Tag Bücher

  • Vom „Humboldt Forum“ nach Knossos: Viel Fantasie über Palastruinen

    Trotz meiner Schwierigkeiten beim Ermitteln der Öffnungszeiten war ich neulich im Berliner „Humboldt Forum“ und habe in dessen ethnologischer Ausstellung das hier gesehen:

    Eine seltsam modern anmutende Tragetasche aus einem strohartigen Material.

    Eine geflochtene Tasche von der melanesischen Insel Niu Ailan, „gesammelt“ (so die Beschriftung im Humboldtforum) während der deutschen Marine-Expedition 1907-1909.

    Solche Taschen, oder jedenfalls ziemlich ähnliche, glaube ich aus meiner Kindheit zu kennen, und so fiel mir sofort die Spöttelei ein, die Alex Capus in seiner wunderbaren Dreifachbiographie Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer zu einem verwandten Thema verfasst hat. In dem Buch „restauriert“ Emile Gilliéron Fresken, die Arthur Evans im minoischen Palast von Knossos freilegt. Allerdings fand Evans mit seinen Methoden allenfalls ziemlich bescheidene Stücke der Fresken. Gilliérion jedoch ist ganz Sohn des gleichnamigen Großrestaurators für Schliemann in Troja und arbeitet dementsprechend munter mit einem Jumbopack Kreativität. Bei Capus klingt das so:

    Als er mit seiner Arbeit fertig war, strahlten die Fresken in einer lückenlosen Frische, als hätten die minoischen Frauen gestern erst Modell gestanden; […] zwölf saßen erstaunlicherweise auf einer Art Campingstühlen mit schmalen Metallbeinen, und alle hatten langes, schwarzes Haar, und manche ließ eine kokette Locke in die Stirn fallen. Sie hatten riesige Mandelaugen und sinnliche, grellrot geschminkte Münder, manche trugen absatzlose Turnschuhe, kurze Röcke und halsfreie Blusen, als kämen sie vom Tennisspiel […]

    Einige [Betrachter] waren allerdings auch irritiert, dass die Fresken auf Knossos so modern erschienen und alles Archaische vermissen ließen. »Mais, ce sont des Parisiennes!«, rief der durchreisende Archäologe und Kunsthistoriker Edmond Pottier beim Anblick von Gilliérons Campingstuhl-Schönheiten, und der britische Schriftsteller Evelyn Waugh sagte, er wolle sich ein Urteil über die minoische Kunst nicht anmaßen, da die ausgestellten Fresken höchstens zu einem Zehntel älter als zwanzig Jahre seien; übers Ganze könne man sich jedenfalls des Eindrucks nicht erwehren, dass der Restaurator seine handwerkliche Sorgfaltspflicht aus Begeisterung für Vogue-Titelbilder vernachlässigt habe.

    Wenn nun die „Marineexpedition“ von 1907 auf die damals Neumecklenburg genannte Insel so modern aussehende Taschen von vermutlich von Jugendstil oder gar Moderne unkontaminierten Menschen zurückgebracht hat: Vielleicht lag ja Capus' „Fälscher“ Gilliéron mit seinen „Campingstuhl-Schönheiten“ auch nicht so völlig falsch, um so weniger, als gerade mal fünfzehnhundert Jahre später die Römer ja wirklich Campingstühle hatten?

    Preußische Kolonie: eine tragische Frace

    Vergleichbar neu war mir die preußische Kolonialgeschichte, auf die auf der völlig unpraktisch – kein Mensch kann aus der Nähe 30 Meter Animation überblicken, zumal ArchivarInnenhände ständig Kram rein- und rausschieben – breiten Videowand zur Geschichte von Schloss und Palast kurz vorkommt:

    Screenshot mit Siegel und zweisprachigem Text: „Friedrich Wilhelm gründet die Kolonie Großfriedrichsburg und steigt in den Menschenhandel ein, 1682-1712.

    Die Reaktionäre, die für den Neuaufbau des Preußenschlosses gesorgt haben, werden die Verbindung ihrer geliebten Hohenzollern mit Menschenhandel nicht gerne sehen, denke ich. Aber wahrscheinlich ist ihnen die ganze Kolonialepisode in ihrer hölzernen Murksigkeit so oder unangenehm.

    Das Diktum von Marx, in der Geschichte geschehe gerne alles zwei Mal, erst als Tragödie und danach als Farce, gilt hier eher umgekehrt: Mit all den Massakern und rassistischen Exzessen darf die „große“ deutsche Kolonialzeit zwischen 1880 und 1918^H4 zweifellos als Tragödie gelten. Ohne das Leid, das preußische Söldner, Militärs, Händler und Klientenregimes 1682-1712 anrichteten, kleinreden zu wollen: So, wie das ablief, war der erste Kolonialversuch im Vergleich eher eine ziemlich schräge, nicht immer geschmackssichere Komödie.

    Ich darf die entsprechende Geschichte in der Wikipedia vielleicht kurz interpretierend zusammenfassen: In einem seiner zahlreichen Kriege (in dem Fall gegen seinen schwedischen Kollegen) hat der Kurfürst Friedrich Wilhelm von der Humboldtforum-Videowand offenbar eher zufällig einen niederländischen Freibeuter namens Benjamin Raule engagiert. Der hatte überraschenderweise durchschlagenden Erfolg, so dass der Kurfürst plötzlich 21 ehemals schwedische Schiffe in der Hand hatte. Da es die schon mal gab, war es offenbar für Raule nicht schwer, den Kurfürsten zu beschwatzen, ihn mit der Errichtung einer Kolonie in Westafrika zu beauftragen.

    So richtig glatt ging das nicht, schon weil die richtigen Niederländer eines der Schiffe gleich mal wegen Schmuggels beschlagnahmten, aber am Schluss gab es eine Art Einigung mit lokalen Potentaten im heutigen West-Ghana und ab 1683 tatsächlich einen schlimm malariaverseuchten brandenburgischen Stützpunkt in Afrika. Den Namen hätte Monty Python nicht besser wählen können: Groß Friedrichsburg.

    Das „Fort“ entwickelte sich tatsächlich zu einem mäßig erfolgreichen Marktplatz für Waffen und versklavte Menschen, aber so richtig hob das Geschäft doch nie ab. Nach dem Tod des thalassophilen Kurfürsten Friedrich Wilhelm ließ das Interesse aus Berlin stark nach, und so haben sich die Leute in Westafrika allmählich internationaler orientiert. Schließlich hatte 1717 und 1720 der König Friedrich Wilhelm I (wenn ich richtig gezählt habe: ein Enkel des gleichnamigen Kurfürsten) den ganzen Mist in zwei Verträgen an die Niederländisch-Westindische Compagnie verkloppt.

    Blöd nur, dass Eigentum immer eine Frage von Gewalt ist, und die hatten die Preußen nach all den Jahren nicht mehr in Groß Friedrichsburg. Stattdessen hatte sich dort der westafrikanische Händler Nana Konneh („Jan Conny“ für die Deutschen; ob und wie er sich selbst geschrieben hat, ist heute unbekannt) selbst als Statthalter eingesetzt und hatte hinreichende Gewaltmittel, um der niederländischen Firma die Tür (bzw. das offene Meer) zeigen zu können. Ob er sich gegenüber den nach westlichen Rechtsstandards neuen Eigentümern der Festung wirklich als Statthalter Preußens ausgegeben hat, ist historisch zumindest sehr umstritten. Gesichert ist aber, dass die Niederländisch-Westindische Compagnie erst sieben Jahre nach dem ersten Kaufvertrag in die Festung einziehen konnte.

    Alles falsch

    Neben Ethnologie und Geschichte des Hauses gibts noch etliche andere Ausstellungen im Humboldtforum. Schade fand ich dabei, dass ich nur sehr magere Spuren des Palasts der Republik gefunden habe, den die Reaktion ja dringend durch ihr Schloss ersetzen musste, genauer:

    • Ein kleines Wändchen mit runterskalierten Plakaten und schwer fremdbeschämenden Videos von entsetzlich piefigen DDR-Veranstaltungen (gleich neben dem Haupteingang, sehr lohnend)
    • die gläserne Urne, in der die Volkskammerabgeordneten den Beitritt der DDR „zum Geltungsbereich des Grundgesetzes“ abgestimmt haben (in der Skulpturensammlung, eher mäßig lohnend)
    • ein, zwei Vitrinchen mit wechselnden Memorabilia ehemaliger Beschäftigter (an offenbar zufälligen Stellen)
    • ein, zwei im Bauschutt gefundene Alltagsgegenstände der ganz frühen DDR-Jahre (z.B. ein Alumesser) im ansonsten sehr aufschlussreichen Schlosskeller.

    Hätten die nicht wenigstens, sagen wir, das Treppenhaus im Stil des Palastes der Republik gestalten können? Es könnten ja auch asbestfreie Nachbildungen sein. Der ganze Barockkitsch, der jetzt da steht, ist – vom durchaus sehenswerten Kellergeschoss abgesehen – ebenfalls zu fast 100% Fake^Wnachgebildet.

    Immerhin geben sie das offen zu. Das hier ist im aktuellen Foyer, und per Tafel gestehen die KuratorInnen offen ein, dass nur das etwas dunklere Material vom Gruselschloss preußisch-deutscher Machtentfaltung übrig geblieben ist.

    In Weiß gehaltenes Barockportal mit vielen Simsen, Säulen und zwei trompetenden Engeln.  Ein kleines Stück ist Dunkelgrau.

    Wenn ihr mich fragt: Ich würde der DDR-Regierung von 1950 nicht laut vorwerfen wollen, das Ding weggesprengt zu haben. Sehr wohl ist ihr allerdings vorzuwerfen, die Stelle als Platz für grässliche Aufmärsche und Paraden planiert gelassen zu haben statt sie, wie in einem kurzen Augenblick des Lichts um 2010 herum, zu einer hübschen Wiese zu machen.

    Was genau finden eigentlich Grobiane daran, ihre Untertanen als hirnlose, ferngesteuerte Masse auflaufen zu lassen?

  • Escher in der ODEG: Ein Bahnfenster mit merkwürdiger Parkettierung

    Spätestens seit M.C. Escher[1] ist Parkettierung, die überlappungsfreie Füllung der Ebene mit mehr oder minder interessanten Teilfächen, nicht nur unter MathematikerInnen Kult. Sie gehört, im Zweifel via Douglas Hofstadters immer noch lesenswerten Gödel Escher Bach, auch zu den Klassikern der HackerInnenkultur. So hat sie sogar eine Rolle in Neal Stephensons (in der ersten zwei Dritteln wirklich sehr lesenswerten) Buch Anathem, das, in meiner Interpretation, eine Welt beschreibt, in der die Pythagoräer gewonnen haben und deshalb die technische Ziviliation schon zweitausend Jahre früher begonnen hat.

    Lasst mich eine Szene aus dem Buch zitieren, in der sich zwei Angehörige der aus diesen Urzeiten nachgebliebenen pythagoräischen Orden wie folgt unterhalten:

    „Seine Berufung waren die Fliesen,“ sagte Lio. „Er hat die prächtige Verfliesung der Neuen Waschstube gefertigt.“

    „Den Geometriekram,“ sagte ich.

    „Ja. Aber es scheint, dass das eher eine Art Vorwand war. In Wahrheit hat er wohl ein uraltes Geometrieproblem verfolgt, das Teglon. Es ist ein Parkettierungsproblem, und es geht bis auf den Tempel von Orithena zurück.“

    „Ist das nicht der Kram, der Leute verrückt macht?“ fragte ich.

    (Meine Übersetzung; der letzte Satz mag wieder eine Referenz auf Gödel Escher Bach sein: vgl. Gödels Krankheit).

    An diese Geschichte musste ich denken, als ich neulich in einem ODEG-Zug („RE 1“ ist dessen Berliner Name; allerdings heißen dort erstaunlich viele Linien mit erstaunlich vielen Anfangs- und Endpunkten so) im abendlichen Gegenlicht an oder in den Fenstern über dem oberen Stockwerk der Doppelstockwagen ein schwaches Muster sah:

    Zarte, wabenähnlich angeordnete orangefarbene Linien vor einem verwaschenen Hintergrund.

    Zunächst dachte ich, das sei eine einfach irgendein zufälliges Muster, mit dem die Hersteller die Splitterschutz-Folie im Verbundglas verstärkt hat, oder vielleicht gar ein Artefakt des Produktionsverfahrens. Wer genau hinsieht, wird jedoch finden, dass die Striche in Wirklichkeit aus parallelen Unter-Strichen bestehen (schaut in der Näher der Fokalebene), was mich etwas ins Zweifeln gebracht hat. An den Zusammenhang mit Splitterschutz glaube ich jedoch immer noch, trotz der Versuchung, an Strom oder Sensor zu denken; mein zweiter Erklärungs-Kandidat wäre Scheibenheizung gewesen, aber welchen Sinn sollte so etwas in einem Passagierwaggon haben?

    Zufällig oder produktionsbedingt ist das Muster aber überhaupt nicht. Live ist das durch hinreichend flaches Ansehen schnell zu erkennen, sobald mensch eine richtige Achse wählt. Für hier habe ich das mal etwas entzerrt und horizontal und vertikal zwei Geschwisterzellen markiert:

    Das Wabenmuster von eben, nur mit weniger perspektivischer Verzerrung und mit blau und orange markierten Polygonen, die sich jeweils untereinander ähneln.  Die blauen Zellen trennt ein Gitterplatz, die orangefarbenen zwei.

    Mensch muss also zwei Zellen horizontal oder drei Zellen vertikal weitergehen, damit das Gitter wieder in sich übergeht. Dass so eine relativ kurze Periode ein auf den ersten Blick jedenfalls für mich so chaotisches Bild hergibt, hätte ich schon mal nicht gedacht.

    Eingestanden: Wahnsinnig wie bei Stephenson wird mensch davon nicht. Aber es hat mich immerhin dazu gebracht, nochmal nachzulesen, was Penrose-Kacheln sind (sind die hier nicht) und danach die vielen hübschen Bilder im allgemeinen Parkettierungs-Artikel der Wikipedia zu betrachten. Mensch muss schon ziemlich weit scrollen, bis die hier vorliegende Klasse kurz angerissen wird: Parkettierungen mit sonstigen unregelmäßigen Polygonen ist im Augenblick so in etwa 63% runter.

    Das OBEG-Muster besteht aus unregelmäßigen Sechsecken, was die Wikipedia derzeit noch nicht diskutiert. Sie erwähnt immerhin, dass derzeit nur 15 kachelbare konvexe Fünfecke bekannt sind. Da mensch mit Sechsecken platonisch (also: regelmäßige Kacheln und alle Kacheln gleich groß) parkettieren kann, würde ich raten, dass es demgegegenüber bei Sechsecken beliebig viele Parkettierungen gibt; an sich sollte es ja kein Problem sein, jede Ecke ein wenig oder auch ein wenig mehr zu ziehen, wenns nicht drauf ankommt, dass alle Sechsecke gleich sind.

    Was dann auf die Frage führt: Hatten die Leute, die dieses Glas gemacht haben, starke Gründe, die Ecken gerade so zu ziehen, wie sie es gemacht haben? Und damit gleich auf die nächste Frage: Warum haben sie nicht überhaupt einfach regelmäßige Sechsecke („Wabenmuster“) genommen? Dazu wäre meine Vermutung, dass mit dem gewählten Muster nur viel schwächere Vorzugsachsen existieren, von denen es bei einem Wabenmuster ja mindestens 12 sehr deutliche gibt.

    Dass Vorzugsachsen bei einem Splitterschutz eher unwillkommen sind, scheint mir plausibel. Aber ich habe keine wirkliche Ahnung, und weder Wikipedia noch Duckduckgo haben mir unter Schlagwörtern wie Verbundglas und Wabe oder Hexagon halbwegs flott irgendwas Vielversprechendes geliefert.

    Wer etwas weiß: ich freue mich über Einsichten per Mail.

    [1]Escher ist erst 1972 gestorben, weshalb das Urheberrecht sein Werk noch lange aus Plätzen wie der Wikipedia heraushalten wird. Glaubt eigentlich irgendwer, Escher hätte eines seiner Bilder nicht gemacht, wenn es jetzt in der Wikipedia wäre? Aber egal: Bis irgendwer den Kram wegklagt, könnt ihr Escher-Werke auf einer Beispiel-Aufgabenstellung von der TU Darmstadt anschauen.
  • Fiebrige Einsichten, von Veit Etzold vermittelt (eine Buchkritik)

    Die Behauptung, Reisen erweitere den Horizont, ist sicher eine der abgedroscheneren Weisheiten, die einen Artikel eröffnen können. Nun: hier habe ich eine aktuelle Illustration für ihre fortbestehende Wahrheit.

    Kaum überraschend bin ich nämlich von meiner ersten großen Auslands-Dienstreise (immerhin noch ohne die Erniedrigung des Flugverkehrs) mit einer aktuellen Variante von SARS-II zurückgekommen. Diese brachte mein Immunsystem mächtig auf Touren („Calor, Dolor, Tumor, Rubor“, in meinem Fall vor allem Calor bis 39 Grad und bejammernswerte Mengen Dolor). In Summe: Ich konnte für drei Tage im Wesentlichen nichts tun als Audiobücher hören, die ich bei vergangenen Reisen aus dem ICE-Portal der Bahn aufgenommen habe. Eines davon war „Die Filiale“ des Wirtschafts-Motivationspredigers Veit Etzold.

    Vielleicht ist das Werk selbst nicht sehr bemerkenswert, doch seine Verbreitungsweise ist es: Da es bei Argon erschienen ist (und auch als richtiges Buch bei Droemer), muss es wohl durch mindestens ein Lektorat gegangen sein. Und danach muss es immer noch wer fürs ICE-Portal ausgewählt haben. Irgendwo auf diesem Weg sollte doch jemand selbst angesichts eines Promi-Autors („Promi“ nehme ich jedenfalls an; ich kannte Etzold bis jetzt nicht) die Anmerkung gewagt haben, dass die Personen der Geschichte sprechen und handeln wie auf schlecht übersetzte US-Soaps trainierte Schaufensterpuppen?

