Pelztiere vs. Menschen: Die letzten 70 Jahre

Unter einem Gebüsch schauen Beine und Schwanz eines Tigers raus.

2010 habe ich, ich muss es gestehen, den Heidelberger Zoo besucht. Und mich ordentlich vor dem Tiger gegruselt, der hier im Bambus ruht.

Neulich ging es in der taz tatsächlich mal um einen Fachartikel, nämlich um „A worldwide perspective on large carnivore attacks on humans” von Giulia Bombieri vom Naturkundemuesum[1] in Trento, Vincenzo Penteriani vom Naturkundemuseum in Madrid sowie KollegInnen aus aller Welt (doi:10.1371/journal.pbio.3001946), vorbildlich unter CC0 publiziert in PLOS Biology.

Der taz-Artikel liefert eigentlich eine ganz schöne Zusammenfassung des narrativen Teils der Studie, und vor allem ordnet er das Thema das Artikels gut ein relativ zu Bedrohungen durch andere Tiergruppen und echte Gefahren für Menschenleben:

Knapp 2.000 tödliche Angriffe [durch wilde Säugetier-Karnivoren] in 70 Jahren – das sind weniger als 30 im Jahr. Weltweit. Da steht die Angst in keinem Verhältnis zum Risiko […] Höchste Zeit, den Wolf zu entlasten und die richtigen Fragen zu stellen: Großmutter, warum hast du so große Räder?

So sehr das mit der Angst qualitativ sicher stimmt, ist das Argument so quantitativ formuliert allerdings nicht haltbar. Schon die Unterüberschrift in der taz, „Eine Studie wertet die Fälle der letzten 70 Jahre aus.“ (Hervorhebung ich), weckt nämlich völlig falsche Erwartungen. Bombieri et al lassen keine Zweifel:

Wir räumen ein, dass unser Datensatz nicht die Gesamtheit der Tierangriffe umfasst, die es weltweit gab. Er repräsentiert eine Untermenge dieser Fälle. In der Tat fehlen trotz unserer Bemühungen, gleichmäßig über Arten und Regionen zu sammeln, zahlreiche Fälle speziell für Löwen, Leoparden und Tiger.

Wacklige Zahlen, robuste Ergebnisse

Der numerische Abstand allerdings zwischen dem Gemetzel im Straßenverkehr und den Opfern bepelzter Wildtiere ist so groß, dass auch einige Größenordnungen Unterschätzung nichts am in der taz dargestellten qualitativen Befund ändern werden.

Bombieri et al überdehenen ihre Zahlen aber auch selbst, etwa wenn sie zunächst

erwarten […], dass die Zahl der Angriffe in Regionen mit niedrigem Einkommen wächst. Dort findet viel Subsistenzwirtschaft statt, und viele Gemeinden leben in engem Kontakt mit Wildtieren inklusive Großkatzen.

Die Zunahme als solche sehen sie dann auch in ihren Daten. Dass diese aber an Subsistenzwirtschaft und Landnahme liegt, bräuchte schon stärkere Unterstützung als platt mit der Zeit wachsende Zahlen, denn die werden sehr plausiblerweise einfach daran liegen, dass sich die Anbindung größerer Teile des globalen Südens an das Nachrichtensystem des globalen Nordens über die letzten 70 Jahren hinweg ganz erheblich verbessert hat. Denn wie zählen Bombieri et al?

Berichte über Angriffe wurden gesammelt aus persönlicher Datenhaltung der KoautorInnen, der wissenschaftlichen Literatur, Doktor- und Masterarbeiten, Webseiten und öffentlicher Berichterstattung (eine Liste der wesentlichen Veröffentlichungen zum Thema stellen wir in Tabelle S2 zur Verfügung). Wir haben die erwähnten Quellen mit den Suchmaschinen Google und Google Scholar durchsucht. Um den Datensatz zu vervollständigen, haben wir auch eine systematische Suche nach Zeitungsartikeln auf Google durchgeführt. Dabei haben wir für alle Länder/Regionen jährlich gesucht nach einer Kombination der folgenden Begriffe „Name der Art“ oder „wissenschaftlicher Name der Art“ + „attack“ oder „attack“ + „human“.

Diese Methode führt natürlich überwältigende und praktisch nicht zu kontrollierende Auswahleffekte ein, so dass ich jedem quantitativen Ergebnis, das aus diesem Datensatz gewonnen wird, sehr skeptisch gegenüberstehen würde. Das aber ändert nichts daran, dass er eine großartige Quelle für qualitative Betrachtungen ist.

