jetzt darauf sitzen, haben ein fast schon existenzielles Interesse daran, dass eine Rückkehr zu einer schlanken, tarifgebundenen öffentlichen Verwaltung nicht passiert.

    Nun: Ein Grund mehr fürs bedingungslose und nicht ehrenrührige Grundeinkommen.

    [1]Das ist schöne postmoderne Diktion für die weitgehend unhinterfragten Vorannahmen, von denen aus alles argumentiert, was, na ja, sagen wir Regierungsfähigkeit behauptet oder ernsthaft Auflage haben will.
  • Namen, die morgen in aller Munde sein könnten: Dansgaard, Oeschger, NGRIP und Heinrich

    Ein Plot von δ18O (zwischen 0 und 2.5 Promille) über dem Abstand von Zentralgrönland (zwischen 0 und 20000) .  Bunte Punkte und schwarze Kreuze versammeln sich fast ausschließlich unterhalb der Diagonalen, eine türkise Gerade deutet eine schwach fallende Tendenz zwischen (0, 2) und (12000, 1.2) an.

    Das ist Abbildung 4 aus dem unten diskutierten Fohlmeister et al-Paper; das „NGRIP“ auf der Abszisse ist (im Effekt) ein Ort in Grönland, auf der Ordinate ist etwas, das mit irgendeiner Sorte Klimaänderung verknüpft sein wird. Mehr dazu unten.

    Ich fürchte, ich lebe im Hinblick auf die Klimawissenschaft ein wenig hinter dem Mond, denn: Ich habe bis neulich noch nie etwas von Dansgaard-Oeschger-Ereignissen (jedenfalls unter diesem Namen) gehört, und das, obwohl die sowohl extrem gruselig sind als auch ziemlich alte Hüte – die das Konzept einführenden Arbeiten sind um 1990 herum erschienen. Auch der Popstar der deutschen Klimawissenschaft, Stefan Rahmstorf, hat schon darüber geschrieben[1].

    Ich hingegen habe erst vor drei Wochen beschlossen, dass ich mir besser mal die Namen „Dansgaard“ und „Oeschger“ merke, bevor deren Unkenntnis eine peinliche Bildungslücke wird („Corona? Wie der Draht im Laserdrucker?“). Da nämlich hörte ich den Beitrag Was Tropfsteinhöhlen über das weltweite Klima verraten in der DLF-Forschung aktuell-Sendung vom 30.8.

    Warum soll mensch sich die Namen merken? Nun, im Rahmen des Klimawandels mag es durchaus sein, dass wir ein „inverses” Dansgaard-Oeschger Ereignis bekommen, über das gegen Ende des DLF-Beitrags der PIK-Klimaforscher Nils Boers sagt:

    Also ich bin da noch nicht überzeugt, dass es wahrscheinlich in diesem Jahrhundert passieren würde, ich bin da eher mit dem letzten IPCC-Bericht, der sagt, dass es in diesem Jahrhundert unwahrscheinlich ist.

    Wenn es denn passiert, dann hätte man, wie auch bei den Dansgaard-Oeschger-Ereignissen, massive Veränderungen der Monsun-Systeme, nur in die andere Richtung. Die intertropische Konvergenzzone würde sich nach Süden verschieben, was im Amazonas und im subtropischen Südamerika zu sehr komplexen Veränderungen der Niederschlagmuster führen würde, wo unklar ist, ob das den Amazonas eher positiv oder eher negativ beeinflussen würde.

    In Afrika ist es eine relativ einfache, vergleichsweise relativ einfache Situation, da würde sich einfach der westafrikanische Monsun so weit nach Süden verschieben, dass die Regionen, die aktuell an diesen Monsun angepasst sind, also auch vor allem die Gesellschaften, die Ökosysteme, dass die wirklich vor massive Probleme gestellt würden. Sehr ähnlich sähe es in Indien aus, ebenfalls massive Niederschlags-Reduktionen und möglicherweise ein Abbrechen des indischen Sommermonsuns, was dann auf einen Schlag über eine Milliarde Menschen sehr negativ beeinflussen würde, und ähnlich würde es auch in Südostasien aussehen.

    In Europa hätte man Abkühlung von, sagen wir mal, zwei bis zehn Grad, je nachdem, wie weit man nach Norden geht, aber in den mittleren Breiten, bei uns, wären die Temperaturunterschiede und auch die Niederschlagsunterschiede eher moderat. Die wirklich schlimmen Folgen wären in den Tropen.

    Dansgaard-Oeschger und ihre Vorgeschichte

    Um zusammenzufassen, was im Beitrag vor dieser Aussage kommt: die Dansgaard-Oeschger-Ereignisse sind Episoden einer sehr raschen (also: während vielleicht so eines Jahrzehnts) Erwärmung während der letzten Eiszeit (für ältere Eiszeiten gibt es, glaube ich, noch keine Daten in entsprechend hoher Auflösung). Die Amplitude dieser Änderung kann in Gegend von Grönland 10 K betragen, global ergeben sich allerlei wilde Wetterkapriolen. So in etwa: El Niño auf Steroiden und im hohen Norden.

    Warum das Klima dann und wann aus eiszeitlichen Verhältnissen in welche aufgetaucht ist, die mehr unseren heutigen ähneln, will offenbar niemand so ganz sicher versprechen, aber mein Außenseiter-Eindruck ist, dass doch alle glauben, der Zustand außerhalb der Dansgaard-Oeschger-Ereignisse sei der, wenn „der Golfstrom aus ist”. Im DLF-Beitrag wird das diskutiert als Unterbrechung der Atlantic Meridional Overturning Circulation (AMOC) – auf Deutsch der thermohalinen Zirkulation im Atlantik.

    Boers' Katastrophenszenario ist also der Zustand, wenn wir umgekehrt mal kurz in den Eiszeit-Grundzustand fallen. Spätestens seit dem Roland Emmerich-Reißer The Day After Tomorrow ist das eine relativ populäre Geschichte, doch den offiziellen Namen dafür habe ich auch erst neulich gelernt: Heinrich-Ereignis.

    In aller Kürze fließt dabei wegen steigender Temperaturen zu viel Süßwasser von Grönland in den Nordatlantik. Dann wird das ehemals warme, normalerweise salzreiche und damit dichtere Wasser aus niedrigen Breiten nicht mehr absinken, weil es zu sehr verdünnt und damit gegenüber dem Tiefenwasser nicht mehr dichter ist. Damit wird es auch nicht mehr untermeerisch zurück nach Süden fließen, und damit kann oben kein warmes Wasser mehr aus dem Süden nachkommen. Wie gesagt: „Golfstrom aus“.

    Wer sich mit der Gaia-Hypothese anfreunden kann, könnte sagen: Die Erde zieht die Notbremse gegen ein Abschmelzen der Eiskappen rund um den Nordpol.

    Reden wir lieber über Sauerstoff-Isotope

    Gegenüber diesen fast schon hollywoodesken Katastrophenszenarien ist das Paper, um das es im Interview eigentlich ging, nachgerade entspannend.

    Es handelt sich um „Global reorganization of atmospheric circulation during Dansgaard–Oeschger cycles“ von Jens Fohlmeister und KollegInnen aus dem Umfeld des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung. Der DOI des Artikels, 10.1073/pnas.2302283120, führt (noch) auf eine Paywall. Wer dank Uni-Angehörigkeit da durch kommt, wird mit einem grässlichen Javascript-PDF-Renderer vom Verlag bestraft (was denken sich die Leute eigentlich? Dass ich mir bei der Wahl meines PDF-Renderers nichts gedacht habe?) Aber freut euch: Das Paper liegt unter (immerhin) CC-BY-NC-ND[2], so dass ich es hier ganz legal vernünftig verbreiten kann.

    Ich habe zunächst schon deshalb einen Haufen Wohlwollen für die Arbeit, weil sie sich zentral auf Archivdaten stützt. Da ich glaube, dass viel zu viele mit großem Aufwand erhobene Daten von viel zu wenig Hirnen überdacht werden, halte ich das für vorbildlich.

    Außerdem kann ich sehr lange über der Abbildung 1 grübeln, in der allerlei Signale in Klimaarchiven korreliert werden mit bekannten Dansgaard-Oeschger-Ereignissen (ihr merkt schon, ich versuche mich hier an Mnemotechnik durch häufiges Ausschreiben). Nicht zuletzt bin ich überrascht, wie viel der Eiszeit in diesen Warm-Einschüben (in Grau) verging. Was sich die damals schon allenthalben herumspringenden diversen Homo-Spezies wohl bei diesen Kapriolen gedacht haben?

    Grübeln kann ich, weil die Korrelation der meisten Signale per nacktem Auge nicht überzeugt: Kann sein, dass da im grauen Bereich was anderes passiert als im weißen, kann aber auch nicht sein. Zugegeben: ordentliche Tests dürften fast immer eine robuste Korrelation ergeben. Für einen spezifischen Satz von Signalen versucht das das Fohlmeister-Paper, und zwar für Veränderungen im Isotopen-Verhältnis von 18O zu 16O, kurz δ18O genannt.

    Isotopentrennung: Warum, wann und, na ja, nochmal warum?

    Die mikroskopische Theorie dahinter ist einfach und plausibel: Ein Wasserteilchen mit dem schweren Sauerstoff ist, wenn es die gleiche Energie hat wie eines mit dem normalen 16er-Sauerstoff („im thermischen Gleichgewicht“, was in der Regel eine ausgezeichnete Annahme ist), etwa 5% langsamer als das normale. Das kommt von der kinetischen Energie E = mv2 ⁄ 2; wenn ihr das nach v auflöst und die Energien gleichsetzt, ist das Verhältnis der Geschwindigkeiten gleich der Wurzel des Verhältnisses der Massen, das hier 0.9 ist.

    Wenn das schwere H₂18O langsamer unterwegs ist, kommt es plausiblerweise weniger leicht aus einem Wassertropfen raus. Es wird daher im zurückbleibenden Wasser angereichert und im Dampf abgereichert sein; je mehr aus einem Wasserkörper verdunstet (also vielleicht: je wärmer es ist), desto höher ist das 18O darin angereichert.

    Zusätzlich ist das 18O, das in den Dampf kommt, ja immer noch langsamer und wird daher eher in beginnenden Tröpfchen steckenbleiben und dann irgendwann runterregnen, so dass das in der Atmosphäre verbleibende Wasser nochmal an schwerem Sauerstoff abgereichert sein wird.

    Fohlmeister et al hoffen zunächst auf den ersten Effekt: Je höher die Temperatur in einer Tropfsteinhöhle, desto höher ist die Verdunstungsungsrate, desto größer die Anreicherung, desto positiver das δ18O-Signal:

    Speleothem [d.h. aus Tropfsteinen] δ18O is enriched compared to δ18O in cave drip water by temperature-dependent fractionation processes during carbonate deposition on speleothem surfaces.

    Wenn das der einzige Dreher am δ18O wäre, wäre das ein ideales Klimasignal, denn – und ich finde das auch immer wieder verblüffend – schon fünf Meter unter der Erde ist vom Jahreszeitengang der Temperatur nichts mehr zu sehen, und vom Wetter schon gar nichts. Leider jedoch ist die Welt nicht so, was Fohlmeister et al durch ihre Qualifikation „compared to δ18O in cave drip water“ reflektieren: Das Wasser kommt ja woher, und die Isotopenzusammensetzung von Regenwasser kann ziemlich schwanken. Der Wikipedia-Artikel mit dem hübschen Titel δ18O sagt nur qualitativ:

    Folglich enthält das Oberflächenwasser der Ozeane in den Subtropen größere Mengen an 18O, denn dort ist die Verdunstungsrate erhöht. Geringere Mengen an 18O gibt es im Ozeanwasser mittlerer Breitengrade, wo es mehr regnet.

    Trotz dieser Vagheit stecken hinter all dem echte Präzisionsmessungen: Bei der englischen Wikipedia findet sich das hier als typische Größenordnungen des 18O-Gehalts:

    Grönländisches Eiswasser 0.1981%
    Luft 0.204%
    Meerwasser 0.1995%

    (wobei ich nicht weiß, ob „Luft“ nur den Wasseranteil der Luft meint; da ist ja glücklicherweise durchaus auch kräftig molekularer Sauerstoff drin). Um nun zu δ18O-Zahlen zu kommen, müssen winzige Signale dieser Art noch voneinander abgezogen werden – es ist beeindruckend, dass bei diesem numerischen Alptraum irgendwas Konsistentes rauskommt.

    Ich glaube, die Arbeit versucht sich mit folgender Passage aus dem Problem wahrscheinlich mit dem Klima schwankenden δ18O im Regenwasser rauszuwinden:

    [E]specially as we investigate climate-driven changes in δ18O of two climate states, climate-independent cave site-specific offsets will cancel. Hence, drip water δ18O variations as derived …
  • Um Größenordnungen daneben

    Das-Boot-ist-voll-Debatten bauen recht typisch nicht nur auf zünftige Dosen Rassismus, sondern auch auf großflächige Dyskalkulie, auf die Unfähigkeit oder den Unwillen also, mit Zahlen zumindest nach Größenordnungen („Kopfzahlen“) umzugehen. In besonders unangenehmen Fällen bauen sie sogar aufs Ausnutzen dieser kleinen Schwächen unter den durch Schulmathematik Geschädigten.

    Welche dieser möglichen Ursachen Stefan Heinleins Fehlleistung heute morgen im Deutschlandfunk verursachte, will ich nicht entscheiden. In der Anmoderation zu seinem Interview mit dem luxemburgischen Außenminister hat er jedenfalls ein Panikbild gezeichnet, das sich mit ein, zwei Kopfzahlen sofort als um Größenordnungen falsch zeigt:

    0.01% der Fläche des Saarlands. Das sind 20 Quadratkilometer. Das ist die Größe der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa. Ein winzig kleine Insel also […] Seit Wochen kommen täglich viele hundert Menschen auf ihren rostigen Booten…

    Mit Kopfzahlen klaren Kopf schaffen

    Wer nun meine Flächen-Kopfzahlen parat hat, wird sich wundern, denn Heinlein behauptet ausgeschrieben, das Saarland habe eine Fläche von 20/0.0001, also 200'000 Quadratkilometern, zu vergleichen mit der BRD insgesamt bei 350'000 km² (Saarland mehr als die Hälfte der BRD? Das wüsste ich.) und Baden-Württemberg als typisches Flächenland bei einem Zehntel davon. Da das Saarland wiederum eher so ein Zehntel eines normalen Flächenlandes ist, wird Heinlein zwei Größenordnungen (ein Faktor 100) danebenliegen.