    Ich finde weiter, ein Lektorat hätte merken müssen, dass die weit mehr künstlich als kunstvoll eingebauten Versuche, zweifelhafte „Finanzprodukte“[1] zu erklären und ein paar Brocken Französisch einzustreuen, einen Cringe-Faktor haben wie Marie Louise Fischers Hausgespenst-Schmonzetten (1976 bis 1982; für Kinder der Zeit sowie Neugierige entleihbar bei libgen) aus dem Schneider-Verlag unseligen Angedenkens[2]. Auch diese versuchten es mit übermäßig beiläufig eingestreuten Bildungshäppchen zu Pferdepflege, bayrischer Geographie, Kreuzfahrtschiffen und eben auch Französisch.

    Dazu tritt das zu billig rekrutierte Personal der Geschichte, das im Wesentlichen aus relativ glücklich verheirateten, berufstätigen, einfamilienhausbewohnenden Schwabos[3] um die 40 besteht, die mit, na ja, Internetfirmen und von diesen unterwanderten Traditionsbanken um ihr liebevoll ausgebautes – wenn auch nur gemietetes – Einfamilienhaus samt kameraüberwachten Gartenzwergen ringen.

    Also schön: das mit den Gartenzwergen habe ich erfunden: In der Wirklichkeit des Buchs videoüberwacht der liebenswerte, wenn auch etwas trottelige Gatte der Bankangestellten-Heldin gleich die ganze Straße; dass Etzold schließlich die Rettung der ab Mitte des Werks außertariflich Bezahlten auf diese niederträchtige Schurkerei aufbaut und bei der Gelegenheit noch etwas Anti-DSGVO-Ressentiment unterbringt, das hätte es selbst in diesem Roman wirklich nicht gebraucht.

    Das ganze Szenario wirkt um so artifizieller, als in Etzolds Welt die Männer Handwerker (oder bestenfalls FH-Absolventen auf dem Sprung aus Besoldungsgruppe A11) sind, während die Frauen zumindest akademischen Habitus zeigen. Ich wittere da aus der ollen rechten Sorge vor der „Überakademisierung“ der Bevölkerung geborene Träume, denn in der Realität sind schichtenübergreifende Ehen in dieser Kombination sehr wahrscheinlich immer noch die große Ausnahme (da bin ich mir so sicher, dass ich keine Belege dafür suche).

    Und auch wenn ich kein Diversitätsfass aufmachen will, ist es für eine Geschichte, die in Berlin spielt, eigentlich schon ein politisches Statement, wenn als einzige erkennbare Nichtschwabos zwei tschetschenische Killer und ganz kurz ein dicker, rauchender Franzose auftreten.

    Bei aller Kritik, und nun kommt das mit der Horizonterweiterung (denn ohne Reisen hätte ich weder jetzt SARS-II eingefangen noch das Etzold-Buch gehört), hat mir das Buch eine ganze Welt in Plastorama vorgespielt: Menschen, die mit ihren KollegInnen um die Beförderung zur stellvertretenden Filialleitung konkurrieren und die Arbeitsnutzerrede vom Betriebsrat als Abhängebude erst dann kurz vergessen, wenn es wirklich brennt, deren Internet aus lauter proprietären Plattformen, aus Markennamen besteht (aus dem Kopf: Reddit, Linkedin, Xing, Instagram, Whatsapp, erstaunlicherweise aber nach meiner Erinnerung weder Amazon noch Twitter), die ständig im Auto – einem „Amarok“ zumal, wenn sie im Wald Tiere totschießen wollen[4] – umherfahren und die ansonsten ihre triste Existenz mit Grillfleisch, Rotwein, Caipirinha, Starbucks-Karamelkaffee und Bekannten aus der Muckibude aufhellen.

    Wie mir Vorleserin Verena Wolfien das alles durchaus gekonnt in mein Fieberdämmern hineintrug, kam es mir in der irritierenden Kombination von hölzerner Prosa und thermoplastischer Handlung wie eine komische und wüste Dystopie im Stil von David Lynch vor. Bis ich merkte, dass das vermutlich unfair ist. Klar ist die Geschichte grob holzgeschnitzt, aber das Internet besteht für viele Menschen ja tatsächlich im Wesentlichen aus einer Handvoll proprietärer Plattformen. Nennenswert viele Menschen arbeiten, glaube ich, tatsächlich ernsthaft auf eine Beförderung hin, ganz gleich, wie sinnlos oder gar unmoralisch („Anlageberaterin“) schon ihre bestehende Tätigkeit ist.

    In meinem Fieber fühlte sich diese Einsicht recht profund an. Wahrscheinlich ist sie das nicht, aber gut sind solche Erinnerungen an die Blasenhaftigkeit der eigenen Weltwahrnehmung dann und wann bestimmt. Außerdem war die Erleichterung angenehm, als im nächsten Hörbuch („Acht, in Böen Neun” von Michael Wirbitzky, der als Hörfunkmensch eingestanden auch bessere Voraussetzungen hat; wenns das im Bahn-Portal noch gibt, lohnt es sich durchaus) Leute wieder wie halbwegs echte Buchmenschen redeten.

    Oh, und… Herr Etzold, sollten Sie das lesen und wirklich einen Bildungsauftrag verspüren: Nein, schon als Sie das Buch schrieben, war ein UMTS-Modul in einem Computer keine gute Wahl mehr für mobilen Internetzugang. Ein schneller Blick in die Wikipedia (oh ja: wertvoll, obwohl ohne Preis) hätte Ihnen gesagt, dass in der BRD schon Ende 2021 mit UMTS kein Blumentopf mehr zu gewinnen war (in der Praxis war für mich schon Mitte 2021 Schluss), also im Wesentlichen simultan zur Gamestop-Geschichte, auf die Sie im Buch anspielen.

    Für die nächste Auflage des Buches schlage ich eingedenk dessen ein durchgreifendes De-Branding vor. Hier zum Beispiel: „Funkmodem”. Allerdings gebe ich zu, dass ein Wort wie „Karrierenetzwerk“ den Tatbestand von Linkedin und Co zur Kenntlichkeit verzerrt, was vielleicht der Kunst (oder was immer) nicht wirklich hilft. Hmja.

    [1]Was ich davon mitgenommen habe: Wandelanleihen sind Mist, weil daran allenfalls die Bank verdient. Zur Kritik des gesamten Konzepts von Reichwerden mit Geldspielen kommt, das sage ich gleich mal, im Buch nichts; aber das wäre vielleicht auch etwas viel verlangt von einem, der bei der HAW Aalen als BWL-Professor auftritt (angesichts der hohen Lehrbelastung an Ex-Fachhochschulen und Etzolds Wohnsitz in Berlin werden bei diesem Job aber wohl mildernde Umstände im Spiel sein).
    [2]Beim Wikipedia-Stöbern zu alten Schneider-Autoren habe ich zu meiner endlosen Überraschung erfahren, dass der Autor der doch sehr stulligen (aber von mir seinerzeit heißgeliebten) Schreckenstein-Romane, Oliver Hassencamp, Gründungsmitglied der Münchner Lach- und Schießgesellschaft war. Oh?
    [3]Schwabo ist die (eine?) Bezeichnung für „Deutsche“ im Serbokroatischen gewesen. Weil ich immer noch Abbitte leisten will für das Unheil, das Genschers Großmachtfantasien vom Dezember 1991 (und u.a. meine Unfähigkeit, rechtzeitig effektiv etwas gegen sie unternehmen) über dessen SprecherInnen gebracht haben, ziehe ich das Wort dem üblicheren „Kartoffel“ vor.
    [4]Wobei unklar bleibt, wie sich der Betreiber eines Schlüsseldienstes diese Sorte exklusives Hobby eigentlich leisten kann.
  • Planspiele in Meerengen

    In den Deutschlandfunk-Nachrichten läuft derzeit Folgendes:

    Der EU-Außenbeauftragte, Borrell, hat Patrouillenfahrten europäischer Kriegsschiffe in der Straße von Taiwan gefordert.

    Europa müsse beim Thema Taiwan sehr präsent sein, schrieb Borrell in einem Gastbeitrag der französischen Sonntagszeitung „Journal du Dimanche“. Die Europäische Union sei sowohl wirtschaftlich als auch technologisch eng mit Taiwan verbunden. Es gehe um die Freiheit der Schifffahrt.

    Buchtitel in rot und schwarz: Weiß "2034" ein paar chinesische Schriftzeichen

    Grusel-Schocker: Ein Roman über den nächsten Weltkrieg. Rechte bei Penguin.

    Ich könnte jetzt grummeln, dass das schon sehr klare imperiale Ansagen sind („wir werden unseren wirtschaftlichen Interessen gemäß töten, und sei es auch am anderen Ende der Welt“), aber das wäre trotz der Empörung über konkurrierende imperiale Interessen, die Borrell dann und wann äußert, langweilig.

    Im Vergleich hinreichend spannend ist das Buch, an das mich diese Nachricht sofort erinnert hat, nämlich „2034 – A novel of the next world war“ von Elliot Ackerman, einem ehemaligen Marineinfanteristen, und James Stavridis, der von 2009 bis 2013 alliierter Oberbefehlshaber in Europa war (ist bei libgen entleihbar; ansonsten: Penguin Books 2021, ISBN 9780593298688). Die beiden haben in dem Buch erkennbar viel Spaß, sich Geschichten (durchaus im intersektionalen Sinn) diverser HeldInnen in einem allmählich eskalierenden Weltkrieg auszumalen. Wenn das diese Geschichten umgebende Szenario militärischen Planspielen nicht ohnehin schon so eng folgt wie das die Geheimnistuerei in dem Geschäft halt zulässt, wird es bestimmt demnächst jede Menge entsprechende Simulationen geben (siehe unten).

    Das Buch kam mir in den Sinn, weil sich in der Geschichte – ja, ich spoilere in diesem Absatz das ganze Buch – der Krieg entzündet an sozusagen Borrellschen Patroullienfahrten im fraglichen Seegebiet – nur natürlich der US-Marine, deren existierende Operationen Borrells Forderungen noch mehr als Wir-auch-Imperialismus markieren. Ein paar US-Zerstörer (oder was immer) schippern durch die Spratleys, und China kann die mit überwältigenden „Cyber Capabilities“ – sie sitzen ja in jedem Router! – ohne Gegenwehr versenken.[1] Nachdem die Iraner weiter einen tapferen Fighter Pilot foltern, die Chinesen eine See- und Cyberblockade über Taiwan verhängen und die Russen das Internet durch Kappen eines Tiefseekabels am Nordpol kaputtmachen, zünden die USA eine Atombombe über einer chinesischen Militärstadt (wie sie das angesichts der erdrückenden „Cyber Capability“ der Chinesen machen, bleibt offen), China zündet zwei über US-Städten, und dann darf der gefolterte Fighter Pilot, der inzwischen aus dem Iran freigekommen ist, mit seinen überlegenen uncyberigen Flugkünsten noch Shanghai einäschern, bevor Indien einen Friedensschluss erzwingt.

    Jaja, die Handlung ist stulle, aber dass sich alles um das dreht, was Militärs heute gerne „Indopazifik“ nennen, ist besonders bemerkenswert, weil Stavridis, soweit ich die deutsche Wikipedia richtig verstehe, eigentlich immer im erweiterten Atlantikraum unterwegs war (Irak, Bosnien, Haiti, Guantanamo inklusive Internierungslager, vielleicht sogar Heidelberg). In dem Buch streicht er das Erbe der Ballereien seiner eigenen Leute praktisch vollständig, was mir den Eindruck einer alarmierenden Fixierung auf China innerhalb der Leitungsbene des US-Militärs aufdrängt. Diese mag aktuell zwar etwas gemildert sein, aber vermutlich ist die Einschätzung Jörg Kronauers (in seiner Veranstaltung am 9. März bin ich auf das 2034-Buch aufmerksam geworden) nicht ganz abseitig, das große transatlantische Interesse am Krieg in der Ukraine könnte viel mit Rücken-Freihalten (oder -kriegen?) für Konflikte mit China zu tun haben.

    Daher: So unwohl ich mich in China gefühlt habe – die himmelschreiende Ungleichheit, die blinde Nutzung von allem, was blinkt und piept, der wilde Wettbewerbswille, der schockierend verbreitete glühende Patriotismus –, so sehr ist klar, dass Aufrüstung und Säbelrasseln bei uns nichts davon verbessern werden; wie üblich gilt es, der autoritären Versuchung nicht nachzugeben, denn sehr wahrscheinlich würde das nicht nur hier, sondern auch dort alles schlimmer machen.

    Wer den Menschen unter chinesischer Herrschaft helfen will, möge hier gegen Militarisierung und Patriotismus kämpfen, vermutlich würde auch Aktivismus gegen Freihandel helfen, und ganz gewiss Klima-Aktivismus, denn China hat in der Hinsicht viel zu verlieren und wenig zu gewinnen. Gute Vorbilder bei uns helfen den Menschen dort, mehr Partizipation und (damit notwendig) weniger Militär sowie weniger Arbeit und Wettbewerb zu erreichen. Ganz offenbar imperiale Gesten wie die Borrells machen den Menschen guten Willens dort ihre Arbeit zumindest mal viel schwerer.

    Unten

    Buchtitel "The third world war" fett weiß auf schwarzem Grund, darunter eine Erdkugel mit mehreren Großfeuern.

    Der Vorgänger von 1979. Rechte bei Sphere Books

    Der große Präzedenzfall für einen Nächster-Weltkrieg-Schocker ist übrigens „The Third World War“ (Sphere Books 1979), ein Lieblingsprojekt des Zweite-Weltkrieg-Haudegens „General Sir“ John Hackett, der beispielsweise in den 1960ern die britische Rheinarmee kommandiert hat und damit dann die „Northern Army Group“ der NATO – was immer das gewesen sein mag. In dem Buch – ich spoilere wieder – entzündet sich der Konflikt im Jahr 1985 erwartungsgemäß an West-Berlin, dann nuken die Russen Birmingham, dann die NATO Minsk, und dann zerfällt die Sowjetunion ganz ähnlich wie sie das in der Realität ein halbes Jahrzehnt später auch ohne Atombombe getan hat.

    Der Vergleich des aktuellen Ackerman/Stavridis-Buchs mit dem männerschweißigen Reißer aus den 1970ern samt dessen Waffen-Porn in Sprache und auf eingehefteten Bild-Tafeln schlägt übrigens vor, dass es vielleicht sogar im Militär irgendwas wie einen Prozess der Zivilisation gibt. Solange das das Militär immer noch nicht am Rumballern und Bombenwerfen hindert, tröstet das zwar wenig, aber immerhin sind die Akteure von 2034 nicht mehr die Terminatoren ohne Sozialleben oder erwähnenswerte Sprachfähigkeiten, die Hackett auftreten ließ.

    In den frühen 80ern war das Hackett-Buch gerade im Militär ein Bestseller (ich bin z.B. überzeugt, dass meine Ausgabe von einem Mitarbeiter der damals noch zahlreich in Heidelberg vorhandenen NATO-Stäbe ins Antiquariat gegeben wurde), und wer im Netz mal nach "Fulda Gap 1985" sucht, wird feststellen, dass Hacketts Szenario immer noch viele Kriegsspiele inspiriert.

    Mal sehen, wie die Leute in dreißig Jahren über Ackerman und Stavridis reden werden. Mit etwas Engagement sollte es doch hinzukriegen sein, das Wort „hellsichtig“ aus künftigen Besprechungen ihrer Geschichte rauszuhalten…

    [1]Die chinesischen „Cyber Capabilities“ sind natürlich völlig fantastisch und zeugen von einem eher religösen Verhältnis der Autoren zu Technologie, aber das ist beim Auftauchen der Buchstabenfolge „C-y-b-e-r“ (Standard-Bedeutung: Alles im Umkreis von 30 Tokens ist Bullshit) ja zu erwarten.
  • Der Reichsbank-Preis und die Effizienz

    Ich hatte im Januar gegen Ende meines Kopfschüttelns über Fachblindheit zum Thema wissenschaftliches Publikationswesen der Versuchung einer preisbezogenen Klugscheißerei nicht widerstehen können:

    Wenn der DLF-Moderator behauptet, Vernon Smith habe 2002 den Nobelpreis erhalten, ist dem im Sinne von Alfred Nobel zu widersprechen – Smith hat den „Preis für Wirtschaftswissenschaften der schwedischen Reichsbank in Gedenken an Alfred Nobel“ bekommen, der seit 1969 verliehen wird (richtige Nobelpreise: seit 1901).

    Diese Bemerkung war zwar in mehrfacher Hinsicht albern, aber das Thema hat schon viele in Technicolor schimmernde Seiten. Auf eine davon bin ich vorhin in Yanis Varoufakis' unterhaltsamen[1] The Global Minotaur (entleihbar bei libgen) gestoßen. Und zwar hat das für den Reichsbank-Preis zuständige Komitee 1997 Robert Merton and Myron Scholes als würdige Empfänger auserkoren, weil:

    Their methodology has paved the way for economic valuations in many areas. It has also generated new types of financial instruments and facilitated more efficient risk management in society.

    – sie also angeblich Risiken „effizienter“ abschätzen konnten als ihre VorgängerInnen.

    Gleich im nächsten Jahr implodierte der vielleicht selbstironisch Long Term Capital Management (LTCM) genannte Laden der beiden und konnte nur durch einen großzügigen öffentlichen Bailout so abgewickelt werden, dass er nicht gleich das halbe Bankensystem mitnahm; die Geschichte in der Wikipedia. In aller Kürze zeigt die Wertentwicklung von LTCM-Anlagen aus dem Wikipedia-Artikel die Zuverlässigkeit (oder Nützlichkeit? Oder „Effizienz“?) der Erkenntnisse von Merton und Scholes ziemlich deutlich:

    Drei Kurven.  Zwei gehen mehr oder minder stetig nach oben, die dritte, die für LTCM, anfangs steiler, aber dann bricht sie auf fast null ein.

