Iberische Schwertwale gegen Segelboote 50:0

Größenvergleich eines Schwertwals zu einem Menschen (der vielleicht ein Drittel der Länge hat)

Bei der Lektüre dieses Posts sollte mensch den Größenvergleich zwischen Menschen und Schwertwalen im Kopf haben (CC-BY Chris Huh).

Wer meinen Beitrag zu menschenverzehrenden Pelztieren gelesen hat, wird nicht überrascht sein, dass mich ein Post auf Fefes Blog gestern auf Anhieb fasziniert hat. Er hat berichtet von „Angriffen“ von Orcas (auf Deutsch: Schwertwale; sachlich sind das besonders große Delfine, was Free Willy und Fortsetzungen geschickt kommerzialisiert haben) auf Boote im Atlantik vor Spanien, Portugal und noch ein bisschen Frankreich. Was immer da nun ganz aktuell passiert: Schon nach ein paar Klicks bin ich bei einem ordentlichen wissenschaftlichen Artikel gelandet, den ich mit einiger Faszination gelesen habe.

Es handelt sich um die 2022 im Wiley-Blatt Marine Mammal Science erschienene Studie „Killer whales of the Strait of Gibraltar, an endangered subpopulation showing a disruptive behavior“, geschrieben Ende 2021 von Ruth Esteban vom Walmuseum in Madeira sowie KollegInnen aus einer beeindruckenden Menge verschiedener Institute aus den „betroffenen“ Ländern (doi:10.1111/mms.12947; leider gepaywallt und noch nicht bei libgen).

Bekannte Täterinnen

Vorneweg: Die Tiere heißen auf Englisch „killer whale“, nicht, weil sie gerne Menschen umbringen – tatsächlich hat sich offenbar noch kein wildlebender Orca für Menschen als Nahrung interessiert –, sondern weil sie ihre Beute gerne in einem recht blutigen Spektakel zerlegen. Dennoch fand ich die Vorstellung, dass da ein fast zehn Meter großes Tier mit jedenfalls sehr variablen Nahrungspräferenzen etwa an meinem Schlauchboot rumuntersucht, ganz entschieden gruselfilmtauglich.

Meine erste Überraschung in dem Paper war nun, dass die „Täterinnen“ der Übergriffe auf die Boote wohlbekannt sind: Beim letzten Zensus im Jahr 2011 bestand die fragliche Population überhaupt nur aus 39 Individuen. Aufgrund von reichlichen Film- und Fotoaufzeichnungen konnten nun Esteban et al identifizieren, welche von denen sich an den Booten zu schaffen machten. Es stellte sich heraus: Die 50 „Interactions“ im Zeitraum von (im Wesentlichen) Mai bis Oktober 2020 gingen auf zwei Gruppen aus nur ingesamt 9 Tieren zurück.

Eine sorgfältig zusammengestellte Tabelle der tierischen Kampagnen im Paper zeichnet recht deutlich das Bild, dass die Schwertwale spätestens ab August 2020 angefangen haben, praktisch täglich Bootfahrende zu belästigen. Mensch könnte den Eindruck gewinnen, sie hätten ein neues Hobby entdeckt.

Ein Faible für Segelyachten

Esteban et al schlüsseln das Walspielzeug nach Bootstypen auf. Populär sind vor allem Segelboote, was ich gut verstehen kann, denn ohne rotierende Schiffschraube sind die Dinger aus Orcasicht deutlich weniger gefährlich. Immerhin haben sie aber drei Mal auch Zodiacs untersucht, also etwas bessere Schlauchboote – hoffenlich hatten die Leute in den Nussschalen (die ja vermutlich deutlich kleiner waren als jeder einzelne der Wale) stahlharte Nerven.