    Tatsächlich bietet der Wikipedia-Artikel zum Saarland als dessen Fläche 2'569 km² an. 0.01% davon sind ein bisschen mehr als zwei Hektar oder eine größere Sandbank, eine Beschreibung, die auf das wirkliche Lampedusa ganz offensichtlich nicht zutrifft. Dort gibt es sogar einen Flugplatz, von dem aus „viele hundert Menschen“ am Tag unschwer auszufliegen wären. Wenn das denn wer wollte, der_die Flugzeuge hat.

    Nachtrag (2023-09-21)

    Ah… hier hat mich der Furor hingerissen. 1 km² sind nicht zehn, sondern hundert Hektar, und mithin wären die 0.01% nicht zwei, sondern 20 Hektar, wie hend unten ganz richtig bemerkt, und das beginnt schon, eine Insel zu werden. Vielen Dank für die Korrektur, die angesichts meines mokanten Spottes um so willkommener ist.

    Bei Debatten, die bereits von hysterischem Panikkeuchen geprägt sind – in den Informationen am Morgen heute zähle ich nicht weniger als fünf Beiträge zur Migration über das Mittelmeer – darf mensch, so finde ich, auch im turbulenten Redaktionsalltrag Sorgfalt auf einen Faktor fünf erwarten. Noch besser ist es natürlich, sensationsheischende Aufmacher dieser Art ganz zu lassen, jedenfalls bei Themen, um die sowieso schon ein dichter Nebel reaktionärer Phantasmen wabert.

    Eine realistische Betrachtung

    Wie wäre es stattdessen mit der viel ruhigeren Abschätzung, was diese 8'500 „zusätzlichen“ Menschen in Lampedusa eigentlich für die EU als Ganze bedeuten?

    Eine nützliche Art, sich Demographie zu vergegenwärtigen, ist die Einsicht, dass Menschen knapp 100 Jahre alt werden – um einen Faktor zwei darf mensch bei qualitativen Argumenten immer danebenliegen, nur halt nicht um einen Faktor 100. Das heißt aber, dass in einer mehr oder minder zufällig aus einer mehr oder minder stabilen Gesamtpopulation gezogenen Gruppe jedes Jahr etwas mehr als 1% der Menschen sterben bzw. geboren werden – oder jeden Tag etwas wie ein Mensch von 30'000. In einer Stadt wie Heidelberg (160'000 EinwohnerInnen, nicht drastisch viel jünger oder älter oder ärmer oder reicher als der Rest der Republik) sollten also jeden Tag eine Handvoll Menschen geboren werden und in einer ähnlichen Zahl auch sterben.

    Die EU hat nun rund 500 Millionen EinwohnerInnen. Mithin bringen die Frauen in der EU, stabile Bevölkerungszahl angenommen, jeden Tag 5⋅108 ⁄ 3⋅104 oder etwas wie 15'000 Menschen zur Welt. Das war von der Größenordnung her auch schon vor 20 Jahren so, und damit müssten „wir“ ohnehin dafür sorgen, dass jeden Tag 15'000 Menschen zum Beispiel eine Wohnung finden (wenn sie mit um die 20 ausziehen wollen). Die „täglich viele hundert Menschen“ aus Heinleins atemloser Anmoderation fallen in dieser Menge nicht weiter auf – außer vielleicht durch ihr Äußeres, aber selbst das dürfte ein Problem der Vergangenheit sein.

    Nachtrag (2023-12-22)

    Um die Fluchtbewegungen in ein Verhältnis zu diesen 15'000 pro Tag zu bringen: Eurostat berichtet für den August 2023 - also etwa die Zeit des DLF-Beitrags – von „über 91 700“ Erstanträgen auf Asyl in der EU, also immerhin 3000 am Tag; beeindruckend, dass es doch so viele hinkriegen. Damit würden, wenn die schließlich Asylrecht bekämen (was deprimierend selten der Fall ist), 20% mehr Menschen (sagen wir) Wohnung suchen als ohne diese Sorte Einwanderung. Das ist mehr, als ich per Bauchgefühl vermutet hätte, aber sicher auch kein qualitativer Sprung.

    Zugegeben klappt das mit dem Obdach für die „eigenen“ 15'000 Menschen in der EU und ihrem Wohnungsmarkt schon ganz ohne Migration ziemlich schlecht; Marktwirtschaftsgläubige mag es daher freuen, wenn für die Wohnmisere gerade der Ärmeren andere Schuldige als der offensichtliche (Tipp: in „Wohnungsmarkt“ ist der Teil mit „Wohnung“ der, den mensch haben will) zur Verfügung stehen. Aber die sinnvolle Nutzung von Rohstoffen, Arbeitskraft und Fläche, um Menschen freundlichen Wohnraum zu geben oder diesen jedenfalls nicht zu zerstören – das ist schon wieder ein weites Feld für möglicherweise kalkulierte Dyskalkulie.

  • Zum Antikriegstag: Von Aretha Franklin zu antipatriotischen Gedanken

    Ein Gazebo mit einem Transparent dran: „Internationaler Antikriegstag 1. September 2001.  Wir bleiben dabei: Nein zum Krieg“, dahinter eine Fußgängerzonenszene.

    Als PazifistIn kommt mensch aus dem Told-you-so-Sagen gar nicht mehr raus: Kaum zwei Wochen nach der überschaubaren Heidelberger Kundgebung zum Antikriegstag 2001 – heute vor 22 Jahren – erklärten weltweit viele Herrschende den „Krieg gegen den Terror“. Ich denke, niemand wird bestreiten, dass die Welt jetzt viel besser wäre, wenn sie das gelassen hätten.

    Im Deutschlandfunk-Kalenderblatt vom 16. August 2023 erinnerte Andrea Klasen an den zehnten Todestag von Aretha Franklin. Im Beitrag heißt es:

    Aretha Franklins Weg zum Ruhm ist steinig. Sie wird im März 1942 in Memphis, Tennessee, geboren, hinein in ein Elternhaus voller Musik.

    Als Klasen gegen Ende sagte:

    Am sechzehnten August 2018 stirbt die Soul-Diva mit 76 Jahren in ihrer Heimatstadt Detroit.

    habe ich zuerst gedacht: „Holla, aber es hieß doch am Anfang, Franklin sei in Memphis geboren worden? Hat Klasen nicht aufgepasst?“

    Dann aber kam mir, dass der Text vielleicht eine fortschrittlichere Interpretation des ja wahrlich bestenfalls grenzwertigen Begriffs „Heimat“ anwenden wollte, namentlich weniger Blut und Boden, Eltern und Geburtsort, stattdessen mehr „Wo gefällt es dir eigentlich und wo wohnst du?“

    Das wäre ein sehr erheblicher Fortschritt gegenüber der Sorte von Heimat, die beispielsweise im Namen der (zum Glück stark sklerotischen) Verbände der „Heimatvertriebenen“ lauert. Die dort gewählte Interpretation führt(e) zum Glauben, der Geburtsort lege fest, wo allein auf der Welt ein Mensch glücklich werden könnte, weshalb er oder sie auch dringend Anspruch darauf hat, dort Grund besitzen zu können. Für die „Heimatvertriebenen“ kam dazu, dass die Leute, die seit den jeweiligen Befreiungen der diversen „Heimaten“ von der deutschen Herrschaft dort wohnten, ihnen, also den Rückkehrenden, gefälligst hätten weichen sollen.

    Tja: Leider habe ich Klasens Intention wohl überinterpretiert. Auf meine Frage nämlich, was Franklin wohl in die post-autoindustrielle Wüste Detroit gezogen haben könnte, antwortet die Wikipedia, dass bereits ihre Eltern dorthin gezogen waren, und zwar als es noch eine autoindustrielle Wüste war. So lässt sich aus dem Beitrag eher kein entspannteres Konzept von Heimat belegen.

    Aber natürlich auch nicht sein Gegenteil, zumal ein identitätsreduzierter Heimatbegriff keineswegs neu ist: „Ubi bene ibi patria“, meine Heimat ist, wo immer es mir gut geht, war schon im republikanischen Rom eine Parole gegen auch damals grassierendes Blu-Bo-Säbelrasseln. 1848 drehten Marx und Engels die heimatfeindliche Aufklärung etwas weiter, als sie im Kommunistischen Manifest schrieben: „Die Arbeiter haben kein Vaterland“.

    Nach weiteren 170 Jahren, in denen sich Menschen abgemetzelt haben, weil irgendwelche Grobiane ihnen erzählt haben, sie müssten irgendwelche Heimaten oder Vaterländer „verteidigen” (realistisch: in Schutt und Asche legen), möchte ich zum heutigen Antikriegstag eine Fusion vorschlagen. In Küchenlatein wäre das „ubi patria ibi stupor“, in zeitgenössischem Deutsch Vaterland ist für Deppen.

    Ich habe versucht, diesen entschlossenen FriedensdemonstrantInnen bei der Heidelberger Antikriegstag-Kundgebung 2023 meinen neuen Spruch nahezubringen:

    Ein gutes Dutzend Playmobil-Figuren mit Pace-Fahnen in den Händen.

    Ich hatte keinen Erfolg. Was sind eigentlich die aktuellen PISA-Ergebnisse für Latein? Bestimmt ganz schlimm!

  • Warum CRISPR im Elfenbeinturm bleiben sollte: Entholzte Pappeln

    Zur Frage technischer Lösungen sozialer Probleme – sagen wir: Klimawandel –, die mich neulich bewegt hat, ist mir gestern noch eine bemerkenswerte Ergänzung untergekommen, und zwar in den Deutschlandfunk-Wissenschaftsmeldungen vom 14.7. Darin hieß es:

    Mit Hilfe der Gen-Schere CRISPR sollen Bäume nachhaltiger werden.

    Ein Forschungsteam der North Carolina State University hat Gen-Scheren eingesetzt, um einen Baum mit möglichst idealen [!] Holzeigenschaften [!] zu entwickeln [!].

    Die Holzfasern der genomeditierten Pappeln sollen sich besonders gut für die Verarbeitung eignen, zum Beispiel in der Papierindustrie oder sogar für Windeln. Dabei entsteht möglichst ebenmäßiges Material mit einem geringen Anteil an Lignin, einem besonders harten holzigen Bestandteil von Bäumen. Laut der Publikation im Fachmagazin Science könnten durch den Einsatz der genmodifizierten Holzfasern die Emissionen in der Holzverarbeitung deutlich gesenkt werden.

    Ich finde, diese Meldung illustriert ganz gut, warum Hoffnungen auf „Innovationen“ zur Erreichung von mehr „Nachhaltigkeit“ so lange Illusionen sind, wie wir nicht von der Marktwirtschafts- und Wachstumslogik loskommen: Die „Nachhaltigkeit“ von der die Redaktion hier redet, besteht nur in einer weiteren Intensivierung unserer Dienstbarmachung der Natur, mithin also in weiteren Schritten auf dem Weg ins Blutbad (ich übertreibe vermutlich nicht).

    Und dabei habe ich noch nicht die Geschacksfrage erwogen, wie freundlich es eigentlich ist, irgendwelche Organismen so herzurichten, dass sie besser zu unseren industriellen Prozessen passen, Organismen zumal, die uns über Jahrhunderte unsere Wege beschattet und Tempolimits erzwungen haben:

    Eine Pappelallee mit breiter Auto- und akzeptabler Fahrradspur, im Vordergrund ein dickes Schild mit Geschwindigkeitsbegrenzung 70.

    Die Pappelallee auf dem Damm, der die Bodenseeinsel Reichenau mit dem Festland verbindet, im Juli 2019 bereits mit einem akzeptablen Fahrradweg.

    Statt also einfach viel weniger Papier zu produzieren und nachzudenken, wie wir von der ganzen unerfreulichen Einwegwindelei runterkommen, ohne dass das in zu viel Arbeit ausartet, machen wir lieber weiter wie bisher. Was kann schon schiefgehen, wenn wir riesige Plantagen ligninarmer Gummipappeln im Land verteilen, damit wir weiter Papier verschwenden und unsere Babys in Plastik verpacken können? Ich erwähne kurz: Bäume machen das Lignin (wörtlich übersetzt ja in etwa „Holzstoff“) ja nicht aus Spaß, sondern weil sie Struktur brauchen, um in die Höhe zu kommen.

    Die Schote liefert auch ein gutes Argument gegen die Normalisierung von CRISPR-modifizierten Organismen in der Agrarindustrie, die in diesen Kreisen immer weniger verschämt gefordert wird. Es mag ja gerne sein, dass ein ganzer Satz Risiken wegfällt, wenn mensch nicht mehr wie bei der „alten“ Gentechnik dringend Antibiotika-Resistenzgene zur zielgerichteten DNA-Manipulation braucht. Das fundamentale Problem aber bleibt: CRISPR gibt Bayer und Co längere Hebel, und die setzen die natürlich nicht ein, um die Welternährung zu retten – das ist ohnehin Quatsch, weil diese eine Frage von Verteilung, „Biosprit“ und vielleicht noch unserem Fleischkonsum ist und Technologie in allen diesen Punkten überhaupt nicht hilft. Sowieso nicht werden sie Pflanzen herstellen, die die BäuerInnen im globalen Süden besser durch Trockenzeiten bringen werden, Pflanzen gar, die diese selbst nachziehen und weiterentwickeln können („aber… aber… denkt doch an das geistige Eigentum!“).