CC0 sei Dank: Aus Excel befreit

Weil das alles – wie mein Blog auch – unter CC0 verteilt wird, kann ich die furchtbare Excel-Datei, in der Bombieri et al ihre Datensammlung publizieren, hier als aufgeräumte CSV-Datei republizieren – vielen Dank an die AutorInnen! Zum Aufräumen habe ich ad-hoc ein Python-Skript geschrieben, das in einem mit Libreoffice erzeugten CSV-Export der Excel-Datei insbesondere die geographischen Koordinaten, die in einer munteren Mischung verschiedener Formate kamen, vereinheitlicht. Dabei gingen ein paar Koordinaten verloren, deren Format ich nicht erraten konnte (so etwa 10).

Zusammen mit dem großartigen TOPCAT und dessen Classify by Column-Feature (in Views → Subsets) kann mensch auf die Weise recht unmittelbar den folgenden Plot der erfassten Säugetierangriffe nach Spezies erzeugen (TOPCAT ist eigentlich für die Astronomie gedacht, weshalb die Koordinaten etwas ungeographisch daherkommen):

Bunte Punkte in einem Mollweide-Plot: Es gibt extrem auffällige Cluster etwa auf Kamtschatka, in Japan oder an der indischem Malabarküste.  Der größte Teil des Plots hat gar keine Punkte

Geographische Verteilung der Tierangriffe aus Bombieri et al, für die am häufigsten angreifenden Arten farblich aufgeschlüsselt. Beachtet, dass nur knapp 50% der Fälle in ihrem Datensatz hinreichend georeferenziert sind.

Wenn ihr das selbst versucht: Macht auch gleich einen Tabellen-View auf. Ihr könnt dann nämlich auf die Punkte klicken und in der Observations-Spalte oft die zugehörigen Geschichten lesen. Einiges bewegt sich im Dumb Ways to Die-Spektrum, und ich kann nicht leugnen, dass ich mich manchmal wie einE Bild-LeserIn fühlte, während ich an den Daten herummachte. Tja: wer in der Hinsicht ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein.

Wölfe fütternd oder Futter für Wölfe?

Manchmal sind schon die Activities in der Tabelle halbe Geschichten: „sleeping outside the tent in sleeping bag” zum Beispiel (im kanadischen Algonquin National Park, mit Species Wolf). Conflict_end ist hier glücklicherweise 1 („Injury”) und nicht 2 („Death“). So ging es auch für die Activity „feeding the wolf“ aus, Observation: „Frau hielt an und bot dem Wolf Futter an“. Ich kann der Versuchung nicht widerstehen und muss fragen: War das eine oder waren das zwei Handlungen?

Denn es geht nach Rechnung der AutorInnen den Wölfen schon recht oft darum, die Leute, die sie angreifen, dann auch zu verzehren. Dazu hilft es, sich kurz die Bedeutung der Zahloide in der Scenario-Spalte anzusehen, die ich erst manuell aus dem blöden XSLX-XML rausfummeln musste:

1:defensive reaction by a female with offspring
2:animal and human/s involuntarily encounter at a close distance
3_4:food related: eg animal food conditioned/habituated or feeding on anthropogenic food (eg crop) or feeding on a wild or domestic animal carcass at the moment of the attack.
5:predatory/unprovoked/investigative attack
6:animal wounded/trapped
8:dog presence
10_12:animal intentionally approached/provoked/chased attack the people involved or other people on its way while fleeing

Bei Wölfen sind immerhin 377 von 414 Fällen mit der 5 klassifiziert. Das hätte ich ehrlich gesagt anders eingeschätzt. Und noch mehr bin ich überrascht, dass es die Wölfe in über 250 dokumentierten Fällen auch geschafft haben (sollen), die beteiligten Menschen zu töten. Ich habe mir diese Fälle mal rausgefiltert (in TOPCAT definiert mensch dafür ein algebraisches Subset mit equals(species, "wolf") && conflict_end==2 – ja, SQL ist schöner). Fast alle dieser 268 Fälle kommen aus Indien (259), sechs aus dem Iran, und dann noch je einer aus der Türkei, aus Alaska und Saskatchewan.

