Tag Faulheit

Gerade weil ich persönlich einer Lohnarbeit mit erheblichem Spielwert nachgehe, bin ich fest überzeugt, dass das Narrativ vom Arbeitsplatz als höchstem Wert die Lebenslüge der Gesamtgesellschaft ist, die gleichzeitig am offensichtlichsten abwegig ist und am wenigsten bestritten wird.

Können wir uns nicht lieber so organisieren, dass wir als Gesellschaft genau das (na gut, mit einem gewissen Sicherheitsabstand) produzieren, was wir konsumieren wollen und das dann konsequent auf minimale Belastung für Menschen und Umwelt optimieren? Dann wäre insbesondere ein Abbau von Arbeitsplätzen (wie ich meine, korrekterweise) Befreiung und nicht Bedrohung. Klar: einen hinreichenden Konsens darüber herzustellen, was wir konsumieren wollen, das wird nicht einfach sein.

Wie auch immer: Artikel mit diesem Tag beleuchten die ganze Frage von Arbeitswille und -zwang.

  • Von der größten Demo in Heidelberg seit Jahrzehnten und der autoritären Versuchung

    Jemand hält eine mit Edding handbeschriebene Pappe for dem Körper: „Wer von der AfD redet, darf von Kretschamann nicht schweigen/Abschiebestopp jetzt!“

    Bei der größten Demo in Heidelberg seit Menschengedenken wollte ich mit „Abschiebestopp jetzt!“ daran erinnern, dass wir ja bereits ein großes Deportationsprogramm am Laufen haben. Auch ein grüner Ministerpräsidente lässt zum Beispiel über Baden-Baden Roma ins Kosovo deportieren (wogegen sich dann und wann Protest regt; siehe auch Grüne Positionen in der Opposition).

    Eigentlich meide ich Demonstrationen, die sich recht offen an die Seite aktueller oder historischer Obrigkeiten stellen. Das gilt um so mehr, wenn die fragliche Obrigkeit praktisch gleichzeitig zu den Demos de facto faschistoide Gesetze (das Grundrechtekomitee dazu) verabschiedet. Allzu schnell kommt mensch dabei in die Grauzone zur Huldigung oder gar zum Aufmarsch.

    Gestern aber habe ich trotz dieser Bauchschmerzen an der wirklich beeindruckend großen Anti-AfD-Demo in Heidelberg teilgenommen. Solange es glaubhaft auch gegen „Remigration“ – besser bekannt unter dem konventionellen Namen Abschiebungen – geht, kann ich unter dem imaginierten Blick der Nachwelt nicht daheimbleiben.

    Und es ist ja wirklich großartig, dass da geschätzt 18'000 Menschen auf der Straße waren. Die letzte Demo zu dem Thema – genauer zum entsetzlichen Gemeinsamen Europäischen Abschiebesystem[1] GEAS – in Heidelberg im November war ja leider eher weniger gut besucht:

    In etwa 100 Menschen in einer breiten Reihe vor der Heidelberger Stadtbücherei.

    Außerdem stellt sich in aller Regel auch bei regierungsfreundlichen Demonstrationen heraus, dass sich dort erstaunlich viele Menschen guten Willens sammeln. So war das auch gestern. Es gab viel Zuspruch für meine eingestandenermaßen möglicherweise leicht spalterische Botschaft. Allerdings war von den Regierungsparteien in Baden-Wüttemberg in der Demo auch nicht viel zu sehen.

    Verbote fürs Gute?

    Auch der gute Wille ändert aber nichts daran, dass ausgerechnet auf einer (letzlich) Antifa-Demo die autoritäre Versuchung breit zu spüren war. Manches „Nazis raus“ mag augenzwinkernd gerufen worden sein und im Bewusstsein, dass es wirklich fies wäre, wem anders die deutschen FaschistInnen überzuhelfen, zumal ja die meisten „anderen“ inzwischen schon genug eigene FaschistInnen haben.

    Mein Eindruck war aber, dass doch eine breite Mehrheit der Demonstrierenden ein Verbot der AfD befürwortete. Die Frage vorerst beiseite, ob das irgendeine positive Wirkung hätte: Es ist eben selbst schon autoritär, wenn rechte Gesinnung ausgerechnet über Verbote, Strafen, Zwang, und klar, durch die Obrigkeit geheilt werden soll. Ich habe versucht, das auf der Rückseite meiner Pappe auszudrücken:

    Eine Person hält vor dem Hintergrund einer Demo eine Pappe: „Faschist:innen verbieten ist wie Schnaps gegen Suff“.

    Ich habe mich mit meiner Nachricht, dass Verbote gegen Faschismus stark nach einer Schnapskur für Alkoholkranke klingen, ziemlich zurückgehalten. Mag sein, dass mich dabei übermäßiges Harmoniebedürfnis zurückhielt.

