Tag Bildung

  • Bologna: Die universell gescheiterte Verschwörung

    Foto eines Plakats mit dem Claim: „Tschüss Notengrenze Hallo Master!  Bei den meisten Masterstudiengängen an der Hochschule Coburg gibt es keine Notengrenze mehr!”

    Dieses Plakat ist mir am 2. April in Fürth aufgefallen, und es ist eine schöne Illustration der Tatsache, dass der Bologna-Prozess sogar für die Ministerien komplett in die Hose gegangen ist.

    Meine längere Diatribe über Verschwörungstheorien neulich war inspiriert von dem Plakat auf dem Eingangsbild zu diesem Post, denn es illustriert eine von vielen Weisen, in denen der Bologna-Prozess – Arbeitsdefinition: ungefähre Verfünffachung der Prüfungslast an Hochschulen, mehr dazu gleich – krachend gescheitert ist. In diesem Scheitern ist er wiederum eine besonders schlagende Illustrationen für meine Behauptung gegen Ende des Verschwörungsposts: Verschwörungen – im Sinne von „verabredete Differenzen zwischen öffentlichen und privaten Äußerungen“ – sind zwar tatsächlich allgegenwärtig im politischen Prozess. Paranoid und unzutreffend ist aber die Annahme, diese Verschwörungen würden auch funktionieren, den Verschworenen also die Vorteile bringen, die sie sich erwartet haben.

    Beim Bologna-Prozess und seinen Vorläufern war ich als kleines Rädchen live dabei und hatte sogar eine eigene kleine Seiten-Verschwörung am Laufen: Ich habe nämlich bei der Einführung eines der ersten Bachelor-Studiengänge an der Uni hier mitgewirkt und habe allerlei positive Äußerungen zu Bologna durch meine Mitverschworenen wider besseren Wissens nicht korrigiert. Weil: wir wollten Studis eine Gelegenheit geben, ohne Latinum einen Abschluss zu bekommen, was mit dem alten Magister aussichtslos, mit dem neuen Bachelor jedoch leicht schien. Zu meiner Verteidigung: Ich bin nie so tief gesunken, dass ich den Bologna-Quatsch selbst gelobt hätte.

    Die große Bolognaverschwörung

    Das, was später „Bologna-Prozess“ genannt wurde, muss irgendwann Anfang der 1990er in Gütersloh seinen Ausgangspunkt genommen haben. Eingestandenermaßen war ich da nicht dabei. Ich habe aber genug der sonstigen erzreaktionären („neoliberalen“) Diskurse, die damals in den Mainstream drängten, mitbekommen, um mit großer Zuversicht behaupten zu können, dass sich die in der ostwestfälischen Provinz residierenden Bertelsmann-Manager ungefähr zu dieser Zeit Geschichten dieser Art erzählten:

    Der Bildungsmarkt ist tausend Milliarden Dollar im Jahr [inzwischen viel mehr] schwer. Als moderner Medien- und Dienstleistungskonzern müssen wir einen größeren Anteil davon erobern. Schulbücher sind lukrativ, aber guckt nach Harvard. 25'000 Dollar [inzwischen viel mehr] für ein paar Kurse und Gelegenheiten zum Netzwerken! Zwei Mal im Jahr! Das ist Geschäft![1]

    Der sehnsüchtige Blick nach Harvard war damals eher noch üblicher als er es heute ist. Und so haben sich die Bertelsmänner ans Werk gemacht und überlegt, was es für die Eroberung des Bildungsmarktes wohl bräuchte. Ich paraphrasiere weiter:

    Was die deutschen Universitäten machen, verhindert alle sinnvollen Business-Modelle: Erstmal verschenken sie den Kram, sogar ihre Abschlüsse und Zertifikate! Und dann macht jede ein bisschen andere Kurse mit jeweils ein bisschen anderen Kriterien. Dafür Produkte [dass dieses Wort auf Briefzustellung oder Investment-Glücksspiele oder Vorlesungen anwendbar wurde, ist auch der damaligen Zeit zu… na ja: verdanken] zu entwickeln, ist ökonomisch nicht darstellbar [na gut: das Geschwätz von „darstellbar“ ging glaube ich erst etwas später los].

