Antisprache: Verschwörungstheorie

Ob Corona oder Reichsbürger: Die Bezeichnung „Verschwörungserzählung“ oder „-geschwurbel“ oder „-theorie“ ist inzwischen zumindest in der breiten Mehrheit eher fortschrittlich orientierter Menschen ausreichend, um eine Position zu delegitimieren. Es mag insofern etwas gewagt sein, aber: Ich halte die gesamte Figur für Antisprache, also in Analogie zur Antimaterie für ein Mittel zur Verhinderung sinnvoller Kommunikation.

Aus aktuellem Anlass will ich mit einem vielleicht etwas untypischen Beispiel aufmachen: Vorgestern hat Josephine Schulz im Deutschlandfunk den Linken-Kochef Martin Schirdewan interviewt und in einer Frage von „Verschwörungsanhängern oder Rechten“ geredet, um irgendwie Distanzierungen aus Schirdewan herauszukitzeln. Schirdewan lavierte da ganz geschickt drumrum, und trotzdem kam dann nachher in den Nachrichten etwas wie „Schirdewan warnt vor Verschwörungstheoretikern bei Ostermärschen”.

Ich werde hier versuchen, den Verschwörungsvorwurf als ein Update des Extremismusbegriffs zu beschreiben, nur eben ohne dessen üblen Geruch nach Verfassungsschutz: Er abstrahiert vom Gesagten, immunisiert die ja häufig selbst eklige, grausame, rassistische oder massenmörderische „Mitte“, indem Aussagen schon und allein verurteilbar sind, weil sie vom Konsensnarrativ abweichen. Das ist bequem – jedenfalls für die, die das Konsensnarrativ mitbestimmen können –, hat aber mit Diskurs, Antifaschismus oder auch nur fortschrittlichem Denken nichts zu tun.

Fallbeispiel Ostermarsch

Das Schirdewan-Beispiel ist zur Illustration dieser Behauptung zunächst nicht so gut geeignet, weil ist der Dissens in dem Themenfeld gar nicht so sehr bei der Erzählung als solcher liegt. Von eher zweitrangigen Details („wer hat die Pipeline gesprengt?“) abgesehen, ist beispielsweise fast vollständig unstrittig, dass die anderen die Bösen sind. Strittig ist dagegen, ob wir deshalb die Guten sind. Wer munter „Verschwörungstheorie“ in den Raum stellt, immunisiert sich gegen diesen Streit, der ansonsten unbequeme Teile des Konsensnarrativs aufstöbern würde.

Dass etwa auch „wir“ imperiale Ambitionen haben, ist kaum bestreitbar, wenn „unser“ Militär in aller Welt steht und auf allen Meeren schwimmt, im Hinblick auf die EU ganz speziell in Nordafrika, bis hin zur Organisation von Kolonialpolizei.

Dass „wir“ in die Genese des Krieges verwickelt sind, liegt auf der Hand, wenn der unmittelbare Anlass des Umsturzes in der Ukraine von 2014, das EU-Assoziierungsabkommen (bzw. dessen Notstopp durch das damals auf Russland orientierte Klientelregime), vorsah, die Ukraine solle bei der GASP der EU mitmachen – wie sich die Designer dieses Abkommens das angesichts der russischen Flottenbasis auf der Krim vorstellten, ist mir bis heute nicht klar.

Wer es ganz deutlich haben will, kann sich im geleakten Telefonat von US-Außenamtsmitarbeiterin Victoria Nuland (ihr Mantra: „Wir haben 5 Milliarden Dollar in eine sichere, blühende und demokratische Ukraine investiert“ – das war 2013) und ihrem damaligen Botschafter in Kiew, Geoffrey Pyatt, überzeugen, dass „wir“ insbesondere das Personal des neuen Regimes bestimmen konnten („nicht Klitsch“).

Dass „wir“ einen Friedensschluss im März 2022 torpediert haben, kann spätestens seit Naftali Bennetts entsprechenden Äußerungen (auch in deren relativierter Form) nicht mehr als umstritten gelten, und dass auch „wir“ Schurken sind, die im Hinblick auf Angriffskriege im Glashaus sitzen, na ja, das ist spätestens seit 1999 offensichtlich, und da habe ich mit mangelndem Geschichtsbewusstsein noch gar nicht angefangen.

Jedenfalls soweit ich erkennen kann, bestreitet niemand auch nur einen dieser Punkte in mehr als vielleicht Nuancen der Fomulierung. Wer dennoch weiterhin auf einem Siegfrieden in der Ukraine besteht, muss das folglich eher mit einer Mischung aus autoritärer Moral und Patriotismus begründen – wie das übrigens auch die DurchhalteparoliererInnen auf der anderen Seite tun.