    Nein. Sie werden den langen Hebel nutzen für Quatsch wie Pappeln, schneller einfacher zu gewinnendes Papier liefern – und das ist noch ein guter Fall im Vergleich zu Round up-Ready-Pflanzen (die höhere Glyphosat-Dosen aushalten) oder Arctic Apples (deren einziger Zweck zu sein scheint, dass Supermärkte ein paar mehr arme Schweine zum Apfelschnippeln hernehmen können, um nachher lecker-weiß leuchtende Apfelschnitzen teurer verkaufen zu können).

    Wie der industrielle Einsatz von CRISPR zu beurteilen wäre, wenn die dadurch verfolgten Zwecke ökologisch oder wenigstens sozial akzeptabel wären, kann dabei dahingestellt bleiben. Solange die Technologieentwicklung im Allgemeinen durch Erwägungen von „Märkten“ getrieben wird, ist es für uns alle besser, wenn allzu mächtige Technologien scharf reguliert sind. Und das gilt schon drei mal für Kram mit einem so langen Hebel wie CRISPR.

    Schließlich: Wenn ihr in die Meldungen reinhört, lasst sie doch noch laufen bis zu diesem genderpolitischen Offenbarungseid:

    Laut der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA ist fast die Hälfte aller Schwangerschaften in den USA ungewollt.

    Das passiert, wenn du ChristInnen deine Lehrpläne gestalten lässt – und es ist weiterer Hinweis darauf, dass reproduktive Selbstbestimmung ein zentraler Baustein einer menschenwürdigen Gegenwart und Zukunft ist.

  • Die Heilige Ursula, ein großes Gemetzel und das Musée de l'Œuvre Notre-Dame in Straßburg

    Als ich neulich mit meinem Museumspass in Straßburg war (zuvor: zum Musée Historique) habe ich mir auch im Musée de l'Œuvre Notre-Dame allerlei Sehenswertes rund um das Straßburger Münster zu Gemüte geführt. In Analogie zum Speyrer Domschatz und zur entsprechenden Einrichtung in Basel erlaube ich mir, das Haus für diesen Post „Münsterschatz“ zu nennen, weil ich zu faul bin, dem Œ eine angemessen beqeueme Tastenkombination zu geben.

    Ich will vorneweg den meist tatsächlich sinnvollen Technik-Einsatz in diesem Museum loben: VR-Brillen, die schwindelerregende Blicke in den Turm erlauben, AR-Tablets, die einen Eindruck von der ursprünglich bunten Erscheinung einiger Statuen geben, kleine 3D-Monitore mit Hologrammen rekonstruierter Kunstwerke und – ganz Messing und Glas – ein Teleskop mit Blick aufs echte Münster.

    Besser erzählen lassen sich aber andere Geschichten, so etwa die der heiligen Ursula und ihrer 11'000 „Jungfrauen“, die, so jedenfalls eine Fassung der Legende, beim Versuch, die auf Köln anstürmenden Hunnen zu befrieden im 4. Jahrhundert den Märtyrertod gefunden haben sollen. Im Münsterschatz sieht das in Mittelalter-typisch fragwürdiger Perspektive so aus:

    Bild in mittelalterlichem Stil: Männer tragen ziemlich steif liegende, jeweils mit einer Speer- oder Pfeilspitze durchbohrte Frauen weg.  Alle Frauen haben einen Heiligenschein.

    Natürlich ist die morbide Prämisse von massenhaftem Opfertod unerfreulich, und ich habe zumindest starke Zweifel, ob die Schlachtfelder im vierten (oder fünfzehnten) Jahrhundert tatsächlich nur oder auch nur wesentlich von Männern aufgeräumt wurden.

    Andererseits stellt das Bild eine theologische und keine historische Szene dar, und so ist vorliegend die Frage viel spannender, ob Heiligenscheine wirklich nach dem Tod weiterschimmern, ob diese also an den Körper oder nicht doch eher die „Seele“ – wir befinden uns ja tief in nichtmaterialistischem Terrain – gebunden sind. Wer dazu Lehrmeinungen kennt, möge sie einsenden.

    Der kommerzielle Wert eskalierender Opferzahlen

    In Wirklichkeit hat mich das Bild aber aus einem ganz anderen Grund hingerissen. Es hat mich nämlich daran erinnert, dass die auch nach Maßstäben von frommen Legenden exorbitante Märtyerinnenzahl bei der Ursulageschichte plausiblerweise einen profund materiellen Hintergrund hat.

    Jetzt gerade erklärt die Wikipedia dazu:

    Die Zahl 11.000 geht möglicherweise auf einen Lesefehler zurück. In den frühen Quellen ist gelegentlich von nur elf Jungfrauen die Rede. Deshalb wurde vermutet, dass die Angabe „XI.M.V.“ statt als „11 martyres virgines“ fälschlich als „11 milia virgines“ gelesen wurde. Allerdings berichtet Wandalbert von Prüm bereits 848 über Tausende (millia) von getöteten Heiligen.

    Ich möchte eine andere Version der Geschichte anbieten, die ich vor Jahren in einem längst vergessenen Köln-Reiseführer gelesen habe und die zu gut ist, um nicht erzählt zu werden, auch wenn sie aus Gründen bis dahin unzureichender wirtschaftlicher Erholung ziemlich klar nicht vor Wandalberts Berichten aus dem Jahr 848 stattgefunden haben kann – aber wer weiß schon, ob wir heute wirklich lesen, was Wandalbert geschrieben hat?

    Wichtig dabei ist, dass St. Ursula in Köln etwas außerhalb der römischen Stadt CCAA[1] liegt, deren Nordmauer sich weiter südlich etwa beim heutigen Dom befand. Gleich um die Ecke der Kirche verläuft die heutige Straße Eigelstein, die auf der Trasse der Römerstraße von der CCAA Richtung der Colonia Ulpia Traiana (also, Stadt-Land-Fluss-SpielerInnen aufgepasst: Xanten) verläuft. Menschen mit Römerfimmel mögen ahnen, was jetzt kommt, denn entlang ihrer Ausfallstraßen haben die Römer ihre Toten[2] begraben. Tatsächlich war der eponymische Eigelstein ein bis in die Neuzeit auffälliges römisches Monumentalgrab. Der Boden unter St. Ursula ist also voll von römischen Knochen.

    Soweit die Fakten. Die Geschichte des Reiseführers war nun, dass die Originallegende der Ursula elf Gefährtinnen mitgab – die Wikipedia erwähnt ja auch diese Möglichkeit. Irgendwann hätten dann geschäftstüchtige ReliquienherstellerInnen versucht, die Knochen der zwölf Frauen bei St. Ursula zu finden, was ihnen dank der römischen Bestattungspraktiken leicht gelang.

    Nachdem das Geschäft mit den mutmaßlichen Überresten der Heiligen gut ging, gruben die Leute weiter. Da die CCAA eine große Stadt war, hatte es auch viele Tote gegeben und mithin auch viel Leichenbrand oder – aus der vergleichsweise kurzen christlichen Zeit der CCAA, als die Brandbestattungen außer Mode kamen – auch komplette Skelette. So fanden sich in der Umgebung von St. Ursula zu viele Knochen für zwölf Menschen, so viele gar, dass es ein Jammer gewesen wäre, das Geschäft aufzugeben. Und so sorgten die ReliquienherstellerInnen kurzerhand dafür, dass die Zahl der Jungfrauen in der offiziellen Legende verzehnfacht wurde.

    Das Spiel der Expansion der Metzelerzählung wiederholte sich, während das Geschäft exponentiell wuchs, bis es irgendwem bei 11'000 heiligen Märtyrerinnen offenbar zu dumm wurde oder der Preis für Duodezreliquien unter die Profitabilitätsschwelle gefallen war. Am Schluss jedenfalls landeten wirklich absurde Mengen menschlicher Überreste in der „goldenen Kammer“ von St. Ursula, in der die Wände mit Schädeln und Knochen tapeziert sind:

    Aus allerlei verschiedenen wohl meist menschlichen Knochen gestaltete Muster an einer Wand; ein paar Kunstköpfe stehen auf einem Fries.

    Eine Wand der goldenen Kammer von St. Ursula in Köln; CC-BY-SA 3.0 Hans Peter Schäfer

    Zumindest als ich vor ein paar Jahren mal in Köln war, war die leicht gruselige Installation noch öffentlich zugänglich. Für Menschen, die sich gerne von der katholischen Kirche entfremden wollen, ist das ein lohnender Besuch. Ob hingegen die Geschichte vom Großmassaker wirklich einen ökonomischen Hintergrund hat: Wer weiß?

    Wo Wikipedia-AutorInnen fehlgehen

    Widersprechen möchte ich – auch wenn es weit vom Münsterschatz wegfürt – der Passage

    Eine weitere Grabung [nach noch mehr Reliquien von Ursula und ihrer Schar] wurde zwischen 1155 und 1164 durch die Deutzer Benediktiner im Auftrag von Erzbischof Arnold II. durchgeführt. Dabei fanden sich neben Frauen natürlich auch Männer und Kinder-Gebeine.

    aus dem aktuellen Wikipedia-Artikel zur heiligen Ursula. Ich würde noch zugestehen, dass Knochen von Kindern mit den Mitteln des zwölften Jahrhunderts von denen Erwachsener unterscheidbar waren. Eine Geschlechtsbestimmung hingegen war aussichtslos. Die klappt notorisch nicht mal mit Methoden modernerer Archäologie, wie sich regelmäßig zeigt, wenn irgendwo genetische Analysen einziehen – und selbst dann bleibt es schwierig, wie etwa die Debatte um den_die „Krieger(in) von Birka“ zeigt (vgl. z.B. doi:10.1002/ajpa.23308).

    Es bleibt, aus einem Beitrag über ein spanisches Kupferzeit-Grab in DLF-Forschung aktuell vom 7. Juli diesen Jahres zu zitieren, in dem Christiane Westerhaus lapidar feststellt:

    Zu oft projizierten Forscher ihr eigenes Rollenbild auf die Wissenschaft.

    Da das für mittelalterliche Benediktinermönche sicher nochmal verschärft gilt, wäre ich versucht, die Stelle in der Wikipedia zu

    Etliche der dabei auftauchenden Knochen klassifizierten die Mönche auch als die Überreste von Männern.

    zu korrigieren. Mal sehen, ob ich dieses Fass aufmachen möchte.

    Hunde am Münster

    Der Straßburger Münsterschatz hat nicht nur meine Erinnerung an die wilde Ursula-Geschichte aus Köln aufgefrischt, sondern auch den etwas piefigen Goethe- bzw. Dumont-Claim „Man sieht nur, was man weiß“ dick unterstrichen. Ich war nämlich ziemlich überrascht, als im Museum immer wieder Hunde-Plastiken zu sehen waren, darunter einige, denen ich durchaus ein gewisses Viralitätspotenzial zusprechen würde:

    Eine Sandsteinfigur eines Hundes mit Schlappohren und extrem großen Augen.

    Der Begleittext erläutert, dass diese Figuren viele der zahlreichen Dachspitzen des in glorioser Zuckerbäckergotik erbauten Münsters zieren. Das war mir nie vorher aufgefallen, auch nicht, als ich vor Jahren mal hochgestiegen bin.

    Als ich aber wieder vor der Tür des Münsterschatzes und mithin vor dem Münster selbst stand, fiel mir sofort das hier ins Auge:

    Eine Sandsteinfigur eines Hundes auf einer Turmspitze vor dem Hintergrund einer gotischen Fassade.

    – und gleich danach bemerkte ich viele weitere Hunde oder hundeartige Wesen auf allen möglichen Spitzen. Wo sie mir mal aufgefallen waren, konnte ich nicht mehr verstehen, wie mir diese Merkwürdigkeit vorher hatte entgehen können. Gruselige Wasserspeier, klar, das ist ja praktisch die Definition von Gotik – wer guckt da noch hin? Aber Hunde auf allen Türmen? Wer hat sich das ausgedacht? Und warum?

    Was nicht mehr im Münsterschatz ist

    Gerade im Vergleich mit dem Domschatz in Speyer fällt auf, dass im Straßburger Münsterschatz praktisch nichts Goldenes ausgestellt wird. Es gibt demgegenüber haufenweise Steine, ein wenig Plunder aus verarbeitetem Elfenbein und noch ein paar Objekte, bei denen sich viele wünschen werden, sie hätten sie nicht gesehen. Ich führe mal dieses, nun, „Objekt“ aus dem Besitz eines der Fürstbischöfe als Beispiel an:

    Eine Plastik eines silberfarbenen Stiefels mit einer Spore und einem relativ hohen Absatz

    Der Grund für die Abwesenheit allzu prunkvoller Albernheiten ist einfach: in Straßburg hatten die Leute 1789ff eine zünftige Revolution – ich hatte dazu ja neulich schon philosophiert. Bei der Gelegenheit haben die dritten und vierten Stände dem fürstbischoflichen Hof einen Besuch abgestattet und den Kram, der wertvoll oder nützlich erschien, rausgetragen und vergesellschaftet.

    Besonders beeindruckend fand ich, dass sie die Bücher aus dem Palais Rohan, dem Amtssitz des Fürstbischofs, in die bürgerliche Stadtbücherei integriert haben. Schade allein, dass sie dort verbrannt sind, wenn ich mich recht entsinne, aufgrund des Wütens der deutschen Truppen von 1870 (auch dazu vgl. neulich) – aber das ist den RevolutionärInnen nun wirklich nicht vorzuwerfen.

    Wer mehr über diese Geschichte wissen will, sollte ins Straßburger Kunstgewerbemuseum (Musée des Arts décoratifs) gehen, in dem der Raum der damals sozialisierten Bibliothek heute (für 7.50 oder halt einen Museumspass) zugänglich ist Vielleicht habe ich dazu demnächst noch etwas mehr zu sagen.