    Ich will keinesfalls ausschließen, dass der Zweck im Einzelfall mal Mittel heiligen mag. Insofern ist es schon statthaft, darüber nachzudenken, ob mensch nicht doch etwas verbieten möchte, wenn die Machtverhältnisse das zulassen. In diesem Fall mag es sogar (aber nur kurz) erlaubt sein, im Hinblick auf den Zweck voll aufzudrehen und in gefährliche Nähe einer Shoah-Relativierung zu gehen. Aber hätte ein Parteiverbot der NSDAP die Shoah verhindert?

    Nation, Volk, Konkurrenz, Hierarchie, Militär: Problem

    Ich bin so gut wie sicher, dass das nicht der Fall gewesen wäre, um so weniger, als zwischen 1922 und 1925 die NSDAP (in leicht wechselnden Varianten) verboten war. Anfang der 1930er jedenfalls hätten Hindenburg, Schleicher und Co gewiss alternative Wege zur Machtübergabe gefunden – oder es hätte halt einen Putsch gegeben.

    Aber hypothetisch die Eignung von Verboten zur Abwendung faschistischer Verhältnisse unterstellt, würde es im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit an der Notwendigkeit fehlen. Für die Verhinderung der Shoah hätte dann bereits gereicht, dass der ganz „normale“ Reichspräsident Hindenburg die NS-Regierung nicht ernannt hätte („milderes Mittel“); er hätte reichlich alternative Wege gehabt. Es hätte vermutlich immer noch gereicht, wenn die Vorgängerorganisationen von CDU, FDP und AfD (letztere wäre im Augenblick bei mir noch die DNVP) Gewaltenteilung und Rechtsstaat nicht mit voller Absicht abgewickelt hätten. Es sind Einsichten wie diese, die die autoritäre Rede von der „wehrhaften Demokratie“ bei ihrer Erfindung verhindern sollte.

    Natürlich wussten Hindenburg und die ihn unterstützende informelle Koalition recht genau, was sie da taten. Sie waren nur selbst von der Verehrung für Nation, Volk, Konkurrenz, Hierarchie, Militär und nicht zu vergessen Antikommunismus durchdrungen. Inhaltlich lagen sie auf einer Linie mit der NSDAP, auch wenn ich gerne glaube, dass viele von ihnen die Methoden des NS-Apparats (also damals vor allem der SA) nicht schätzten. Ich gebe ihnen sogar, dass nennenswert viele von ihnen jedenfalls anfangs weder mit den Verhältnissen in den frühen Konzentrationslagern einverstanden waren noch mit dem Massenmord in Auschwitz, Treblinka und Co oder seinem Vorgänger etwa in Grafeneck oder Hadamar (Beleg).

    Von Nazi-Gewehren und Antifa-Pfefferspray

    Auch Menschen, die meine Einschützung teilen, ein Verbot bewirke allenfalls ein tieferes Einsinken in den autoritären Morast, mögen einwenden: „Aber irgendwas muss man doch machen!“ Ich würde dem „irgendwas“ darin heftig widersprechen. Wenn dieses „irgendwas“ nämlich autoritärer Grundrechtsabbau ist, ist es allemal besser, nichts zu tun. Grundrechte, die weg sind, sind sehr schwer wiederzubekommen, ganz zu schweigen davon, dass Maßnahmen „gegen rechts“ erfahrungsgemäß wenig später mit zehnfacher Wucht nach links durchschlagen.

    Ein schönes Beispiel dazu ist, dass die Behörden in den letzten zwei Jahren jede Menge kleiner Waffenscheine von Menschen aberkannt haben, die sie für Antifas hielten. In den mir bekannten Fällen ging es dabei darum, legal Pfefferspray zur Abwehr von Naziübergriffen mitnehmen zu können. Die ganze Aktion lief in direktem Fallout der rechten Schießerei von Georgensgemünd und der folgenden Verschärfung des Waffenrechts unter der Flagge einer klaren Kante gegen Rechts.

    Dabei würde ich noch nicht mal dem (letztlich ohnehin eher zwecklosen) Pfefferspray nachweinen, aber im Nebeneffekt entstanden zumindest gelegentlich, vielleicht sogar grundsätzlich, Einträge in der PIAV-Tabelle zu Waffen- und Sprengstoffkriminalität. Wenn die vielleicht bei einem Grenzübertritt oder im Rahmen der ja für die fremde Polizei häufig überhaupt nicht kontextualisierbaren Prüm-Transfers auftauchen, kann das bei einem Polizeikontakt den Unterschied machen zwischen einem „Guten Tag, der Herr“ und einem „das SEK knallt dich auf die nächstbeste Motorhaube“.

    Wie baue ich mir Untertanen?

    So versuchend der autoritäre Weg des Verbots sein mag: Nach solchen Überlegungen scheint es mir aussichtsreicher, zunächst so tiefschürfend wie möglich die Frage zu beackern, was eigentlich die Ursachen sind für den fast globalen Trend zur autoritären bis durchgeknallten Zivilreligion von Nation, Volk, Konkurrenz, Hierarchie, Militär – bei hinreichend konsequenter Umsetzung also zum Faschismus.

