Bologna: Die universell gescheiterte Verschwörung
Meine längere Diatribe über Verschwörungstheorien neulich war inspiriert von dem Plakat auf dem Eingangsbild zu diesem Post, denn es illustriert eine von vielen Weisen, in denen der Bologna-Prozess – Arbeitsdefinition: ungefähre Verfünffachung der Prüfungslast an Hochschulen, mehr dazu gleich – krachend gescheitert ist. In diesem Scheitern ist er wiederum eine besonders schlagende Illustrationen für meine Behauptung gegen Ende des Verschwörungsposts: Verschwörungen – im Sinne von „verabredete Differenzen zwischen öffentlichen und privaten Äußerungen“ – sind zwar tatsächlich allgegenwärtig im politischen Prozess. Paranoid und unzutreffend ist aber die Annahme, diese Verschwörungen würden auch funktionieren, den Verschworenen also die Vorteile bringen, die sie sich erwartet haben.
Beim Bologna-Prozess und seinen Vorläufern war ich als kleines Rädchen live dabei und hatte sogar eine eigene kleine Seiten-Verschwörung am Laufen: Ich habe nämlich bei der Einführung eines der ersten Bachelor-Studiengänge an der Uni hier mitgewirkt und habe allerlei positive Äußerungen zu Bologna durch meine Mitverschworenen wider besseren Wissens nicht korrigiert. Weil: wir wollten Studis eine Gelegenheit geben, ohne Latinum einen Abschluss zu bekommen, was mit dem alten Magister aussichtslos, mit dem neuen Bachelor jedoch leicht schien. Zu meiner Verteidigung: Ich bin nie so tief gesunken, dass ich den Bologna-Quatsch selbst gelobt hätte.
Wer war mit dabei? Die HRK!
Mit von der Partie beim CHE war die Hochschulrektorenkonferenz (HRK), was nicht nur rückblickend als suizidal auf Lemmingniveau zu werten ist. Das schon, weil die Rankings, die das CHE wenig später rauszupumpen begann, die RektorInnen unter heftigen Druck setzten, dem jeweils neuesten Bullshit (häufig geliefert vom CHE selbst) hinterherzurennen.
Rankings oder nicht: Die verheerenden Auswirkungen des vom CHE geschaffenen „Wettbewerbs“ hätten die (damals fast ausschließlich) Herren Rektoren auch so unschwer vorhersehen können, denn in jedem Wettbewerb zwischen N KonkurrentInnen gibt es (maximal) eineN GewinnerIn – und mithin N − 1 VerliererInnen.
Zumindest die Figuren jedoch, die die HRK damals dominierten, glaubten, genau sie würden gewinnen, oder (bei realistischer veranlagten Charakteren) es würde wenigstens so viele Titel zu gewinnen geben, dass einer davon schon für sie abfallen würde. Ich glaube, sie glaubten das, weil sie sich eingeredet hatten, sie würden auch mindestens Harvard, wenn sie nur erst Studiengebühren nehmen und gemäß ihrer brillianten „Strategien“ ausgeben könnten. Ein Vertreter der Spezies Rektor, der sich sehr erkennbar mit solchen Gedanken trug, war der Heidelberger Amtsträger Peter Ulmer (zuvor Juraprof), gegen dessen Gebührenpläne schon 1993 zu protestieren war.
Mit der Gründung des CHE ein paar Jahre später wuchs sich dann der vorher nur sehr allmählich anschwellende Bocksgesang um „Langzeitstudis“ zum ohrenbetäubenden Getöse aus. Er heulte über Menschen, die mehrere Fächer hintereinander studierten – zumeist nur gelegentlich mit Abschlüssen – oder im dreißigsten Fachsemester noch darüber nachdachten, ob sie sich allmählich zur Prüfung anmelden sollten.
So unsinnig das Getöse war – die „Langzeitstudis“ haben damals niemandem weh getan, und jene von ihnen, die sich irgendwie in die heutige Zeit rübergetrickst haben, tun es immer noch nicht –, es sorgte für haufenweise Akzeptanz für das, was einige Jahre später in Baden-Württemberg Trotha-Tausi hieß, nämlich Strafgebühren von zunächst 1000 Mark, später dann 500 Euro im Semester für Studis ab dem vierzehnten Fach- oder auch mal Hochschulsemester.