Die Geschichte aus der Türkei ist die von einem Schäfer:

Shepherd's father found him death [sic]. Then took him to hospital and doctors determined he was killed by wolves.

– es ging den Wölfen hier also ziemlich sicher nicht darum, den Schäfer zu verzehren, denn sonst wäre schon das mit dem Ins-Krankenhaus-Bringen schwierig geworden. Ich würde hier die 5 ziemlich in Frage stellen, muss ich sagen; für mich klingt das stark nach 3_4, food related, weil die Wölfe einfach die Tiere des Schäfers essen wollten und der Schäfer im Weg war.

Die Fälle in Nordamerika sind jeweils den Wintermonaten zugeordnet, wobei Wolfsrudel vermutlich weniger hinter dem Fleisch der Menschen her waren als vielmehr hinter den Resten der Tiere, die die Menschen vorher getötet hatten. Sehr hässlich klingen dagegen die Activities aus dem Iran: children playing lese ich da – und noch schlimmer in Indien, wo das allein 183-mal vorkommt (mit anderen Worten: mehr als die Hälfte aller hier verzeichneten tödlichen Begegnungen mit Wölfen weltweit). Das werde ich unten nochmal etwas genauer betrachten, aber zunächst sollen auch die Katzen etwas Aufmerksamkeit bekommen.

Großkatzen lassen zweifeln

Bei Leoparden lese ich etliche Mal das gruselige „attacked at the neck and dragged away“, einmal darunter mit der Activity „toilet/bathing/washing clothes outside“ und dem Ausgang, dass der Mensch überlebt hat. Wenn sich das wirklich so zugetragen hat, sind Menschen zäher, als ich vermutet hätte. Es gibt noch mehr Geschichten, die Zweifel an der Sorgfalt wecken, mit der die Daten im Einzelfall kuratiert und recherchiert wurden, und das nicht nur wegen des Python-Gefummels, das ich zur Glättung der Daten oben einsetzen musste.

Ein Fall, der mir bespielsweise auch nicht ganz einleuchtet, ist der Löwe, der 2002 in Tansania „unprovoziert“ einen Menschen attackiert hat, der einem Opfer half. Ohne jede Kenntnis des Falls würde ich doch einwenden, dass der Löwe plausiblerweise seine Beute verteidigen wollte; jedenfalls ist „unprovoked“ nicht ganz mit „helping victim“ verträglich, finde ich.

Im gesamten Datensatz gibt es übrigens 61-mal „helping victim” als Activity – nur für fünf dieser Fälle ist ein tödlicher Ausgang für die Menschen verzeichnet –, und die Szenarien sind dann auch meist nicht „predatory“, sondern eher „animal wounded/trapped“ oder „intentionally provoked“, was ich logischer finde. Aber es finden sich auch sieben Fälle mit einer 2, „involuntary encounter“. War da die Hilfe „involuntary“? Oder waren die Tiere – jeweils Lippenbären – überrascht, weil jemand die Leute pflegte, die sie verletzt hatten?

Kurz: Mein Eindruck vom veröffentlichten Datensatz ist, dass er eher so Excel-Qualität hat – das ist nicht schlimm, unter den gegebenen Umständen ist das anders wahrscheinlich praktisch nicht zu leisten, aber mensch muss es bei der Nutzung doch im Kopf behalten.

183 Wolfsopfer aus einer kleinen Stadt?

Immerhin lässt sich häufig die Provenienz der Berichte nachvollziehen. Für die atemberaubenden 183 tödlichen Begegnungen zwischen Wölfen und children playing in Indien von eben habe ich das gemacht. Sie alle haben als Ort Hazaribagh, als Zeitangabe „1980-1995“. Ich gebe offen zu, dass es mir es höchst unplausibel schien, dass in einer einzigen recht kleinen indischen Stadt Wölfe so viele Kinder getötet haben sollen.

In der Datei steht als Quelle „Rajpurohit 1999“, was sich über weiteres Ergänzungsmaterial zum Artikel zu „Rajpurohit K.S. (1999). Child lifting: wolves in Hazaribagh, India. Ambio 28:162-166“ auflösen lässt. Wirklich! „Lifting“ wie in „Shoplifting“, also Ladendiebstahl. Da der Artikel durch ein Begutachtungssystem des globalen Nordens gegangen ist – Ambio wird vom Wissenschafts-Springer verlegt –, wird zumindest der Titel orthodoxe Terminologie reflektieren, aber… Nun ja. Der Artikel jedenfalls ist über das garstige[2] JSTOR auch vom Sofa aus zu haben.

