Am ersten Mai hatte ich mich an dieser Stelle gefragt, wann wohl die „Dauerbeflimmerung“ – also: leuchtende Werbedisplays am Straßenrand – an der Heidelberger Jahnstraße dazu führen wird, dass Leute einander kaputtfahren. Fünf Tage später lief in Forschung aktuell ein Beitrag, der einen ganz speziellen Blick auf Gefahren durch Beflimmerung vom Straßenrand warf.
Grundlage des Beitrags ist der Artikel „Can behavioral interventions be too salient? Evidence from traffic safety messages“ der Wirtschafts- hrm -wissenschaftler Jonathan Hall und Joshua Madsen aus Toronto und Madison, WI, erschienen in Science vom 22.4.2022 (doi:10.1126/science.abm3427)[1].
Bevor ich den Blick nachvollziehen konnte, musste ich mich zunächst ärgern, denn alles, was ich beim Folgen des DOI gesehen habe, war das hier:
Der Fairness halber will ich einräumen, dass die drei Punkte animiert waren, und dann und wann hat die Seite, als ich ihr erstmal Javascript erlaubt hatte, einen Reload geworfen und dann eine neue „Ray ID“ angeboten. Dennoch ist das gleich in mehreren Richtungen Mist, verschärft hier dadurch, dass Landing Pages von DOIs statisch sein können und sollen. Es lässt sich kein Szenario denken, in dem mensch für statische Seiten auf einem ordentlichen Webserver einen „DDoS-Schutz“ (was immer das sein mag) braucht, und schon gar keinen, der ohne Javascript, Referrer und weiß ich noch was nicht funktioniert.
Ich muss gestehen: ich war es müde, den Mist zu debuggen. Da der Artikel leider noch nicht bei libgen (die – Science, horche auf! – diese Sorte Unfug nicht nötig haben) war, habe ich in den sauren Apfel gebissen und statt meines Standardbrowsers einen überpermissiv konfigurierten Firefox genommen, der der Cloudflare-Scharlatanerie schließlich akzeptabel schien. Auch eine Art, das Web kaputtzumachen.
Zur Sache
In Texas hat das Verkehrsministerium über viele Jahre hinweg „Campaign Weeks“ gemacht, während derer auf den elektronischen Großanzeigen an vielbefahrenen Straßen – wer Falling Down gesehen hat, weiß, wovon die Rede ist – unbequeme Wahrheiten („Für Menschen zwischen 5 und 45 ist der Straßenverkehr die führende Todesursache“) angezeigt wurden.
Der Effekt: Offenbar fahren die Leute nach so einer Mahnung nicht vorsichtiger, sondern abgelenkter. Jedenfalls gehen die Unfallraten hinter solchen Nachrichten merklich nach oben. In Abbildung eins des Papers sieht das so aus:
Das „DMS” in der Beschriftung heißt „dynamic message signs“ – zumindest im Untersuchungszeitraum zwischen 2012 und 2017 war das aber sicher richtig fades Zeug im Vergleich zu moderner Werbebeflimmerung. Bei den roten Punkten kamen nach der ersten Tafel für 10 km keine weiteren mehr, so dass das das sauberere Signal ist.
Auch wenn der Effekt im Vergleich zu den Fehlerbalken nicht sehr groß ist und es allerlei versteckte Confounder geben mag – die Autoren gehen aber erfreulich vielen nach und können viele glaubhaft kontrollieren –, überzeugt mich das Paper davon, dass mindestens auf dem Kilometer nach der Tafel die von alarmierenden Zahlen beunruhigten Menschen ein paar Prozent mehr Unfälle bauen.
Ein Grund für meine Einschätzung der Zuverlässigkeit des Effekts ist, dass offenbar die Zunahme der Unfälle mit der Drastik der Nachrichten korrelierte: Spät im Jahr, wenn texanische Autos schon tausende Menschen zermalmt haben und also entsprechend große Zahlen auf den Tafeln zu sehen sind, sind die Effekte deutlich stärker als früh im Jahr:
Zwar ist die Null auch hier überall innerhalb von „zwei sigma“, also der doppelten Fehlerbalken, so dass ich das nicht völlig überbewerten würde. Ich könnte insbesondere nicht erklären, woher ein negativer Achsenabschnitt der Ausgleichsgerade kommen könnte, warum Leute also besser fahren sollten, wenn die Zahlen klein (oder ihre Neujahrsvorsätze noch frisch?) sind. Dennoch entsteht, nimmt mensch alle Evidenz zusammen, durchaus ein recht robustes Signal, das wiederum nur schwer durch Confounder zu erklären ist.