    Für Bertelsmanns künftiges Geschäft mit „Courseware“ war es also erstens wichtig, das „Produkt“ Studium kostenpflichtig zu machen, zweitens, das „Produkt“ Vorlesungsschein (heutzutage: ECTS-Punkte) zu standardisieren und zu kommodifizieren (meint: zu einer massenproduzierbaren, marktfähigen Ware zu machen). So klar sagten sie das natürlich nicht öffentlich. Zu sehr verbrämten sie es aber auch nicht, was die GEW in einem post-mortem von 2014 schön herausgearbeitet hat:

    Denn [ungefähr im Jahr 2000] forderte Müller-Böling [ein Bertelsmann, vgl. in einem Moment] von der Hochschule als „Dienstleistungsunternehmen“ eben dies: Dienstleistungen in Forschung und Lehre zu produzieren, diese in „Konkurrenz zu anderen Hochschulen“ anzubieten, „auf die Anforderungen des ‚Marktes‘“ möglichst rasch zu reagieren, wobei der Staat sich in diesen Markt nicht einmischen dürfe (so viel zum neoliberalen Theorierahmen des Modells), Leistungen werden aufgrund von Input-Output-Rechnungen beurteilt usw.

    „Marktentwicklung“ umschreibt ganz ausgezeichnet die Mission des Zentrums für Hochschulentwicklung (CHE), das Bertelsmann 1994 aus der Taufe hob. Mit dem Urheber des Zitats im GEW-Zitat, Detlef Müller-Böling, (dessen private Seite mit einer Crapicity von 161 ordentlich vorlegt) fanden sie auch gleich einen hyperaktiven Chef, der die Klaviatur der Medien – egal ob von Bertelsmann selbst (z.B. RTL und Gruner & Jahr) oder von der Konkurrenz – meisterhaft spielte.

    Dass die Bertelsmänner ihren Bildungs-„Thinktank“ ausgerechnet einem Diplom-Kaufmann unterstellten, ist aus verschwörungstheoretischer Warte bemerkenswert ehrlich.

    Wer war mit dabei? Die HRK!

    Mit von der Partie beim CHE war die Hochschulrektorenkonferenz (HRK), was nicht nur rückblickend als suizidal auf Lemmingniveau zu werten ist. Das schon, weil die Rankings, die das CHE wenig später rauszupumpen begann, die RektorInnen unter heftigen Druck setzten, dem jeweils neuesten Bullshit (häufig geliefert vom CHE selbst) hinterherzurennen.

    Rankings oder nicht: Die verheerenden Auswirkungen des vom CHE geschaffenen „Wettbewerbs“ hätten die (damals fast ausschließlich) Herren Rektoren auch so unschwer vorhersehen können, denn in jedem Wettbewerb zwischen N KonkurrentInnen gibt es (maximal) eineN GewinnerIn – und mithin N − 1 VerliererInnen.

    Zumindest die Figuren jedoch, die die HRK damals dominierten, glaubten, genau sie würden gewinnen, oder (bei realistischer veranlagten Charakteren) es würde wenigstens so viele Titel zu gewinnen geben, dass einer davon schon für sie abfallen würde. Ich glaube, sie glaubten das, weil sie sich eingeredet hatten, sie würden auch mindestens Harvard, wenn sie nur erst Studiengebühren nehmen und gemäß ihrer brillianten „Strategien“ ausgeben könnten. Ein Vertreter der Spezies Rektor, der sich sehr erkennbar mit solchen Gedanken trug, war der Heidelberger Amtsträger Peter Ulmer (zuvor Juraprof), gegen dessen Gebührenpläne schon 1993 zu protestieren war.