    [1]Also Colonia Claudia Ara Agrippinensium, der volle Name des antiken Kölns. Der war schon deren Bewohnern zu lang, weshalb die Abkürzung CCAA tatsächlich auf etlichen Weihesteinen und Bauinschriften überliefert ist.
    [2]Respektive das, was von ihnen, also den Toten, nach der in heidnischen Zeiten obligatorischen Brandbestattung übrig geblieben ist.
  • Antisprache: Arbeitsplätze

    Unter all den eigenartigen Ritualen des politischen Diskurses verwundert mich so ziemlich am meisten, dass „gefährdet Arbeitsplätze“ fast universell als Argument gegen eine Maßnahme, als ultimativer Warnruf gilt. Lasst mich einige der befremdlicheren Zitate den DLF-Presseschauen des vergangenen Jahres anführen:

    …ganze Branchen wegen ihres hohen Gasverbrauchs in Existenznot, tausende Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel.

    —Rheinische Post (2022-10-11)

    In diesem Sinne ist es ein Ansporn, schnell gute, neue Produkte zu entwickeln, die den großen Teil der Arbeitsplätze sichern.

    —Badische Zeitung (2023-02-15)

    Die Politik muss aufpassen, dass sie nicht deutsche Arbeitsplätze opfert…

    —Reutlinger General-Anzeiger (2023-02-15)

    …wie einst bei der Solarbranche der Ausverkauf der deutschen Wärmepumpenindustrie bevorsteht und Arbeitsplätze sowie hoch spezialisiertes Wissen abwandern.

    —Rhein-Zeitung (2023-04-27)

    Was da in einen negativen Kontext gestellt wird, ist nüchtern betrachtet: Leute müssten weniger arbeiten, und das meist ohne erkennbar negative Folgen. Ist das nicht ganz offensichtlich eine gute Sache?

    Es schimpfen doch fast alle Menschen mehr oder weniger deutlich über ihre Lohnarbeit, oder? Obendrauf habe ich schon zu oft gehört, Leute würden ja den Rest der Welt schon gerne vor ihrem Auto verschonen, aber die Lohnarbeit zwinge sie, sich jeden Morgen in ihren Blechkäfig zu setzen. Und das muss dringend geschützt und gehegt werden?

    Obendrauf gibts allerlei Wunder, die Arbeit sparen: Staubsaug- und Rasenmähroboter, Lieferdienste und vielleicht irgendwelche Apps. Die wiederum gelten als „Innovation“ und damit irgendwie gut (mehr Antisprache dahingestellt). Wie geht es zusammen, dass einerseits Leute weniger arbeiten möchten, andererseits aber Möglichkeiten, wie sie weniger arbeiten könnten, an Bedrohlichkeit über dem Weltuntergang stehen („Klimaschutz darf keine Arbeitsplätze kosten”, „Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie“)?

    Ein Minimum an Lohnarbeit

    Die Antwort: Gar nicht. „Arbeitsplatz“ ist ein klassischer Fall von Antisprache, also Wörtern und Phrasen, die Information nicht übertragen, sondern annihilieren. Der Antisprache von den Arbeitsplätzen gelingt es, die Information zu annihilieren, dass wir längst die Technologie und wahrscheinlich auch die soziale Reife hätten, um allen Menschen mit einem Minimum an Lohnarbeit[1] ein ökologisch vertretbares Leben ohne Existenzsorgen zu ermöglichen. Dass der Lebensunterhalt an „Arbeitsplätze“ gebunden ist, ist mithin eine überflüssige, grausame und gefährliche Konvention, die durch ehrlichere Wortwahl sichtbar gemacht werden könnte.

    Ein „Minimum an Lohnarbeit“ hat übrigens fast nichts mit der drei- oder vier-Tage-Woche zu tun, die die taz gestern mal wieder erwähnt hat, denn diese bleibt dem alten Mechanismus des Kapitalismus verhaftet. Dabei werden Waren produziert oder Dienstleistungen erbracht, weil manche Leute („Unternehmer“) reich werden wollen und nicht etwa, weil Menschen sie brauchen und das Zeug nicht allzu schädlich ist. So kommt es, dass wir schockierende Mengen von Arbeitskraft und Natur verschwenden auf jedenfalls gesamtgesellschaftlich schädliche Dinge wie Autos, andere Waffen, Einfamilienhäuser, fast fashion, Zwangsbeflimmerung und das rasende Umherdüsen in überengen fliegenden Röhren.

    Es ist die Konvention, Menschen durch Drohung mit dem Entzug ihres Lebensunterhalts[2] dazu zu zwingen, all den unsinnigen Krempel herzustellen, die auch dafür sorgt, dass „wir“ uns eine überflüssige Lohnarbeit nach der anderen einfallen lassen. Meist sind das „Dienstleistungen“ (auch so ein schlimmes Wort), was dann immerhin manchmal nicht ganz so schädlich ist wie der ganze überflüssige Quatsch (Autobahnen, Konferenzzentren, Ultra-HD-Glotzen) auf der Produktionsseite[3].

    Ein eher harmloser Nebeneffekt des Ganzen beschäftigte übrigens Casper Dohmen und Hans-Günther Kellner im Deutschlandfunk-Hintergrund vom 23.6., der sich ebenfalls an weniger Arbeit trotz Kapitalismus abarbeitete:

    In den neunziger Jahren betrug die Produktivitätssteigerung in Deutschland im Schnitt noch mehr als zwei Prozent jährlich, seitdem weniger als ein Prozent. Die Entwicklung ist typisch für hoch entwickelte Industriestaaten. Das liegt daran, dass es schon länger keine wesentlichen Innovationen gab, mit denen sich die Produktivität erhöhen ließe.

    Schon die Antisprache von den „Innovationen“ lässt ahnen, dass das in der ganz falschen Richtung sucht – auch wenn das Rationalisierungspotenzial durch Rechner im Bürobereich tatsächlich drastisch überschätzt ist (Bob Solow: „You can see computers everywhere except in the productivity statistics“).

    Aber den eigentlich notwendigen Kram kriegen wir mit wirklich beeindruckend wenig menschlichem Aufwand und also atemberaubender Produktivität hergestellt. Letztes Wochenende etwa hat ein Mensch das Getreidefeld neben meinem Gärtchen (grob „ein Morgen“ oder ein halber Hektar) in der Zeit abgeerntet, in der ich fünf Codezeilen geschrieben habe. Natürlich muss mensch noch die Arbeitszeit dazurechnen, die im Mähdrescher und dessen Sprit steckt, aber auch die wird sich, auf die Flächen umgelegt, die mit der Maschine bearbeitet werden, zwanglos in Minuten messen lassen.

    Nein, der Grund für die mehr oder minder stagnierende Produktivität der Gesamtgesellschaft (kurzerhand definiert als Bruttoinlandsprodukt pro Arbeitsstunde) ist die Ausweitung des Niedriglohn-Sektors, sind Jobs wie Lieferdienste, „Juicer“ (dass Menschen für sowas Lebenszeit opfern müssen, beschämt mich zutiefst), Wachdienste, also das gesamte Jobwunder im Gefolge von Hartz IV: Wer für eine Handvoll Euro viele Stunden arbeiten muss, senkt natürlich den Durchschnitt von BIP/Zeit, und wenn das erschreckend viele sind, wird das auch nicht mehr von den paar Leuten mit Salären im 104 Euro/Stunde-Bereich ausgeglichen[4]. So erklärt sich übrigens das „neunziger Jahre“ versus „seitdem“ aus dem DLF-Beitrag ganz natürlich: Die Schröder-Regierung hat die Hartzerei zwischen 2002 und 2005 eingephast.

    Es sind also gerade all die „Innovationen“ vom Schlage zu juicender Elektroroller, die die Produktivität drücken. Natürlich wird das nichts mit BIP/Arbeitsstunde, wenn ein wesentlicher Teil der Menschen in privatwirtschaftlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen stecken, für die jetzt wirklich niemand viel Geld bezahlen will.

    In Klarsprache übersetzt

    Wozu also führen wir die Tragikomödie mit dem Lohnarbeitszwang auf? Sachlich, damit sich ein paar Grobiane gut fühlen, weil das Bruttoinlandsprodukt ihres Landes steigt, und ein paar andere, weil ihr Kontostand wieder ein paar Milliarden ihrer bevorzugten Währung mehr zeigt.

    Letzteres ist wiederum besonders verdreht, denn so viel Geld könnten diese Leute nie für tatsächliche Waren ausgeben, schon, weil es gar nicht so viel zu kaufen gibt außerhalb von mondbepreisten Kunstwerken, Aktien und Immobilien, deren Kosten in überhaupt keinem Verhältnis mehr stehen zur in ihnen vergegenständlichten Arbeit.

    Die Antisprache von den Arbeitsplätzen wirft in Summe einen dicken Nebel rund um etwas, das schlicht ein hässliches Erbe der trüben Verangenheit ist. Wie so oft bei Antisprache lichtet sich der Nebel um groteske Sachverhalte schon, wenn mensch einfach die Antisprache ersetzt durch Wörter mit der jeweils zutreffenden Bedeutung. Ich habe das mal mit ein paar der Presseschau-Texte gemacht:

    In diesem Sinne ist es ein Ansporn, schnell gute, neue Produkte zu entwickeln, die viel Arbeit machen.

    —nicht Badische Zeitung (2023-02-15)

    …wie einst bei der Solarbranche der Ausverkauf der deutschen Wärmepumpenindustrie bevorsteht und sich danach andere Menschen als wir plagen müssen sowie hoch spezialisiertes Wissen abwandert.

    —nicht Rhein-Zeitung (2023-04-27)

    Die beiden Zitate könnt ihr im Original oben nachlesen. Vergleicht mal. Und dann ratet, wie die folgenden Zitate wohl wirklich ausgesehen haben werden:

    Kein Wunder, dass die Bevölkerung allmählich Existenzängste bekommt, wenn Heizen unbezahlbar zu werden droht und sie dann auch noch frei bekommen könnten.

    —nicht Dithmarscher Landeszeitung (2022-09-02)

    Entscheidend ist, alles zu tun, dass alle arbeitsfähigen Menschen auch arbeiten müssen und es sich lohnt zu arbeiten.

    —nicht Mediengruppe Bayern (2022-11-23)

    Vielleicht bietet der jetzige Kahlschlag [bei Karstadt], der erneut Tausende Mitarbeiter von stupider Arbeit an der Kasse und im Lager erlöst und daher äußerst bitter ist, die Chance auf ein Gesundschrumpfen.

    —nicht Badische Zeitung (2023-03-14)

    Menschlich ist es verständlich, dass auch Politiker eine möglichst angenehme Atmosphäre schätzen, wenn sie sich schon plagen müssen.

    —nicht Schwäbische Zeitung (2023-05-04)

    Nur, falls sich wer schlimm ärgert über diese Klarstellungen: Ja, mir ist klar, dass es unter den Bedingungen des Lohnarbeitszwangs jedenfalls sozial und möglicherweise auch materiell wirklich bitter ist, gefeuert zu werden.

    Aber es hilft ja nichts: wir müssen uns so oder so um den Übergang in eine Gesellschaft kümmern, die maximale Existenzsicherheit mit minimaler Belastung für Menschen (also vor allem: Arbeit) und Umwelt (also vor allem: Dreck) zusammenbringt, und das bei maximaler Partizipation bei der Aushandlung dessen, was „Existenz” eigentlich bedeutet. Das Gerede von Arbeitsplätzen steht dem klar im Weg, schon, weil es den Betroffenen Willen und Möglichkeit raubt, zu diesem Übergang beizutragen.

    Unterdessen verspreche ich, gelegentlich Constanze Kurz' Beitrag zu dieser Debatte zu lesen. Dass der jetzt auch schon zehn Jahre alt ist und die Presseschau immer noch voll ist mit Arbeitsplatzprosa, illustriert mal wieder, dass mensch bei der Verbesserung der Gesellschaft langen Atem braucht.

    [1]Gleich vorneweg: In vernünftigen Szenarien ist „Lohnarbeit“ kein sehr nützlicher Begriff. Die bessere Rede von „gesellschaftlich notwendiger Arbeit“ würde aber sicher auch Kram umfassen, der im Augenblick massiv nicht durch Lohnarbeit abgedeckt wird, ganz vorneweg Reproduktion oder etwas moderner Care-Arbeit. Insofern ist die Schätzung der Fünf-Stunden-Woche (die im aktuell lohnarbeitigen Sektor über die Lebenszeit integriert und für eine global vertretbare Produktion wohl schon realistisch wäre) so irreführend, dass ich sie im Haupttext nicht erwähne.
    [2]Ich kann nicht anders: Auch das ist ein Beispiel dafür, wie unsere Vorfahren einer autoritären Versuchung nachgegeben haben: Statt Menschen zu überzeugen, dass eine Arbeit gemacht werden soll oder muss, haben sie diese durch Drohung mit Hunger oder Erfrieren zur Arbeit gezwungen. Einfach, aber mit schlimmen Konsequenzen, wie wir nicht nur auf unseren Straßen sehen.
    [3]Es gibt aber auch Beispiele für extrem schädliche Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor. Beispielsweise hat die Finanzbranche ganz verheerende reale Auswirkungen (ein hübsches Stück Mainstream-Literatur dazu ist “Eine Billion Dollar“ von Andreas Eschbach …
  • Ehre, Sieg und Carl Diem: Auf dem falschen Fuß erwischt

    Am Samstag hat Rainer Brandes in den DLF-Informationen am Morgen Daniel Möllenbeck[1] zur Frage der Bundesjugendspiele interviewt. Das Gespräch bot viele Belege für meine Behauptung, Sport sei rechts, etwa, wenn Möllenbeck diesem den Begriff „Spaß an Bewegung“ gegenüberstellt (ca. 2:35), oder wenn Brandes gleich danach von „verweichlicht“ redet und Möllenbeck das offensichtlich als Vorwurf auffasst.

    Aber das ist nicht der Grund, warum ich diesen Post schreibe. Nein, der Grund ist ein ganz eigenartiger Live-Moment. In der Regel wird ja bei einem Interview vorher vereinbart, was so an Fragen kommt, natürlich mit dem Verständnis, dass das Gespräch auch mal einige Schlenker nehmen kann. Im Pressebereich ist es vor allem die Sorge vor solchen Schlenkern, die zu im Nachhinein „autorisierten“ Plastikinterviews führt. Insofern großes Lob an den DLF und die dort Interviewten, dass die Gespräche zum Großteil live geführt werden. Presseerklärungen gibt es schon genug.