Damit konnten der damalige baden-württembergische Wissenschaftsminister Klaus Trotha (blaublütig und CDU) und sein das Ganze parallel betreibender niedersächsischer Kollege Thomas Oppermann (SPD) einen Einstieg in die Studiengebühren (ihre erinnert euch: Voraussetzung von Teil eins der Bertelmann-Verschwörung) hinbekommen, zumal nennenswerte Teile der Studischaft den Unsinn von den die Unis schädigenden Langzeitstudis selbst zu glauben glaubten.
Obendrauf gewann die Erzählung von den die Unis im Umkehrschluss „verbessernden“ Studiengebühren spätestens nach dem furchtbaren Ende des 97/98er-Streiks, dessen Agenda rasch vom CHE-Sprachrohr Zeit diktiert wurde, erschreckende Popularität in einer ganzen Generation von Studis. Es dauerte mindestens bis zum Bildungsstreik 2009, bis sich dieses Gift so halbwegs aus den Studihirnen rausgewaschen hatte.
Eine Versammlung in Bologna
Dass die Studiengebühren, statt allmählich auf harvardeske Höhen zu steigen, wieder sterben würden, war ziemlich sicher jenseits der Vorstellungswelt der Bertelsmänner, die sich auf der Zielgeraden zur Erschließung des Bildungsmarkts (ihr erinnert euch: Eine Billion Dollar!) wähnten. So begannen sie munter mit dem zweiten Teil ihres Programms: der Kommodifizierung von Hochschulbildung, also der möglichst einheitlichen Strukturierung von Studiengängen in separat handelbare Pakete („Module”).
Der CHE-Chefideologe Müller-Böling war sich völlig bewusst, dass er mit seinem Gesamtprogramm gegen die Interessen aller Beteiligten handelte:
Im CHE standen dreißig Leute 36 000 Professoren und zwei Millionen Studenten an achtzig bis hundert Universitäten und rund 260 Fachhochschulen gegenüber, außerdem 16 Landesministerien mit jeweils 300 Mitarbeitern
– nun, dreißig Leute sowie das Kapital, die Pressemacht und die Netzwerke von Bertelsmann, wenn mensch ganz ehrlich ist; dass sich gerade die willfährigsten Claqueure der Reichen und Mächtigen damals so ein offensichtlich quatschiges Rebellenimage ankleben wollten, fasziniert mich bis heute.
Angesichts des hinter ihm stehenden ganz großen Bruders Bertelsmann jedenfalls ist Müller-Bölings Jubel von „Ich habe nie gedacht, dass man mit dreißig Leuten Dinge direkt durchsetzen kann” schon zu relativieren. Dennoch ist ihm zu bescheinigen, dass sein Laden die klassische Machttaktik des divide et impera schon sehr geschickt eingesetzt hat. Das allerdings – verschiedenen Gruppen verschiedene Dinge zu versprechen und sie so am Aufbau einer gemeinsamen Gegenwehr zu hindern – hat am Schluss das ganze Projekt ruiniert. Womit ich endlich zum Kern der Verschwörungsgeschichte komme.
Nachdem nämlich das CHE das Bologna-Programm schon zwei Jahre vor der Erklärung formuliert hatte, haben sie sich zunächst keine Mühe mit Parlamenten oder ProfessorInnen gemacht, sondern sind gleich zu den BildungsministerInnen gegangen. Wie genau es dazu kam, dass diese am 19. Juni 1999 im Rahmen eines Treffens von RektorInnen sich für wichtig haltender europäischer Universitäten in Bologna versammelt waren, weiß ich nicht. Tatsache ist: Sie unterschrieben dort eine allenfalls notdürftig getarnte Fassung des Bertelsmann-Programms (also: Studiengänge sollen aus frei handelbaren Modulen aufgebaut werden).
Dieses Papier geisterte in den folgenden Jahren als Bologna-Erklärung durch die Hochschullandschaft, ganz besonders durch die deutsche, die sich in der Folge von 68 im Vergleich zu vielen anderen recht liberal und wenig gängelig zeigte und deshalb aus Bertelsmann-Sicht besonders viel „Reformbedarf“ hatte.
Zu vielen zu viel versprochen
Dass die BildungsministerInnen-Versammlung, die die Forderung damals abgenickt hat, keinerlei politische Funktion hatte – einen „Rat der für Hochschulen zuständigen MinisterInnen“ auf EU-Ebene gab es damals nicht –, war …