Er berichtet auch tatsächlich von einem schockierenden Blutzoll:

Die Zeiten, zu denen sich zwischen Januar 1980 und April 1995 Fälle von Kindererbeutung ereigneten, zeigen, dass die Wölfe in der Abenddämmerung aktiv sind (vgl. Fig. 3 [im Paper, wo sich dann auch ein sehr scharfer Peak um 19 Uhr herum zeigt; wg. JSTORs besonderer Empfindlichkeiten verzichte ich hier mal auf Republikation]).

Interviews mit Opfern und ZeugInnen lassen erkennen, dass die Wölfe im Allgemeinen in Rudeln von zwei bis vier Individuen jagen. Mitglieder des Rudels verstecken sich hinter Büschen oder anderen Gebilden in der Umgebung der Dorfgrenze. Der Angriff wird dann von einem Tier durchgeführt. Das Kind, manchmal so schwer wie der Wolf selbst, wird am Hals, Kopf, Oberschenkel, oder an Hüfte oder Brust gepackt. Der Verzehr findet in einsamen Gegenden zwischen ein und zweieinhalb Kilometer vom Dorf entfernt statt. Das ist aus den Orten der Überreste und Kleider der Opfer ersichtlich. In den 78 Fällen von Kindererbeutung, die in den Wäldern von Hazaribagh West und Koderma zwischen April 1993 und März 1995 stattfanden, konnten nur 20 (25%) der erbeuteten Kinder gerettet werden, indem die Wölfe verfolgt und die Rettung erreicht wurde, bevor die Wölfe tödliche Verletzungen [fatal mortality] verursachten.

Die Rede von „fatal mortality“ lässt zwar ein wenig am Lektorat des Ambio-Verlags Springer zweifeln, aber Dutzende von von Wölfen verzehrten Kindern (bei Bombieri et al machen sie die Mehrheit der von Wölfen getöteten Menschen global aus) wird der Autor des Artikels wohl kaum erfunden haben. Oder? Zunächst geht es dabei um diese Gegend: https://www.openstreetmap.org/#map=10/24.0628/85.6467 – also durchaus relativ waldreiches Gelände. Aber ist es wirklich möglich, dass nach den ersten paar Todesopfern sich die menschlichen BewohnerInnen nicht zusammentun, um die Wölfe zu erschlagen? Mir fällt es ziemlich schwer, das zu glauben.

Unprovozierte, aber gruselige Dementis

Dazu kommen plötzliche und unprovozierte Dementis im Ambio-Artikel:

Diese Angriffe wurden entweder in den Außenbereichen des Dorfes ausgeführt oder sogar im Dorf selbst. Die Angriffe wurden auf Kinder ausgeführt, die kurzzeitig unbeaufsichtigt waren, wenn der Vater außer Haus in den Feldern oder auf den Weiden arbeitete und die Mutter Hausarbeiten erledigte, etwa Feuerholz sammelte oder am Dorfbrunnen Wasser holte. Es ist undenkbar, dass Eltern kleiner Kinder sie absichtlich im Wald zurücklassen könnten, damit sie dort von Wölfen getötet werden.

Umm… Ja, nun, das hat ja zunächst niemand behauptet. In der Umgebung dieser Textstelle geht es auch anderweitig etwas eigenartig zu:

In Indien würde ein Bauer niemals seine Schafe oder Ziegen unbeaufsichtigt lassen, weil der Verlust der Nutztiere für die Familie ökonomisch katastrophal sein kann. [...] In diesem Kontext ist die Aussage „der Verlust der Nutztiere könnte katastrophal für die Familie sein, während der Verlust eines Kindes wirtschaftlich ausgeglichen wird” unwahr [weil es ein Entschädigungsprogramm gibt].

Im Einzelnen (ich bin nicht sicher, ob die Bemerkung, eine Rupie seien damals ungefähr zwei US-Cent gewesen, das noch kurioser macht):

Im Augenblick wird eine Entschädigung von 20'000 Rupien pro Kind bezahlt, was sehr wenig erscheint im Vergleich zum Verlust eines Menschenlebens. Der Betrag sollte auf 50'000 Rupien erhöht werden.

Ganz ehrlich: Wieder mal hätte ich als GutachterIn bei diesem Artikel hier oder dort eingegriffen.