    Selbst wenn das nicht eine starke Aussage über die Wirtschafts„wissenschaften“ als solche oder zumindest ihren Effizienzbegriff sein sollte – es ist jedenfalls eine starke Aussage über diesen, hust, „Wirtschafts-Nobelpreis”.

    [1]Also: Unterhaltsam zumindest für Menschen, die ihren Zorn darüber, dass all die Monopolyspiele haufenweise Menschen umbringen, mit hinreichend Zynismus kontrollieren können.
  • WissenschaftlerInnen als Helden: Contact von Carl Sagan

    19-Zoll-Schränke voll mit blinkender Elektronik

    Sieht aus wie eine Kulisse aus einem (ja: etwas älteren) Hard-SciFi-Streifen, ist aber echt: Elektronik am Radioteleskop Effelsberg anno 2010.

    Letzte Woche war die Presse voll von Verrissen der Verfilmung von Frank Schätzings Der Schwarm. Eigentlich finde ich das ein wenig schade, denn eigentlich bin ich, und das mag eine Charakterschwäche sein, ein Fan von Büchern und Filmen, deren HauptprotagonistInnen in der Wissenschaft arbeiten. Schätzings Vorlage gehört ja unzweifelhaft in diese Kategorie. Allerdings räume ich gerne ein, dass schon im Buch die Jung-Schön-Sportlichkeit der wesentlichen Personen etwas nervt.

    Spoiler: So sieht trotz der rigiden Befristungspraktiken noch nicht mal das Personal an deutschen Unis aus. Von MPI und Helmholtz will ich in der Richtung gar nicht anfangen. Das aber sollte nicht überraschen, denn es ist auch gar nicht der Job von WissenschaftlerInnen, jung, schön und sportlich zu sein.

    Dazu tritt im Buch und viel schlimmer in der Serie, dass auch die Darstellung der wissenschaftlichen Tätigkeit als solcher bis zur Unkenntlichkeit dramatisiert wird. Klar, niemand will Geschichten über Telecons zur Vorbereitung von Forschungsanträgen lesen, und vermutlich noch nicht mal vom Ringen um die geschlossene Lösung eines Integrals, ohne die die Rechnung drei Jahre dauern würde. Aber es gibt Romane, die ich eminent lesbar finde und die dennoch, jedenfalls bevor es zur Sache geht, eine für Menschen in der Wissenschaft wiedererkennbare Welt beschreiben.

    Die Schwarze Wolke

    Wo ich das schreibe, fällt mir als allererstes Beispiel The Black Cloud (1957) des in vieler Hinsicht großartigen Fred Hoyle ein (im Original bei libgen entleihbar, auf Deutsch wohl eher schwer zu kriegen). Wer auf Geschichten über Erstkontakte steht und einen Einblick bekommen will in die große Zeit der Astronomie vor CCDs und Weltraumteleskopen: das ist Pflichtlektüre.

    Während ich mir ein paar Folgen des ZDF-Schwarms zu Gemüte geführt habe, ist mir aber mehr Contact von Carl Sagan durch den Kopf gegangen[1]. Diese Bevorzugung gegenüber dem Großwerk von Fred Hoyle wird wohl daran gelegen haben, dass ich das Sagan-Buch neulich mal wieder gelesen habe, nachdem ich auf Planet Debian über eine Besprechung von Russ Allbery gestolpert war.

    Russ geht relativ hart mit dem Buch ins Gericht:

    The biggest problem with Contact as a novel is that Sagan is a non-fiction writer who didn't really know how to write a novel. […T]he tone ranges from Wikipedia article to long-form essay and never quite feels like a story.

    und dann:

    I don't think this novel is very successful as a novel. It's much longer than it needs to be and long parts of it drag. But it's still oddly readable; even knowing the rough shape of the ending in advance, I found it hard to put down once the plot properly kicks into gear about two-thirds of the way through.

    Ich muss demgenüber ja sagen, dass ich Buch wie Film in der ersten Hälfte weit stärker fand als in der zweiten (aber das geht mir zum Beispiel auch bei Neal Stephenson in aller Regel so). Die Darstellung des Wissenschafts- und Erkenntnisprozesses jedenfalls ist in Contact – für Verhältnisse von Belletristik – wirklich gut gelungen. Ich hatte auch viel Freude an den Einführungen der verschiedenen Persönlichkeiten, in denen ich Typen aus dem wirklichen Leben wiedererkennen konnte. Allen voran kannte ich gleich ein paar Vaygays (aber die meisten von denen sind inzwischen tot oder jedenfalls tief pensioniert).

    Ein Roman als Blog-Ersatz

    Wahrscheinlich trifft jedoch die Kritik, Sagan habe nicht eigentlich einen Roman geschrieben, schon ein wenig. Ich denke, er hat im Groben einige seiner Ansichten und Ideen darlegen wollen und das Ergebnis mit einer nicht immer ganz organischen Geschichte zusammengesponnen, weil es damals halt noch keine Blogs gab, in denen Einzelbeiträge auch ohne Gewebe nebeneinender hätten stehen können. Kann ich verstehen: Dann und wann fantasiere ich auch darüber, so einen Roman zu schreiben.

    Ein Regal mit Plastikkisten, in denen jeweils Stapel von Festplatten stehen

    Wo ich schon mal handfeste Elektronik in der Radioastronomie zeige: 2015 wurden VLBI-Radiodaten (gerade) noch in solchen Plattenstapeln zum Korrelieren gefahren (hier: am ASTRON in Dwingeloo). Update (2023-03-14): Also… tatsächlich macht das Event Horizon Telescope das mit mit dem Verschicken von Platten auch heute noch so; anders sind die vielen Terabyte, die die da an ihren Teleskopen gewinnen, nicht zu den Korrelatoren zu bekommen, schon gar nicht vom Südpol.

    Am allerdeutlichsten ist der Charakter von Contact als Sammlung von Diatriben vielleicht, wenn Sagan über Religion rantet – und dann wieder Gottesmänner als besonders aufrechte Menschen auftreten lässt. Die Auseinandersetzung mit Fernsehpredigern und Evangelikalen erschien mir, als ich das Buch im letzten Jahrtausend zum ersten Mal gelesen habe, ziemlich wie US-Nabelschau.

    Wenn ich mir jetzt ansehe, wie viele doch sehr anrüchige „Freikirchen“ inzwischen in Gewerbegebieten und Strip Malls hiesiger Städte und Dörfer aufgemacht haben – oder gerade heute von Amokläufen in einem „Königreichssaal“ von Jehovas Zeugen höre –, bin ich mir da nicht mehr so sicher. Und auch die „Family Values“, die Sagan jedenfalls mehr rausschauen lässt als etwa Hoyle, haben im Zeitalter des Neoviktorianismus nicht mehr ganz so deutlich die Anmutung rustikaler Americana wie vor 30 Jahren.

    Ebenfalls so tangential wie lehrreich finde ich, dass die Maschine in Contact schließlich in Japan gebaut wird. In den 1980ern nämlich spielte Japan die Rolle in Erzählungen vom Untergang des Abendlands, die heute China spielt – halb Gefahr aus dem Osten, halb bewundertes Rollenmodell.

    Gelbe Gefahren im Wandel der Zeit

    Die Parallelen lassen sich ziehen hin zum Handelskrieg Ronald Reagans gegen (unter anderem) japanische Halbleiter oder für patriotische Motorräder, die in vielerlei Hinsicht vergleichbar sind zu Trumps und Bidens heutigen Vesuchen, die Handelsbilanz mit China etwas zu balancieren. Wer nach der Lektüre von Contact noch eine Runde den originalen Blade Runner (auch aus der Zeit des Contact-Buches) ansieht, bekommt vielleicht eine etwas gelassenere Perspektive auf die heutige „Systemkonkurrenz“.

    Dass das eine gute Sache wäre, liegt mir gerade besonders nahe, nachdem gestern hier in Heidelberg Jörg Kronauer recht überzeugend dargelegt hat, dass der nächste große Krieg gegen China gehen wird (ich habe den Mitschnitt aus München nicht angesehen, würde aber vermuten, dass es grob das gleiche Material sein wird), wenn… nun, wenn wir als Gesellschaft Oswald Spengler-Fantasmen nicht zwei Ecken realistischer betrachten und aufhören, Geschichte als großen und fundamentalen Konflikt zwischen Staaten und Machtblöcken zu denken.

    Russ Allberys Urteil zu diesem Thema in Contact kann ich im Gegensatz zu seinen ungnädigen Urteilen in anderen Fragen teilen:

    [Die Wunder des Weltraums] in his alternate timeline rapidly sped up nuclear disarmament and made the rich more protective of the planet. […] I was a bit torn between finding Sagan's predictions charmingly hopeful and annoyingly daft.

    Neenee, auch die Ablösung des Clash of Culture-Narrativs ist keine technologische Frage. Sie ist Hand- und Mundarbeit.

    [1]Gleich in einer ganzen Reihe von Ausgaben bei libgen entleihbar, aber ich sehe wieder keine deutsche Übersetzung. Angesichts der, soweit ich das sehen kann, anhaltenden Popularität des Films erstaunlich finde ich, dass auch die öffentliche Bibliothek in Heidelberg offenbar keine Ausgabe mehr hat.
  • Demächst frei: Ein wilder Auto-Rant

    Ich habe gerade eine Zusammenstellung einiger Werke durchgesehen, die nach US-Recht ab dem nächsten Ersten gemeinfrei werden (lange Nase an alle, die anderswo in diesem verfluchten Rechtsfeld Gesetze machen: in der Praxis ist das US-Recht dort normativ). Und was habe ich in der Liste gefunden? Den Steppenwolf von Hermann Hesse![1]

    Bemerkenswert finde ich das vor allem, weil Hesse in dieser Novelle schon 1927 einen Autohass entwickelt hat, der in seiner Radikalität noch heute beeindruckt. Dabei waren 1925 in einem etwas größeren Deutschland gerade mal 161'000 Autos zugelassen gegenüber heute (bei Pkws) 48'500'000[2] . Hesse schäumte also bei einer 300-mal kleineren Autobestandsdichte; da die Autos damals im Schnitt langsamer und vermutlich auch weniger lang fuhren als heute, dürfte der Faktor bei der Autoverkehrsdichte noch größer gewesen sein.

    Macht euch klar, was das bedeutet: in so einer Welt käme schlimmstenfalls an einer Straße, die jetzt im Sekundentakt miuw-miuw-miuw macht, gerade mal alle fünf Minuten ein Auto.

    Vergleicht angesichts dessen den folgenden Auszug aus dem Steppenwolf (ich zitiere im Vorgriff auf den 1.1. schon mal großzügig) mit Fritz Tietz' zeitgenössischem Analogon in der Weihnachts-taz.

    Der Ausschnitt setzt ein, als der Titelheld in einer Art (ich aktualisiere den Kontext ein wenig) wahnsinnigem Virtual Reality-Theater ist und sich überlegt, was er sich wohl reinziehen soll.


    Ich spürte, daß ich jetzt mir selber und dem Theater überlassen sei und trat neugierig von Tür zu Tür, und an jeder las ich eine Inschrift, eine Lockung, ein Versprechen.

    Die Inschrift

    Auf zum fröhlichen Jagen!
    Hochjagd auf Automobile

    lockte mich an, ich öffnete die schmale Türe und trat ein.

    Da riß es mich in eine laute und aufgeregte Welt. Auf den Straßen jagten Automobile, zum Teil gepanzerte, und machten Jagd auf die Fußgänger, überfuhren sie zu Brei, drückten sie an den Mauern der Häuser zuschanden. Ich begriff sofort: es war der Kampf zwischen Menschen und Maschinen, lang vorbereitet, lang erwartet, lang gefürchtet, nun endlich zum Ausbruch gekommen. Überall lagen Tote und Zerfetzte herum, überall auch zerschmissene, verbogene, halbverbrannte Automobile, über dem wüsten Durcheinander kreisten Flugzeuge, und auch auf sie wurde von vielen Dächern und Fenstern aus mit Büchsen und mit Maschinengewehren geschossen. Wilde, prachtvoll aufreizende Plakate an allen Wänden forderten in Riesenbuchstaben, die wie Fackeln brannten, die Nation auf, endlich sich einzusetzen für die Menschen gegen die Maschinen, endlich die fetten, schöngekleideten, duftenden Reichen, die mit Hilfe der Maschinen das Fett aus den andern preßten, samt ihren großen, hustenden, böse knurrenden, teuflisch schnurrenden Automobilen totzuschlagen, endlich die Fabriken anzuzünden und die geschändete Erde ein wenig auszuräumen und zu entvölkern, damit wieder Gras wachsen, wieder aus der verstaubten Zementwelt etwas wie Wald, Wiese, Heide, Bach und Moor werden könne. Andre Plakate hingegen, wunderbar gemalt, prachtvoll stilisiert, in zarteren, weniger kindlichen Farben, außerordentlich klug und geistvoll abgefaßt, warnten im Gegenteil alle Besitzenden und alle Besonnenen beweglich vor dem drohenden Chaos der Anarchie, schilderten wahrhaft ergreifend den Segen der Ordnung, der Arbeit, des Besitzes, der Kultur, des Rechtes und priesen die Maschinen als höchste und letzte Erfindung der Menschen, mit deren Hilfe sie zu Göttern werden würden. Nachdenklich und bewundernd las ich die Plakate, die roten und die grünen, fabelhaft wirkte auf mich ihre flammende Beredsamkeit, ihre zwingende Logik, recht hatten sie, und tief überzeugt stand ich bald vor dem einen, bald vor dem andern, immerhin merklich gestört durch die ziemlich saftige Schießerei ringsum. Nun, die Hauptsache war klar: es war Krieg, ein heftiger, rassiger und höchst sympathischer Krieg, worin es sich nicht um Kaiser, Republik, Landesgrenzen, um Fahnen und Farben und dergleichen mehr dekorative und theatralische Sachen handelte, um Lumpereien im Grunde, sondern wo ein jeder, dem die Luft zu eng wurde und dem das Leben nicht recht mehr mundete, seinem Verdruß schlagenden Ausdruck verlieh und die allgemeine Zerstörung der blechernen zivilisierten Welt anzubahnen strebte. Ich sah, wie allen die Zerstörungs- und Mordlust so hell und aufrichtig aus den Augen lachte, und in mir selbst blühten diese roten wilden Blumen hoch und feist und lachten nicht minder. Freudig schloß ich mich dem Kampfe an. Das Schönste von allem aber war, daß neben mir plötzlich mein Schulkamerad Gustav auftauchte, der seit Jahrzehnten mir Verschollene, einst der wildeste, kräftigste und lebensdurstigste von den Freunden meiner frühen Kindheit. Mir lachte das Herz, als ich seine hellblauen Augen mir wieder zuzwinkern sah. Er winkte mir, und ich folgte ihm sofort mit Freuden.

    »Herrgott, Gustav«, rief ich glücklich, »daß man dich einmal wiedersieht! Was ist denn aus dir geworden?«

    Ärgerlich lachte er auf, ganz wie in der Knabenzeit.

    »Rindvieh, muß denn gleich wieder gefragt und geschwatzt werden? Professor der Theologie bin ich geworden, so, nun weißt du es, aber jetzt findet zum Glück keine Theologie mehr statt, Junge, sondern Krieg. Na komm!«

    Von einem kleinen Kraftwagen, der uns eben schnaubend entgegenkam, schoß er den Führer herunter, sprang flink wie ein Affe auf den Wagen, brachte ihn zum Stehen und ließ mich aufsteigen, dann fuhren wir schnell wie der Teufel zwischen Flintenkugeln und gestürzten Wagen hindurch, davon, zur Stadt und Vorstadt hinaus.

    »Stehst du auf seiten der Fabrikanten?« fragte ich meinen Freund.

    »Ach was, das ist Geschmacksache, wir werden uns das dann draußen überlegen. Aber nein, warte mal, ich bin mehr dafür, daß wir die andere Partei wählen, wenn es auch im Grunde natürlich ganz egal ist. Ich bin Theolog, und mein Vorfahr Luther hat seinerzeit den Fürsten und Reichen gegen die Bauern geholfen, das wollen wir jetzt ein bißchen korrigieren. Schlechter Wagen, hoffentlich hält er’s noch ein paar Kilometer aus!«

    Schnell wie der Wind, das himmlische Kind, knatterten wir davon, in eine grüne ruhige Landschaft hinein, viele Meilen weit, durch eine große Ebene und dann langsam steigend in ein gewaltiges Gebirg hinein. Hier machten wir halt auf einer glatten, gleißenden Straße, die führte zwischen steiler Felswand und niedriger Schutzmauer in kühnen Kurven hoch, hoch über einem blauen leuchtenden See dahin.

    »Schöne Gegend«, sagte ich.

    »Sehr hübsch. Wir können sie Achsenstraße heißen, es sollen hier diverse Achsen zum Krachen kommen, Harrychen, paß mal auf!«

    Eine große Pinie stand am Weg, und oben in der Pinie sahen wir aus Brettern etwas wie eine Hütte gebaut, einen Auslug und Hochstand. Hell lachte Gustav mich an, aus den blauen Augen listig zwinkernd, und eilig stiegen wir beide aus unsrem Wagen und kletterten am Stamm empor, verbargen uns tief atmend im Auslug, der uns sehr gefiel. Wir fanden dort Flinten, Pistolen, Kisten mit Patronen. Und kaum hatten wir uns ein wenig gekühlt und im Jagdstand eingerichtet, da klang schon von der nächsten Kurve her heiser und herrschgierig die Hupe eines großen Luxuswagens, der fuhr schnurrend mit hoher Geschwindigkeit auf der blanken Bergstraße daher. Wir hatten schon die Flinten in der Hand. Es war wunderbar spannend.

    »Auf den Chauffeur zielen!« befahl Gustav schnell, eben rannte der schwere Wagen unter uns vorbei. Und schon zielte ich und drückte los, dem Lenker in die blaue Mütze. Der Mann sank zusammen, der Wagen sauste weiter, stieß gegen die Wand, prallte zurück, stieß schwer und wütend wie eine große dicke Hummel gegen die niedere Mauer, überschlug sich und krachte mit einem kurzen leisen Knall über die Mauer in die Tiefe hinunter.