    Dazu haben, ja, schon viele Menschen sehr viel geschrieben, zumeist mit Betrachtungen über erodierende Mittelschichten, Männer (bzw. moderner Baby-Boomer) mit Bedeutungsverlust, dem Abendland an und für sich (in schlechtester Tradition), imaginierten Identitätsverlusten usf. Das ist jedenfalls teilweise bestimmt nicht falsch. Als unbelehrbarer Antiautoritärer (und zumal Klaus Theweleit leider Fußballfan geworden ist) möchte ich aber dafür werben, etwas allgemeiner über Herrschaft nachzudenken, also darüber, wie Obrigkeiten es eigentlich schaffen, ihre Untertanen zur Unterordnung zu bringen.

    Die halbe Politologie stellt diese Frage, wenn auch häufig mit aus meiner Sicht ethisch fragwürdiger Betonung: „wie schaffen wir das?“ statt „wie schaffen die das?“. Auch zur Einordnung solcher Arbeiten fand ich meine Variante der Klassifikationen von Herrschaftstechniken eigentlich immer recht nützlich. Danach kann eine Obrigkeit setzen auf:

    • göttliche Bestimmung oder eventuell besondere Brillianz („du gehorchst, weil du dazu bestimmt bist“)
    • Angst vor der Obrigkeit („du gehorchst, weil ich dir sonst wehtue“)
    • Wohlstandsversprechen („du gehorchst, weil es dann dir oder spätestens deinen Kindern dann besser geht“)
    • Angst vor der Nicht-Obrigkeit („du gehorchst, weil ansonsten [Wölfe | Japaner | Chinesen | Russen | Griechen | Clans | Arme | Kinderschänder] kommen und dich [fressen | ausnehmen | beherrschen]”).

    In realen Machtverhältnissen mischen sich natürlich die einzelnen Techniken in verschiedenen Verhältnissen, die zudem durchweg stark abhängen davon, welche Untergruppe der Untertanen gerade adressiert wird: Höheren Klassen wird mensch als guter Herrscher eher etwas versprechen, niedrigen Klassen oder leicht rassifizierbaren Gruppen eher mit Schmerz und Pein drohen. Welche Mixtur dominiert und wie sehr sie gleichmäßig über die Untertanenschaft ausgebracht wird, bestimmt ganz wesentlich, wie so eine Gesellschaft funktioniert und wie angenehm Menschen in ihr leben können.

    Lasst mich deshalb die vier Szenarien etwas ausführlicher betrachten, bevor ich wieder auf den Zusammenhang mit der AfD komme.

    Göttliche Bestimmung

    Ich fand die These, Religion sei als Mittel erfunden worden, Machtausübung zu legitimieren, schon immer attraktiv. Empirisch hat das augenscheinlich prima funktioniert, etwa bei all den FürstInnen „von Gottes Gnaden“, dem göttlichen Kaiserhaus (das ist das IHDD auf allen möglichen römischen Inschriften) oder auch bei den (fast) frühesten schriftlichen Überlieferungen von Herrschaft überhaupt, dem Codex Hammurapi, dessen einschlägigen Inhalt einE Wikipedia-AutorIn so wiedergibt:

    [Es] wird zunächst erklärt, dass der babylonische Stadtgott Marduk durch Anu und Enlil, die höchsten Götter des sumerisch-akkadischen Pantheons, zur Herrschaft über die Menschheit berufen worden sei. Dementsprechend sei Babylon als seine Stadt auch zum Zentrum der Welt bestimmt worden. Damit eine gerechte Ordnung im Land bestehe, Übeltäter und Unterdrückung von Schwachen ein Ende fänden und es den Menschen gut gehe, sei dann Hammurapi zur Königsherrschaft über die Menschen erwählt worden.

    Bemerkenswert daran ist bereits, dass schon in dieser ganz frühen Fassung der Claim göttlicher Bestimmung wohl doch nicht als ausreichend empfunden wurde, denn sonst hätte Hammurapi kaum noch verweisen lassen auf „Menschen gut gehe“ (Wohlstandsversprechen) und die „Übeltäter“ (Angst vor der Nicht-Obrigkeit).

    Andererseits lässt die moderne Verehrung für <hust> Führungsfiguren zwischen (aktuell) Franz Beckenbauer, (etwa genauso aktuell) Elon Musk oder (seit gefühlt schon immer) Lady Di …

  • Kritischer Hörtipp: „Afrika im Aufbruch“

    Eine relativ leere breite Straße mit Hochhäusern drumrum und Palmen drauf.

    Luanda im Jahr 2013 (inzwischen sieht es noch viel schlimmer aus): Hochhäuser, breite Straßen und jede Menge Beton. Will mensch wirklich zu sowas aufbrechen? Foto CC-BY Fabio Vanin

    Im November brachte der Deutschlandfunk im Hintergrund (täglich 18:40 bis 19:00) eine kleine Reihe mit dem Titel „Afrika im Aufbruch“. Das war zunächst recht erfreulich, denn die Erzählung dabei war nicht die typische beim europäischen Blick nach Süden.