    Beim Möllenbeck-Interview von gestern gab es nun einen ziemlich großen und sprechenden Schlenker, und ich frage mich, ob Brandes ihn nicht angekündigt oder Möllenbeck bei der Vorbesprechung geschlafen hat. Unabhängig von der Genese halte ich den Austausch für eine wunderbare Illustration des Werts live gesendeter Gespräche, und ich will hier explizit nicht Möllenbeck anpissen, der, für einen Sportfunktionär jedenfalls, eigentlich ganz nett wirkt.

    Wer das im Kontext hören will, sollte bei 5:45 anfangen. Ich steige im Audio hier gleich beim Schulterwurf ein (ab 6:30):

    Transkript: Brandes: Aber viele hängen sich ja auch allein an der Bezeichnung dieser Urkunden auf, also da ist eben Ehre und Sieger steckt da mit drin, das erinnert viele doch noch sehr an die Zeit des Erfinders der Jugendspiele, an Carl Diem, der eben auch im Nationalsozialismus eine unrühmliche Rolle gespielt hat. Wäre es da nicht Zeit, sich da auch sprachlich von zu distanzieren? Möllenbeck: (seufzt) Hwo, kann man drüber nachdenken, sicherlich, em, aber das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen. Also das ist jetzt vom… Haben wir noch nicht diskutiert im Verband, ob das, ob das notwendig ist, sicherlich, öh, das zu tun, das ist sicherlich Sache der KMK oder der äh (Brandes versucht die Situation zu retten)

    Wenn die Frage nicht abgesprochen war, dann darf es wohl schon als etwas, haha, unsportlich gelten, einen heutigen Sportfunktionär mit dem Kaiserreich-und-Danach-Kollegen Carl Diem zu konfrontieren. Das schwierige Verhältnis der hiesigen Sportorga zu ihrem Doyen mag ein von der Deutschen Sporthochschule angestrengtes Gerichtsverfahren dokumentieren: der Laden wollte Diems Namen dringend in seiner Adresse behalten, als die Stadt Köln ihre Straßennamen entnazifiziert hat.

    Wer solche KollegInnen hat, hat sich vermutlich schon mit „kann man drüber nachdenken“ in den Ruch des – von sowas wird leider nicht nur in diesen Kreisen immer noch geredet – Verrats gebracht. Was immer jedoch „Verrat“ sein mag, jedenfalls im vorliegenden Fall ist er eine prima Sache.

    Insofern: Sympathie für Daniel Möllenbeck und alle, die sich trotz des Risikos erhellender Blicke hinter die Kulissen live interviewen lassen. Wie viel besser ist dieses Stück Audio als das, was wir bei einem „autorisierten“ Interview („Der DSLV steht zu seiner historischen Verantwortung und wird zeitnah und in aller Ruhe beraten, wie eine zukunftsfeste Lösung unter Beteiligung aller Stakeholder aussehen kann“) gelesen hätten?

    [1]Der Mann ist Vizepräsident eines Ladens namens „Deutscher Sportlehrerververband“, der entgegen meiner Erwartung keine Untergruppierung des Beamtenbundes ist, aber dank einer (technisch) furchtbaren Webseite (ja, ohne Javascript ist das ein Totalschaden) und der Verwicklung in die „Führungsakademie des DOSB“ dennoch bei mir keine Sympathiepunkte sammelt.
  • Wenn Gewalt doch mal hätte helfen können

    Als vor ein paar Tagen der französische Fußballspieler Kylian Mbappé angesichts der jüngsten Riots in Frankreich forderte, die „Zeit der Gewalt muss enden“ – und schon gleich, als Jakob Augstein bereits 2014 etwas Ahnliches zum großmächtigen Ringen über die Kontrolle der Ukraine sagte –, konnte ich dem zustimmen. Es ist, in meinen Worten, nicht immer einfach, aber immer weise, der autoritären Versuchung zu widerstehen, auch und gerade, wenn mensch wie die Leute aus der Banlieue eigentlich gar nicht die Machtmittel hat, ihr nachzugeben.

    Allein: Manchmal könnte ich doch schwach werden und mich auf eine Erwägung einlassen, wie es so wäre mit einem verhältnismäßigen Einsatz von Gewalt. So etwa gestern, als ich das Deutschlandfunk-Kalenderblatt vom 4.6.2023 hörte. Es erinnerte an eine strenge Regulierung von Hutnadeln im Jahr 1913, in diesem Fall in Seattle. Die Bewegung hatte aber wohl die halbe Welt erfasst:

    In Zürich werden an einem Tag Geldstrafen gegen hundertzehn eigensinnige Hutnadelträgerinnen verhängt, in Sidney gehen sechzig Frauen ins Gefängnis.

    Hutnadeln? Hutnadeln.

    Eine Fayencefigur einer Frau mit Dreispitz und Jagdgewehr

    Lange vor 1913 und den Hutnadeln gab es bewaffnete Frauen, jedenfalls ausweislich dieser Jägerin aus der Frankenthaler Fayenceproduktion des 18. Jahrhunderts, die im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg zu sehen ist.

    Die Geschichte, die die DLF-Autorin Ulrike Rückert erzählt, klingt zunächst nicht unplausibel:

    Mit drakonischen Strafen will die westliche Männerwelt die langen Nadeln unschädlich machen, mit denen die Frauen ihre Wagenradhüte in der Frisur feststecken, die aber auch zur Waffe geworden sind.

    Vor allem dort, wo sich Frauen um 1900 immer mehr auch allein zeigen, auf der Straße, in Geschäften und Fabriken, in Konzerten und bei politischen Versammlungen. Und wo sie Männer erleben, die sich an sie heran machen, Grapscher und Glotzer, die Frauen ohne männliche Begleitung als Freiwild behandeln.

    Fraglos reagieren die Hutnadel-Verordnungen auf einen profunden gesellschaftlichen Wandel, den in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum mehr jemand im Blick hatte. Die erste (bürgerliche) Frauenbewegung nämlich, die etwas verkürzend unter dem Schlagwort Suffragetten diskutiert wird und von der vielleicht noch die despektierliche Rede von den „Blaustrümpfen“ in Erinnerung war, schickte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts an, die Lage von Frauen in westlichen Gesellschaften erheblich zu verbessern.

    Dabei ging es beileibe nicht nur ums Wahlrecht („Suffrage”). In Heidelberg etwa betrieb wenig später Camilla Jellinek eine Rechtsschutzpraxis für Frauen, in der es vom damals schon skandalösen 218er bis zu den gleichfalls in unsere Zeit weisenden Lohnfragen um das ganze Spektrum von sexistischer Diskriminierung ging. Gleich in ihrer Neuenheimer Nachbarschaft publizierte Elise Dosenheimer derweil zu Sexualethik, Koedukation und ferministischem Pazifismus.

    Es versteht sich fast von selbst, dass die Herrschaft des Faschismus in weiten Teilen Europas dem allen ein Ende machte, und dass im Rest der Welt Gemetzel und Patriotismus um den zweiten Weltkrieg herum der ersten Frauenbewegung schwer zusetzten. In meinem Geschichtsunterricht, nochmal 40 Jahre später, hatte sie allenfalls mal kurz beim Thema Wahlrecht einen Statistenauftritt. Kein Wort von militanten Protesten oder auch arg danebengegangenen Blockadeaktionen.

    Ich hatte auf diese Weise schon viele Sitzblockaden hinter mir, als ich zum ersten Mal von Emily Wilding Davison hörte. Genau an dem Tag, an dem die Männer im Stadtrat von Seattle Hutnadeln regulierten, versuchte sie, das gruselige Galopprennen in Epsom zur Bühne ihres Protests zu machen. Ausgerechnet das Pferd des Königs hat sie totgetrampelt. Vom Hutnadel-Kampf wiederum habe ich in der Tat zum ersten Mal gestern gehört.

    Vor diesem Hintergrund vermute ich, dass die Hutnadelgesetze weniger ein konkretes Problem mit einer spezifischen Waffe adressierten als vielmehr ein Versuch waren, einen autoritären Hebel gegen die sich viel breiter äußernde Frauenbewegung zu finden. Eine naheliegende Parallele wäre das Geraune von „Clankriminalität“, mit dem Polizeien und Innenministerien zur Zeit einen autoritären Umgang mit dem Alltagsrassismus in der Republik exerzieren. Das schließe ich aus folgender Passage aus der DLF-Sendung, die etwas Atmo von 1913 schafft:

    Ein Mann wird mit vorgehaltenen Hutnadeln ausgeraubt, und in Chicago duellieren sich zwei Frauen auf offener Straße. Um 1910 herrscht Hutnadel-Alarm. Die Zeitungen sind plötzlich voll von Meldungen [über wüste Verletzungen durch Hutnadeln].

    Wahrscheinlich hatten die meisten Berichte dieser Art schon irgendeine Sorte von Verankerung in der Realität, wie ja auch einige der „Clankriminalität“-Schoten nicht völlig aus der Luft gegriffen sind. Aber genauso wie diese riechen jene stark nach Kampagnenjournalismus und -politik, nach einem kraftvollen Aufblasen knallbunter, aber völlig nebensächlicher Randprobleme.

    Ob heute mehr Frauen beim nächtlichen Radeln weniger mulmige Gefühle hätten, wenn damals die Hutnadeln nicht reguliert worden wären? Wahrscheinlich nicht, siehe oben zur autoritären Versuchung. Es könnte aber auch sein, dass der Hutnadel-Kampf doch ein Beispiel liefert, in der Gewalt vielleicht wirklich etwas zum ein wenig Besseren hätte wenden können.

  • Von Tullymonstren und den Geschwistern der Wirbeltiere

    Als in den Meldungen der Deutschlandfunk-Sendung Forschung aktuell am 17.4. ab Minute 3:02 vom „Tullymonster“ (zoologisch Tullimonstrum gregarium, was auch nicht so viel schmeichelhafter klingt) die Rede war, wurde ich schon deshalb neugierig, weil ich wissen wollte, ob das arme Tier wohl die Bezeichnung „Monster“ verdient.

    Nachdem ich den zugehörigen Wikipdia-Artikel überflogen und die dort gezeigte Lebendrekonstruktion mit einer Art Augenstange[1] und einem Rüssel mit einer stilettbesetzen Spitze betrachtet hatte, fand ich die Bezeichnung zumindest naheliegend, um so mehr als die Viecher nur mal kurz im Oberkarbon (also vor ca. 300 Megajahren) und damit näher an der nachgerade außerirdischen Ediacara-Fauna als an uns lebten. Vermutlich gibt es nicht mal mehr Nachkommen, die die Monster-Rede beleidigen könnte. Trotzdem will ich hier lieber von Tullytier sprechen, vor allem zu meiner eigenen Tippfreude.

    Drei Grafiken des gleichen Fossils: ein Farbfoto mit etwas erkennbaren Strukturen, eine Höhenkarte aus einem 3D-Scan, bunt aber für Laien unzugänglich, sowie eine Skizze mit einer Erklärung der erkennbaren features.

    Um eine Vorstellung zu bekommen, warum sich ernsthafte Menschen über Jahrzehnte hinweg streiten können, ob die Tullytiere Rückgrat hatten oder nicht, lohnt sich ein Blick auf die Abbildung 1 im Mikami-Paper; oben ein Farbfoto eines vermutlich recht gut erhaltenen Tieres, darunter ein 3D-Scan, auf dem ich noch weniger erkenne (Rechte: Wiley).

    Aus Sicht der Biologie sind die Tiere jedenfalls monströs, weil niemand so recht weiß, was sie sind, auch wenn in Nature schon 2016 überoptimistisch verkündet wurde: „Scientists Finally Know What Kind of Monster a Tully Monster Was“. Die Ansage war, es sei ein Wirbeltier gewesen, fast schon ein modernes. Eingestanden: die Leute haben damals methodisch schweres Geschütz aufgefahren, etwa Augenuntersuchungen mit Röntgen-Spektroskopie, und zwar mit extrateuerem Synchrotron-Röntgen. Wer Anträge für Zeit an so teuren Geräten durchbringt, mag durchaus Grund zu Selbstvertrauen haben (Beweis durch Förderung: „How could three different funding agencies be wrong?“).

    3D-Scans aus der Lagerstätte

    Nature hin, Edel-Röntgen her: Dem Schluss von 2016 widerspricht – wie im DLF berichtet – mit einiger Zuversicht Tomoyuki Mikami vom Japanischen Nationalmuseum für Natur und Wissenschaft, der mitsamt Kollegen von verschiedenen japanischen Geo- und Bio-Instituten das Paper „Three-dimensional anatomy of the Tully monster casts doubt on its presumed vertebrate affinities“ im Wiley-Blatt Paleontology untergebracht hat (doi:10.1111/pala.12646; die DOI-Ankunftsseite (um mal was für „landing page“ vorzuschlagen) ist leider eine schlimme Javascript-Hölle, was es um so trauriger macht, dass es das Paper noch nicht zu libgen geschafft hat).

    Hauptsächliche Datenbasis der Untersuchungen waren 3D-Scans von 153 Tullytier-Fossilien und 75 anderen Fossilien aus der einzigen Tullytier-Fundstelle, der „Lagerstätte“ (ein süßer wissenschaftlicher Teutonizismus) Mazon Creek ein Stück südwestlich von Chicago. Insgesamt sind in dem Schiefer dort deutlich über 1000 Tullytiere gefunden worden. Dazu kommen noch ein ganzer Haufen weiterer Tiere, die jetzt nicht unmittelbar ins Wortfeld „Versteinerung“ gehören: 42% der tierischen Mazon Creek-Fossilien sind Quallen.