    »Erledigt!« lachte Gustav. »Den nächsten nehme ich.«

    Schon kam wieder ein Wagen gerannt, klein saßen die drei oder vier Insassen in den Polstern, vom Kopf einer Frau wehte ein Stück Schleier starr und waagrecht hinterher, ein hellblauer Schleier, es tat mir eigentlich leid um ihn, wer weiß, ob nicht das schönste Frauengesicht unter ihm lachte. Herrgott, wenn wir schon Räuber spielten, so wäre es vielleicht richtiger und hübscher gewesen, dem Beispiel großer Vorbilder folgend, unsre brave Mordlust nicht auf hübsche Damen mit auszudehnen. Gustav hatte aber schon geschossen. Der Chauffeur zuckte, sank in sich zusammen, der Wagen sprang am senkrechten Fels in die Höhe, fiel zurück und klatschte, die Räder nach oben, auf die Straße zurück. Wir warteten, nichts regte sich, lautlos lagen, wie in einer Falle gefangen, die Menschen unter ihrem Wagen. Der schnurrte und rasselte noch und drehte die Räder drollig in der Luft, aber plötzlich tat er einen schrecklichen Knall und stand in hellen Flammen.

    »Ein Fordwagen«, sagte Gustav. »Wir müssen hinunter und die Straße wieder frei machen.«

    Wir stiegen hinab und sahen uns den brennenden Haufen an. Er war sehr rasch ausgebrannt, wir hatten inzwischen aus jungem Holz Hebebäume gemacht und lüpften ihn beiseite und über den Straßenrand in den Abgrund, daß es lang in den Gebüschen knackste. Zwei von den Toten waren beim Drehen des Wagens herausgefallen und lagen da, die Kleider zum Teil verbrannt. Einer hatte den Rock noch ziemlich wohlerhalten, ich untersuchte seine Taschen, ob wir fänden, wer er gewesen sei. Eine Ledermappe kam zum Vorschein, darin waren Visitenkarten. Ich nahm eine und las darauf die Worte: »Tat twam asi.«

    »Sehr witzig«, sagte Gustav. »Es ist aber in der Tat gleichgültig, wie die Leute heißen, die wir da umbringen. Sie sind arme Teufel wie wir, auf die Namen kommt es nicht an. Diese Welt muß kaputtgehen und wir mit. Sie zehn Minuten unter Wasser zu setzen, wäre die schmerzloseste Lösung. Na, an die …

  • Seuchen, Christen und das Ende des Imperiums

    Fotos antiker Inschriften: eine schön in regelmäßig, die andere völlig krakelig.

    Mein Sinnbild für den Zusammenbruch der antiken Kultur: Zwei Inschriften aus dem Kölner Römisch-Germanischen Museum, die eine schon christlich-apokalyptisch (mit Flammenvisionen), aber noch erkennbar von Profis mit Anschluss an die mediterrane Kultur gefertigt, die andere, vielleicht 100 Jahre später, nur noch freihändiges Gekrakel fränkischer Amateure.

    Ich habe mich schon im März eines gewissen Römerfimmels bezichtigt. Dieser Schwäche nachgebend lese ich gerade „The Fate of Rome – Climate, Disease & the End of an Empire“ von Kyle Harper (Princeton University Press, 2017, entleihbar bei libgen; gibts auch auf Deutsch bei C.H. Beck als „Fatum. Das Klima und der Untergang des Römischen Reichs“, aber das habe ich nicht).

    Der Untertitel verrät es: Harper analysiert hier den Untergang des römischen Reichs als Folge von Klimaveränderung und Seuchen. Das klingt nicht nur wie ein Film am Discovery Channel, es ist auch ein wenig so geschrieben. Gut, der eingebettete Arztroman über Galen ist immerhin noch motiviert, weil dieser eine wichtige Quelle zur Antoninischen Pest (nach Harpers Einschätzung eine Pockenepedemie) ist, aber dennoch wirken Spannungsbögen in so einem Buch schnell albern oder ranschmeißerisch. Und Harpers Tendenz, das Gleiche mehrfach hintereinander leicht variiert zu sagen, verbunden mit einer oft ziemlich atemlosen Sprache, nervt doch etwas. Eine Kostprobe:

    But it was not yet a crisis: [...] The fruits of Severan success were abundant. A bloom of cultural efflorescence, more inclusive than ever before, unfolded. The influx of provincial talent was a jolt to Severan culture. The ancient capital remained the focal point of imperial patronage.

    Allzu oft wirkt es, als hätte Harper Zeilen geschunden. Das Buch könnte bei gleichem Informationsgehalt auch halb so lang sein und wäre dabei jedenfalls für Menschen wie mich lesbarer.

    Dabei sind viele der Gedanken sehr wertvoll und verdienen überhaupt nicht, im Stil einer Fernsehreportage über spontane Selbstentzündung serviert zu werden. So hatte ich zwar schon lange die Ausbreitung des apokalyptischen Christentums mit dem weitgehenden Zusammenbruch der antiken Kultur in Verbindung gebracht. Über die Ursache dieser Ausbreitung hatte ich mir jedoch nie wirklich Gedanken gemacht – es war in meiner Vorstellung, wahrscheinlich unter dem übermächtigen Einfluss von Bertrand Russell, eben so, dass die Leute plötzlich auf orientalische Kulte Lust hatten, ob nun Isis und Osiris, Mithras, Jupiter Dolichenus[1] oder halt Jesus Christus.

    Nun bietet Harper eine historisch-materialistisch befriedigendere Geschichte an:

    Bis 200 ndcE[2] sind Christen in der Überlieferung praktisch unsichtbar. Die Christen der ersten zwei Jahrhunderte wären kaum eine Fußnote der Geschichte, wären da nicht die späteren Ereignisse. Es wird geschätzt, dass es in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts größenordnungsmäßig 100'000 ChristInnen gegeben hat [wie gesagt, Harper sagt die Dinge gerne drei Mal]. Im Jahr 300 ndcE hatte sich ein atemberaubender Wandel ergeben. Das deutlichste Zeichen ist die plötzliche Verbreitung christlicher Vornamen. Eine aktuelle Arbeit schätzt, dass zu diesem Zeitpunkt erstaunliche 15-20 Prozent der ägyptischen Bevölkerung ChristInnen waren.

    Dazwischen fand – neben dramatischen Missernten infolge von mit einer Abkühlung des Weltklimas verbundenen Dürren im Mittelmeerraum[3] – die nach Harpers Darstellung verheerende Cyprianische Pest statt, für die er einen Ebola-ähnlichen Erreger vorschlägt. Es ist höchst plausibel, dass ein Massensterben an hämorrhagischem Fieber – also: Leute bluten aus jeder Pore ihres Körpers – größte Zweifel an den herrschenen Weltbildern auslösen kann. Harper schreibt dazu:

    Die Verbindung von Pest und Verfolgung scheint die Verbreitung des Christentums beschleunigt zu haben. So jedenfalls sah die Erinnerung einer bestimmten Christengemeinde aus, der von Neocaesarea in Pontus. In den Volkserzälungen rund um den Ortsheiligen, Gregor den Wundertäter, war die Pest ein Wendepunkt in der Christianisierung der Gemeinde. Das Massensterben zeigt die Machtlosigkeit der Götter der Alten und stellte die Tugenden des christlichen Glaubens heraus. Mag die Geschichte auch stark schablonenhaft sein, sie konserviert einen Kern historischer Erinnerung über die Rolle der Pest in der religösen Bekehrung der Gemeinde.

    Der klarste Vorteil des Christentums war seine unerschöpfliche Kapazität, mittels einer Ethik aufopfernder Liebe familienähnliche Netzwerke zwischen völlig Fremden zu knüpfen.

    Ohne, dass das viel an Harpers Darstellung ändern würde, würde ich persönlich ja in der erwähnten Tradition von Bertrand Russell eher spekulieren, dass das zumindest in etlichen Ausprägungen heitere antike Pantheon – ich verweise auf das leicht skandalöse, aber den römischen Geschmack m.E. gut treffende Riesendia im Römermuseum Osterburken:

    Foto: Ein farbenprächtig-sinnliches modernes Gemälde eines runden Dutzends antiker Götter

    – in einer Zeit von Hunger- und Pestkatastrophen viel weniger attraktiv wirkte als die Endzeitreligion, die das damalige Christentum ganz sicher war. Die zeitgenössichen Missionierenden dürften mindestens ebenso alarmistisch unterwegs gewesen sein wie die „das Ende ist nah“-Zeugen, die sich heute auch nicht davon beirren lassen, dass sich ihre Vorhersagen der Weltuntergänge 1914, 1925 und 1975 allesamt als nicht ganz zutreffend erwiesen haben[4].

    Und damit landen wir in der Gegenwart. Gewiss ist die SARS-2-Pandemie verglichen mit einem Krankheitsgeschehen mit einer Gesamtsterblichkeit im einige-zehn-Prozent-Bereich nicht zu vergleichen – aber dann ist unsere Gesellschaft in mancherlei Hinsicht etwas menschlicher geworden (auch wenn Blicke etwa in Fußballstadien oder Boxhallen anderes vermuten lassen). Und so mögen auch die insgesamt weniger dramatischen Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit zusammen mit der Erfahrung von Lockdown, Aussperrung und Heimarbeit sowie dem Doomscrolling auf Twitter durchaus zu vergleichbaren Aufwühlungen geführt haben. Müssen wir jetzt also mit religiösen Erweckungsbewegungen der Größenordnung der Christianisierung Roms rechnen?

    Ich sage mal mutig: eher nicht. Ohne tiefere Recherche scheint mir, dass grob vergleichbare Ereignisse in der Moderne auch keine solchen Konsequenzen hatten. Weder die spanische Grippe, die noch dazu vor der Horrorfolie des gerade zu Ende gegangenen ersten Weltkriegs ablief und fast überall deutlich dramatischer war als SARS-2, noch die vermutlich letzte Coronapandemie vor SARS-2 mit einer Sterblichkeit, die damals wahrscheinlich mit der in heutigen Lassen-Wirs-Laufen-Ländern vergleichbar gewesen sein wird, hatten offenbar nennenswerten Einfluss auf den Missionserfolg von Adventisten, Zeugen oder vergleichbaren Endzeitkulten.

    Schauen wir mal. Wer Anzeichen von Post-Corona-FlagellantInnen sieht: Ich bin für Hinweise dankbar.

    [1]Der ist übrigens mein Lieblingskult in dieser Liga, weil er eine der wenigen Religionen in der Geschichte der Menschheit sein dürfte, die an Kollisionen mit der Realität scheiterten. Der Hauptgott war eine milde angepasste Interpretatio Romana des mesopotamischen Superhelden Hadad, der vor allem mal alles zerschmettern konnte. Zitat Wikipedia: „Nach der Zerstörung des Hauptheiligtums in Doliche durch den Sassaniden-König Schapur I. Mitte des 3. Jahrhunderts ging der Kult unter.“ Sagt, was ihr wollt: Ein Kult, der einen solchen Gegenbeweis der Glaubensinhalte zum Anlass zur Auflösung – statt, wie in dem Geschäft sonst üblich, zu Zelotentum und verdrehten Ausflüchten – nimmt, kann so verkehrt nicht gewesen sein.
    [2]„nach der der christlichen Epoche“; vgl. dazu diese Fußnote.
    [3]Aus Heidelberger Sicht vergleichbar relevant: In der fraglichen Zeit, also zwischen 240 und 260, löste sich auch das Grenzregime am Limes auf, und die römischen Truppen zogen sich an Rhein und Donau zurück (von ein paar Brückenköpfen wie Ladenburg oder Köln-Deutz mal abgesehen).
    [4]Nur, damit ich nicht falsch verstanden werde: Verglichen mit zahlreichen anderen Kulten kann ich Jehovas Zeugen trotzdem total gut leiden. Einerseits natürlich wegen der Steinigungsszene im Life of Brian, vor allem aber, weil eine Lehre, aus der konsequente und radikale Kriegsdienstverweigerung (lokales Beispiel) folgt, extrem viel Nachsicht erwarten kann.
  • Lenard vs. Einstein: Vom langsamen Fortschreiten der Zivilisation

    Erst vor ein paar Tagen habe ich das Wort „Augusterlebnis“ so richtig wahrgenommen: Es handelt sich um die 1914er-Version der modernen „Zeitenwende“ von 2022. Auch damals, als sich der Rüstungswettlauf der 1900er Jahre in einem lang erwarteten Krieg entlud, haben sich viele Menschen – leider auch welche, die sich als links und/oder intellektuell verstanden – patriotisch hinter das „eigene“ Land (und dessen Verbündete) gestellt, als dieses mit hinreichender Entschlossenheit und Tiefe Kriegspartei wurde.

    Ich habe dieses Phänomen schon während „unserer“ diversen Kriege im ehemaligen Jugoslawien ungläubig bestaunt. Nach dieser Erfahrung war ich nicht mehr ganz so entsetzt über die vielen Stimmen auch aus in normalen Zeiten weniger patriotischen Kreisen, die im vergangenen Frühling fürs Vaterland wieder töten, sterben oder doch wenigstens waffenliefern wollten.

    Foto: Stehendes Buch im Halbprofil

    Immer wieder gut für historische Perspektiven auf Deutsche, die in den Krieg ziehen (lassen) wollen: Wolfram Wettes „Ernstfall Frieden“.

    Ebenfalls nicht überrascht hat mich die Diffamierung jener, die historische Evidenz beibrachten dafür, dass all das Sterben und Töten Dinge nicht besser, wohl aber blutiger macht. Je nach individuellem Geschmack gelten sie neuen wie alten PatriotInnen als Verblendete, Träumer oder böswillig. Großer Konsens auf allen Seiten ist nach Augusterlebnissen und Zeitenwenden: Wer nicht schießen will, ist ausländischer Agent bzw. gleichbedeutend russischer Troll.

    Das Manifest der 93

    Die Geschichte vom Augusterlebnis von 1914 fand ich, als ich historische Perspektiven dieser Art mit einer Neulektüre des immer wieder informativen Ernstfall Frieden von Wolfram Wette (Bremen: Donat Verlag, 2017) auffrischte. Diese rief mir auch ein für mich besonders deprimierendes Beispiel für Aufwallungen deutschen Patriotismus' in Erinnerung: Das Manifest der 93, eine Erklärung, der sich, während sich die Soldaten im September 1914 an den diversen Fronten eingruben und die ersten Signale zurückkamen, wie ein industrialisierter Krieg wohl aussehen könnte, 93 häufig immer noch recht bekannte „Intellektuelle“[1] des deutschen Reichs anschlossen.

    Die Wikipedia dokumentiert den vollen Text des Manifests; lasst mich ein paar Zitate heraussuchen, die besonders nach heute klingen:

    Es ist nicht wahr, daß Deutschland diesen Krieg verschuldet hat. Weder das Volk hat ihn gewollt noch die Regierung noch der Kaiser. Von deutscher Seite ist das Äußerste geschehen, ihn abzuwenden.

    Das erinnert sehr an die Entschlossenheit vieler aktueller PatriotInnen, mit viel Verve und Empörung die Beiträge zu bestreiten, die „unsere“ Angriffskriege („völkerrechtswidrig“ oder nicht), Grenzverschiebungen, imperialen Abenteuer und Landnahmen auf dem Weg in den Krieg gespielt haben. Ganz entgegen dem Augenschein ist in dieser Erzählung die eigene Seite die personifizierte Friedlichkeit. ImperialistInnen waren auch damals schon immer („nur“, wo es ein „auch“ bräuchte) die anderen.

    Oft genug hat Wilhelm II. in den 26 Jahren seiner Regierung sich als Schirmherr des Weltfriedens erwiesen.

    Außer, wenn er einen Panthersprung vollführte oder seine Flotte aufrüstete oder… nun, bei genauerer Betrachtung war ihm der Weltfrieden doch eigentlich immer ziemlich scheißegal. Aber klar, vielleicht hat er die Flotte ja wirklich gegen Piraten gebraucht, so wie… wir zum Beispiel mit unserer Operation Atalanta.

    Es ist nicht wahr, daß wir freventlich die Neutralität Belgiens verletzt haben. Nachweislich waren Frankreich und England zu ihrer Verletzung entschlossen. Nachweislich war Belgien damit einverstanden. Selbstvernichtung wäre es gewesen, ihnen nicht zuvorzukommen.

    …ganz wie unsere Waffen heute mit dem Einverständnis „der Ukrainer“ helfen, das Land in Schutt und Asche zu legen. Hauptsache (imaginiert eine quäkende Stimme) „aber der hat angefangen“, denn dann dürfen wir es auch.

    Es ist nicht wahr, daß unsere Truppen brutal gegen Löwen [Zum Kontext: gemeint waren nicht Tiere, sondern die flandrische Stadt Leuven/Louvain] gewütet haben. An einer rasenden Einwohnerschaft, die sie im Quartier heimtückisch überfiel, haben sie durch Beschießung eines Teils der Stadt schweren Herzens Vergeltung üben müssen.

    Auch das eine Invariante des Patriotismus: Massaker verüben die anderen. Unsere Herzen sind hingegen immer noch schwer, weil uns ruchlose Feinde zwangen, bei Kundus schlimme Anschläge zu verhindern.

    Töten aus Liebe zur Kunst

    Weiter im Manifest der 93:

    Aber so wenig wir uns in der Liebe zur Kunst von irgend jemand übertreffen lassen, so entschieden lehnen wir es ab, die Erhaltung eines Kunstwerks mit einer deutschen Niederlage zu erkaufen.

    …denn „verlieren“, verlieren dürfen „wir“ nicht. Selbst wenn dafür Städte zu Klump gehen, SoldatInnen ungezählte Menschen töten oder verstümmeln und die, die übrig bleiben, gefälligst fürs Vaterland frieren und hungern sollen.