    Es war nämlich nicht (in erster Linie) die Rede von Mord, Totschlag, Bürgerkrieg mit Macheten oder „Wellen“ von Menschen, die „gegen unsere Grenzen branden“. Es lohnt sich durchaus, sich die alternativen und vermutlich erheblich repräsentativeren Erzählungen anzuhören:

    Im Detail allerdings tun viele der Geschichten doch weh. Ich bin selbst schon hineingewachsen in eine Welt, in der der Name „3. Welt-Laden“ nicht mehr ohne Anführungszeichen denkbar war, in der Probleme mit Begriffen wie „Entwicklungsland“ Gemeinplätze waren. Das Wort behauptet ja ganz offen, dass „die anderen“ sich doch bitte „entwickeln“ sollen, etwas weniger offen dazuzudenken „zu uns hin“. Damals haben kritischere Menschen vielleicht „Trikont“ gesagt (Folgen), woraus heute eher „globaler Süden“ geworden ist.

    In der DLF-Serie hingegen wird nun zwar durchaus im Kultur- und Identitätsbereich von Dekolonisierung geredet, ökonomisch aber ist fast alles geradezu erschreckend orthodox. In der Sendung vom 14.11. zum Beispiel sagt ein Manager eines südafrikanischen „Start-ups“, das Rohstoffextraktion mit Großindustrie verbinden will:

    Wir haben die Chance, eine brandneue Megaindustrie in Afrika aufzubauen. Die Batterien sollen zuerst hier auf dem Kontinent genutzt werden. Siebzig Prozent Afrikas hat keine stabile Energieversorgung, ohne Strom keine Industrialisierung. Wenn wir dieses Problem durch Speichermöglichkeiten lösen, kann mehr produziert werden, Jobs werden geschaffen und Armut abgebaut.

    Der Gedanke, dass Armut heute nicht daher kommt, dass die Leute zu wenig arbeiten (bzw. produzieren), blitzt zwar kurz vorher im Zusammenhang mit Botswana mal auf, aber hier wie auch ganz schlimm in der Bezahl-Apps-Folge ist die Präsupposition ganz klar, dass auch „die Afrikaner“ unseren Unsinn kopieren sollen.

    Und Unsinn ist es, wenn sich möglichst viele Menschen jeden Tag für eine Stunde in einen rollenden Blechkäfig einsperren, um dann für acht Stunden lästigen Mist zu tun, der typischerweise unter Freisetzung von viel Dreck die Welt in der Regel schlechter macht (Herstellung von Autos und anderen Waffen, Werbung und anderen Rauschmedien, Finanz-„Produkten“ und anderen legalen Suchtstoffen, Einfamilenhäusern und Ölpipelines, Glyphosat und High Fructose Corn Syrup und so weiter und so fort).

    Um den Irrsinn ganz rund zu machen, haben die TeilnehmerInnen dieser Veranstaltung trotz historisch notwendig einmaliger Verschwendung von Naturressourcen immer noch (und nicht mal ohne Grund) Schiss, ob sie nächstes Jahr noch ein Dach über dem Kopf haben oder ob die Rente „zum Leben reicht”, mehr Angst vermutlich als Durchschnittmenschen in weiten Teilen des gegenwärtigen Afrika.

    Würde mensch dagegen einfach vernünftig überlegen, was das Minimum an Produktion ist, das die Grundbedürfnisse aller Menschen dauerhaft und verlässlich deckt, und zwar bei minimaler Belastung für Umwelt und Mensch: Nun, das wäre dann wirklich das „Überspringen“ von Fehlern des Nordens, das mal kurz in der Sendung vom 16.11. anklang. Stattdessen macht Antje Diekhans das Überspringen dort fest zunächst an Festnetz- gegen Mobiltelefonie und mittelbar ausgerechnet an „Fintech“ – mal ehrlich: lässt sich eine wüstere Verschwendung menschlicher Kreativität vorstellen?

    Dabei gestehe ich offen, dass ich keine Ahnung habe, wer in den verschiedenen Gegenden dieses Fünftels der Landfläche der Erde weniger europäische Ansätze vertritt. Klar wird die Wachstums-Religion in Afrika so verbreitet sein wie hier auch. Insofern mag mensch argumentieren, dass Afrika im Aufbruch einfach guter Journalismus ist, also eine Betrachtung der Welt, wie sie halt mal ist. Vielleicht passt mir auch nur das Wort „Aufbruch“ nicht, obwohl ja niemand sagt, dass du nur wohin aufbrechen kannst, wo es besser ist.

    Auf die im Eingangsbild symbolisierte Entwicklung in Luanda (verlinkt ist die Regierungsversion) hat mich übrigens ein Vortrag von Boniface Mabanza Bambu im Juni 2023 hingewiesen. Von ihm gibt es auch einiges Kontrastprogramm zur Aufbruch-Serie im Netz, z.B. seinen Artikel in Uneven Earth vom Juni 2019 oder auch ein Interview mit dem programmatischen Titel Die EU sollte Afrika in Ruhe lassen in der taz vom April (vgl. dazu). Oder, wegen der BASF-Connection für Leute im Rhein-Neckar-Raum besonders relevant, seine Abhandlung zum achten Jahrestag des Marikana-Massakers.