    Mit der Gründung des CHE ein paar Jahre später wuchs sich dann der vorher nur sehr allmählich anschwellende Bocksgesang um „Langzeitstudis“ zum ohrenbetäubenden Getöse aus. Er heulte über Menschen, die mehrere Fächer hintereinander studierten – zumeist nur gelegentlich mit Abschlüssen – oder im dreißigsten Fachsemester noch darüber nachdachten, ob sie sich allmählich zur Prüfung anmelden sollten.

    So unsinnig das Getöse war – die „Langzeitstudis“ haben damals niemandem weh getan, und jene von ihnen, die sich irgendwie in die heutige Zeit rübergetrickst haben, tun es immer noch nicht –, es sorgte für haufenweise Akzeptanz für das, was einige Jahre später in Baden-Württemberg Trotha-Tausi hieß, nämlich Strafgebühren von zunächst 1000 Mark, später dann 500 Euro im Semester für Studis ab dem vierzehnten Fach- oder auch mal Hochschulsemester.

    Damit konnten der damalige baden-württembergische Wissenschaftsminister Klaus Trotha (blaublütig und CDU) und sein das Ganze parallel betreibender niedersächsischer Kollege Thomas Oppermann (SPD) einen Einstieg in die Studiengebühren (ihre erinnert euch: Voraussetzung von Teil eins der Bertelmann-Verschwörung) hinbekommen, zumal nennenswerte Teile der Studischaft den Unsinn von den die Unis schädigenden Langzeitstudis selbst zu glauben glaubten.

    Obendrauf gewann die Erzählung von den die Unis im Umkehrschluss „verbessernden“ Studiengebühren spätestens nach dem furchtbaren Ende des 97/98er-Streiks, dessen Agenda rasch vom CHE-Sprachrohr Zeit diktiert wurde, erschreckende Popularität in einer ganzen Generation von Studis. Es dauerte mindestens bis zum Bildungsstreik 2009, bis sich dieses Gift so halbwegs aus den Studihirnen rausgewaschen hatte.

    Eine Versammlung in Bologna

    Dass die Studiengebühren, statt allmählich auf harvardeske Höhen zu steigen, wieder sterben würden, war ziemlich sicher jenseits der Vorstellungswelt der Bertelsmänner, die sich auf der Zielgeraden zur Erschließung des Bildungsmarkts (ihr erinnert euch: Eine Billion Dollar!) wähnten. So begannen sie munter mit dem zweiten Teil ihres Programms: der Kommodifizierung von Hochschulbildung, also der möglichst einheitlichen Strukturierung von Studiengängen in separat handelbare Pakete („Module”).

    Der CHE-Chefideologe Müller-Böling war sich völlig bewusst, dass er mit seinem Gesamtprogramm gegen die Interessen aller Beteiligten handelte:

    Im CHE standen dreißig Leute 36 000 Professoren und zwei Millionen Studenten an achtzig bis hundert Universitäten und rund 260 Fachhochschulen gegenüber, außerdem 16 Landesministerien mit jeweils 300 Mitarbeitern

    – nun, dreißig Leute sowie das Kapital, die Pressemacht und die Netzwerke von Bertelsmann, wenn mensch ganz ehrlich ist; dass sich gerade die willfährigsten Claqueure der Reichen und Mächtigen damals so ein offensichtlich quatschiges Rebellenimage ankleben wollten, fasziniert mich bis heute.

    Angesichts des hinter ihm stehenden ganz großen Bruders Bertelsmann jedenfalls ist Müller-Bölings Jubel von „Ich habe nie gedacht, dass man mit dreißig Leuten Dinge direkt durchsetzen kann” schon zu relativieren. Dennoch ist ihm zu bescheinigen, dass sein Laden die klassische Machttaktik des divide et impera schon sehr geschickt eingesetzt hat. Das allerdings – verschiedenen Gruppen verschiedene Dinge zu versprechen und sie so am Aufbau einer gemeinsamen Gegenwehr zu hindern – hat am Schluss das ganze Projekt ruiniert. Womit ich endlich zum Kern der Verschwörungsgeschichte komme.