    Es ist nicht wahr, daß unsere Kriegführung die Gesetze des Völkerrechts mißachtet. Sie kennt keine zuchtlose Grausamkeit. Im Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder die Erde, und im Westen zerreißen Dumdumgeschosse unseren Kriegern die Brust.

    Das, was mensch – von der Kontinuität sprachlicher Figuren, dem radikalen Othering der Kriegspropaganda abgesehen – aus dieser Passage wirklich lernen kann: Wie kam es eigentlich dazu, dass heute „im Westen“ keine Brüste mehr zerrissen werden?

    Mensch kann diese Geschichte gewiss als die einer totalen Niederlage erzählen, durch die Deutschland „geläutert“ worden sei. Weit stimmiger wird das aber durch die Betrachtung, dass im Gegensatz zur Zeit nach dem ersten Weltkrieg nach dessen zweiter Ausgabe auf beiden Seiten von Rhein und Brenner Menschen regierten, die – eingestandenermaßen unter der gefühlten Bedrohung „aus dem Osten“ – beschlossen haben, die dämlichen Auseinandersetzungen um die Kontrolle des Elsaß, von Südtirol oder von Eupen und Malmedy einzustellen und sich zu vertragen, ganz egal, wer irgendwann mal angefangen hat, diese Landstücke wem anders wegzunehmen.

    Ein paar Jahrzehnte später hat sich diese Vernunft – dann schon gegen heftigen Widerstand – sogar auf Oder, Erzgebirge und Böhmerwald ausgedehnt. Stellt euch vor, wie furchtbar die Verhältnisse an diesen Grenzen heute wären, hätte sich damals die „kein Fußbreit unseres Vaterlands unseren Feinden“-Fraktion durchgesetzt.

    Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt

    Zwar möchte heute noch niemand offen das Hohelied des Militarismus singen – die Geschichte, „ohne starke Armee“ müsse das Land untergehen allerdings erzählen leider wieder ziemlich viele Leute. Und zwar auch welche, deren Muttersprache Wörter wie Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz hervorbringt. Wenn diese wieder Typenbezeichnungen von Panzerhaubitzen kennen, ist das jedenfalls nicht weit von „deutschem Militarismus“ weg.

    Wir können die vergifteten Waffen der Lüge unseren Feinden nicht entwinden.

    Nun gut – wir können es zumindest versuchen.

    Glaubt uns! Glaubt, daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle.

    Dass in den entsprechenden Statements von heute eher von Freiheit und Menschenrechten die Rede ist als von schon damals über hundert Jahre alten Geistesgrößen sowie der „Scholle“, das erkenne ich als klaren Fortschritt an.

    Klar unterschreiben Ekelpakete...

    Deprimierend finde ich das Manifest vor allem, weil sich in dem Kreis der Unterzeichner – es hat wirklich keine Frau ihren Namen hergegeben; wahrscheinlich wurde aber auch keine gefragt – finsterste Schurken mit recht normalen Wissenschaftlern und zum Teil sogar ziemlich fortschrittlich denkenden Menschen mischen.

    So steht etwa Philipp Lenard unter der Erklärung, der später in seiner „Deutschen Physik“ die Beiträge von JüdInnen aus der Physik tilgen wollte und der zusammen mit der NSDAP von deutscher Weltherrschaft träumte; seine Wirkungsstätte Heidelberg bekam deshalb das „Institut für Weltpostwesen” neben die Physik am Philosophenweg gestellt, denn das Weltreich, von dem Lenard und seine Freunde träumten, hätte ja schließlich stabile transkontinentale Kommunikation gebraucht.

    Unvermeidlich bei dieser Sorte Aufwallung war natürlich ein Vertreter der Familie Wagner, und zwar einer, dem 1924 nach einem Besuch bei Mussolini nur einfiel: „Alles Wille, Kraft, fast Brutalität. Fanatisches Auge, aber keine Liebeskraft darin wie bei Hitler und Ludendorff.“

    Gut auf dieser Liste macht sich auch Fritz Haber, der später die Giftgas-Kriegsführung erfand und mit seinem Engagement fürs Land seine Frau Clara Immerwahr dazu brachte, sich mit seinem Offiziersrevolver zu erschießen. Oder Ernst Haeckel, der zwar wunderschöne Strukturen der Natur dokumentierte, sich aber ansonsten als rabiater Sozialdarwinist hervortat.

    ...aber dann auch normale Menschen

    Dass solche Menschen patriotische Erklärungen unterzeichnen, wird niemanden überraschen. Dass aber auch viele mehr oder weniger normale Wissenschaftler ihre Namen unter das Papier setzten, finde ich zumindest bedenkenswert.

    Max Planck steht da zum Beispiel, der immerhin an anderer Stelle leichteren Hochschulzugang für Frauen gefordert hatte (vom Manifest hat er sich später wohl distanziert), oder Wilhelm Wien (der vom Verschiebungsgesetz) oder Wilhelm Conrad Röntgen (der mit den Strahlen; auch er soll die Unterschrift später bedauert haben) oder Friedrich Wilhelm Ostwald, den ich vor allem als Begründer einer feinen Buchreihe mit „Klassikern der exakten Wissenschaften“ kenne.

    Und dann stehen da Biowissenschaftler unter der Erklärung, die mit ihrer Arbeit ungezählte Leben gerettet haben: Emil Behring – der Namensgeber meiner alten Schule übrigens; hätte ich das damals mal gewusst – etwa, oder Paul Ehrlich, also der mit dem Institut, von dem während Corona die Rede war, wenn es ums Impfen und Testen ging.

    Vielleicht noch erstaunlicher sind die Bona-Fide-Intellektuellen unter der Erklärung: mit Max Reinhardt eine der zentralen Figuren der Kultur des Weimarer Berlin zum Beispiel oder, in gewisser Weise noch schlimmer, Gerhart Hauptmann, der mit den Webern ein wirklich beeindruckendes Sozialdrama geschaffen hatte (und nach einigen Jahren auch wieder zur Vernunft kam).

    Es war sogar ein Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft mit von der Partie, nämlich der Astronom (und Gründer des Instituts, an dem ich arbeite) Wilhelm Foerster. Als ausgewiesener Pazifist fand er …

  • Jost Bürgi, der Sinus und Umberto Eco

    Kryptische, leicht mathematisch aussehende Zeicnung

    „Reimers' Diagramm“: Für 400 Jahre der einzige Hinweis darauf, wie Jost Bürgi wohl seine Sinustabelle berechnet hat. Nicht mal Kepler hat das Rätsel lösen können.

    Ein Geheimnis, das im antiken Griechenland ein wenig angekratzt wurde, über das dann Gelehrte in Indien und Arabien nachgedacht haben, für das in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein wandernder Schweizer Uhrmacher eine genial einfache Lösung fand, von der aber die Nachwelt nur ein paar kryptische Referenzen hat, bis ein unerschrockener Wissenschaftler in den Tiefen längst vergessener Bibliotheken ein Manuskript entdeckt, das des Rätsels Lösung enthält: Es gibt Geschichten, die klingen nach einem Roman von Umberto Eco (oder, je nach Temperament und/oder Geschmack, Dan Brown) und sind doch wahr.

    Auf die Geschichte von Jost Bürgis Sinusberechnung bin ich über die DLF-Sternzeit vom 27.2.2022 gekommen, und sie geht ungefähr so: Nachdem Hipparchos von Nicäa so um die 150 vdcE[1] nicht nur den ersten brauchbaren Sternkatalog vorgelegt, sondern auch die ersten ordentlichen Rezepte angegeben hatte, wie mensch für jede Menge Winkel den zugehörigen Sinus[2] ausrechnet, gab es zur Berechnung trigonometrischer Funktionen sehr lange nicht viel Neues.

    Klar, der große Ptolomaios, genau, der mit dem Weltbild, hat Hipparchos' Methode zur Berechnung des Sinus über regelmäßige Vielecke kanonisiert. In Indien gab es einige Fortschritte – etwa den Übergang von der Sehne zum Sinus –, in Arabien wurden verschiedene Ergebnisse zusammengetragen und systematisiert, aber immer war es eine mühsame, geometrisch insprierte, endlose Rechnerei.

    Und dann kommen wir in die frühe Neuzeit in Europa, genauer die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts. Kopernikus hat noch einmal ganz klassisch den Sinus mit Vielecken berechnet, während er die Konflikte zwischen Ptolomaios und der Realität untersuchte. In Italien macht sich allmählich Galileo bereit, die Physik als experimentelle Naturwissenschaft zu etablieren. Und in Kassel, beim wissenschaftsbegeisterten hessischen Landgraf Wilhelm IV, sammeln sich ein paar Mathe- und Astro-Nerds, die beim ebenso berühmten wie fiesen Tycho gelernt haben, unter ihnen Nicolaus Reimers, der das kryptische Bild über diesem Post veröffentlicht hat, vermutlich, weil er versprochen hatte, nicht mehr zu verraten.

    Bürgis geniale Methode

    Es weist auf ein Verfahren zur Berechnung von Werten der Sinusfunktion hin, das nichts mehr mit den umschriebenen Polygonen des Hipparchos zu tun hat. Sein Erfinder, der Toggenburger Uhrmacher-Astronom-Erfinder Jost Bürgi, hatte zu dieser Zeit ein großes Tabellenwerk vorgelegt, mit dem mensch auch ohne Taschenrechner rausbekommen konnte, wie viel wohl sin(27 32’ 16’’) sei[3]. Offensichtlich funktionierte die Methode. Doch hat Bürgi – Autodidakt und vielleicht etwas verschroben – die Methode nie richtig veröffentlicht, und so brüteten MathematikerInnen, unter ihnen wie gesagt Johannes Kepler, der immerhin die Sache mit den Ellipsenbahnen im Planetensystem rausbekommen hat, lang über der eigenartigen Grafik. Und kamen und kamen nicht weiter.

    Das war der Stand der Dinge bis ungefähr 2014, als der (emeritierte) Münchner Wissenschaftshistoriker Menso Folkerts im Regal IV Qu. 38ª der Universitätsbibliothek in Wrocław auf eine lange übersehene gebundene Handschrift stieß. Ein wenig konnte er ihre Geschichte nachvollziehen: Jost Bürgi persönlich hatte das Werk Kaiser Rudolf II – dem Mäzen von Tycho und Kepler – am 22. Juli 1592 (gregorianisch) in Prag übergeben, was ihm eine Zuwendung von 3000 Talern eingebracht hat. Ich habe leider nicht die Spur eines Gefühls, wie sich der Betrag mit modernen Drittmittelanträgen vergleicht. Die Form des Antrags jedenfalls ist aus heutiger Sicht als unkonventionell einzustufen.

    Das Werk fand seinen Weg in das Augustinerkloster im unterschlesischen Sagan (heute Żagań). Wie es dort hinkam, ist nicht überliefert, aber mensch mag durchaus eine Verbindung sehen zu Keplers Aufenthalt in Sagan in den Jahren von 1628 bis 1630. Vielleicht hat er das Buch ja nach seinen Diensten in Prag mitgenommen, auf seinen verschiedenen Wanderungen mitgenommen und schließlich selbst im Kloster gelassen? Aber warum hätte er dann über Bürgis Methode gerätselt?

    Wie auch immer: Im Gefolge des Reichsdeputationshauptschlusses wurde das Kloster 1810 aufgelöst – ich stelle mir das ein wenig vor wie in Poes „Die Grube und das Pendel“ –, und der Bestand der Bibliothek fiel an die Universität Breslau, die wiederum nach dem zweiten Weltkrieg zur polnischen Uni Wrocław wurde.

    In diesem geschichtsträchtigen Manuskript erklärt Bürgi seinen Algorithmus. Dargestellt ist das in der Abhandlung von Folkerts et al (arXiv:1510.03180), in der sich auf den Seiten 11 und 12 auch die Auflösung für Reimers' Rätsel findet. Etwas schöner beschreibt das Verfahren Denis Roegel in seinem Aufsatz Jost Bürgi's skillful computation of sines. Dort wird auch Bürgis mutmaßliche Grundeinsicht besser erläutert, nach der der Sinus einfach das Ding ist, das, modern gesprochen, nach zweifacher Ableitung sich selbst (mal minus eins) ergibt. Das ist der mathematische Hintergrund dafür, dass folgendes Stück Python tatsächlich relativ schnell zu einer Tabelle der Sinuswerte von n im ersten Quadranten gleichverteilten Winkeln konvergiert:

    tot_sines = list(range(n+1))
    for iter_index in range(n_iter):
    
      intermediates = [tot_sines[-1]//2]
      for tot in reversed(tot_sines[1:-1]):
        intermediates.append(intermediates[-1]+tot)
    
      tot_sines = [0]
      for diff in reversed(intermediates):
        tot_sines.append(tot_sines[-1]+diff)
    
    return dict((k*math.pi/2/n,  v/tot_sines[-1])
      for k, v in enumerate(tot_sines))
    

    – es ist, glaube ich, unmöglich, zu verstehen, was hier passiert (und warum), ohne den Roegel oder zumindest den Folkerts gelesen zu haben. Aber ich könnte andächtig werden angesichts so simpler Manipulationen, die so schnell zu richtig vielen Stellen einer transzendenten Funktion wie des Sinus führen.

    Ein numerischer Traum

    Wie schnell das mit den vielen Stellen bei Bürgis Algorithmus geht, zeigt folgende Grafik:

    Heatmap, die recht gleichmäßig von Gelb nach Schwarz übergeht

    Hier läuft horizontal der Winkel – und der Algorithmus funktioniert wirklich nur, wenn das einen rechten Winkel einschließt –, vertikal die Iterationen von Bürgis Algorithmus. Die Farben entsprechen dem dekadischen Logarithmus der Abweichung der Bürgi-Ergebnisse von dem, was die Python-Standardbibliothek gibt, im Groben also die Zahl der Stellen, die der Algorithmus richtig hinbekommt. Mehr als 18 geht da schon mal nicht, weil die Zahlen von Python in 64-bittigen IEEE-Fließkommazahlen („double precision“) kommen, und mehr als 18 Dezimalstellen sind da nicht drin (in der Grafik steckt die Zusatzannahme, dass wir von Zahlen in der Größenordnung von eins sprechen).

    Mithin gewinnt der Algorithmus pro Iteration ungefähr eine Dezimalstelle, und das gleichmäßig über den ganzen Quadranten. DemoprogrammiererInnen: billiger kommt ihr, glaube ich, nicht an eine beliebig präzise Sinustabelle ran.

    Spannend fand ich noch die kleinen dunkelblauen Klötzchen ganz unten in der Grafik: Hier werden sich Bürgi und Python offenbar auf Dauer nicht einig. So, wie ich das geschrieben habe, würde ich fast eher Bürgi vertrauen, denn bei den Ganzzahlen, die da verwendet werden, kann eigentlich nichts schief gehen. Andererseits sind Fließkommazahlen eine heikle Angelegenheit, insbesondere, wenn es ums letzte Bit geht. Um mich zu überzeugen, dass es nur um genau jenes unheimliche letzte Bit geht, habe ich mir geschwind eine Funktion geschrieben, die die Fließkommazahlen vinär ausgibt, und der Code gefällt mir so gut, dass ich sie hier kurz zeigen will:

    import struct
    
    _BYTE_LUT = dict((v, "{:08b}".format(v)) for v in range(256))
    def float_to_bits(val):
      return "".join(_BYTE_LUT[v] for v in struct.pack(">d", val))
    

    Mit anderen Worten lasse ich mir geschwind ausrechnen, wie jedes Byte in binär aussehen soll (_BYTE_LUT), wobei die Python-Bibliothek mit dem 08b-Format die eigentliche Arbeit macht, und dann lasse ich mir die Bytes der Fließkommazahl vom struct-Modul ausrechnen. Der einzige Trick ist, dass ich das Big-end-first bestellen muss, also mit dem signfikantesten Byte am „linken“ Ende. Tue ich das nicht, ist z.B. auf Intel-Geräten alles durcheinander, weil die Bits in der konventionellen Schreibweise daherkommen, die Bytes aber (wie bei Intel üblich) umgedreht, was ein furchtbares Durcheinander gibt.

    Jedenfalls: Tatsächlich unterscheiden sich die Werte schon nach 20 Iterationen nur noch im letzten bit, was für 45 Grad alias π/4 z.B. so aussieht:

    45
      0011111111100110101000001001111001100110011111110011101111001101
      0011111111100110101000001001111001100110011111110011101111001100
    

    Ich lege mich jetzt mal nicht fest, was das „bessere“ Ergebnis ist; ich hatte kurz überlegt, ob ich z.B. mit gmpy2 einfach noch ein paar Stellen mehr ausrechnen sollte und sehen, welches Ergebnis näher dran ist, aber dann hat mich meine abergläubische Scheu vor dem letzten Bit von Fließkommazahlen davon abgehalten.

    Wer selbst spielen will: Meine Implementation des Bürgi-Algorithmus, der Code zur Erzeugung der Grafik und die Bitvergleicherei sind alle enthalten in buergi.py.

    [1]Das vdcE bringe ich hiermit als Übertragung von BCE, before the Christian era, in Gebrauch. Und zwar, weil v.Chr völlig albern ist (es ist ja nicht mal klar, ob es irgendeine konkrete Figur „Christus“ eigentlich gab; wenn, ist sie jedenfalls ganz sicher nicht zur aktuellen Epoche – also dem 1. Januar 1 – geboren) und „vor unserer Zeitrechnung“ ist auch Quatsch, denn natürlich geht Zeitrechnung (wenn auch mangels Jahr 0 etwas mühsam) auch vor der Epoche. „Vor der christlichen Epoche“ hingegen bringt ganz schön auf den Punkt, was das ist, denn die „Epoche“ ist in der Zeitrechnung einfach deren Nullpunkt (oder halt, vergurkt wie das alles ist, hier der Einspunkt).
    [2]Na ja, in Wirklichkeit hat er mit der Länge der Sehne gerechnet, die ein Winkel in einem Kreis aufspannt, aber das ist im Wesentlichen das Gleiche wie der Sinus, der ja gerade der Hälfte dieser Sehne entspricht.
    [3]Ich bleibe natürlich bei meiner Verurteilung …
  • Bienen wollen SaZu

    Foto: Blüte mit darauf rumlaufender Biene

    Diese Biene würde vielleicht schon zwischen den Staubbeuteln rumrüsseln, wenn die Blume sich nur etwas mehr Mühe beim Würzen gegeben hätte.