  • Antisprache: Arbeitsplätze

    Unter all den eigenartigen Ritualen des politischen Diskurses verwundert mich so ziemlich am meisten, dass „gefährdet Arbeitsplätze“ fast universell als Argument gegen eine Maßnahme, als ultimativer Warnruf gilt. Lasst mich einige der befremdlicheren Zitate den DLF-Presseschauen des vergangenen Jahres anführen:

    …ganze Branchen wegen ihres hohen Gasverbrauchs in Existenznot, tausende Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel.

    —Rheinische Post (2022-10-11)

    In diesem Sinne ist es ein Ansporn, schnell gute, neue Produkte zu entwickeln, die den großen Teil der Arbeitsplätze sichern.

    —Badische Zeitung (2023-02-15)

    Die Politik muss aufpassen, dass sie nicht deutsche Arbeitsplätze opfert…

    —Reutlinger General-Anzeiger (2023-02-15)

    …wie einst bei der Solarbranche der Ausverkauf der deutschen Wärmepumpenindustrie bevorsteht und Arbeitsplätze sowie hoch spezialisiertes Wissen abwandern.

    —Rhein-Zeitung (2023-04-27)

    Was da in einen negativen Kontext gestellt wird, ist nüchtern betrachtet: Leute müssten weniger arbeiten, und das meist ohne erkennbar negative Folgen. Ist das nicht ganz offensichtlich eine gute Sache?

    Es schimpfen doch fast alle Menschen mehr oder weniger deutlich über ihre Lohnarbeit, oder? Obendrauf habe ich schon zu oft gehört, Leute würden ja den Rest der Welt schon gerne vor ihrem Auto verschonen, aber die Lohnarbeit zwinge sie, sich jeden Morgen in ihren Blechkäfig zu setzen. Und das muss dringend geschützt und gehegt werden?

    Obendrauf gibts allerlei Wunder, die Arbeit sparen: Staubsaug- und Rasenmähroboter, Lieferdienste und vielleicht irgendwelche Apps. Die wiederum gelten als „Innovation“ und damit irgendwie gut (mehr Antisprache dahingestellt). Wie geht es zusammen, dass einerseits Leute weniger arbeiten möchten, andererseits aber Möglichkeiten, wie sie weniger arbeiten könnten, an Bedrohlichkeit über dem Weltuntergang stehen („Klimaschutz darf keine Arbeitsplätze kosten”, „Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie“)?

    Ein Minimum an Lohnarbeit

    Die Antwort: Gar nicht. „Arbeitsplatz“ ist ein klassischer Fall von Antisprache, also Wörtern und Phrasen, die Information nicht übertragen, sondern annihilieren. Der Antisprache von den Arbeitsplätzen gelingt es, die Information zu annihilieren, dass wir längst die Technologie und wahrscheinlich auch die soziale Reife hätten, um allen Menschen mit einem Minimum an Lohnarbeit[1] ein ökologisch vertretbares Leben ohne Existenzsorgen zu ermöglichen. Dass der Lebensunterhalt an „Arbeitsplätze“ gebunden ist, ist mithin eine überflüssige, grausame und gefährliche Konvention, die durch ehrlichere Wortwahl sichtbar gemacht werden könnte.

    Ein „Minimum an Lohnarbeit“ hat übrigens fast nichts mit der drei- oder vier-Tage-Woche zu tun, die die taz gestern mal wieder erwähnt hat, denn diese bleibt dem alten Mechanismus des Kapitalismus verhaftet. Dabei werden Waren produziert oder Dienstleistungen erbracht, weil manche Leute („Unternehmer“) reich werden wollen und nicht etwa, weil Menschen sie brauchen und das Zeug nicht allzu schädlich ist. So kommt es, dass wir schockierende Mengen von Arbeitskraft und Natur verschwenden auf jedenfalls gesamtgesellschaftlich schädliche Dinge wie Autos, andere Waffen, Einfamilienhäuser, fast fashion, Zwangsbeflimmerung und das rasende Umherdüsen in überengen fliegenden Röhren.

    Es ist die Konvention, Menschen durch Drohung mit dem Entzug ihres Lebensunterhalts[2] dazu zu zwingen, all den unsinnigen Krempel herzustellen, die auch dafür sorgt, dass „wir“ uns eine überflüssige Lohnarbeit nach der anderen einfallen lassen. Meist sind das „Dienstleistungen“ (auch so ein schlimmes Wort), was dann immerhin manchmal nicht ganz so schädlich ist wie der ganze überflüssige Quatsch (Autobahnen, Konferenzzentren, Ultra-HD-Glotzen) auf der Produktionsseite[3].