    Nachdem nämlich das CHE das Bologna-Programm schon zwei Jahre vor der Erklärung formuliert hatte, haben sie sich zunächst keine Mühe mit Parlamenten oder ProfessorInnen gemacht, sondern sind gleich zu den BildungsministerInnen gegangen. Wie genau es dazu kam, dass diese am 19. Juni 1999 im Rahmen eines Treffens von RektorInnen sich für wichtig haltender europäischer Universitäten in Bologna versammelt waren, weiß ich nicht. Tatsache ist: Sie unterschrieben dort eine allenfalls notdürftig getarnte Fassung des Bertelsmann-Programms (also: Studiengänge sollen aus frei handelbaren Modulen aufgebaut werden).

    Ein Raum mit unfassbar dichten Wandmalerreien, davor moderne Bestuhlung.

    Eine der zwei Aulae Magnae im Archiginnasio in Bologna. Ich glaube, dass in dieser wirren Kulisse die MinisterInnen die Bertelsmann'sche Erklärung unterschrieben haben.

    Dieses Papier geisterte in den folgenden Jahren als Bologna-Erklärung durch die Hochschullandschaft, ganz besonders durch die deutsche, die sich in der Folge von 68 im Vergleich zu vielen anderen recht liberal und wenig gängelig zeigte und deshalb aus Bertelsmann-Sicht besonders viel „Reformbedarf“ hatte.

    Zu vielen zu viel versprochen

    Dass die BildungsministerInnen-Versammlung, die die Forderung damals abgenickt hat, keinerlei politische Funktion hatte – einen „Rat der für Hochschulen zuständigen MinisterInnen“ auf EU-Ebene gab es damals nicht –, war …

  • Das BESTE Bildungssystem in Deutschland

    Transparent der INSM im Berliner Hauptbahnhof: Deutschland fährt besser.

    Berlin Hauptbahnhof, August 2021: Würden Sie von Leuten, die Menschen an öffentlichen Orten mit solcher Werbung belästigen, Bildungsstudien kaufen?

    In den DLF-Nachrichten vom 17.8. war in der 16:30-Ausgabe folgende Nachricht zu hören:

    Sachsen hat laut einer aktuellen Erhebung das beste Bildungssystem in Deutschland. Das ergab eine Vergleichsstudie des Instituts der Deutschen Wirtschaft, das dieses [sic] im Auftrag der Initiative neue Soziale Marktwirtschaft erstellt [sic]. Bayern und Thüringen liegen auf den Plätzen zwei und drei. Schlusslicht ist hinter Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt der Stadtstaat Bremen.

    Als ich eben einen Mitschnitt davon beim Radfahren gehört habe, musste ich in aller Öffentlichkeit hysterisch lachen. In Momenten wie diesen bin ich froh, dass die Gesellschaft längst an unpassende Interaktionen zwischen Menschen und ihren technischen Gerätschaften, auch und gerade mitten auf der Straße, gewöhnt ist.

    Sowohl das zugrundeliegende Ereignis als auch das Framing durch die DLF-Redaktion werfen mal wieder die Frage auf, was Satire eigentlich alles darf. Lieber DLF, was wäre verkehrt gewesen an neutraler Berichterstattung, sagen wir:

    Die Abteilung INSM der Werbeagentur Scholz & Friends versucht, mit der Behauptung, ausgerechnet das immer wieder durch die Prävalenz sehr eigenartiger Ansichten auffällige Sachsen habe das – im Sinne von der INSM geeignet definierter Kriterien – beste Bildungssystem, Einfluss auf die Bildungspolitik zu nehmen; die rechtsgerichteten Unternehmer*innen, die Scholz & Friends bezahlen, fordern: a, b und c.