Zur oben aufgeworfenen Frage, warum die Menschen die Wölfe nicht gleich nach der ersten Beute erschlagen haben, habe ich zumindest nochmal in der Wikipedia nachgeschlagen. In deren Erzählung haben sie das, also: die Leute haben den ersten Wolf, der 1980 ein Kind anfiel, gleich vor Ort getötet. Es soll aber doch eine ganze Weile gedauert haben, bis sie alle Wölfe dieses spezifischen kinderjagenden Rudels erwischt haben. Dennoch klingen die Zahlen in der Wikipedia gleich viel realistischer, jedenfalls, bis sich auch der dortige Artikel wieder auf die Rajpurohit-Arbeit von 1999 bezieht.

Da die Wolfsfrage nicht nur im Hinblick auf Ponys zumindest in Westeuropa das politischste Feld der Bombieri-Studie darstellt, bin ich nicht so ganz glücklich, wenn die breite Mehrheit der berichteten Wolfsrisse darin nur einer (und dann noch einer etwas eigenartigen) Quelle entnommen wurden. Auch wenn die Arbeit von Bombieri et al bei aller Kritik an der Sorgfalt bei der Kuratierung noch das Lob von small data verdient, ist mithin die Mahnung sicher nicht unfair, dass abgeleitete Zahlen nicht nur zu niedrig, sondern in Einzelfällen auch zu hoch liegen mögen.

Ökologische Anekdoten: Von Diclofenac und der Tollwut

Die Arbeit von Rajpurohit erwähnt übrigens eine weitere Statistik aus dem Indien der späten 1990er-Jahre. Damals soll es dort jedes Jahr 25'000 Tote allein durch Tollwut gegeben haben. Die Tollwut wiederum soll zu 96% durch Hunde auf die Menschen übertragen worden sein. Zwar würde mich auch dabei ein Faktor zwei nach oben oder unten nicht überraschen, aber wenn Hazaribagh (ggf. auf wirkliche Ereignisse skaliert) tatsächlich ein merkwürdiger Ausreißer ist – und davon gehe ich mit Ambio und Wikipedia aus –, bleiben Hunde gegenüber Wölfen schon allein deshalb die weit größere Bedrohung.

Allerdings dürften die exorbitanten Opferzahlen bei der Tollwut auch mit der spezifischen Zeit der Rajpurohit-Arbeit zusammenhängen, denn damals wird die Geier-Diclofenac-Geschichte gerade richtig angelaufen sein, eine der blutigeren meiner bevorzugten Illustrationen für ökologische Komplexität. Und zwar hat in Indien rund um die Jahrtausendwende der Einsatz von Diclofenac – besser bekannt vielleicht unter dem Handelsnamen Felden – zu einer Tollwutepidemie geführt.

Wie? Nun, mit dem Schmerzmittel behandelte Rinder (Hintergrund: Hinduismus) und Menschen (Hintergrund: Zoroastrismus und dessen Totenkult) werden von Geiern verzehrt, für die Diclofenac schon in kleinen Dosen höchst lebertoxisch ist. Die Geier sterben, woraufhin all die Kadaver, die sie bis dahin beseitigt haben, liegen bleiben. Der reich gedeckte Tisch lässt die Population streunender Hunde explodieren, in der sich dann die Tollwut nachhaltig festsetzen kann. Die tollwütigen Hunde stecken schließlich Menschen an – von denen das jedes Jahr einige Zehntausend nicht überleben. Zum Vergleich: Im Frankreich vor der Tollwutimpfung sollen der Krankheit laut Wikipedia zu Pasteur 30 Menschen im Jahr zum Opfer gefallen sein.

Wenn ihr nun fragt, warum immer noch 25'000 Menschen im Jahr allein in Indien an der Tollwut starben, wenn es doch seit 1885 eine Impfung gibt: Tja, welcome to capitalism.

Um zum Abschluss dieser etwas morbiden Schrift noch etwas Nettes zu sagen: Geier retten Leben!

[1]Für Menschen, die bei „Naturkundemuseum“ auch „Zwengelmann“ denken müssen: Ich habe im Nachruf auf Max Kruse der taz nochmal einiges über meinen Lieblingsautor gelernt.
[2]Zum „garstig“ vgl. insbesondere https://de.wikipedia.org/wiki/Aaron%20Swartz

Zitiert in: Iberische Schwertwale gegen Segelboote 50:0

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