Es sind also diese Sentimente, mit denen sich auseinandersetzen muss, wer der Bevölkerung der Ukraine (und nebenbei hoffentlich auch der Russlands) helfen will. Dass die Antisprache „Verschwörungstheorien“ die Benennung dieser selbst schon unangenehmen Erwägungsgründe erspart, verhindert sinnvollen Diskurs. Das ist schade, denn Kritik von sowohl autoritärer Moral als auch von Patriotismus (und schon gar von gewalttätiger Weltpolitik, denn als noch ehrlicheres Motiv steht ja auch die noch im Raum) wäre weit über den aktuellen Krieg hinaus wirklich nützlich.

Echte Verschwörungstheorien

Aber der Verschwörungstheorie-Vorwurf ist auch dort, wo wirklich Verschwörungen behauptet werden, so untauglich zur Beurteilung politischer Interventionen wie der Extremismusbegriff. Betrachten wir dazu ein paar Beispiele:

  • Die Protokolle der Weisen von Zion oder das Gerede von der „Umvolkung” sind schlicht antisemitischer oder rassistischer Faschokram und deshalb zu verurteilen.
  • Die These von mit Computerchips von Bill Gates versetzten Impfstoffen ist nicht nur mit ein paar schlichten Argumenten wahlweise aus Physik, Informatik oder Biologie auszuschließen, sie brachte auch Menschen davon ab, sich trotz sonnenklarer Risikobewertung impfen zu lassen. Sie ist also zu verurteilen, weil sie Leute umbrachte (und in kleinem Rahmen auch noch umbringt).
  • Die These der gefakten Mondlandung ist einfach wurst; der Glaube etwa, „Borussia Dortmund“ (in welcher Bedeutung auch immer) müsse am nächsten Wochenende dringend im Fußball gewinnen, richtet (schon allein wg. Verkehr) weit mehr Schaden an. Es lohnt sich nicht, über sowas mit irgendwem zu streiten. Klar sind Leute, die sich an der Mondlandung abarbeiten, nicht allzu sehr ernstzunehmen. Aber mal ehrlich: eine naturwissenschaftlich begründete Meinung dazu haben, mangels naturwissenschaftlicher Kenntnisse, auch die meisten anderen Menschen nicht. Mir wär es viel wichtiger, mit der naturwissenschaftlichen Verankerung des Mehrheitsnarrativs voranzukommen als Leute, die da nicht mitwollen, von ihren Fantasien über gefakte Mondlandungen zu heilen.
  • Die These, ein sachsen-anhaltinischer Polizist habe Oury Jalloh angezündet, hat zumindest deutlich mehr Plausibilität als alternative (aber von den meisten Teilen der Staatsgewalt vertretene) Narrative. Wer da „Verschwörungstheorie“ murmelt, vergrößert jedenfalls schon mal das Problem der Polizeigewalt, das gerade Menschen haben, über die das Konsensnarrativ allenfalls abwertend („mehr nutzen, weniger ausnutzen“) spricht.
  • Hätte sich die These, dass die USA in Vietnam nicht die Angegriffenen waren und auch nicht (in einem operationalisierbaren Sinn) die Freiheit verteidigen wollten (vgl. Pentagon Papers und besonders den Tonkin-Zwischenfall), früher im Konsensnarrativ verankert, hätten vielleicht hunderttausende Menschenleben und Millionen Hektar Wald gerettet werden können – wenig wirkt so gut wie Ehrlichkeit bei Kriegszielen, um wieder zu Frieden zu kommen.

Diese fünf Themen haben nichts miteinander zu tun, außer dass sie dem Konsensnarrativ mehr oder weniger deutlich widersprechen oder widersprochen haben; das ist, was sie zu „Verschwörungserzählungen“ macht. Diese Gemeinsamkeit hilft jedoch ersichtlich nicht dabei, die jeweiligen Thesen im Hinblick auf ethische, politische oder faktische Vertretbarkeit zu prüfen.

Nein, aus dieser Betrachtung folgt in einem Schlagwort: faschistische Verschwörungstheorien sind grässlich nicht, weil sie Verschwörungen behaupten, sie sind grässlich, weil sie faschistisch sind.

Verschworene KleintierzüchterInnen

Verschwörungstheorie-Anwürfe sind nicht nur kritikwürdig, weil sie wenig mehr sind als ein Werkzeug zur Immunisierung derer, die jeweils die Diskurshoheit in Anspruch nehmen können.