    —Nicht der DLF

    Full disclosure: Ich habe nicht versucht, die Studie zu lokalisieren oder gar rauszukriegen, was a, b und c in diesem speziellen Fall sein mögen, also auf welche Ideologeme hin die Metriken gestaltet wurden. Ich habe seit den 90er Jahren zu viele von Papieren dieses Genres gelesen, um noch im Geringsten auf dieses neugierig zu sein. Am Ende wird es halt wie üblich auf Privatisierung, mehr Industrieplunder in den Schulen, bevorzugt noch mit Staatsknete finanziert, und eine Brandmauer zwischen Schülis und fortschrittlichen Ideen rauslaufen.

    Nur ein Datenpunkt zu „bestes“ und Sachsen: Die AfD hat bei der dortigen Landtagswahl 2019 28,4% der Stimmen bekommen, bei den gerade dem INSM-zertifiziert „besten“ Bildungssystem Deutschlands entwachsenen 18-24jährigen nach Aussage des MDR immer noch 19% (knapp hinter den Grünen mit 21%). Wenn das das Ergebnis des aus der Sicht reaktionärer UnternehmerInnen besten Bildungssystems ist, fällt es schwer, keine unangemessenen Parallelen zu ziehen.

    Und wo ich schon von der INSM rede: Dass sich diese Leute nicht gelegentlich einen neuen Namen einfallen lassen, wundert mich sehr. Nachdem gerade die, die die INSM wohl am dringendsten beeinflussen möchte – junge Leute mit zumindest rudimentärem politischen Interesse – fast flächendeckend in Marc-Uwe Klings Känguru-Chroniken gelesen haben:

    Initiative neue soziale Marktwirtschaft – Propagandanetzwerk des Schweinesystems. Vgl. dazu auch: Du bist Deutschland, Freundeskreis der Kernkraft, Anbeter des Arbeitsplatzes, Gläubige der Gleichschaltung,

    würde ich an deren Stelle doch mal über eine, hust, Weiterentwicklung des, hust, Markenkerns nachdenken. Aber vielleicht verstehe ich auch nur nicht genug von Marketing.

  • Michel Foucault vs. Corona

    Weil ich es neulich von der GEW hatte: ein weiterer Grund, warum ich 20 Jahre, nachdem es hip war, einen Blog angefangen habe, war eine Telecon im April letzten Jahres und die GEW.

    Na gut, es war nicht direkt die Telecon und eigentlich auch gar nicht die GEW.

    Tatsächlich hatte ich damals aber die erste Lehrsituation im engeren Sinne via Telecon, und kurz danach ich eine Epiphanie dazu, warum sich Lehre über Videokonferenzen so scheiße anfühlt. Dazu habe ich dann einen Artikel geschrieben, den ich, ermutigt von GEW-KollegInnen, gerne in der B&W (das ist die monatlich an alle Mitglieder in Baden-Württemberg verschickte Zeitschrift) untergebracht hätte – so brilliant fand ich ihn. Ahem.

    Nun, was soll ich sagen, die Redaktion war skeptisch, um das mal vorsichtig zu sagen. Ich habe da auch einiges Verständnis dafür, denn im letzten Juni gings bestimmt hoch her in Sachen computervermitteltem Unterricht, und da wären Einwürfe, die Videokonferenzen mit wüsten Folterszenen in Verbindung brachten, bestimmt nicht hilfreich gewesen.

    Aber schade fand ich es doch. Ich hatte aber nicht wirklich einen Platz, um sowas geeignet unterzubringen.

    Jetzt habe ich einen. Und damit: „Wider das Panopticon – Michel Foucault und der Unterricht via Videokonferenz“.

  • Immerhin gegen Ende

    Wer Mitglied einer DGB-Gewerkschaft ist – und trotz allem rät schon Immanuel Kant dazu –, wird es kennen: Zähneknirschen, wenn wieder mal ganz schlimm reaktionäre Äußerungen von DGB („für die Nation!“), IGM („für das Wachstum!“), BCE („Mehr Kohle!“) oder GdP („ohne Taser für uns seid ihr den Horden mit häufig wechselndem Aufenthaltsort ausgeliefert!“) durch die Öffentlichkeit gereicht werden – wobei die Auswahl nicht andeuten soll, andere Mitgliedsgewerkschaften seien ohne Schuld.