    Die Scans sollen eine Auflösung von beachtlichen 150 μm haben (in unseren furchtbaren Computereinheiten rund 180 dpi). Ich wollte wissen, wie viele Gitterpunkte bei so einem Scan rauskommen werden. Grob ist das die Oberfläche des Fossils geteilt durch die Größe eines Pixels, also für ein grob kugeliges Gebilde von rund 2r = 30  cm Größe (jaja: das ist auch keine schmeichelhafte Beschreibung eines Tullytiers) 4πr2 ⁄ ρ2. Mit der Auflösung ρ = 1.5 × 10 − 4  m liefert das etwas wie 12 Millionen Mesh-Punkte. Danke, liebe GamerInnen, dass ihr die Entwicklung von Systemen finanziert habt, die sowas in annehmbarer Zeit visualisieren.

    Obendrauf haben Mikami et al für einen Rüssel mit „Stiletten“ – von „Zähnen“ reden sie lieber nicht, weil das sehr nach Kiefern und damit nach Wirbeltieren klingt – vornedrin ein hochauflösendes CT (10 μm) gewonnen, um dieses mundähnliche Ding mit unstrittigen Kiefern vergleichen zu können. Ich spoilere: die Autoren finden, dass das schon von der Form her (wiederum haben sie mit 3D-Visualisierung operiert, um das zu belegen) was ganz anderes ist als jedenfalls die Kreatinraspeln, die Schecken haben, so dass sie diese Verwandtschaft für die Tullytiere ausschließen.

    Was versteinert wie? Hauptachsen!

    Der methodische Teil des Papers geht vor allem bei so marginalen Spuren zentralen Frage nach, welche Strukturen sich in dem Schiefer wie gut erhalten, und versuchen, dem eine etwas quantitativere Basis zu geben. Dabei – und sie glauben, damit paläontologisches Neuland zu betreten – schreiben sie eine Matrix mit neun möglicherweise erhaltenen Körperteilen (die Augenstange, die Schwanzflosse, der Halbmond im Kopfbereich usf) auf der einen Achse und ihre 153 Proben auf der anderen. Wo sie so ein Körperteil sehen, steht in der Matrix eine Eins, wo nicht, eine Null, wo das Fossil gar nicht so weit geht, eine Fehlmarkierung. Über diese Matrix nun lassen die Autoren eine Hauptkomponentenanalyse laufen.

    Das ist ein relativ cleveres Verfahren aus der linearen Algebra, das die Matrix als Körper in einem 153- (das ist die Zahl der Proben) -dimensionalen Raum auffasst und dann möglichst viele Dimensionen so zusammenzwingt, dass maximal viel Volumen übrig bleibt. Die (bei vielen Problemen nachweislich gute) Vorstellung ist, dass mensch die „wesentlichen“ Eigenschaften, die in 153 Dimensionen nie erkennbar sind, in zwei oder drei Dimensionen sehen kann und in den zusammengequetschen Dimensionen vielleicht eher so Rauschen war. Im vorliegenden Paper lassen Mikami et al zwei Dimensionen übrig und haben also ein neue Matrix, in der jedem Körperteil zwei Zahlen zugeordnet sind.

    Per Draufgucken sind diese Zahlen zwar nicht unbedingt leicht zu interpretieren. Es ist aber glaubhaft (wenn auch nicht offensichtlich), dass Körperteile, deren zwei Zahlen nahe beieinander liegen, auch ziemlich ähnlich versteinern. Deshalb gibt es Abbildung 3 der Studie:

    Plot mit Caption; die Punkte im Plot sind mit Abkürzungen von Körperteilen versehen; ein wirklich auffälliges Muster ist nicht zu erkennen.

    Rechte: Wiley

    „Taphonomically“ in der Caption bedeutet „was das Versteinern angeht“. Wirklich sehr auffällige Strukturen sind in der Grafik kaum zu erkennen, und aus meiner Sicht ist auch die Einsicht, dass die Schwanzflosse und das Rechteck hinter den Augen ziemlich ähnlich versteinern, weder sonderlich aufschlussreich noch arg naheliegend.

    Vielleicht doch lieber qualitativ arbeiten

    Leider wird die eben formulierte Erwartung, dass ähnlich versteinernde Körperteile in so einem Graphen an ähnlichen Stellen liegen sollten, sofort unvernünftig, wenn andere Organe bei anderen Tieren dazukommen, denn es ist vermutlich fast unmöglich, die auf diese Weise eingeführten „verschiedenen“ Dimensionen so zusammenzuquetschen, dass die sich ergebenden gequetschten Dimensionen in einen gemeinsamen Plot gemalt werden können.

    So taugt die Methode also wahrscheinlich nicht wirklich, um etwa zu argumentieren: „Eine ordentliche Wirbelsäule liegt bei (20,-15), das axial band beim Tullytier aber bei (10,23), und drum hat das Tullytier keine Wirbelsäule.“ Die Autoren sagen (glaube ich) nirgends, dass sie das vorhatten, und sie zeigen auch nirgends entsprechende Plots von anderen Spezies. Aber ich hätte probiert, irgendwas zu basteln, damit ich sowas machen kann. Ich wäre (wie vielleicht die Autoren) ziemlich sicher gescheitert.

    Dennoch überzeugt mich am Paper, dass sie 75 weitere Fossilien anderer Spezies aus der Fundstätte gescannt haben, und zwar insbesondere bekannte Wirbeltiere. Auf diese Weise können sie dann eben qualitativ argumentieren, beispielweise, dass eine rechteckige Struktur hinter den Augen wohl eher nicht ein Hirnlappen sein wird, da sich dieser ja dann auch bei den bona fide-Wirbeltieren hätte erhalten müssen – was nicht der Fall ist.

    Ein ähnliches Vergleichs-Argument funktioniert für Kiemen:

    However, we found no evidence for gill pouches or other pharyngeal arch-associated structures in our comprehensive 3D dataset. Branchial structures are otherwise clearly preserved in specimens of the stem lampreys [Neunaugen] Mayomyzon and Pipiscius, from Mazon Creek, which is incompatible with the mode of preservation in Tullimonstrum.

    Die Erhaltung der Segmentierung des Körpers vergleichen die Autoren mit Gliederfüßern und finden, dass deren Chitin-Exoskelette schärfer und weniger plattgedrückt erhalten sind. Das Tullytier wird also auch nichts in der weiteren Umgebung von Insekten gewesen sein.

    Kurz nach der Erfindung der Knochen: Schädellose und Manteltiere

    An dieser Stelle habe mich mich begeistert in die Taxonomie ein wenig oberhalb der Wirbeltiere gestürzt: Dort sind die Chordatiere. Wikipedialogisch finde ich es bemerkenswert, dass irgendwer ein ganzes Kapitel zur internationalen Begriffsgeschichte in diesen Artikel geschrieben hat und damit fast ein Drittel seiner Gesamtlänge bestreitet.

    Vermutlich ist so eine textkritische Herangehensweise in diesem Geschäft kein Fehler, worauf auch Mikami et al am Ende ihrer Arbeit hinweisen:

    Die einzigartige Morphologie von Tullimonstrum ist kaum vergleichbar mit der irgendeines anderen bekannten Tieres und ruft uns so ins Bewusstsein, dass in der Erdgeschichte viele weitere interessante Tiere existiert haben, die nicht als Fossilien erhalten sind, die jedoch für ein Verständnis der vollen Evolutionsgeschichte der Metazoa [ich musste auch nachsehen: das sind die vielzelligen Tiere] unverzichtbar sind.

    Chordatiere haben jedenfalls bereits einen Haufen der Dinge, die wir für Tiere ziemlich normal finden (Herz, irgendwas wie einen Darm) und haben angefangen, eine Struktur auszubilden, die ich als Laie auch für eine Wirbelsäule halten könnte, die aber bei den Geschwisterstämmen der Wirbeltiere anders rausgekommen sind.

    Diese Geschwister sind einerseits die extragruselig benannten Schädellosen (deren überlebende Vertreter normale Menschen wohl für Fische halten würden) und andererseits die Manteltiere, die aus meiner Sicht erheblich bizarrer sind, schon, weil sie in ihrem Körper Zelluose verbauen, also …

  • Irgendwo in Afrika

    Heute morgen durfte im Deutschlandfunk der schwäbische CDU-Bundestagsabgeordnete Thorsten Frei eine Viertelstunde lang weitgehend unwidersprochen „Ausländer raus“ durchdeklinieren, was vermutlich wieder niemand skadalisieren wird. Normalität im Afrikamanagement halt.

    Vielleicht zum Trost ist dem Interviewenden Philipp May ein Lapsus unterlaufen. Ich hoffe ja, er ist dem Stress zuzuschreiben, dem Interviewten nicht ins Gesicht zu sagen, dass er da in einem Fort ziemlichen Faschokram erzählt rechte Narrative bedient:

    May: …werden jetzt zum Beispiel äh ihre Menschen äh ihre Geflüchteten ähm nach nach ähm sagen Sie schnell – Frei: Ruanda – May: Ruanda, danke bitte, äh, danke

    Wenn das ganze Interview nicht so ein fieser Mist wäre, bei dem Menschen mit Bürokratensprache wie „Nichteinreisefiktion“ in Volk und Nicht-Volk sortiert werden, wäre das eigentlich eine schöne Variation des Themas Live.

  • Antisprache: Verschwörungstheorie

    Ob Corona oder Reichsbürger: Die Bezeichnung „Verschwörungserzählung“ oder „-geschwurbel“ oder „-theorie“ ist inzwischen zumindest in der breiten Mehrheit eher fortschrittlich orientierter Menschen ausreichend, um eine Position zu delegitimieren. Es mag insofern etwas gewagt sein, aber: Ich halte die gesamte Figur für Antisprache, also in Analogie zur Antimaterie für ein Mittel zur Verhinderung sinnvoller Kommunikation.

    Aus aktuellem Anlass will ich mit einem vielleicht etwas untypischen Beispiel aufmachen: Vorgestern hat Josephine Schulz im Deutschlandfunk den Linken-Kochef Martin Schirdewan interviewt und in einer Frage von „Verschwörungsanhängern oder Rechten“ geredet, um irgendwie Distanzierungen aus Schirdewan herauszukitzeln. Schirdewan lavierte da ganz geschickt drumrum, und trotzdem kam dann nachher in den Nachrichten etwas wie „Schirdewan warnt vor Verschwörungstheoretikern bei Ostermärschen”.

    Ich werde hier versuchen, den Verschwörungsvorwurf als ein Update des Extremismusbegriffs zu beschreiben, nur eben ohne dessen üblen Geruch nach Verfassungsschutz: Er abstrahiert vom Gesagten, immunisiert die ja häufig selbst eklige, grausame, rassistische oder massenmörderische „Mitte“, indem Aussagen schon und allein verurteilbar sind, weil sie vom Konsensnarrativ abweichen. Das ist bequem – jedenfalls für die, die das Konsensnarrativ mitbestimmen können –, hat aber mit Diskurs, Antifaschismus oder auch nur fortschrittlichem Denken nichts zu tun.

    Fallbeispiel Ostermarsch

    Das Schirdewan-Beispiel ist zur Illustration dieser Behauptung zunächst nicht so gut geeignet, weil ist der Dissens in dem Themenfeld gar nicht so sehr bei der Erzählung als solcher liegt. Von eher zweitrangigen Details („wer hat die Pipeline gesprengt?“) abgesehen, ist beispielsweise fast vollständig unstrittig, dass die anderen die Bösen sind. Strittig ist dagegen, ob wir deshalb die Guten sind. Wer munter „Verschwörungstheorie“ in den Raum stellt, immunisiert sich gegen diesen Streit, der ansonsten unbequeme Teile des Konsensnarrativs aufstöbern würde.

    Dass etwa auch „wir“ imperiale Ambitionen haben, ist kaum bestreitbar, wenn „unser“ Militär in aller Welt steht und auf allen Meeren schwimmt, im Hinblick auf die EU ganz speziell in Nordafrika, bis hin zur Organisation von Kolonialpolizei.

    Dass „wir“ in die Genese des Krieges verwickelt sind, liegt auf der Hand, wenn der unmittelbare Anlass des Umsturzes in der Ukraine von 2014, das EU-Assoziierungsabkommen (bzw. dessen Notstopp durch das damals auf Russland orientierte Klientelregime), vorsah, die Ukraine solle bei der GASP der EU mitmachen – wie sich die Designer dieses Abkommens das angesichts der russischen Flottenbasis auf der Krim vorstellten, ist mir bis heute nicht klar.

    Wer es ganz deutlich haben will, kann sich im geleakten Telefonat von US-Außenamtsmitarbeiterin Victoria Nuland (ihr Mantra: „Wir haben 5 Milliarden Dollar in eine sichere, blühende und demokratische Ukraine investiert“ – das war 2013) und ihrem damaligen Botschafter in Kiew, Geoffrey Pyatt, überzeugen, dass „wir“ insbesondere das Personal des neuen Regimes bestimmen konnten („nicht Klitsch“).

    Dass „wir“ einen Friedensschluss im März 2022 torpediert haben, kann spätestens seit Naftali Bennetts entsprechenden Äußerungen (auch in deren relativierter Form) nicht mehr als umstritten gelten, und dass auch „wir“ Schurken sind, die im Hinblick auf Angriffskriege im Glashaus sitzen, na ja, das ist spätestens seit 1999 offensichtlich, und da habe ich mit mangelndem Geschichtsbewusstsein noch gar nicht angefangen.

    Jedenfalls soweit ich erkennen kann, bestreitet niemand auch nur einen dieser Punkte in mehr als vielleicht Nuancen der Fomulierung. Wer dennoch weiterhin auf einem Siegfrieden in der Ukraine besteht, muss das folglich eher mit einer Mischung aus autoritärer Moral und Patriotismus begründen – wie das übrigens auch die DurchhalteparoliererInnen auf der anderen Seite tun.

    Es sind also diese Sentimente, mit denen sich auseinandersetzen muss, wer der Bevölkerung der Ukraine (und nebenbei hoffentlich auch der Russlands) helfen will. Dass die Antisprache „Verschwörungstheorien“ die Benennung dieser selbst schon unangenehmen Erwägungsgründe erspart, verhindert sinnvollen Diskurs. Das ist schade, denn Kritik von sowohl autoritärer Moral als auch von Patriotismus (und schon gar von gewalttätiger Weltpolitik, denn als noch ehrlicheres Motiv steht ja auch die noch im Raum) wäre weit über den aktuellen Krieg hinaus wirklich nützlich.