    Ein eher harmloser Nebeneffekt des Ganzen beschäftigte übrigens Casper Dohmen und Hans-Günther Kellner im Deutschlandfunk-Hintergrund vom 23.6., der sich ebenfalls an weniger Arbeit trotz Kapitalismus abarbeitete:

    In den neunziger Jahren betrug die Produktivitätssteigerung in Deutschland im Schnitt noch mehr als zwei Prozent jährlich, seitdem weniger als ein Prozent. Die Entwicklung ist typisch für hoch entwickelte Industriestaaten. Das liegt daran, dass es schon länger keine wesentlichen Innovationen gab, mit denen sich die Produktivität erhöhen ließe.

    Schon die Antisprache von den „Innovationen“ lässt ahnen, dass das in der ganz falschen Richtung sucht – auch wenn das Rationalisierungspotenzial durch Rechner im Bürobereich tatsächlich drastisch überschätzt ist (Bob Solow: „You can see computers everywhere except in the productivity statistics“).

    Aber den eigentlich notwendigen Kram kriegen wir mit wirklich beeindruckend wenig menschlichem Aufwand und also atemberaubender Produktivität hergestellt. Letztes Wochenende etwa hat ein Mensch das Getreidefeld neben meinem Gärtchen (grob „ein Morgen“ oder ein halber Hektar) in der Zeit abgeerntet, in der ich fünf Codezeilen geschrieben habe. Natürlich muss mensch noch die Arbeitszeit dazurechnen, die im Mähdrescher und dessen Sprit steckt, aber auch die wird sich, auf die Flächen umgelegt, die mit der Maschine bearbeitet werden, zwanglos in Minuten messen lassen.

    Nein, der Grund für die mehr oder minder stagnierende Produktivität der Gesamtgesellschaft (kurzerhand definiert als Bruttoinlandsprodukt pro Arbeitsstunde) ist die Ausweitung des Niedriglohn-Sektors, sind Jobs wie Lieferdienste, „Juicer“ (dass Menschen für sowas Lebenszeit opfern müssen, beschämt mich zutiefst), Wachdienste, also das gesamte Jobwunder im Gefolge von Hartz IV: Wer für eine Handvoll Euro viele Stunden arbeiten muss, senkt natürlich den Durchschnitt von BIP/Zeit, und wenn das erschreckend viele sind, wird das auch nicht mehr von den paar Leuten mit Salären im 104 Euro/Stunde-Bereich ausgeglichen[4]. So erklärt sich übrigens das „neunziger Jahre“ versus „seitdem“ aus dem DLF-Beitrag ganz natürlich: Die Schröder-Regierung hat die Hartzerei zwischen 2002 und 2005 eingephast.

    Es sind also gerade all die „Innovationen“ vom Schlage zu juicender Elektroroller, die die Produktivität drücken. Natürlich wird das nichts mit BIP/Arbeitsstunde, wenn ein wesentlicher Teil der Menschen in privatwirtschaftlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen stecken, für die jetzt wirklich niemand viel Geld bezahlen will.

    In Klarsprache übersetzt

    Wozu also führen wir die Tragikomödie mit dem Lohnarbeitszwang auf? Sachlich, damit sich ein paar Grobiane gut fühlen, weil das Bruttoinlandsprodukt ihres Landes steigt, und ein paar andere, weil ihr Kontostand wieder ein paar Milliarden ihrer bevorzugten Währung mehr zeigt.

    Letzteres ist wiederum besonders verdreht, denn so viel Geld könnten diese Leute nie für tatsächliche Waren ausgeben, schon, weil es gar nicht so viel zu kaufen gibt außerhalb von mondbepreisten Kunstwerken, Aktien und Immobilien, deren Kosten in überhaupt keinem Verhältnis mehr stehen zur in ihnen vergegenständlichten Arbeit.

    Die Antisprache von den Arbeitsplätzen wirft in Summe einen dicken Nebel rund um etwas, das schlicht ein hässliches Erbe der trüben Verangenheit ist. Wie so oft bei Antisprache lichtet sich der Nebel um groteske Sachverhalte schon, wenn mensch einfach die Antisprache ersetzt durch Wörter mit der jeweils zutreffenden Bedeutung. Ich habe das mal mit ein paar der Presseschau-Texte gemacht:

    In diesem Sinne ist es ein Ansporn, schnell gute, neue Produkte zu entwickeln, die viel Arbeit machen.

    —nicht Badische Zeitung (2023-02-15)

    …wie einst bei der Solarbranche der Ausverkauf der deutschen Wärmepumpenindustrie bevorsteht und sich danach andere Menschen als wir plagen müssen sowie hoch spezialisiertes Wissen abwandert.

    —nicht Rhein-Zeitung (2023-04-27)

    Die beiden Zitate könnt ihr im Original oben nachlesen. Vergleicht mal. Und dann ratet, wie die folgenden Zitate wohl wirklich ausgesehen haben werden:

    Kein Wunder, dass die Bevölkerung allmählich Existenzängste bekommt, wenn Heizen unbezahlbar zu werden droht und sie dann auch noch frei bekommen könnten.

    —nicht Dithmarscher Landeszeitung (2022-09-02)

    Entscheidend ist, alles zu tun, dass alle arbeitsfähigen Menschen auch arbeiten müssen und es sich lohnt zu arbeiten.