Und auch wenn was wie 5% nicht nach viel klingen: Der Straßenverkehr ist mörderisch (in den USA gibt es, Kopfzahl, in jedem Jahr so um die 50000 direkte Verkehrstote), und es gibt einen Haufen dieser Displays. Hall und Madsen schätzen, dass ihr Effekt in den 28 Staaten, die das ähnlich wie Texas machen, 17000 Unfälle mit 100 Toten verursachen dürfte.
Verblüffung am Rande: Für ein Kontrollexperiment haben Hall und Madsen nach Tafeln gesucht, die mindestens 10 km vor sich keine andere Tafel haben (damit sich die Effekte der Vortafel hoffentlich bereits gelegt haben). Das hat die Samplegröße um 75% reduziert. 75%! Dass diese DMSe so sehr clustern – denn es sich sicherlich undenkbar, dass über das ganze riesige Straßennetz von Texas hinweg alle paar Kilometer Tafeln stehen –, hätte ich nicht erwartet. Warum planen Leute sowas?
Und Werbetafeln?
Nun gebe ich zu, dass Hall und Madsen über ganz andere Dinge reden als die Werbe-Displays von Ströer und JCDecaux, sie ja sogar auf die Wichtigkeit der Natur der Nachricht abheben und so das Medium eher aus dem Blick nehmen.
Sie zitieren aber auch Literatur, die sich allgemeiner um die Frage der Ablenkung durch Beflimmerung kümmert. Davon gibts einiges, und offenbar ist umstritten, wie tödlich Werbetafeln wirklich sind. Vermutlich wäre es ein wertvolles Projekt, die Drittmittelgeber der entlastenden Studien zu ermitteln.
Was Hall und Madsen zitieren, ist leider nichts in dieser Richtung. Dennoch habe ich mir ihre Quelle „Driving simulator study on the influence of digital illuminated billboards near pedestrian“ von Kirstof Mollu (aus dem Dunstkreis der Wiwis an der Universiteit Hasselt, Belgien) et al, Transportation Research Part F 59 (2018), S. 45 (doi:10.1016/j.trf.2018.08.013) kurz angesehen. Das braucht immerhin keine Beschwörungen von Cloudflare, ist aber wieder kein Open Access und zwingt NutzerInnen erstmal den "Elsevier Enhanced Reader" auf, der ohne Javascript gar nichts tut – eine sehr aufwändige Art, ein PDF runterzuladen.
Nun: Mollu et al haben sieben Handvoll Führerscheinhabende rekrutiert und in einen einfachen Fahrsimulator (zwar force-feedback, aber keine Beschleunigungssimulation) gesetzt, in das Szenerio verschieden hektisch flimmernde Displays integriert und dann gesehen, wo die Leute hingucken und wie oft sie übersehen, dass FußgängerInnen über die Straße wollen.
Wenig überraschende Einsicht: Die Leute gucken mehr, wenn die Bilder nur 3 Sekunden (statt 6 Sekunden) stehen bleiben. Was Filmchen (bei denen Bilder ja nur was wie 1/25stel Sekunde stehenbleiben) anrichten, untersuchen sie nicht. Überhaupt macht der Artikel quantitativ nicht viel her. Oh, abgesehen von Zahlen, die sie selbst nur zitieren: In den Fahrradländern Niederlande und Dänemark sterben nur drei bis vier FußgängerInnen pro Million Einwohner und Jahr. In den jüngst wild motorisierten Lettland und Litauen ist es ein Faktor 10 mehr, also etwas wie 35 pro Million und Jahr.
Zur Einordnung will ich nicht verschweigen, dass ausweislich der aktuellen RKI-Zahlen SARS-2 in der BRD 1500 Menschen auf eine Million EinwohnerInnen umgebracht hat und das auch schlimmer hätte kommen können (aber: Caveat bezüglich dieser Sorte Zahlen). Andererseits: Wollte mensch den gesamten Blutzoll des Autos bestimmen, Verkehrstote, durch Verkehrsverletzungen verfrühte Tode, Opfer von Lärm und Luftverschmutzung, vielleicht gar von Bewegungsmangel, wäre es wohl nicht schwer, für die BRD auf 700 Autoopfer pro Million und Jahr zu kommen und damit ziemlich genau in den Bereich des durch Maßnahmen und Impfung gezähmten SARS-2. Aber diese Rechnung braucht mal einen anderen Post.
[1] | Leider hat Science den Artikel, dessen AutorInnen fast sicher aus öffentlichem Geld bezahlt wurden und die jedenfalls öffentliche Infrastruktur (U Toronto, Vrije Uni Amsterdam, U Minnesota) nutzten, weggesperrt, und er ist im Augenblick auch noch nicht auf libgen. Hmpf. |
Zitiert in: Von Verblindung und fachbedinger Blindheit