    In Marc-Uwe Klings Qualityland (helle Ausgabe in der Imperial Library) gibt es das großartige Konzept der FeSaZus, eines Nahrungsmittels, das zu je einem Drittel aus Fett, Salz und Zucker besteht und zumindest für das Proletariat von Qualityland in einigen – nicht zu vielen! – Darreichungsformen (FeSaZus im Cornflakesmantel, Muffins mit FeSaZu-Füllung, Schmalz-FeSaZus mit Speckgeschmack) eine wichtige Ernährungsgrundlage darstellt.

    Via den Wissenschaftsmeldungen vom 3.2.2022 in DLF Forschung aktuell bin ich nun auf den Artikel „Sodium-enriched floral nectar increases pollinator visitation rate and diversity“ von Carrie Finkelstein und KollegInnen (Biology Letters 18 (3), 2022, DOI 10.1098/rsbl.2022.0016) gestoßen, der recht überzeugend belegt, dass Insekten im Schnitt einen Geschmack haben, der sich vom Qualityländer Durchschnittsgeschmack gar nicht so arg unterscheidet.

    Finkelstein et al haben an der Uni von Vermont mindestens je zwölf Exemplare von fünf örtlich üblichen Blumenarten blühen lassen. Je Experiment (und davon gab es einige) haben sie sich pro Art sechs Individuen ausgesucht und mit Kunstnektar versehen. Bei dreien war das einfach eine 35%-ige Zuckerlösung, bei den anderen drei kam dazu noch 1% Kochsalz. In Wasser aufgelöst ist 1% Salz schon ziemlich schmeckbar. Ich habe darauf verzichtet, im Selbstversuch zu überprüfen, ob 1% Salz in so konzentriertem Sirup menschlichen Zungen überhaupt auffällt.

    Und dann haben sie gewartet, bis bestäubende Insekten kamen und diese gezählt. Das zentrale (und jedenfalls von außen betrachtet trotz etwas Voodoo bei der Auswertung auch robuste) Ergebnis: An den Pflanzen, die Salz anboten, waren doppelt so viele Insekten – am stärksten vertreten übrigens allerlei Sorten von Bienen – wie an denen, die das nicht taten, und zwar ziemlich egal, um welche Blume es nun gerade ging. Mit anderen Worten: Insekten sind nicht wild auf faden Nektar.

    Allerdings: So ein Faktor zwei in der Präferenz ist gar nicht so viel. Zwischen den BesucherInnenzahlen bei Schafgarbe (laut Paper 54.1 ± 6.3) und dem blutroten Storchschnabel (16.6 ± 3.5) liegt eher ein Faktor drei. Dennoch ist recht deutlich, dass die Insekten eher wenig Verständnis haben für Lauterbachs salzarme Ernährung. Dabei will ich nicht argumentieren, dass ein Durchschnittsmensch auf Dauer 150 mg Salz pro Kilogramm Körpergewicht und Tag essen könnte, ohne schließlich mit Hypertonie und Nierenversagen kämpfen zu müssen. Aber 10 oder 15 Gramm Salz am Tag kriegt mensch, wie Samin Nosrat in ihrem wunderbaren Kochbuch Salt, Fat, Acid, Heat (auch in der Imperial Library) ausführt, durch selbstsalzen oder auch den Salzgebrauch in selbstkochender Gastronomie, kaum hin[1]; salzarms Kochen und fades Essen mag mithin positive gesundheitliche Folgen haben, aber vermutlich kaum mehr als etwa der Einsatz von Himalayasalz, Voodoopuppen oder anderen potenten Placebos.

    Erfreulich fand ich im Paper noch die Aussage „All analyses were performed in R (v. 4.0.2)“ – dass auch in weniger technologieaffinen Wissenschaftsbereichen proprietäre Software (in diesem Fall ganz vornedran SAS und SPSS) auf dem Weg nach draußen ist, halte ich für eine ausgezeichnete Nachricht.

    Weniger schön fand ich das Bekenntnis, dass es in Anwesenheit von BiologInnen ganz offenbar gefährlich ist, einer unüblichen Spezies anzugehören:

    If we were unable to identify a floral visitor in the field, we collected it and stored it in 75% ethanol.

    Arme kleine Fliegen und arme VertreterInnen ungewöhnlicher Bienenarten. Wären sie stinknormale Honigbienen gewesen, hätten sie ihren Ausflug zu den verlockenden Blüten mit dem fein gesalzenen Nektar überlebt.

    [1]Nosrat argumentiert in ihrem Buch für mich zumindest plausibel (und durch meine eigene Kochpraxis bestätigt), dass Lauterbauchs Kritik am „Salzgeschmack“ zumeist am Thema vorbeigeht – in aller Regel vermittelt Kochsalz etwa durch Kontrolle von Osmolaritäten ziemlich nichttriviale Prozesse beim Garen und Verarbeiten von Lebensmitteln, und diese sind für den Geschmack der fertigen Speisen viel wichtiger als das Salz selbst. Aber das ist dann wirklich eine andere Geschichte.
  • Neurasthenie und Post-Covid

    Neulich hatte ich es schon von der Russischen Grippe, einer Pandemie, deren große Wellen zwischen 1889 und 1895 rollten und die plausiblerweise die jüngste große Coronapandemie vor SARS-2 gewesen sein könnte (Forschung aktuell dazu). Zwischenzeitlich ist mir nun aufgefallen, dass es einen weiteren Datenpunkt für Parallelen zwischen der Russischen Gruppe und SARS-2 geben könnte: Die Neurasthenie.

    Bis zu dieser Einsicht hatte ich die aktuelle Einschätzung der Wikipedia geteilt:

    Neurasthenie gehörte im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu den Modekrankheiten einer gehobenen Gesellschaftsschicht.

    Im Fin de Siécle schien es in der Tat zum guten Ton zu gehören,

    Erschöpfung und Ermüdung, die entweder durch eine zu geringe Belastbarkeit durch äußere Reize und Anstrengungen oder auch durch zu geringe oder zu monotone Reize selbst verursacht sein kann

    an den Tag zu legen. Florian Illies schreibt dazu in seinem Zeitportrait „1913 – der Sommer des Jahrhunderts“:

    1913 fasste man das zusammen unter dem Begriff: »Neurasthenie«. Spötter sangen: »Raste nie und haste nie, sonst haste die Neurasthenie«.

    Was aber, wenn „wir“ (also die, die sich in der Einschätzung „Modekrankheit“ gefielen) den Betroffenen unrecht getan haben? Was, wenn das in Wirklichkeit das Äquivalent von Long Covid, sagen wir Long Russische Grippe, also die neurologischen oder immunologischen Spätfolge einer im höheren Alter ersterworbenen Coronainfektionen war? Wenn, dann sollten wir nicht die Luft anhalten, bis das alles wieder vorbei ist, denn die Neurastheniewelle ebbte, soweit ich erkennen kann, ähnlich wie Thomas Manns Zauberberg[1] erst mit dem ersten Weltkrieg, zwanzig Jahre nach den großen Wellen, ab.

    Ich bereite mich jedenfalls schon mal vor, mal wieder meinen Hut essen zu müssen. Hat wer Hinweise auf ordentliche Literatur zu dem Thema?

    [1]Ich habe aus gegebenem Anlass nachgesehen: Mann erwähnt im ganzen Zauberberg keine Neurasthenie, obwohl das Topos eigentlich das ganze Buch durchzieht. Ob es daran liegt, dass das Buch zehn Jahre nach dem Ende seiner Handlung erschien und es nichts Anrüchigeres gibt als die Mode von gestern?
  • Vom Nutzen der Diversität

    Dafür, dass ich das Buch „SARS from East to West“ als „unfassbar langweilig“ beschrieben habe, gibt es schon ziemlich viel her, denn nach meiner ersten Besprechung hat es mit den bekannten Szenarien ja schon einen zweiten Post abgeworfen. Und jetzt gleich noch einen. Wenn ich kurz drüber nachdenke – eigentlich ist das ein Kennzeichen von Wissenschaft: Weite Strecken von mühsamer Langeweile unterbrochen von aufregenden Erkenntnissen, die mensch unbedingt gleich mitteilen möchte. Hm.

    Heute jedenfalls will ich auf eine Geschichte aus Kapitel 8 des Buchs hinweisen. In diesem beschäftigen sich Joan Deppa, Andrew Seaberg und Grace Han Yao (die die Arbeit an der „School of Public Communications“ in Syracuse, NY gemacht haben und danach Public Communications-Profin, Investmentheini und Marktforscherin geworden sind) mit dem öffentlichen Nachrichtenfluss im Verlauf der SARS-1-Pandemie von 2003. Während nämlich, wie neulich zusammengefasst, spätestens seit dem 1. März 2003 in Ostasien klar war, dass eine ungewöhnliche Krankheit umging, tauchten in „westlichen“ Medien (Deppa et al haben CNN, die New York Times und die Washington Post untersucht) die ersten „richtigen“ Geschichten zu SARS erst nach der weltweiten Warnung der WHO am 15. März auf, auf die Titelseite der NYT hat es SARS gar erst am 7. April geschafft.

    Als am 23.2.2003 die kanadische Touristin, die sich nahe dem Zimmer 911 angesteckt hatte, in Toronto landete, wussten aber dennoch KanadierInnen von SARS: In Vancouver und Toronto lebten schon damals viele Menschen, die sich mehr oder weniger als chinesische Expats verstanden und insbesondere chinesischsprachige Zeitungen mit chinesischen Meldungen lasen. Eine von ihnen war Agnes Wong, die in eben dem Krankenhaus arbeitete (dem Scarborough Grace), in das die Touristin eingeliefert worden war. Als sich deren Sohn am 7. März ebenfalls mit einer schlimmen Lungensymptomatik in der Notaufnahme vorstellte, erinnerte sich Wong an einen Artikel aus der in Toronto erscheinenden Sing Tao (eine der erwähnten Expat-Zeitungen), in dem über SARS-Fälle in Hong Kong berichtet worden war. Und dann ging es so weiter:

    Die ursprüngliche Diagnose des Patienten im Scarborough Grace-Krankenhaus war Tuberkulose gewesen [...] Wong jedoch verständigte die Nachtschwester und bat sie, die Reiseanamnese der Mutter des Patienten zu prüfen. Sie erfuhr bald, dass die Mutter in Hong Kong gewesen und krank zurückgekommen war. Wong drängte die Pflegekräfte, den ärztlichen Dienst zu verständigen. Und so, das jedenfalls ist die Darstellung des Fernsehsenders CBC und der Zeitung Toronto Star, wurde der erste Fall von SARS in Kanada gefunden.

    Sollte euch mal wer fragen, was die Sache mit der Diversität – die ja tatsächlich so oft in Reden von Marktradikalen vorkommt, dass mensch ins Grübeln kommen mag – soll: Vielleicht erinnert ihr euch an diese Geschichte.

    Und wo ich schon über das Buch schreibe, kann ich vielleicht noch einen schnellen Nachtrag zum bekannten Szenario-Post loswerden in dem ich ja spekuliert hatte, dass die Murdoch-Presse in Kanada ähnlich destruktiv agiert haben könnte wie Springer hier. In der Tat findet sich im siebten Kapitel des Buchs (das vor allem eine Verhältnismäßigkeitsabwägung der Isolationsmaßnahmen vornimmt) folgende Passage:

    Ganz besonders die konservative Presse spielte die Bedrohung durch SARS anfänglich herunter. Die Unterstellung war, alarmistische Berichterstattung über kleinere Probleme diene vor allem dazu, Zeitungen zu verkaufen und die Forschungsbudgets nordamerikanischer Universitäten zu erhöhen.

    Wie gesagt: Bekannte Szenarien.

  • Ein bekanntes Szenario

    Was die Submikrometer-Filtermasken nach N95 [in der EU: FFP2] angeht, illustriert dies viele der logistischen und planerischen Probleme, die die Antwort [auf den Krankheitsausbruch] im Großraum Toronto unterminierten. Unmittelbar nach dem Ausbruch war die Nachfrage nach Masken verständlicherweise groß; die kanadischen Lieferanten waren, da sie zuvor keinen Vorrat angelegt hatten, rasch ausverkauft. Krankenhäuser mussten sich bei ausländischen Herstellern vesorgen, aber wegen der weltweiten Bedrohung durch SARS war es sehr schwierig, Masken aus anderen Ländern zu beschaffen.

    Das ist kein Text von 2020. Dieser Text wurde (ausweislich der spätesten Zitate) kurz nach 2005 geschrieben und ist in dem 2011 erschienenen Band „SARS from East to West“ von Olsson et al enthalten, von dem ich letztes Wochenende erzählt habe. Wann immer ich eine hinreichende Bürokratesischtoleranz – wenn ihr die Textbeispiele hier modulo meiner Übersetzung bröselhölzern findet: der Rest des Buchs ist schlimmer – aufgebaut habe, gebe ich mir weitere Kapitel, und jetzt gerade habe ich Kapitel 6 gelesen. Darin beschäftigen sich Dan Markel und Christopher Stoney mit dem SARS-Ausbruch im Großraum Toronto, der Greater Toronto Area (GTA).

    Mensch sollte dabei im Kopf haben: Nach heutigen Maßstäben war der SARS-1-Ausbruch von 2003 winzig. Es gab nur zwischen Ende Februar und und Anfang Juli überhaupt Fälle außerhalb von Guangzhou, und in Kanada, dem mit Abstand am schwersten betroffenen Land im „Westen“, wurden am Ende 251 Fälle mit 43 Toten gezählt. Das ist, grob gesagt, ein zehntel Promille von SARS-2. Faktoren wie 10 − 4 illustriere ich immer gerne mit Zeit: Wenn SARS-2 ein Jahr ist, ist SARS-1 eine Dreiviertelstunde.

    Lokal allerdings kam es doch zu messbaren Inzidenzen, denn die große Mehrheit der kanadischen Fälle waren Folge der ursprünglichen Einschleppung aus Zimmer 911 und konzentrierten sich daher um Toronto herum. Trotz der dramatisch anderen Größenordnungen muss es sich nach Darstellung von Markel und Stoney dort ziemlich angefühlt haben wie in der BRD im März 2020, bevor der Podcast mit Christian Drosten online ging:

    Die Unfähigkeit, Information zutreffend und wirkungsvoll zu veröffentlichen, fachte Verwirrung und Panik an: War SARS infektiös oder nicht? Konnte man sich wie bei einer Erkältung anstecken oder nicht? War SARS unter Kontrolle oder nicht? Im Ergebnis wurden bei den täglichen Pressekonferenzen zu viele Meinungen über das aktuelle Geschehen öffentlich geäußert.

    Leider diskutiert das Buch nicht, was die Medien anschließend mit den Themen aus den Pressekonferenzen gemacht haben, denn ich wäre überrascht, wenn in Kanada die Murdoch-Presse nicht ähnlich verheerend gewirkt hätte wie hier die Springer-Presse. Die schlimmste Presse-Schelte, zu der sich die Autoren des Kapitels durchringen konnten, ist:

    Die sich aus den Schwierigkeiten bei der Informationsverbreitung ergebende Verwirrung und Fehlinformation verschäfte sich noch durch permanente Anfragen, 24 Stunden am Tag, Minute für Minute. Dies war eine wesentliche Behinderung der Bemühungen einer kleinen, überarbeiteten Belegschaft dabei, die zur Bekämpfung von SARS nötige epidemiologische Information zu sammeln, zu analysieren, zu interpretieren und zu verteilen.

    Auch das Lamento über schlechte EDV-Infrastruktur klingt wie vom letzten Jahr:

    Das Fehlen eines effektiven Überwachungssystems auf Provinz- wie gesamtstaatlicher Ebene, einer gemeinsamen Datenbank und eines gemeinsamen Informationssystems für meldepflichtige Infektionskrankheiten hat die Versuche unterminiert, Bedürfnisse zur Datensammlung zu befriedigen und die rasche Meldung von Infektionstätigkeit sowohl zwischen als auch innerhalb von Verwaltungseinheiten zu erleichtern.

    Tatsächlich hat jede der vier Public Health-Stellen innerhalb des Großraums Toronto ihr eigenes Erhebungssystem entwickelt und band sich fest an jeweils spezifische und unverträgliche Erhebungs- und Auswertungsmethoden, obwohl das erhebliche Probleme verursachte.

    Angesichts der mikroskopischen Zahlen frage ich mich ein wenig, wie diese Leute Zeit hatten, sich in ihre jeweiligen Systeme zu verlieben, denn bei allenfalls ein paar hundert Fällen insgesamt konnten diese ja wohl nicht viel genutzt worden sein; aber gut, wenn noch ein paar tausend Quarantänefälle dazu kommen…

    Vielleicht sind die kleinen Zahlen auch der Grund, warum dort nicht aufgefallen ist, was nach zwei Jahren SARS-2-Surveillance längst auf der Hand liegt: Wichtiger als die Totalerfassung und der rasche Umgang mit großen Datenmengen ist eine wohldefinierte Datenerhebung. Blind alle Fälle zählen („Inzidenz“) sagt ganz offenbar nichts, wie allein schon der Vergleich von diesem Januar (eigentlich ziemlich cool bei 1500/100'000) mit dem vor einem Jahr (ziemliches Gemetzel bei 250/100'000) zeigt. Um zu einer irgendwie sinnvollen Einschätzung des Geschehens zu kommen, braucht es zumindest noch Daten zu Vollständigkeit, Alters- und Sozialstruktur, Virusprofil, Impfstatus und Übertragungswegen, sehr wahrscheinlich noch deutlich mehr.