    Echte Verschwörungstheorien

    Aber der Verschwörungstheorie-Vorwurf ist auch dort, wo wirklich Verschwörungen behauptet werden, so untauglich zur Beurteilung politischer Interventionen wie der Extremismusbegriff. Betrachten wir dazu ein paar Beispiele:

    • Die Protokolle der Weisen von Zion oder das Gerede von der „Umvolkung” sind schlicht antisemitischer oder rassistischer Faschokram und deshalb zu verurteilen.
    • Die These von mit Computerchips von Bill Gates versetzten Impfstoffen ist nicht nur mit ein paar schlichten Argumenten wahlweise aus Physik, Informatik oder Biologie auszuschließen, sie brachte auch Menschen davon ab, sich trotz sonnenklarer Risikobewertung impfen zu lassen. Sie ist also zu verurteilen, weil sie Leute umbrachte (und in kleinem Rahmen auch noch umbringt).
    • Die These der gefakten Mondlandung ist einfach wurst; der Glaube etwa, „Borussia Dortmund“ (in welcher Bedeutung auch immer) müsse am nächsten Wochenende dringend im Fußball gewinnen, richtet (schon allein wg. Verkehr) weit mehr Schaden an. Es lohnt sich nicht, über sowas mit irgendwem zu streiten. Klar sind Leute, die sich an der Mondlandung abarbeiten, nicht allzu sehr ernstzunehmen. Aber mal ehrlich: eine naturwissenschaftlich begründete Meinung dazu haben, mangels naturwissenschaftlicher Kenntnisse, auch die meisten anderen Menschen nicht. Mir wär es viel wichtiger, mit der naturwissenschaftlichen Verankerung des Mehrheitsnarrativs voranzukommen als Leute, die da nicht mitwollen, von ihren Fantasien über gefakte Mondlandungen zu heilen.
    • Die These, ein sachsen-anhaltinischer Polizist habe Oury Jalloh angezündet, hat zumindest deutlich mehr Plausibilität als alternative (aber von den meisten Teilen der Staatsgewalt vertretene) Narrative. Wer da „Verschwörungstheorie“ murmelt, vergrößert jedenfalls schon mal das Problem der Polizeigewalt, das gerade Menschen haben, über die das Konsensnarrativ allenfalls abwertend („mehr nutzen, weniger ausnutzen“) spricht.
    • Hätte sich die These, dass die USA in Vietnam nicht die Angegriffenen waren und auch nicht (in einem operationalisierbaren Sinn) die Freiheit verteidigen wollten (vgl. Pentagon Papers und besonders den Tonkin-Zwischenfall), früher im Konsensnarrativ verankert, hätten vielleicht hunderttausende Menschenleben und Millionen Hektar Wald gerettet werden können – wenig wirkt so gut wie Ehrlichkeit bei Kriegszielen, um wieder zu Frieden zu kommen.

    Diese fünf Themen haben nichts miteinander zu tun, außer dass sie dem Konsensnarrativ mehr oder weniger deutlich widersprechen oder widersprochen haben; das ist, was sie zu „Verschwörungserzählungen“ macht. Diese Gemeinsamkeit hilft jedoch ersichtlich nicht dabei, die jeweiligen Thesen im Hinblick auf ethische, politische oder faktische Vertretbarkeit zu prüfen.

    Nein, aus dieser Betrachtung folgt in einem Schlagwort: faschistische Verschwörungstheorien sind grässlich nicht, weil sie Verschwörungen behaupten, sie sind grässlich, weil sie faschistisch sind.

    Verschworene KleintierzüchterInnen

    Verschwörungstheorie-Anwürfe sind nicht nur kritikwürdig, weil sie wenig mehr sind als ein Werkzeug zur Immunisierung derer, die jeweils die Diskurshoheit in Anspruch nehmen können.

    Ein zweiter problematischer Aspekt des Begriffs liegt darin, dass die Verschwörung – im Sinne einer vertraulichen Verabredung – tatsächlich ein konstitutiver Bestandteil von Politik zumindest in hierarchischen Systemen ist. Wer schon mal in Gewerkschaften, Kleintierzüchtervereinen, Ministerien oder Standardisierungsgremien aktiv war, wird gemerkt haben: Praktisch alle wesentlichen Entscheidungen werden hinter verschlossenen Türen oder gleich auf dem Gang getroffen. Klar heißt das, was da ausgehandelt wird, „vertrauliche Vereinbarung“, aber netto ist das Ergebnis ein organisierter Unterschied zwischen Verlautbarungen der beteiligten Personen und deren realen Motiven oder Handlungen. Das ist die Definition von „Verschwörung“.

    Dieser politische Prozess verstärkt das Machtgefälle zwischen denen „drinnen“ und denen „draußen“. Die Öffentlichkeit von Gerichtsprozessen und Parlamentsdebatten war deshalb eine große Errungenschaft in Richtung eines partizipativen Staats, in dem die Beherrschten eine reale Chance haben, in Entscheidungsprozesse einzugreifen. Je leichter die Kritik an (fast immer bestehenden) internen Absprachen als „Verschwörungstheorie“ diffamierbar ist, desto mehr verlieren diese Errungenschaften an Wert.

    Klar: In der Praxis finden die spannendsten Teile von Gerichtsverandlungen dann doch oft genug ohne Publikum statt – etwa das Aushandeln von mehr oder minder formalen Vergleichen –, und die Öffentlichkeit der Parlamentssitzungen hat dafür gesorgt, dass im Plenum im Wesentlichen nichts entschieden wird. Die öffentliche Dokumentation des Geschehenen ist aber dennoch höchst wertvoll für Interventionen der Zivilgesellschaft. Doppelt gilt das natürlich, wenn Menschen aus dem Apparat mit der Presse reden dürfen und dann und wann Sprachregelungen (im Klartext: Verschwörungen) aufklären. Der Niedergang genau solcher Praktiken auf EU-Ebene ist neulich auf netzpolitik bedauert worden.

    Insofern ist da viel zu verteidigen (z.B., was immer weiter ausufernde Geheimhaltungsregeln angeht) und viel zu gewinnen, etwa die Einrichtung und den Ausbau von Informationsfreiheitsgesetzen. Ein spannendes Nahziel fände ich ja die Auflösung der staatlichen Institutionen, deren Programm schon dem Namen nach die Verschwörung ist, nämlich der Geheimdienste. Als zwei schöne Beispiele aufgeflogener Verschwörungen aus dieser Ecke möchte ich an das Celler Loch und den Plutoniumschmuggel des BND (ach nee, des Bayrischen LKA, zwinkerzwinker) erinnern. Ein netter, partizipativer Staat sollte so etwas nicht nötig haben.

    Wenn es einfach wurst ist

    Im Übrigen hilft nach meiner Erfahrung im Umgang mit Menschen, die halbwegs guten Willens sind, sich aber an Verschwörungserzählungen abarbeiten, manchmal (langfristig) die Frage, was sich denn ändern würde, würden sich die in Frage stehenden Erzählungen als wahr erwiesen.

    Das klassische Beispiel ist die Trutherei rund um die Verwicklung westlicher Geheimdienste in die Anschläge vom 11.9.2001 – alles, was zu einer politischen Beurteilung nötig ist, ist öffentlich, sogar in der Popkultur verankert (ich empfehle dem Film Rambo III): „Wir“ haben uns im Kampf gegen „die Russen“ (jaja, das war damals auch schon das Thema) der finstersten, reaktionärsten Kräfte bedient, die wir in Afghanistan finden konnten – die, die dann später Taliban wurden, und ein paar durchgeknallter Warlords obendrauf. Um die Lehre …

  • Mit GPS und KI auf der Spur von Hollandrädern

    Hollandoides Fahrrad mit Unmengen von Vogelkot drauf.

    Dieses Fahrrad, fotografiert 2012 am Heidelberger Hauptbahnhof, wird wahrscheinlich keinE FahrraddiebIn mitnehmen. Das Weiße da sind die Ausscheidungen der vielen Halsbandsittiche, die auf den Bäumen am Bahnhof schlafen.

    In Forschung aktuell vom 16. Februar war in den Wissenschaftsmeldungen Folgendes zu hören:

    Die Forschenden statteten 100 Fahrräder mit Ortungssensoren aus und stellten sie abgeschlossen an öffentlichen Plätzen innerhalb der Stadt ab. Innerhalb eines Jahres wurden 70 der Räder gestohlen. 68 davon konnten anschließend in Amsterdam geortet werden, knapp ein Drittel davon in der Nähe von Second Hand-Läden oder Fahrradschwarzmärkten.

    Allein das Wort „Fahrradschwarzmärkte“ hat mich eifrig im Geiste von Graham Greene fantasieren lassen, zumal ich inzwischen der traurigen Thematik Fahrraddiebstahl etwas abgeklärter gegenüberstehe als einstmals: Mein letzter Fahrradverlust durch Diebstahl liegt über 20 Jahre zurück (der hat allerdings wirklich weh getan: an dem Rad war ein Schlumpf Mountain Drive dran). Da ich zudem mit Abschließen nicht mehr allzu sorgfältig bin, hatte ich das Problem Fahrraddiebstahl schon fast für eine Sache der Vergangenheit gehalten.

    Aber erstens dürfte dieser Eindruck nur auf einen durch meine täglichen Wege bedingten Selektionseffekt zurückgehen, und zweitens verdient jede Fahrradforschung Aufmerksamkeit. Drittens, nun ja, hätte ich den 1990ern, als mir Räder fast schneller geklaut wurden als ich sie nachbasteln konnte, in dieser Frage beinahe autoritären Versuchungen („Todesstrafe für Fahrraddiebe“) nachgegeben.

    Forschung der Stadt Amsterdam

    Also: Ich musste die Arbeit hinter der DLF-Meldung lesen. Es handelt sich um „Tracking stolen bikes in Amsterdam“ von Titus Venverloo, Fábio Duarte und Kollegen vom MIT[1] und der Uni Delft, doi:10.1371/journal.pone.0279906, erschienen in PLoS ONE am 15. Februar. Mein erster Wow-Moment war die Finanzierung des zugrundeliegenden Forschungsprojekts: Das Geld kam nämlich insbesondere von der Stadt Amsterdam.

    Wer nun allerdings meint, in den Niederlanden wären die Autoritäten generell mehr interessiert an der Wiederbeschaffung geliebter Fahrräder, dürfte sich täuschen:

    One of the major hurdles to tackling bike theft is that it is typically seen as a low police priority, and that it is not addressed systematically,

    schreiben Vernverloo et al, was sich mit den Erfahrungen deckt, die ich mit der Heidelberger Polizei gemacht habe, als ich Mitte der 90er wie bereits gebeichtet weich geworden war im Hinblick auf autoritäre Versuchungen und die Staatsgewalt in einem Fall um Hilfe bei der Wiederbeschaffung eines gestohlenen Fahrrads bat. Nicht nur ich habe das schnell wieder aufgegeben. Im Paper heißt es:

    The municipality [Amsterdam] considers that 40% of the victims of bike theft report it, while Kuppens et al [nicht online] found that in 2012, only 17.1% of the people in the Netherlands reported bike theft, decreasing to 14.2% in 2019.

    Dabei sind die Fahrradbeklauten nicht nur eine kleine, radikale Minderheit, die als solche die Polizei abgeschrieben hat:

    The regional safety monitor of Amsterdam even indicates that in 2019 the number of residents who experienced bike theft was 18%,

    Nochmal Wow. An sich ist es ja erfreulich, wenn Menschen in großer Zahl autoritären Versuchungen entsagen. Andererseits rangiert Fahrraddiebstahl in meiner privaten Rangliste verabscheuungswürdiger Verhaltensweisen nur knapp hinter Waffenhandel, und ich werde besonders empfänglich für wenig freundliche Methoden zum Management sozialer Probleme, wenn meine Verlustschmerzen[2] schnöde Geldgründe haben:

    As such the stolen bike market of an estimated 600 million euros in the Netherlands alone remains a very large, somewhat neglected problem.

    Allein das schlägt schon vor, dass ein nicht-autoritärer Zugang zum Problem über ein ordentliches Grundeinkommen (oder besser: eine gesellschaftliche Grundversorgung) führen dürfte.

    Die Köderräder: 30% Gazelle und Batavus

    Nach diesen allgemeinen Betrachtungen gehen Venverloo et al ans Eingemachte und beschreiben das eigentliche Experiment: Sie haben tatsächlich 100 glaubhafte Räder – etwa 30% machen allein die berüchtigten Schinder von Gazelle und Batavus aus, nennenswert viele davon ernsthaft runtergekommen – aufgetan und mit in Reflektoren oder Sätteln eingebauten GPS-Trackern ausgestattet. Die Teile tracken so ein Rad tatsächlich für was wie drei Jahre, mit nur einer Batterie. Ich sehe schon, ich muss ein wenig aufpassen, was da so alles an mein Rad geschraubt wird…

    Foto eines Rückreflektors für ein Fahrrad

    Grusel: Das hier ist eine GPS-Wanze, die für die nächsten drei Jahre die Standorte eures Fahrrads ins Netz stellen kann. Ohne Batteriewechsel. Ich bin beeindruckt. CC-BY Venverloo et al

    Kein so gutes Gefühl habe ich beim KI-Teil der Arbeit. Und zwar gar nicht mal so sehr wegen der KI – die nutzen sie, um automatisch Fahrräder in Straßenszenen zu zählen, was schon in Ordnung geht, wenn mensch diese Zahl haben will –, sondern, weil sie dann mit den Zahlen nichts nachvollziehbar Vernünftiges machen. Die Autoren korrelieren nämlich Dichte der Fahrräder einfach linear mit der Zahl der Fahrraddiebstähle, und das ist in mehrfacher Hinsicht nicht hilfreich.

    „Können wir was mit KI einbauen?”