Ein zweiter problematischer Aspekt des Begriffs liegt darin, dass die Verschwörung – im Sinne einer vertraulichen Verabredung – tatsächlich ein konstitutiver Bestandteil von Politik zumindest in hierarchischen Systemen ist. Wer schon mal in Gewerkschaften, Kleintierzüchtervereinen, Ministerien oder Standardisierungsgremien aktiv war, wird gemerkt haben: Praktisch alle wesentlichen Entscheidungen werden hinter verschlossenen Türen oder gleich auf dem Gang getroffen. Klar heißt das, was da ausgehandelt wird, „vertrauliche Vereinbarung“, aber netto ist das Ergebnis ein organisierter Unterschied zwischen Verlautbarungen der beteiligten Personen und deren realen Motiven oder Handlungen. Das ist die Definition von „Verschwörung“.

Dieser politische Prozess verstärkt das Machtgefälle zwischen denen „drinnen“ und denen „draußen“. Die Öffentlichkeit von Gerichtsprozessen und Parlamentsdebatten war deshalb eine große Errungenschaft in Richtung eines partizipativen Staats, in dem die Beherrschten eine reale Chance haben, in Entscheidungsprozesse einzugreifen. Je leichter die Kritik an (fast immer bestehenden) internen Absprachen als „Verschwörungstheorie“ diffamierbar ist, desto mehr verlieren diese Errungenschaften an Wert.

Klar: In der Praxis finden die spannendsten Teile von Gerichtsverandlungen dann doch oft genug ohne Publikum statt – etwa das Aushandeln von mehr oder minder formalen Vergleichen –, und die Öffentlichkeit der Parlamentssitzungen hat dafür gesorgt, dass im Plenum im Wesentlichen nichts entschieden wird. Die öffentliche Dokumentation des Geschehenen ist aber dennoch höchst wertvoll für Interventionen der Zivilgesellschaft. Doppelt gilt das natürlich, wenn Menschen aus dem Apparat mit der Presse reden dürfen und dann und wann Sprachregelungen (im Klartext: Verschwörungen) aufklären. Der Niedergang genau solcher Praktiken auf EU-Ebene ist neulich auf netzpolitik bedauert worden.

Insofern ist da viel zu verteidigen (z.B., was immer weiter ausufernde Geheimhaltungsregeln angeht) und viel zu gewinnen, etwa die Einrichtung und den Ausbau von Informationsfreiheitsgesetzen. Ein spannendes Nahziel fände ich ja die Auflösung der staatlichen Institutionen, deren Programm schon dem Namen nach die Verschwörung ist, nämlich der Geheimdienste. Als zwei schöne Beispiele aufgeflogener Verschwörungen aus dieser Ecke möchte ich an das Celler Loch und den Plutoniumschmuggel des BND (ach nee, des Bayrischen LKA, zwinkerzwinker) erinnern. Ein netter, partizipativer Staat sollte so etwas nicht nötig haben.

Wenn es einfach wurst ist

Im Übrigen hilft nach meiner Erfahrung im Umgang mit Menschen, die halbwegs guten Willens sind, sich aber an Verschwörungserzählungen abarbeiten, manchmal (langfristig) die Frage, was sich denn ändern würde, würden sich die in Frage stehenden Erzählungen als wahr erwiesen.

Das klassische Beispiel ist die Trutherei rund um die Verwicklung westlicher Geheimdienste in die Anschläge vom 11.9.2001 – alles, was zu einer politischen Beurteilung nötig ist, ist öffentlich, sogar in der Popkultur verankert (ich empfehle dem Film Rambo III): „Wir“ haben uns im Kampf gegen „die Russen“ (jaja, das war damals auch schon das Thema) der finstersten, reaktionärsten Kräfte bedient, die wir in Afghanistan finden konnten – die, die dann später Taliban wurden, und ein paar durchgeknallter Warlords obendrauf. Um die Lehre zu formulieren, nach der die eigenen Interessen nicht rechtfertigen, sich übler Schurken[1] zu bedienen: dafür reicht das Konsensnarrativ, und dafür ist es herzlich egal, ob und wann nun irgendwelche Spooks dicke Buddys von bin Laden waren oder nicht.