    Da eine Vollerfassung dieser Daten nicht nur praktisch unmöglich wäre, sondern auch ein Datenschutzalptraum würde, so dass wiederum viele Menschen – wahrscheinlich auch ich – das Ergebnis durch kleine Lügen unbrauchbar machen würden, wäre es rundherum viel hilfreicher, ein (relativ) kleines Sample zu ziehen, dessen Bias gut untersucht ist. Dieses könnte dann unter sorgfältiger Datenschutzkontrolle genau studiert werden, gerade im Hinblick auf die tatsächlichen Infektionsketten, deren Kenntnis ja z.B. zur Beurteilung der wirklich nützlichen „Maßnahmen“ letztlich entscheidend wäre. Das große Vorbild für eine hochnützliche „small data“-Operation in diesem Bereich ist die AGI-Surveillance, von der ich Ende Januar schon mal geschwärmt habe.

    Jedenfalls: irgendwas in der Art von „Wir saßen auf einem Berg schlechter Daten und hätten eigentlich einen Klumpen guter Daten gebraucht“ hätte ich halb erwartet, und das kommt bei Markel und Stoney nicht. Vielleicht wegen der kleinen Zahlen, vielleicht, weil meine Überlegungen im Public Health-Bereich nicht zutreffen, vielleicht, weil die Leute andere Sorgen hatten.

    Ein für PolitologInnen naheliegendes Thema für Sorgen könnten die länderfürstlichen Stunts sein, zuletzt spektakulär die faktische Aussetzung der Impfpflicht von Beschäftigten im Gesundheitswesen durch Markus Söder. Auch sowas gab es schon 2003 in Kanada:

    Unstimmigkeiten zwischen den Zuständigen auf Gemeinde- und Provinzebene führten auch zu Doppelungen von Verantwortlichkeiten und Aufgaben. [...]

    Daher blieb unbeanwortet, wer die verantwortlich war für: die Klassifikation eines Falls; die Erteilung von Anweisungen an Krankenhäuser; die Festlegung von Konsequenzen, wenn die Anweisungen nicht befolgt wurden; die Bestimmung, welche Daten von wem an wen übertragen werden müssen; die Definition, welche Daten in welchem Ausmaß und zu welchem Zweck zwischen öffentlicher Verwaltung und privaten ExpertInnen ausgetauscht werden dürfen; die Benachrichtigung von Verwandten, dass einE AngehörigeR als ein wahrscheinlicher Fall klassifiziert wurde; die Abwägung, ob Datenschutzrechte der Informationsweitergabe, die zur Kontrolle und Verhütung der weiteren Ausbreitung von SARS nötig war, entgegenstehen.

    Auch die verbreitete Erfahrung – gerade bei Lehrkräften an Schulen, aber auch unsere Vewaltung an der Uni hat häufig geseufzt –, nach der die Vorstellungen der Mächtigen, was nun gerade gelten sollte, wahlweise am Vorabend oder gar nicht ankamen, ist nicht neu:

    Tatsächlich wurden die Menschen, die an der Gesundheitsfront und/oder in Hochrisiko-Umgebungen, etwa Bildungseinrichtungen, Gemeindezentren, Altenheimen, kirchlichen oder privatwirschaftlichen Einrichtungen arbeiteten, nie direkt über wichtige Entwicklungen informiert.

    Nach all dem: Haben diese Untersuchungen der kanadischen Regierung geholfen, mit SARS-2 besser fertig zu werden als andere westliche Länder, die ja keine nennenswerten Erfahrungen mit SARS-1 hatten?

    Leider ist Kanada nicht von Aburto et al (vgl. Trifft die Menschen hart …

  • SARS-1 und das Zimmer 911

    Buchcover

    Ich lese gerade „SARS from East to West“, einen Sammelband von Artikeln zu den Ausbrüchen von SARS-1 zwischen 2002 und 2004, den Eva-Karin Olsson and Xue Lan 2012, also lang, bevor jemand etwas von SARS-2 ahnte, herausgegeben haben (ISBN 978-0-7391-4755-9, gibts auch in der Imperial Library). Es handelt sich wohl um eine Art Abschlussband eines wissenschaftlichen Projekts irgendwo zwischen Politologie, Zivilschutz und Militärforschung, das in einer Kooperation zwischen einigen schwedischen Regierungsstellen und einer Handvoll, nun, regierungsnahen Bildungseinrichtungen aus China bearbeitet wurde.

    Das Ergebnis ist über weite Strecken unfassbar langweilig. Die AutorInnen beschäftigen sich seitenweise damit, welche Verwaltung wann mit welcher anderen geredet hat oder wer wann zurückgetreten ist oder wer vielleicht Gesichter verloren haben könnte. Manchmal habe ich mich gefragt, ob es Leute gibt, denen sowas ähnlich viel Freude macht wie AstronomInnen ihre Sterne – oder ob die Motivation, PolitologIn zu werden, vielleicht ganz anders aussieht als unser „ich will doch nur spielen“.

    Andererseits fühle ich mich gleich daheim, wenn das Buch den WHO-Mitarbeiter Peet Tüll wiedergibt. Dieser hat während des Ausbruchs mit der chinesischen Seite die Maßnahmen zur Bekämpfung der hochkochenden Epidemie diskutiert, wozu im Buch zu lesen ist:

    Treffen und Verhandlungen zwischen der WHO und ihren chinesischen Partnern waren entweder formell oder informell […] Formelle Verhandlungen waren zäh und hoch politisiert. […] Während der informellen Treffen waren die Chinesen zugänglicher. [Diese] drehten sich um Problemlösungen […] Wenn ein chinesischer Partner sich auf ein informelles Treffen einließ, änderte sich die Frage von einer politischen zu einer sachlichen.

    (Kapitel 5; Übersetzung von mir). Das deckt sich komplett mit meiner Erfahrung im (wie eben eingestanden durchaus anders gestrickten) Bereich der Astronomie: Je mehr Arbeitsebene, je weniger Management, desto produktiver. Was mal wieder die Frage aufwirft, warum daraus niemand die offensichtlichen Schlüsse zieht…

    Das Zimmer 911

    Richtig Neues habe ich aus der Chronologie des Ausbruchs gelernt. Verglichen mit SARS-2 war SARS-1 ja ein recht beschränktes Geschehen mit gut 8000 bestätigten Infizierten und knapp 800 auf SARS-1 zurückgeführten Toten[1], und so konnten Infektionsketten vielfach genau nachvollzogen werden. Die für mich Spannendste war die vom Zimmer 911 (das Schicksal ist numerologischen VerschwörungstheoretikerInnen ganz offensichtlich gewogen) im Hotel Metropole in Hong Kong ausging.

    Das ging so: Nachdem SARS-1 schon seit November 2002 im Hinterland von Hong Kong, der Provinz Guangdong, herumgegangen ist, reist am 21.2.2003 – ein Freitag – der 64-jährige Arzt Liu Janlun von dort nach Hong Kong und bezieht dieses Zimmer 911, um an einer Familienfeier teilzunehmen. Zunächst ist er etwas mit seinem Schwager in der Stadt unterwegs, verbringt dann aber einige Zeit im Hotel. Dort halten sich auch eine 78-jährige Touristin aus Toronto, ein 48-jähriger US-chinesisicher Geschäftsmann und drei junge Frauen aus Singapur auf. Genauer: Sie alle wohnen im 9. Stock des Metropole.

    Schon am nächsten Tag geht es Liu Janlun so schlecht, dass er ins Kwong Wah-Krankenhaus geht und, da er selbst vorher SARS-Fälle behandelt hatte, das Personal dort warnt, er könnte „eine sehr ansteckende Krankheit“ haben. Nach zehn Tagen Krankenhausaufenthalt, am 4.3., stirbt er an den Folgen seiner untypischen Lungenentzündung.

    Sein Schwager entwickelt bis zum Dienstag (25.2.) erhebliche Symptome einer Lungenerkrankung und begibt sich zunächst ebenfalls ins Kwang Wah-Krankenhaus. Er wird wieder entlassen, muss am 1.3. aber erneut aufgenommen werden und stirbt schließlich am 19.3. an SARS (das zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht als solches erkannt ist und auch nicht so heißt).

    Die kanadische Touristin fliegt am Sonntag zurück nach Toronto. In Kanada entwickelt sie recht bald Symptome und stirbt am 5.3. Fünf ihrer Familienmitglieder stecken sich an und werden in der Folge ebenfalls in Krankenhäuser aufgenommen. Das erste SARS-Todesopfer, das sich in Kanada angesteckt hat, ist der 44-jährige Sohn der Touristin.

    Auch der Geschäftsmann reist am Sonntag ab. Seine nächste Station ist Hanoi, wo er am 26.2. ins Französische Krankenhaus eingeliefert wird. Er braucht rasch Intensivbetreuung und wird am 5.3. zur Weiterbehandlung zurück nach Hong Kong in das Princess Margeret-Krankenhaus verlegt. Dort stirbt er am 13.3., offenbar, ohne weiteres Personal anzustecken. In Hanoi hingegen entwickeln bis zum 12.3. 26 MitarbeiterInnen des Krankenhauses SARS-Symptome, fünf sind zu diesem Stichtag in kritischem Zustand.

    In Hanoi ist ein Mitarbeiter der WHO, Carlo Urbani, auf den Fall aufmerksam geworden und meldet ihn eine Woche nach dem Freitagabend auf dem Gang im 9. Stock, also am 28.2., als möglichen Fall von Vogelgrippe an das WHO-Büro in Manila, was dort, so steht es in der Chronologie, einen „heightened state of alert“ auslöst.

    Urbani selbst untersucht noch für ein paar Tage in Hanoi die unbekannte Krankheit, bevor er am 11.3. zu einer Konferenz nach Bangkok weiterfliegt. Schon bei der Ankunft ist er so krank, dass er dort ins Krankenhaus eingewiesen wird. Er stirbt am 29.3., ebenfalls an SARS.

    Eine der drei jungen Frauen aus Singapur, die am Dienstag nach dem schicksalhaften Freitagabend dorthin zurückgekehrt ist, wird am folgenden Samstag mit einer schweren Lungenerkrankung in ein Krankenhaus in Singapur eingewiesen; auch die beiden anderen zeigen Symptome.

    Ein Arzt, der sie behandelt hat, fliegt am 15.3. über Frankfurt nach New York City. Da er kurz vor dem Abflug Krankheitssymptome angegeben hat, alarmieren die Behörden von Singapur die WHO, die veranlasst, dass der Arzt sowie seine Frau und seine Schwiegermutter in Frankfurt aus dem Flugzeug entfernt werden. Die Familie kommt dort in Isolation, so dass sogar die BRD ein wenig SARS abbekommt; SARS-1 beschränkte sich hier aber auf insgesamt 9 Fälle, die alle glimpflich ausgingen (zum Vergleich: In Kanada starben von 251 bekannten Infizierten 43).

    Die Wikipedia berichtet, dass 4000 SARS-Erkrankungen – und damit die Hälfte der bekannten Gesamtzahl – auf diesen Freitagabend im Metropole-Hotel zurückgehen. Diese Geschichte war den Leuten, die an der SARS-2-Prävention im März 2020 überlegten, sicher vertraut – und sie lässt mich etwas besser verstehen, warum sie Hotels so rasch runterfuhren und später zunächst eher wirr erscheinende Regeln (etwa „mindestens ein leeres Zimmer zwischen zwei vergebenen“) verhängten.

    Allerdings: SARS hätte es sicher auch anders aus Guangzhou herausgeschafft. So ist etwa am 8.3.2003 ein Fall in Taiwan aufgetreten, der sich direkt nach Guangdong zurückverfolgen ließ. Wahrscheinlich war es global gesehen sogar ein Glück, dass SARS-1 durch eine schnelle Ausbreitung in gesundheitlich gut überwachten Kreisen doch recht schnell auffiel.

    Der Erfolg jedenfalls, SARS-1 innerhalb von drei Monaten nach dem Übergang zur Pandemie tatsächlich „besiegt“ zu haben – um mal eines der dümmeren Wörter aus der Corona-Kommunikation aufzunehmen – dürfte wohl auch die sture Entschlossenheit der derzeitigen chinesischen Regierung erklären, SARS-2 aus dem Land zu halten. „Wir haben es schon mal geschafft, das geht bestimmt wieder“. Nun, das war sicher schon im März 2020 eine Illusion, und wahrscheinlich nicht nur, weil SARS-2 schon in der Wuhan-Variante doch regelmäßig ein paar Ecken übertragbarer zu sein scheint als SARS-1. Spätestens jetzt, bei einem Infektionsgeschehen vier Größenordnungen über dem von SARS-1, ist es absurd, anzunehmen, SARS-2 würde in absehbarer Zeit verschwinden.

    Wir haben jetzt fünf humane Coronaviren, und wer sich nicht über Nordkorea-Nivau hinaus abschotten will, wird sie früher oder später laufen lassen müssen. Insofern frage ich mich schon, wie sich die Regierung in Beijing sich das so vorstellt.

    Zur Laborhypothese

    Eine zweite SARS-Geschichte, von der ich vorher noch nichts gehört hatte, betrifft den Ausbruch genau dort, in Beijing, ein Jahr nach der Pandemie. Das SARS-1-Virus war wie gesagt schon im Juli 2003 wieder verschwunden, auch wenn im Januar 2004 in Guangdong nochmal zwei Fälle bekannt wurden – möglicherweise hatten sich diese erneut beim ursprünglichen Wirt angesteckt.

    Am 22.4.2004 (einem Donnerstag) berichtet jedoch das chinesische Gesundheitsministerium, es gebe einen SARS-Fall in Beijing, und fünf weitere Personen zeigten verdächtige Symptome. 171 Kontaktpersonen stünden unter Beobachtung. Am Freitag wird ein weiterer Fall und ein Verdachtsfall berichtet, dieses Mal aus der Provinz Anhui zwischen Beijing und Shanghai. Diese Fälle lassen sich offenbar auffällig nahe an ein Labor der chinesischen Gesundheitsbehörde CCDC zurückführen, so dass schon am folgenden Montag Vermutungen laut werden, die SARS-Viren seien bei einem Laborunfall übertragen worden.

    Die Behörden reagieren schnell und identifizieren Kontaktpersonen an den beiden Orten, was in Anhui auf bis zum folgenden Mittwoch auf 154 Menschen führt. Isolation und Quarantäne führen dazu, dass der letzte bekannte SARS-1-Fall überhaupt einen Monat nach dem Beginn des zweiten Ausbruchs, am 21.5.2004, aus dem Ditan-Krankenhaus entlassen wird. Insgesamt waren 2004 wohl um die 1000 Personen in Isolation und Quarantäne (wenn ich die Chronologie im Buch richtig lese).

    Am 1.7.2004 bestätigte der chinesische Gesundheitsminister Gao Quiang, der Ausbruch sei auf ein Labor der CCDC zurückzuführen gewesen. In der Folge trat der Direktor der CCDC, Li Liming, zurück, vier weitere hochrangige Mitarbeiter wurden entlassen.

    Ich muss sagen, dass ich die Laborhypothese zum Ursprung von SARS-2 im Vergleich zur sehr plausiblen Zoonose (ich bin immer noch leicht traumatisiert von einem Besuch in einem chinesischen Lebensmittel-Supermarkt, der auf den ersten Blick kaum von einem Zoo zu unterscheiden war) nie sonderlich überzeugend fand, auch wenn es schon ein komischer Zufall ist, dass der erste große Ausbruch ausgerechnet in so großer Nähe zum Wuhan Institute of Virology der Chinesischen Akademie der Wissenschaften (CAS) stattfand. Aber das ist konsisitent mit dem generellen …

  • Wes Brot ich ess…

    Ein schrumpeliger Apfel

    Würdest du diesen Apfel in einem Supermarkt kaufen? Geht nicht mehr. Ich habe ihn vorhin gegessen. Also: Das, was Wurm und Balkonlagerung davon übrig gelassen haben. Auf der anderen Seite dürfte das Ding einen Behandlungsindex um die Null gehabt haben – siehe unten.

    Neulich hat die Parteistiftung der Grünen, die Böll-Stiftung, einen Pestizidatlas herausgegeben, eine Sammlung von Infografiken und Karten über den Einsatz von Giften aller Art in der Landwirtschaft. Wie üblich bei diesen Atlanten, haben sie das dankenswerterweise unter CC-BY publiziert, und besser noch: Die Sachen sind auch ohne Javascript leicht zugänglich[1].

    Ich hatte mir davon einige Kopfzahlen erhofft, denn ich habe wirklich kein gutes Gefühl dafür, was so an Giften auf den Feldern (und Weinbergen!) in meiner Umgebung landet und was das bedeutet. In der Hinsicht hatte ich kein Glück. Im Atlas gibts zwar haufenweise Zahlen, aber wirklich überzeugen konnten mich nur wenige, oft genug, weil sie letztlich Metriken ohne Bedeutung sind. Ein gutes Beispiel für diese Kategorie ist die Masse der Agrochemikalen (verwendet z.B. auf S. 11, S. 15, S. 44), die wohl als Proxy für „Umfang des Gifteinsatzes“ stehen soll.

    Das halte ich für profund fehlerhaft. Neonikotinoide, Glyphosat und DDT (um mal ein paar Pole aufzumachen) sind in spezifischer Giftigkeit, Wirkprofilen, Umweltauswirkungen, Kinetik und eigentlich jeder anderen Hinsicht fast völlig verschieden voneinander. „Eine Tonne Pestizid“ sagt daher so gut wie nichts aus. Obendrauf kommt noch ein kleiner Faktor Unsicherheit, ob sich die Masse auf Wirkstoffe, fertige Rezepturen oder irgendwas dazwischen bezieht, aber das wird wohl in diesem Geschäft kaum mehr als einen kleinen Faktor ausmachen – verglichen mit dem Grundproblem (in dem wir vermutlich über Faktoren von einigen tausend sprechen) wohl vernachlässigbar.

    Ähnlich schwerwiegende Einwände hätte ich zur breiten Mehrheit der Zahlen in dem Atlas: Vage beeindruckend, aber immer ein gutes Stück unterhalb der Schwelle von Wohlfundiertheit und allgemeinen Anwendbarkeit, die ein paar Ziffern zu einer Orientierung gebenden Kopfzahl machen könnten.