    —nicht Mediengruppe Bayern (2022-11-23)

    Vielleicht bietet der jetzige Kahlschlag [bei Karstadt], der erneut Tausende Mitarbeiter von stupider Arbeit an der Kasse und im Lager erlöst und daher äußerst bitter ist, die Chance auf ein Gesundschrumpfen.

    —nicht Badische Zeitung (2023-03-14)

    Menschlich ist es verständlich, dass auch Politiker eine möglichst angenehme Atmosphäre schätzen, wenn sie sich schon plagen müssen.

    —nicht Schwäbische Zeitung (2023-05-04)

    Nur, falls sich wer schlimm ärgert über diese Klarstellungen: Ja, mir ist klar, dass es unter den Bedingungen des Lohnarbeitszwangs jedenfalls sozial und möglicherweise auch materiell wirklich bitter ist, gefeuert zu werden.

    Aber es hilft ja nichts: wir müssen uns so oder so um den Übergang in eine Gesellschaft kümmern, die maximale Existenzsicherheit mit minimaler Belastung für Menschen (also vor allem: Arbeit) und Umwelt (also vor allem: Dreck) zusammenbringt, und das bei maximaler Partizipation bei der Aushandlung dessen, was „Existenz” eigentlich bedeutet. Das Gerede von Arbeitsplätzen steht dem klar im Weg, schon, weil es den Betroffenen Willen und Möglichkeit raubt, zu diesem Übergang beizutragen.

    Unterdessen verspreche ich, gelegentlich Constanze Kurz' Beitrag zu dieser Debatte zu lesen. Dass der jetzt auch schon zehn Jahre alt ist und die Presseschau immer noch voll ist mit Arbeitsplatzprosa, illustriert mal wieder, dass mensch bei der Verbesserung der Gesellschaft langen Atem braucht.

    [1]Gleich vorneweg: In vernünftigen Szenarien ist „Lohnarbeit“ kein sehr nützlicher Begriff. Die bessere Rede von „gesellschaftlich notwendiger Arbeit“ würde aber sicher auch Kram umfassen, der im Augenblick massiv nicht durch Lohnarbeit abgedeckt wird, ganz vorneweg Reproduktion oder etwas moderner Care-Arbeit. Insofern ist die Schätzung der Fünf-Stunden-Woche (die im aktuell lohnarbeitigen Sektor über die Lebenszeit integriert und für eine global vertretbare Produktion wohl schon realistisch wäre) so irreführend, dass ich sie im Haupttext nicht erwähne.
    [2]Ich kann nicht anders: Auch das ist ein Beispiel dafür, wie unsere Vorfahren einer autoritären Versuchung nachgegeben haben: Statt Menschen zu überzeugen, dass eine Arbeit gemacht werden soll oder muss, haben sie diese durch Drohung mit Hunger oder Erfrieren zur Arbeit gezwungen. Einfach, aber mit schlimmen Konsequenzen, wie wir nicht nur auf unseren Straßen sehen.
    [3]Es gibt aber auch Beispiele für extrem schädliche Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor. Beispielsweise hat die Finanzbranche ganz verheerende reale Auswirkungen (ein hübsches Stück Mainstream-Literatur dazu ist “Eine Billion Dollar“ von Andreas Eschbach …
  • Eine Xerox 860 in Basel

    Wer einen Blick auf die Verteilung der Teilnehmenden am Museumspass wirft, kann Basel (mit derzeit 67 Einrichtungen in der Region) nicht übersehen: Die Konzentration von Museen und ähnlichem rund um das Rheinknie ist beeindruckend. Deshalb habe ich letzte Woche ein paar Tage dort verbracht und allerlei gesehen, gelernt beziehungsweise bewundert. Und weil eh schon viele von Tinguely reden, möchte ich drei andere Museen hervorheben.

    Erstens will ich für die wunderbare Basler Papiermühle (jaja, die Webseite ist mit Crapicity 33.3 etwas lästig) Werbung machen, in der BesucherInnen Papier schöpfen, Antiqua mit Metall- oder Vogelfedern schreiben und sehen können, wie haarig es war, mit Schreibmaschinen fehlerfreie Texte zu Papier zu bringen.

    Mit besonderer Hingabe habe ich als großer Fan von TeX das Stockwerk mit den Satzmaschinen erkundet. Da steht zum Beispiel noch eine funktionsfähige Linotype, also eine Maschine, in der mit flüssigen Bleilegierungen hantiert wurde, um mehr oder minder automatisch Druckzeilen zu setzen. Welch ein Wunder der Technik!

    Ein komplizierter Mechanismus mit Tastatur und einem stolzen Typenschild „Linotype“ am ca. zwei Meter hohen Gehäuse.

    Mit solchen Höllenmaschinen wurden noch in den 1970er Jahren Zeitungen und Bücher gesetzt. Weil ein Tippfehler dabei zumindest das Neugießen einer ganzen Zeile nach sich zog – an einen automatischen Umbruch eines möglicherweise folgenden Restabsatzes war gar nicht zu denken – waren SetzerInnen wichtige Menschen, und ihre Gewerkschaften hatten erhebliche Macht.