    Ich selbst bin in der GEW, und auch die treibt mir manchmal die Tränen in die Augen, so etwa schon beim Titel der Presseerklärung Solidarisch und verantwortungsbewusst prüfen vom vergangenen Dienstag.

    Da tun sich also GEW und fzs zusammen, um zentral an die Hochschulen zu appellieren,

    unter den derzeitigen Pandemiebedingungen grundsätzlich auf Präsenzprüfungen zu verzichten und stattdessen alternative Formate anzubieten.

    Der schwerste Anwurf folgt sogleich:

    Zu Beginn der Krise war es noch nachvollziehbar, doch dass ein Jahr später immer noch keine digitalen kompetenzorientierten Prüfkonzepte existieren [...] ist unverständlich und hochgradig gefährlich

    Bevor ich den letzten Absatz des Textes gelesen hatte, war ich entschlossen, einen wilden Verriss der Erklärung zu schreiben, doch immerhin fand ich dort, wenn auch recht verzagt, etwas, das in die richtige Richtung geht:

    Zukunftsorientierter wäre es, die Zahl der Prüfungen zu reduzieren [und was dann weiter kommt, tut schon wieder weh]

    Bei allem Verständnis für die Zwänge der wettbewerbs-infundierten Öffentlichkeit: Zumindest mit dieser zahmen Feststellung hätte die Erklärung anfangen müssen, und wenn es geht mit „Mindestforderung“ statt des wortklingeligen und inhaltsleeren „zukunftsorientierter“. Oder besser: „Es braucht Corona nicht, um den Bologna-Prozess als menschenfeindlichen Zirkus kenntlich zu machen, aber was normalerweise nur ärgerlich ist, bringt jetzt jedenfalls potenziell Oma um.“

    Nota bene: Auch das wäre eine zutiefst reformistische Position, verglichen mit dem eigentlich angesagten „Prüfungen sind insgesamt autoritärer Quatsch.“ Aber dass eine GEW sowas nicht sagen kann, erkenne ich gerne an; den sich an so eine Deklaration anschließenden Exodus der Lehrer_innen in den Beamtenbund will eingestandenermaßen niemand haben.

    Dennoch will ich hier ein wenig für eine wie ich glaube nicht-utopische, aber doch ansatzweise fortschrittliche Kritik an Bolognadingen argumentieren, die in etwa so aussieht: Die Prüfungsbulimie, bei der Studis Semester um Semester vor allem in Klausuren und ähnlich automatisierbaren, hust, Leistungskontrollen Punkte sammeln, bis sie ihren Abschluss haben, ist weder selbstverständlich noch sinnvoll. Der wirkliche Skandal ist, dass wir den Mumpitz in den 22 Jahren seit der Bologna-Erklärung vom – dies horribilis – 19.6.1999 nicht wenigstens haben erodieren können.

    Nicht selbstverständlich

    Überraschend viele Studis schütteln heute ungläubig den Kopf, wenn ich erwähne, dass ich in meinem ganzen Physikstudium nur vier abschlussrelevante Prüfungen hatte: Es gab vier mündliche Prüfungen zum Hauptdiplom. Dazu traten vier mündliche Prüfungen zum Vordiplom, aber die waren sozusagen zum Üben und spielten für die Abschlussnote keine Rolle. Keine einzige Klausur. Nicht eine. Im ganzen Studium. Und das war zwar im letzten Jahrtausend, ist aber noch keine 30 Jahre her.

    Im Vergleich dazu dürften inzwischen bis zum Master in Physik in Heidelberg um die 40 formale Prüfungen anfallen, von den in die Abschlussnote fließenden wöchentlichen Übungsblättern und Praktikumsgesprächen und Jodelwettbewerben ganz zu schweigen (eins davon habe ich erfunden).