Zumindest im von Esteban beobachteten Zeitraum haben die Schwertwale die Boote aber erkennbar nicht kaputt machen wollen; sie haben eher für eine halbe Stunde oder so an ihnen rumgespielt, wobei sie fast immer das Steuerruder besonders interessierte. „Rumspielen“ ist mein Wort, aber die Beschreibung aus dem Paper legt das Wort schon sehr nahe:

Wenn die Wale engeren Kontakt aufnehmen, üblicherweise am Steuerruder, drücken sie entweder mit ihren Köpfen und machen eine Hebelbewegung mit ihren Körpern, um das Blatt zu drehen. In manchen Fällen haben sie das Boot dabei um fast 360° gewendet. Je höher die Geschwindigkeit des Bootes oder je stärker die Besatzung um die Kontrolle des Steuerrades rang, desto mehr und stärker drückten die Wale in der Regel.

Angefangen haben sie üblicherweise bei guter Fahrt des Bootes (gerne was wie 15 km/h, was für so einen Schwertwal kein großes Problem ist). Wenn das Schiff angehalten hat, ist es ihnen langweilig geworden und sie sind weitergezogen. Die Ausgänge „kaputt“, „beschädigt“ und „kein Schaden“ (jeweils im Hinblick auf das Steuerruder) sind dabei so in etwa gleich verteilt.

Ich finde ja schon bemerkenswert, dass gerade mal neun Individuen so ein Bohei die Küste rauf und runter verursachen können, auch wenn es schon ziemlich große Tiere sind. Tatsächlich haben ihre Exploits die staatlichen Autoritäten zur Sperrung von Seegebieten gebracht:

The Spanish Maritime Traffic Security authorities prohibited the coastal navigation for small (<15 m) sailing vessels where interactions were concentrated at the time.

Vorboten des Schwarm-Szenarios?

Eine wirklich gute Erklärung dafür, was den Walen das Interesse an den Steuerrudern beibrachte, haben auch Esteban et al nicht. Die Möglichkeit, sie würden damit ein unangenehmes Erlebnis etwa mit Fischern verarbeiten (die iberischen Schwertwale klauen gerne Thunfische aus menschlichen Fanggeräten), finde ich jedenfalls nicht plausibel, denn Fischerboote scheinen sie nur aus Versehen mal angerempelt zu haben.

Hier hätte ich mal eine Geschichte, die ich gerne glauben würde: die Wale fanden die Ruhe während der Corona-Lockdowns zwischen März und Mai total klasse und dachten sich, sie könnten das wieder haben, wenn sie den FreizeitskipperInnen genug auf die Nerven fallen; die Fischerboote würden sie schon hinnehmen, solange die ihnen Thunfische fangen.

Der Charme dieser Geschichte: Wenn die spanischen Behörden in der Folge das Meer sperren, wenn die Wale irgendwo auftauchen, wäre das nette eine positive Konditionierung: die Spiele der Wale würden wirklich für mehr Ruhe am Wasser sorgen. Das aber würde schön erklären, warum sich das Verhalten ausbreitet – wenn es das denn wirklich tut.

Ob das gegenüber dem Stand vor anderthalb Jahren wirklich so ist: Mal sehen, was Esteban et al demnächst so veröffentlichen. Ich habe trotz meines generellen Grusels vor ORCID (keine Verwandschaft mit Orca) kurz einen Blick auf Ruth Estebans ORCID-Seite geworfen. Jetzt gerade ist das besprochene Paper die letzte Publikation. Aber angesichts des Medienrummels um ihre Schwertwale wirds dabei sicher nicht bleiben.

Unterdessen: Ebenfalls von 2021 ist dieser Vortrag von Ruth Esteban, in dem sie Videos der Walbegegnungen zeight. Wie viel nützlicher wäre der, wenn sie eine vernünftigte Lizenz draufgemacht hätten!

Nachtrag (2023-06-25)

In Forschung aktuell vom 26. Mai gab es eine schöne Fortsetzung dieser Geschichte, die den Score auf 500:0 legt. Gegen Ende werden Verhaltenstipps diskutiert. Vor allem: Einfach nicht dort segeln, wo die Orcas sind. Wenn die Leute das wirklich machen, wäre ich neugierig, was die Reaktion der Orcas ist…

Letzte Ergänzungen