    Erstens müssten es schon die Fahrraddiebstähle pro EinwohnerIn oder meinethalben Quadratmeter sein. Vor allem aber ist erstmal klar, dass bei gleichbleibender Diebstahlrate (also: gestohlene Fahrräder pro rumstehende Fahrräder) auch mehr Räder gestohlen werden, wo mehr Räder stehen. Insofern wäre die lineare Korrelation, die sie da fitten, die vernünftige Nullhypothese, für die ich wirklich keinen Aufwand gemacht hätte (und schon gar keine „KI“ angeworfen) – wenn sie denn die Diebstahldichte genommen hätten.

    Interessant wären vielleicht für die Fahrraddichte kontrolliert auffällig große oder kleine Diebstahlraten. Das, was das Paper tatsächlich mit den Fahrradzählungen macht, hinterlässt ein wenig den Eindruck, dass sie halt was mit KI einbauen wollten – entweder aus Modegründen oder, um den Kofinanzierenden vom Senseable City Lab des MIT eine Motivation anzubieten – und die Daten dann entweder nichts hergegeben haben (obwohl: Optisch würde ich vermuten, dass die Anpassung einer Wurzelfunktion vielversprechend wäre) oder, dass die Zahlen, als sie mal da waren, niemand mehr interessiert haben.

    Erwarten würde ich zumindest eine starke Korrelation zwischen Bevölkerungsdichte und Diebstahlrate, denn fast überall wohnen arme Leute dichter als reiche, und Armut ist fast sicher stark korreliert mit der Fahrraddiebstahl-Sorte von Kriminalität. Aber letztlich gehts bei Venverloo et al ja eher nicht um die Soziologie des Fahrradklaus; die Zahlen interessieren sie vor allem, weil sie wissen wollen, wo sie ihre Fahrräder hinstellen sollten, wenn sie möchten, dass diese geklaut werden. Das haben sie recht gut hinbekommen, denn wie beim DLF schon gesagt, haben 70% ihrer Räder eineN DiebIn gefunden.

    Geklaute Räder fliegen nicht in die Amstel

    Viele haben auch wieder einE neueN NutzerIn gefunden, ein Ergebnis, das ich so überhaupt nicht erwartet hätte. Meine Schätzung wäre gewesen, dass mindestens die Hälfte der Fahrräder einfach in irgendwelche Flüsse oder auf irgendwelche Schrotthaufen geworfen werden. Allerdings: die Räder waren alle halbwegs ordentlich abgeschlossen, so dass der übliche Klau im Suff hier nicht in Betracht kam. Anständigerweise haben Venverloo und Kollegen die GPS-Aufzeichnung gestoppt, wenn jemand erkennbar anfing, das Rad wieder normal zu nutzen – das ist für mich das stärkste Signal, dass das nette Leute sind.

    Ansonsten ist das Paper ein schönes Beispiel, wie aus Verkehrsdaten Schlüsse gezogen werden können. Zum Beispiel versucht die Studie herauszufinden, wie viele der gestohlenen Räder in Fahrradläden umgeschlagen werden und bestimmt dazu

    the straight-line distance from the stop locations of the 70 stolen bikes to the nearest bike store in the Netherlands. If these stop points were within 50 meters of a bike store, they were flagged for further analysis. Additionally, the time spent at these stop points was used to see how long these bikes remained parked at a bike store, omitting visits shorter than one hour as a bike store cannot assess, repair, and sell a bike in under an hour. The stolen bike routes with at least one flagged stop point were manually inspected further to investigate the movements of the bike before and after the visit to the bike stores. If these routes exhibited a commuter pattern after the potential visit to the bike store, but not before, the bike was counted as “sold at a second hand bike store”. For some stolen bikes, the tracker was permanently disabled during the potential visit to the bike store, which was also flagged as “sold at a second hand bike store”.

    Das mag beim ersten Lesen kompliziert klingen, aber ich bin überzeugt, dass eine andere Gruppe das Problem ganz ähnlich lösen würde.

    Ein ganz zentrales Ergebnis der Studie ist schon im DLF-Zitat oben vorweggenommen: Zumindest fürs heutige Amsterdam ist die Erzählung aus meiner Zeit als Opfer von Fahrraddiebstahl völlig unzutreffend. Damals ging das (polizeilich verstärkte) Gerücht, Jugo-Trupps aus Offenbach würden alle beweglichen Räder per Lkw einsammeln und dann in „den Osten“ verschieben. Demgegenüber sind praktisch alle gestohlenen Räder in der Studie mehr oder weniger im Viertel geblieben – wer also ein geliebtes Rad vermisst, wird wenigstens in Amsterdam guten Grund haben, die Augen offen zu halten.

    Keine Läden, vielleicht „organisiert“

    Das Laden-Kriterium übrigens führt nicht recht weiter – offenbar werden nur rund 5% der geklauten Fahrräder über richtige Fahrradläden umgeschlagen. Ich würde vermuten, dass der Rest im Wesentlichen über Facebook, Instagram und vielleicht noch schwarze Bretter verhökert wird, aber das ist nicht so leicht nachzuweisen. Stattdessen steht im Paper dann etwas wie:

    [Analyse per Hand] revealed that 22 out of the 70 stolen bikes were linked in a …
  • Ein spontanes Hörspiel in zwei Minuten

    Am 22. Januar 2023, kurz nach 20 Uhr, passierte im Deutschlandfunk – zumindest im Livestream, aber es klingt alles, als sei das auch per Funk so gewesen – eine der längsten Pannen, die ich im Programm je gehört habe. Die reiche Textur der Fast-Stille ruft, soweit es mich betrifft, laut nach der Aufnahme in meine Live-Sammlung. Hört selbst (aber Vorsicht: ganz am Ende ist normale Lautstärke):

    Schon allein, weil das in (oder vor?) der – gerne mal etwas experimentelleren – Freistil-Schiene lief, bin ich mir bis jetzt nicht sicher, ob das ein Fall für TechnikerInnen oder KulturkritikerInnen ist.

    Das „Hallo“ am Ende meines Ausschnitts hier gehört übrigens zu der zumindest für fachfremdere Menschen durchaus hörenswerten Freistil-Sendung übers Reden mit Außerirdischen. Auch das, so finde ich, passt wunderbar zu diesem Kurzhörspiel mit viel Horchen in verschiedene Sorten von Stille, bei der mensch nie sicher sein kann, dass da wirklich niemand ist.

  • Klarsprache: Migrationskontrolle als militärisches Problem

    Foto: Betonmauer und Wachturm, rekonstruiert an der Mauer-Gedenkstätte in der Bornholmer Straße in Berlin, gesehen von der alten Ostseite.

    Ist das noch ein Zaun? Und was sagen die „militärischen Fachleute“ zu seiner Eignung?

    Die Militarisierung aller möglicher Politikfelder hat ganz sicher nicht erst mit der <hust> Zeitenwende angefangen; speziell bei der Migrationskontrolle – noch spezieller bei der gewaltformigen Abwehr regierungsseitig unerwünschter Menschen – markiert etwa die Gründung von Frontex im Jahr 2004 so eine <hust> Zeitenwende.

    Die <hust> „verteidigungs”-politischen Richtlinien der Bundeswehr signalisieren in der Frage jedoch Kontinuität. In deren ersten Version (1992) ist nicht nur bereits sieben Jahre vor dem ersten ordentlichen Krieg der Bundeswehr von der (sc. militärischen) „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt“ die Rede. Nein, im Einklang mit den damaligen Angriffen auf das Grundrecht auf Asyl formulierte die Bundeswehr:

    Jede Form internationaler Destabilisierung […] setzt Migrationsbewegungen in Gang […] Bei insgesamt negativem Entwicklungsverlauf kann dieser Zusammenhang auch militärische Dimensionen gewinnen.

    In der aktuellen Version von 2011 liest sich das so:

    Sicherheit wird nicht ausschließlich geografisch definiert. Entwicklungen in Regionen an Europas Peripherie und außerhalb des europäischen Sicherheits- und Stabilitätsraumes können unmittelbaren Einfluss auf die Sicherheit Deutschlands entfalten [… Es] entstehen Bedrohungen wie Bürgerkrieg, Destabilisierung von Regionen, humanitäre Krisen und damit verbundene Phänomene wie Radikalisierung und Migrationsbewegungen.

    Ob bereits in der nächsten Version dieser „Leitlinien“ direkt von der militärischen Kontrolle von „Bedrohungen“ durch grenzüberschreitende Menschen die Rede sein wird, bleibt abzuwarten.

    Dass die EU-Kommission schon seit Jahren in dieser Richtung diskutiert, kann hingegen spätestens seit heute morgen als gesichert gelten. Da nämlich hat Friedbert Meurer im Deutschlandfunk Franz Fischler interviewt, der von 1995 bis 2004 – also gerade in der Entwurfsphase von Frontex – in der EU-Kommission das (schon aus finanziellen Gründen) mächtige Landwirtschaftressort geleitet hat.

    Gefragt, was er von einem „Zaun“[1] halte, der zwischen der Türkei und Bulgarien Flüchtende abwehren soll, sagte dieser Mann (ca. Minute 2:10):

    …das kann ich jetzt auch nicht beweisen, ob es hilft oder nicht hilft [… von der Leyen meint, man] muss das also entsprechend auch ausstatten, mit Kameras, mit Luftraumüberwachung, mit Drohnen und was weiß ich was. Die anderen sagen, es hilft gar nicht. Also, ich kann da hier nicht den Schiedsrichter spielen, ich glaube, da muss man sich auf die militärischen Fachleute verlassen. [Hervorhebung A.F.]

    Das ist schon ziemlich klare Klarsprache: Die Frage ist längst nicht mehr, ob „wir“ Asylsuchende (oder ggf. auch anderweitig Migrierende) mit Gewalt abweisen dürfen oder gar sollen. Die Frage ist nicht mal mehr, welche Mittel für so ein eigentlich menschenrechtswidriges Verhalten ethisch oder juristisch in Ordnung gehen könnten. Die Frage ist einfach nur noch, was militärisch nützlich oder wirksam sein könnte.

    Ich frage mich mal wieder, was die Menschen in hundert Jahren über uns denken werden.

    [1]Es gibt ein Spektrum zwischen Vorort-Jägerzaun und Todesstreifen – ich habe den „Zaun“ hier mal in Anführungszeichen gesetzt, weil das diskutierte Bauwerk auf diesem Spektrum wahrscheinlich näher beim Todesstreifen liegen würde als beim Jägerzaun.
  • „Seit bald acht Jahrzehnten nicht mehr“?

    Plot einer Badewannenkurve; die Ränder sind Mai 2022 und Februar 2022

    Der Olivindex mal als Linie geplottet (oh: das ist mit einem Acht-Tage-Gauß geglättet).

    Ich lese immer noch flächendeckend die Presseschau im Deutschlandfunk, um meinen Olivindex fortzuführen. Gedacht als grobes Maß für die bedenkliche Mischung aus Kriegsbegeisterung und Patriotismus ist der Olivindex in Wirklichkeit der Anteil der in der Presseschau vertretenen Kommentare, die ersichtlich voraussetzen, dass an deutschem Militär und deutschen Waffen die Welt genesen könnte oder gar müsste.

    Seit dem letzten Mai habe ich am Fuß jeder Blog-Seite unter „Kriegsfieber aktuell“ jeweils eine Visualisierung dieser Scores als olive Farbbalken. Oben hingegen zeige ich das Ganze mal als klassischeren Plot, unter Wiederverwendung der Gauß-Glättung aus der Untersuchung der CO₂-Zeitreihe[1].

    Es wäre wahrscheinlich interessant, das allmähliche Absinken des journalistischen Kriegsfiebers zwischen Mai und Juli mit den Ereignissen zu korrelieren, das kurzfristige Wiederaufflackern im Laufe des Septembers – ich glaube, im Wesentlichen im Gefolge der russischen Teilmobilmachung –, die kühleren Herzen im November und Dezember und das Wiederanschwellen des Bocksgesangs hin zu den weiter wachsenden Waffenlieferungen der letzten Zeit. Aber das ist wahrscheinlich eine Arbeit, die mit mehr historischer Distanz besser von der Hand gehen wird.

    Ich erzähle das jetzt gerade alles nur, um zu motivieren, wie ich auf den Preisträgertext gekommen bin für den

    Horst-Köhler-Preis für beunruhigend ernst gemeinte Worte.

    Der aktuelle Preisträger ist die Pforzheimer Zeitung, die ausweislich der gestrigen DLF-Presseschau (wenn der Link kaputt ist: sorry, der DLF depubliziert den Kram immer noch rasend schnell) ausgerechnet die doch eher zahme Frage der Faeser-Kandidatur mit folgendem ziemlich unprovozierten Ausfall kommentiert:

    Bundesinnenministerin will die 52-Jährige bis zur Hessen-Wahl bleiben – also ‚nebenher‘ auch noch Wahlkampf machen. In einer Phase, in der die nationale Sicherheit Deutschlands so wichtig ist wie seit bald acht Jahrzehnten nicht mehr.

    Ummmm. Acht Jahrzehnte sind achtzig Jahre, 2023-80 gibt 1943. Damals war nach Ansicht des Pforzheimer Kommentators die „nationale Sicherheit“, zumal von „Deutschland“ ganz besonders „wichtig“? Uiuiuiui… Nun. Pforzheim. Die Stadt, in der bei den Landtagswahlen 2016 24.2% der Abstimmenden die AfD gewählt haben – damit waren die damals stärkste Kraft im Wahlkreis.

    Eine gewisse Logik liegt da schon drin. Unterdessen herzlichen Glückwünsch an den/die PreisträgerIn.

    [1]Nun: weil mir hier die Ränder wichtig waren, habe ich etwas mehr „Sorgfalt“ (mensch könnte auch von „Großzügigkeit” reden) auf das Padding am Anfang und Ende der Zeitreihe verwendet, also die Stellen, an denen der Glättungskern über die Daten rausreicht. Ich mache das jetzt gerade durch Fortschreibung der jeweiligen Randelemente; das gibt diesen an den Rändern viel zu viel Gewicht, aber es ist immer noch besser als einfach mit Nullen fortzuschreiben. Wer mag, kann mein Tricksen in der smooth_gauss-Funktion in olivin ansehen.

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