    Das ist, so viel dürfte unstrittig sein, für Prüfende wie Geprüfte unschön. Dennoch wäre es vielleicht hinzunehmen, wenn daraus ein nennenswerter Nutzen entstünde. Jedoch: Weder anekdotisch noch vom Inhalt etwa von Abschlussarbeiten oder frühen Veröffentlichungen her gibt es auch nur den Hauch eines Hinweises, dass die Studis heute klüger (oder meinetwegen „kompetenter“) aus dem Studium rauskämen als damals.

    Wäre es also nicht vernünftiger, weit mehr der Zeit, die Lehrende und Lernende gemeinsam verbringen, für Vermittlung und Gespräch zuzulassen statt sie für tagelanges (bei den Lehrenden) und wochenlanges (bei den Lernenden) Bütteln, Betteln und Kontrollieren zu vergeuden?

    Ich sage nun nicht, dass das Diplom-System die Wucht in Tüten war. Klar, dass sich „das Schicksal [d.i. die Abschlussnote] in wenigen Stunden entscheidet“ ist auch Unfug, genauso wie schon die Grundidee, Leuten eine Zahl aufzudrücken, die ihre, ja was eigentlich, in diesem Fall vielleicht „Physizität“ (was immer das sein mag) bescheinigt. An dieser Idee hängt jedoch so viel, dass ihre Korrektur ein doch etwas größeres Projekt ist. Und so wärs doch schon mal ein Fortschritt, erstmal weniger zu prüfen und die Knute aufs letzte Vierteljahr des Studiums zu konzentrieren; immerhin ist dann dessen Rest deutlich freier.

    Im Übrigen stimmt bei einer halbwegs menschlichen Hochschulorganisation natürlich auch das mit den „entscheidenden Stunden“ nicht wirklich. Als jemand, der ein paar Dutzend Abschlussprüfungen abgenommen hat, kann ich versichern, dass zumindest an Läden, an denen die Lehrenden die tatsächlich studierenden Studis kennen, die Note einer mündlichen Prüfung in aller Regel eine Gesamtwürdigung der Person sein wird. Um das jetzt mal vorsichtig zu formulieren.

    Nicht sinnvoll

    Nun könnte mensch sagen: Andere Jobs stinken auch – sollen sich die Hochschullehrenden nicht so haben und halt die bescheuerte Prüferei machen. Die Studis haben eh nichts zu melden.

    Vielleicht. Aber es ist doch eine schreckliche Vergeudung von Lebenszeit und Kreativität, die Studis mit Dressur und Aufführung zu beschäftigen – und wiederum habe ich genug Klausuren selbst gestellt, um ein recht sicher sagen zu können: Mach eine Klausur, die nicht auf die Aufführung von Dressur rausläuft und du hast eine Durchfallquote, die du nicht haben willst.

    Dagegen hätte ich gewettet (und wie oben gesagt verloren), dass die notendruckbedingte Demontage der Übungsgruppen, die zumindest in Physik und Mathe letztlich Herz der Lehre waren, sich drastisch auf Habitus und meinethalben Kompetenzen der Studis in der Abschlussphase (da bekomme ich sie derzeit vor allem mit) hätte auswirken müssen. Vor Bologna konnten sich in solchen Übungsgruppen Studis, die Lust drauf hatten, ohne große Sorge um spätere Konsequenzen ausprobieren – und wer nicht wollte, hat halt abgeschrieben, was immerhin soziale Fertigkeiten trainierte.

    Nun hingegen, da jede Hausaufgabe sich irgendwo in der Abschlussnote wiederfindet, haben sich die Übungsgruppen zu bitterem Ernst gewandelt, Räume, in denen um jeden Punkt gefeilscht wird, denn er könnte ja den Unterschied zwischen 1.4 und 1.5 machen (oder was immer). Und das Gemeine ist: Das könnte er wirklich.