Ein weiteres interessantes Beispiel, das auch in der aktuellen BRD noch heftige Emotionen auslöst, sind die Ereignisse vom 18.10.1977 in Stammheim, nach denen vier Mitglieder der RAF tot waren. Auch da ist es eigentlich wurst, ob irgendein tiefer Staat die Leute abgemurkst hat oder nicht. Das offen zutage liegende Kontaktsperregesetz hilft viel mehr bei der Beurteilung des Zustands des Rechtsstaats in der Auseinandersetzung mit einer – im Vergleich z.B. mit dem parallel sich entfaltenden Rechtsterrorismus in der BRD – recht überschaubaren Bedrohung. Oder nehmt die Ansage des Haus- und Hofhistorikers der damaligen Zeit, Golo Mann, der in Panorama am 17.10.1977 erklärte:

Der Moment kann kommen, in dem man jene wegen Mordes verurteilten Terroristen, die man in sicherem Gewahrsam hat, in Geiseln wird verwandeln müssen, indem man sie den Gesetzen des Friedens entzieht und unter Kriegsrecht stellt.

oder die eines Kommentators in der Welt vom 29.9.1977:

Ein Staat, der seine Terroristen hinrichtet, kann nicht mehr genötigt werden, sie nach Südjemen auszufliegen. Auch scheidet ein exekutierter Verbrecher künftig als Attentäter aus.

Ich kann angesichts der unumstrittenen Tatsachen nicht sehen, wie die Frage, ob irgendeine Kabale da wirklich Hinrichtungen vorgenommen hat oder nicht, Beurteilung und Lehren aus dem damaligen Geschehen wesentlich ändern würde.

Aber ich gebe zu: Ich würde schon auch sehr gerne die ganze Geschichte über Andreas Temme und seine KollegInnen vom Verfassungsschutz in Hessen kennen. Nur würde das, egal, was da an Unappetitlichem zutage treten würde, nichts an meiner Einschätzung vom letzten Abschnitt ändern: Geheimdienste sind ein einziger großer Fehler.

Was eine schlechte Verschwörungstheorie ausmacht

Schlechte (aber nicht zwingend: böse) Verschwörungstheorien haben einen anderen Pferdefuß: Sie gehen davon aus, dass noch die haarsträubendsten Verschwörungen auch (wie geplant) funktionieren. Demgegenüber ist aus den meisten Verschwörungen, von denen ich tatsächlich Kenntnis hatte, nichts geworden, ganz zu schweigen von denen, an denen ich aktiv beteiligt war. Wer ein Bonmot haben will: Der Grundirrtum der Konspirologie ist nicht, überall Verschwörungen zu sehen. Der Grundirrtum ist, von deren Erfolg auszugehen.

Für in diesem Sinne gescheiterte Verschwörungen gibt es viele schöne Beispiele, und in der Tat habe ich die ersten Notizen für diesen Post gemacht, um über eine ganz besonders spektakulär gescheiterte Verschwörung zu schreiben: Den, hust, Bologna-Prozess, während dessen alle Beteiligten alle anderen Beteiligten übervorteilen wollten, und dessen Ergebnis ist, dass es für alle beschissener geworden ist.

Aber jetzt ist dieser Text hier so lang geworden, dass ich diese zumindest für nur oberflächlich damit Befasste durchaus unterhaltsame Schote ein andermal erzählen werde.

Nachtrag (2023-04-13)

Als hätte sie auf diesen Post gewartet, hat die Mitgliederzeitschrift der GEW, „Erziehung und Wissenschaft“, in der gerade eingeflatterten Ausgabe 4/2023, einen Schwerpunkt zu Verschwörungstheorien, der die zentrale Nachricht dieses Posts unterstützt: Die Erzählung von Verschwörungstheorien lenkt ab von der Frage, was eigentlich widerlich oder relevant ist an jeweiligen Erzählungen und hat damit das Zeug, den widerlichen Kram im Konsensnarrativ zu immunisieren. Aus meiner Sicht der Höhepunkt ist ein Interview, das es auch im Netz und mit der sprechenden Frage aufmacht:

Warum radikalisieren sich Jugendliche – unabhängig davon, ob sie sich etwa dem Rechts-, Links- oder islamischen Extremismus zuwenden?

Stellt euch vor, wie viel produktiver so ein Diskurs werden würde, wenn die Frage wäre: „Wie kann es sein, dass sich nennenswert viele Jugendliche wieder mit antisemitischem, rassistischen, autoritärem Mist (oder auch Echsenmenschen und Elvis Presley) beschäftigen, statt sich entschieden (und wie so viele andere Jugendliche) um Emanzipation, Befreiung, weniger Arbeit und weniger Autos zu kümmern?“

[1]Also gut, noch üblerer Schurken als uns selbst.

Zitiert in: Bologna: Die universell gescheiterte Verschwörung

Letzte Ergänzungen