    Es gibt jedoch auch ohne schlagende Zahlen von werkübergreifender Bedeutung einige Einsichten, die wertvoll sind, so etwa auf S. 33 die Bankrotterklärung der Idee, durch grüne Gentechnik den Pestizideinsatz zu reduzieren. In Brasilien, wo transgene Pflanzen die Landwirschaft vollständig dominieren, sind 2019 47% mehr Pestizide ausgebracht worden als 2009. Gut: Soja (darauf schaut der Rest der Grafik, und das wird wohl auch den Pestizidverbrauch dominieren) ist in diesem Zusammenhang ein schlechtes Beispiel, denn das populäre transgene Soja („Roundup ready“) ist ja gerade designt, um große Mengen Herbizide zu überleben. Dazu sind wieder blind Massen angegeben, und die angesichts galloppierender Rodungen in Brasilien vermutlich rasch wachsende Anbaufläche wäre eigentlich auch noch einzurechnen, wenn die Zahlen einen analytischen Blick erlauben wollten.

    Aussagekräftiger wären für die behandelte Frage Zahlen für Mais gewesen (nämlich den mit der Bt-Abwehr gegen den Maiszünsler) und folglich auch Insektizide beim Mais. Aber seis drum: Die Grafik zeigt auch ohne methodische Strenge, dass es so nicht weiter gehen kann.

    A propos Mais: Dass der mit recht wenig Chemie auskommt, hat mich schon verblüfft:

    Mit "Schlechte Nachrichten für Apfel-Fans" überschriebene Grafik

    Grafik von Seite 14 des Pestizidatlasses. Die Caption im Atlas deutet an, dass der „Behandlungsindex“ etwas wie die mittlere Anzahl von Anwendungen von Pflanzenschutzmitteln ist; ob das wirklich so ist: Wer weiß? CC-BY Pestizidatlas

    Dass Wein heftig pflanzengeschützt wird, ist hier in der Gegend unübersehbar. Bei Hopfen und Äpfeln überrascht es mich aber, denn hiesige Apfelbäume in Streulagen, um die sich im Wesentlichen niemand kümmert, liefern durchaus sehr essbare Äpfel; hinreichend viele und große, um mir den ganzen Winter über die Basis für mein Frühstücksmüsli zu liefern (das Foto oben zeigt den von heute).

    Klar haben fast alle Hautdefekte, und in vielen wohnte auch mal ein Wurm – aber das tut ihrer Essbarkeit wirklich keinen Abbruch. Aus dieser Erfahrung heraus hätte ich erwartet, dass schon mit recht moderaten Interventionen supermarktkompatible Äpfel erreichbar wären. Das stimmt offenbar so nicht. Die letzten 50% zum makellosen Produkt – und wahrscheinlich auch die Spalierzucht in Monokultur – scheinen Äpfel von einer ganz einfachen zu einer ganz heikelen Kultur zu verwandeln.

    Meine Lieblingsgrafik ist schließich auf Seite 39:

    Eine Kopfzahl gibt auch das nicht her. Als Beleg für das alte Motto „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ kann das aber durchaus durchgehen. Und als Illustration dafür, wie problematisch es ist, Wissenschaft – wie wir das in unserer Drittmittelkultur nun mal tun – über Geld zu regulieren.

    [1]Na ja, blöderweise ist ohne Javascript so ein doofes animiertes GIF neben jedem Ding, das runtergeladen werden kann. Tipp an die WebseitenmacherInnen: Wenn ihr diese Sorte Gimmick schon braucht, stattet ihn doch wenigstens mit einem display: none im CSS aus. Per Javascript könnt ihr das display-Attribut dann nach Bedarf konfigurieren. Nettoeffekt: UAs ohne JS (aber mit elementarem CSS) sehen keine blinkenden Trümmer.
  • Variable Inflation

    Relativ parallel verlaufende Kurven

    Dieser Artikel hat nach langen Windungen leider keine Pointe. Und zwar im Wesentlichen wegen dieser Grafik, generiert vom Rechner für die persönliche Inflationsrate des statistischen Bundesamts. Siehe unten.

    Ich fletsche hier ja regelmäßig die Zähne in Richtung von allerlei Metriken, also Zahlen, die (meist) Unmessbares messen sollen und damit in aller Regel Politiken rechtfertigen, die schlecht sind für die, bei denen diese ankommen.

    Der ganz große Klassiker im Metrik-Geschäft ist das Bruttosozial- oder -inlandsprodukt (BSP bzw. BIP), dessen Wachstum im allgemeinen Bewusstsein als Synonym für wachsenden Wohlstand gilt, zumal in seiner Form als BIP pro Kopf. In Wirklichkeit versucht die Metrik zu messen, wie viele „Waren und Dienstleistungen“ (womit es schon losgeht: was ist das?) „hergestellt“ (realistisch: verkauft) werden, und zwar von StaatsbürgerInnen (BSP) oder innerhalb der Staatsgrenzen (BIP).

    Das Bruttosozialprodukt und der Krieg

    Dass das BIP wesentlich mit Wohlstand korreliert sei, ist offensichtlich falsch – selbst die Produktion von Wohlstandsvernichtern wie Autos und anderen Waffen erhöht das BIP –, und das wurde auch schon breit kritisiert. Der entsprechende Abschnitt in der Wikipedia ist nach Maßstäben diese Genres eher zahm.

    Diese Klarstellung im Hinblick auf Wohlstand ist wichtig, aber etwas unfair, denn, a propos Waffen: Historisch sollte das BSP das mit dem Wohlstand gar nicht machen. Besonders aufschlussreich in der Hinsicht fand ich einen Artikel in der taz vom 2.5.2015, der daran erinnerte, dass sich das BSP in seiner heutigen Form vom Gottseibeiuns der Marktradikalen, John Maynard Keynes, in einem Artikel mit dem sprechenden Namen How to Pay for the War ersonnen wurde und sich letztlich als Metrik der wirtschaftlichen Kriegsfähigkeit durchgesetzt hat. Die taz-Autorin Ulrike Herrmann implizierte 2015, dass das BSP dafür offenbar taugte, denn es hat ja die Keynes-Seite gewonnen – mehr kann mensch von einer Metrik nicht erwarten.

    Ich selbst glaube zwar nicht, dass BSP-Rechnungen auf Seiten der Nazis irgendwas am Kriegsverlauf geändert hätten, aber für meinen nächsten Gedanken will ich trotzdem mal annehmen, das BSP sei im zweiten Weltkrieg eine kriegsnützliche Metrik gewesen. Von dort aus möchte ich behaupten, dass es unter Bedingungen weitgehender reproduktiver Selbstbestimmung allenfalls noch sehr kurzfristig für die Bewertung der Kriegsfähigkeit taugt. Solange sich nämlich in Kriegen immer noch in erster Linie junge Leute (statt, sagen wir, Roboter) erschießen, braucht es für deren Führung hinreichend Nachwuchs. Den immer noch dominierenden Modus der Reproduktion, unbezahlte Arbeit von Müttern an ihren Kindern, erfasst das BIP jedoch nicht.

    Als das Konzept entstand, war die Vorstellung klarerweise, dass Frauen ganz von selbst Kinder kriegen und aufziehen. Das stimmt nicht mehr, und daher wäre mein Rat an die BIP-MacherInnen: Wenn euer BIP weiter wie gehabt funktionieren soll, müsst ihr auch die Herstellung von Kindern verrechnen.

    Tatsächlich wäre es überhaupt kein Stilbruch, sowas irgendwie ins BIP reinzufummeln. Denn natürlich weiß niemand, wie viel wirklich verkauft oder gar hergestellt (denkt an all die handgestrickten Babysachen, von denen keine Statistikbehörde je erfahren wird) wird, und die Grenze zwischen Ware und Nicht-Ware ist ziemlich beliebig. Gewiss, das Steueraufkommen ist ein brauchbarer Indikator, aber mehr eben nicht. Viele Variablen liegen zwischen dem und irgendwelchen Gesamtproduktions- oder Einkommensziffern. Auch auf der legalen Seite der Demarkationslinie zur Schwarzarbeit passiert viel Austausch, ohne dass davon irgendwer etwas mitbekommt.

    Mit solchen Gedanken im Kopf habe ich vor einiger Zeit GDP: A Brief but Affectionate History von Diane Coyle (Princeton 2014; gibts bei der Imperial Library of Trantor) mit viel Interesse gelesen. Darin geht es zum Beispiel um die Beliebigkeiten in den BIP-Berechnungen (englisch Gross Domestic Product oder GDP) – der Klappentext erwähnt Ausschläge von 60% über Nacht für Ghana –, ebenso wie über die historischen Diskussionen, was alles zum „Volkseinkommen“ gehören soll: Kriegsausgaben? Staatsausgaben überhaupt? Gesundheitsausgaben? Oder in dem Bereich vielleicht nur Pillen, nicht aber die Arbeit von ÄrztInnen? „Dienstleistungen“ (was immer das ist) an sich, und wenn ja, wie bewertet?

    Dennoch: Kopfzahlen

    Die tatsächlichen Regeln für die Berechnung von BIP-artigen Metriken sind also im Gegensatz zur munteren Betrachtung in der Wikipedia in weiten Bereichen biegsam. Zwar mag eine genaue und ehrliche Zweckbestimmung helfen, die eben aufgeworfenen Fragen, sagen wir, intersubjektiv zu beantworten, aber letztlich ist das Konvention, und selbst für das BIP in der Keynes-Definition ist da viel zu vereinbaren. Die international offenbar populärste Konvention stellt Coyle vor, namentlich das System of National Accounts, das sich in den vergangenen siebzig Jahren von fünfzig auf 722 Seiten aufgebläht hat.

    Das allerdings schafft schon wieder Beliebigkeit. Aus meiner Erfahrung mit 50-seitigen Standards, für die nach einer Weile Validator-Programme verfügbar wurden (und zeigten, dass notdürftig funktionsfähig aussehende Dienste voll mit Fehlern waren), kann ich zuversichtlich sagen: Solange es keinen rechnergestützten Validator gibt (und das ist hier bis zur Erfindung starker KI eigentlich undenkbar), sind 722 Seiten voll Regeln so gut wie überhaupt keine Regeln: Das System ist fast sicher in sich höchst widersprüchlich, und auch mit dem besten Willen (der nur bei wenigen Statistikbehörden und Ministerien vorausgesetzt werden darf) werden Menschen ständig Fehler machen.

    Wie auch immer: Als Kopfzahl ist es ja vielleicht trotzdem ganz nützlich zu wissen, dass das BIP der BRD laut IWF 2019 knapp 4 Billionen Dollar betrug, das der USA etwas über 20 Billionen Dollar und das eines ordentlichen und großen Trikontstaats wie z.B. Nigeria 500 Milliarden Dollar. Sicher sind diese verschiedenen Dollars nicht annähernd vergleichbar, aber die Zahlen taugen doch für schnelle Überschlagsrechnungen, wenn verkündet wird, der Börsenwert von Apple sei jetzt, was, zwei Billionen Dollar (etwa: die AktionärInnen von Apple könnten für ein halbes Jahr die BRD leerkaufen und Nigeria für vier Jahre), oder wenn die Frage ist, wie viel der Bund mit einem Bundeshaushalt von (außerhalb von Corona) 350 Milliarden Euro an „den Märkten“ reißen kann – natürlich immer mit der Maßgabe, dass über Messfehler, Umrechnungen, Inflationsanpassung und so fort da schnell ein Faktor zwei dabei ist.

    Persönliche Inflation

    Der größte Unsicherheitsfaktor innerhalb der Serie einer Behörde wird wahrscheinlich die Inflationsanpassung sein, angefangen dabei, ob sie vorgenommen wurde oder nicht. Erstens ist sie ein exponentieller Effekt. Nehmen wir mal an, dass die Inflationsrate im Schnitt bei den 2% pro Jahr liegt, die diverse Zentralbanken gerne hätten, und dass sie tatsächlich ein Maß ist, wie viel mensch so kaufen kann. Nach der Königsformel „Verdoppelungszeit ist 75 Zeiteinheiten[1] durch prozentuale Rate“, liegen inflationsbereinigte und rohe BIPs schon nach 37 Jahren um einen Faktor zwei auseinander.

    Nun liefert aber auch eine Bereinigung um Inflation und Währungseffekte kaum Zahlen, die mit Erfahrungen von Konsummöglichkeiten korrelieren. Seht etwa die nach PPP bereinigten historischen Vergleichswerte zum BIP an: Es ist abwegig, dass sich irgendeine Sorte von „gefühltem“ Konsum für der BRD zwischen 1990 und 2019 von 1437 auf 4672 Milliarden Äquivalent-Euro verdreifacht haben soll. Wer damals schon gelebt hat, wird sich erinnern, dass sich – abgesehen davon, dass es noch keine SUVs und nur wenig Mobiltelefone gab – das allgemeine Konsumniveau hier im Land nicht wesentlich geändert hat.

    Zweitens also ist die Inflation selbst eine wacklige Größe, womit ich endlich zum Link komme, der mich zur vorliegenden Diatribe inspiriert hat, weil ich ihn verkopfzahlen wollte: Labournet berichtet, dass rund die Hälfte der 8.4 Millionen MieterInnen in deutschen Großstädten mehr als 30% ihres Einkommens für Miete augeben müssen. Das fand ich schon für sich relevant, ich wollte aber vor allem den Punkt machen, dass solche Leute bei explodierenden Mietpreisen eine weit höhere Inflation haben werden als Menschen, die keine Miete zahlen müssen.

    Da VermieterInnen in der Regel eher reich und MieterInnen in der Regel eher arm sind, bedeuten Mieten, die stärker steigen als die Inflation, eine Art kalte Umverteilung von unten nach oben bei gegebenem BIP (ob pro Kopf oder anders). Die Inflationsschätzung basiert ja auf einem Warenkorb, den das statistische Bundesamt (Destatis) zusammenstellt, und wenn Leute viel mehr für Miete ausgeben als im Warenkorb repräsentiert und die Mieten viel stärker steigen als die Preise im Rest des Warenkorbs, ist ihre „persönliche Inflation“ viel höher als die Zahl aus den Nachrichten. Die BIP-pro-Kopf-Metrik nicht nur wegen ungleicher Einkommensverteilung zweifelhaft, sondern auch, weil sie obendrauf noch eine innere Kaufkraftkorrektur bräuchte.

    Das hatte ich nun auf der Basis der rasant steigenden Mieten illustrieren wollen und habe auf den Seiten des Statistischen Bundesamts herumgestöbert, um mein Gefühl zu erhärten, dass Mieten weit über der Inflation steigen. Das Gefühl hat seine Grundlage in meinem persönlichen WG-Zimmer-Index für Heidelberg. Ausweislich durchschnittlicher Aushänge würde ich für 1990 den mittleren Kurs etwa bei 150 Euro sehen, inzwischen eher bei 500 Euro (unter Annahme der DM-Euro-Konversion von 2001). Die Mieten hätten sich also in dreißig Jahren also gut verdreifacht, was einer Verdopplungszeit von 18 Jahren oder einer jährlichen Inflation von 75/18, also 4% entspricht; die berichtete Inflation lag in der Zeit von kurzen Phasen abgesehen jedoch deutlich unter 2 Prozent.

    Nun, es stellt sich raus: Das Konzept der je nach sozialer Schicht verschiedenen Inflationsrate illustriert das Amt selbst recht schön und bietet sogar einen Rechner für die persönliche Inflationsrate an – Kompliment an dieser Stelle dafür, dass da ein SVG-Download angeboten wird (wie überhaupt die Webseite den Eindruck hinterlässt, dass hier Leuten mit Verstand und Spaß bei der Sache relativ freie Hand gelassen …

  • Ausbrüche von Prüderie

    Ich lese gerade Bill Brysons „Mother Tongue“, ein Buch über, nun, die englische Sprache. Darin schreibt er: „Soon after Shakespeare’s death, Britain went through a period of prudery of the sort with which all countries are periodically seized”.

    Buchcover

    Bildrechte beim Verlag

    Nun bin ich jederzeit bei inklusiver Sprache dabei (und kann das belegen, denn der UNiMUT hatte schon 1993 komplett das hohe I), und ich fand es klasse, als 2015 „Geflüchtete“ das Wort wurde, das nette Leute statt „Flüchtling“ sagten. Aber ich muss zugeben, dass ich diese sprachlichen Konventionen immer vor allem als Statement gegen Rechts gesehen habe (und angesichts der Reaktionen der Reaktion funktioniert das ja auch prima). Der fast religöse Furor, mit dem viele durchaus nette Menschen Wörter bekämpfen (oder umgekehrt als konstitutiv für Linke etablieren wollen) allerdings scheint mir oft die Grenze zu überschreiten, an der gute Ideen zu Mitteln von Exklusion und Identitätsbildung werden. Und eben von Sorten von Prüderie, weshalb ich Brysons Beobachtungen von 1989 zumindest bemerkenswert fand.

    So schreibt er etwa: „But the greatest outburst of prudery came in the nineteenth century when it swept through the world like a fever. It was an age when sensibilities grew so delicate that one lady was reported to have dressed her goldfish in miniature suits for the sake of propriety“. Ich weiß, wenn sich Männer über „sensiblities“ von anderen Leuten unterhalten, ist es ein wenig wie wenn Autofahrer_innen Straßenplanung machen. Aber ich vermute trotzdem, dass ich nicht mehr „trigger warning“ werde hören können, ohne an bekleidete Goldfische zu denken.

    Und übrigens: Es ist höchst unfair, den Ausbruch des Prüderie-Fiebers Victoria... Hannover? Saxecoburgotsky? – naja, Königin Viktoria von England halt – anzulasten. Denn: Thomas Bowdler, der mit seiner Reinigung von Shakespeares (in der Hinsicht ohnehin für die Periode recht zahmen) Werken von Kraftausdrücken das Wort „bowdlerise“ geprägt hat, hat sein Hauptwerk 1818 und mithin ein Jahr vor Victorias Geburt vorgelegt.

Seite 1 / 1

Letzte Ergänzungen