    Speziell dieser Aspekt von Bologna, die reale und permanente Drohung mit einer schlechten Abschlussnote, lässt sich mit noch so viel Open Book oder Take Home oder was immer nicht in Ordnung bringen, nicht mal durch die guten alten Hausarbeiten und Praktikumsgespräche. Solange die Abschlussnote zwischen Betreuer_in und Studi steht, ist die in der GEW-Erklärung beschworene „Solidarität“ nicht mal denkbar.

    Es wäre ein interessantes Forschungsprojekt, herauszufinden, warum hinreichend viele Studis aus diesem Prozess nicht als intellektuelle Regenwürmer – Schlucken, Klausur schreiben, hinter sich lassen – herauskommen, sondern doch ganz motiviert reizvolle Wissenschaft machen.

    Mir ewigem Optimisten scheint das ein starkes Zeichen für die Kraft von Wissenschaft zu sein: Es ist wahrscheinlich fast egal, wie der Kram vermittelt wird. Solange mensch den Leuten ein paar Bücher (in welcher konkreten Darreichung auch immer) in die Hand gibt und sie etwas Zeit mit ihnen verbringen lässt, solange mensch sie die Faszination empfinden lässt, durch Modelle und Theorien korrekt Verhalten von Menschen, Natur oder (inzwischen noch aufregender) Rechnern vorherzusagen oder wenigstens zu verstehen, finden sie schon ihren Weg.

    Warum dann?

    Nach diesen Beobachtungen stellt sich die Frage recht dringend, wie es überhaupt zu diesem komplett dysfunktionalen System kam. Im speziellen Fall von Bologna wäre es eine lange Geschichte, in der die Beteiligten – Profen, Bildungsminister, Bertelsmänner und leider auch Teile der GEW – ihre diversen Süppchen gegen die jeweils anderen kochen wollten. Niemand wollte die anderen in den eigenen Topf gucken lassen, und als endlich alle gemerkt hatten, dass alle anderen auch nur vor leeren Töpfen standen, könnte das auch niemand mehr zugeben.

    Es gibt aber ein viel allgemeineres Muster, auf das es mir hier ankommt: Die autoritäre Versuchung. Da ist ein Problem in einer Hierarchie, hier so in etwa „Meine Studis sind faul und hören mir nicht zu”. Eine Umgangsweise wäre, sich zu fragen, warum die Studis kein Interesse – oder hilfsweise Einsichten in Notwendigkeiten – haben und zu versuchen, Interesse oder Einsicht zu wecken. Das klingt gut und ist, davon bin ich überzeugt, auch gut.

    Aber dazu muss in der Hierarchie auf Augenhöhe geredet werden, und mensch entdeckt gerne auch eigene Fehler, eigene Faulheiten. Das ist für die Leute oben in der Hierarchie nicht sehr schön, was wiederum für die Popularität der Alternative sorgt: Der Ausübung von Zwang, sei es durch Drohung mit Noten, sei es durch Drohung mit Gewalt (was jetzt an der Uni schon sehr rar, im Strafrecht oder zwischen Staaten aber die Regel ist).

    Prüfungen sind aus dieser Perspektive nichts weiter als der Versuch, Aushandlung und auch Didaktik durch Zwang zu ersetzen – daran mag manches „digital“ (hmpf: Digitalisierung) sein, solidarisch ist jedenfalls nichts, und für eine Gewerkschaft gehören sich solche Methoden eigentlich auch nicht.

    Aber die Armen?

    Wenn ich Menschen – vor allem solche aus gewerkschaftsnahen Kreisen – in Diskussionen dazu gebracht habe, so viel zu konzedieren, kommt ziemlich verlässlich der Einwand, die Verschulung durch Bologna sei ja für Oberschicht-Kids vielleicht ärgerlich, für Leute aus „bildungsfernen Schichten“ hingegen ganz wichtig. Die hätten nie gelernt, selbstgesteuert Wissen zu erwerben, ihre Zeit zu managen, aus eigener Neugier zu handeln. Ohne Druck verkämen die vor der Playstation, und sie kämen spätestens …

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