    Dann jedoch kamen allmählich ordentliche Rechner in die Setzereien. Die Papiermühle entstand aus kommerziellen Unternehmen, die die Entwicklung von Unix, troff und TeX in den 1970er Jahren noch verschlafen haben. Daher findet sich dort nur die professionelle Konkurrenz, etwa in Form dieser erstaunlichen Maschine von 1980:

    Ein schreibtischhoher Rechner neben einem Schreibtisch mit einem Hochkant-Monitor und einer großen gelben Tastatur.

    Es handelt sich um eine Xerox 860, eine für „Textverarbeitung“ geschaffene Maschine mit Schwarz-auf-Weiß-Display (ich vermute allerdings, dass es furchtbar geflimmert hat) und, wie ich in Basel zum ersten Mal gesehen habe, sogar einem Touchpad (ganz rechts in der Tastatur). 1980!

    Ich hätte gerne gesehen, was das Touchpad wohl gesteuert hat, aber leider war ich zu feige, das Museumspersonal um eine Demonstration zu bitten. Wahrscheinlich ist das Teil aber tatsächlich nicht mehr lauffähig, und zwar weil die Software schon von Diskette kam, wenn auch von den riesigen Floppies der ersten Generation mit einem Durchmesser von acht Zoll (das ist so in etwa A4-Breite). Ich wäre überhaupt nicht überrascht, wenn alle Floppies dieser Art inzwischen komplett durch wären – und wenn sie es nicht sind, würde ich erwarten, dass die Antriebsriemen der gigantischen Laufwerke inzwischen so ausgeleiert sind, dass auch von guten Floppies nichts mehr zu lesen wäre.

    Aber wer weiß? Wenn ich nochmal in der Papiermühle bin, muss ich einfach mal fragen – allein der Headload[1] von Laufwerken in der Größe wird mir wahrscheinlich das Herz wärmen, denn als ich in den späten 1980er Jahren Zivildienst im Krankenhaus leistete, gab es die Achtzöller auch noch im Siemens-CT des Hauses (während der Rest der Welt bereits die auf sie folgenden 5 ¼-Zöller zugunsten der 3 ½-Zöller, die noch heute viele „Speichern“-Icons zieren, beerdigt hatte). Es wäre jedenfalls schon schön, die markerschütternden Headloads nochmal zu hören.

    Ansonsten illustriert die Papiermühle immer wieder überdeutlich, wie mühsam und arbeitsintensiv jeder Schritt der Produktion von Druckmaterial – Papierherstellung, Satz, Vervielfältigung, Binden – noch vor fünfzig Jahren war. Wie eigentlich immer, wenn ich irgendwo sehe, wie viel wir automatisiert haben (oder automatisieren könnten), frage ich mich ernsthaft, wie es sein kann, dass wir ganz wie zu Zeiten unserer Großeltern immer noch 40 Stunden die Woche (oder mehr) lohnarbeiten. Wieso genau lassen wir uns mit all den dämlichen „Dienstleistungen“, Wettbewerben, Geschäftsführungen und Sicherheitsjobs beschäftigungstherapieren, statt endlich mal die Produktivitätsfortschritte in frei und sinnvoll verwendbare Zeit zu übersetzen?

    Beispiele für das, was Menschen mit frei verwendbarer Zeit anfangen könnten, sind sehr schön versammelt im zweiten Baseler, nun ja, Museum, das ich hier erwähnen möchte: Den Spielzeug Welten. Jaklar, das Leerzeichen ist doof, und ich gebe offen zu, dass ich angesichts des des prätentiösen Namens vielleicht eher mit einem Abriss über das Spiel in der Kultur gerechnet hätte, mit Halma, Spielkarten (zu denen es übrigens in der Papiermühle einiges gab), Modelleisenbahnen oder (jetzt wieder aktuell) Spielzeugpanzern.

    Das sind die „Spielzeug Welten“ nicht. Stattdessen sind fast ausschließlich Unmengen von Teddybären und Puppenstuben zu sehen und, zwischen herzig und verschroben, haufenweise Puppendioramen, die ganz klar niemals für Kinder gedacht waren. Leider ist das alles nicht so überwältigend gut kuratiert (meint: beschriftet). Selbst mit Infos aus bereitstehenden Computern wird der Kontext nicht immer ganz klar, was ich besonders traurig fand bei den aus meiner Sicht bizarrsten Exponaten: Einer Puppenstuben-Kapelle mit Kruzifix, Priester und allen Schikanen (welche blasphemischen Spiele hätten damit stattfinden sollen?) sowie einer Folterkammer als Puppenstube:

    In Bauntönen gehaltenes Modell einer Folterkammer mit Streckbank, eiserner Jungfrau, Pranger usf.

    Hier hätte mich sehr interessiert, wer dieses Ding wann wo und für wen gemacht hat.

    Ein lobendes Wort will ich noch zu einem dritten Baseler Museum loswerden: Im Naturhistorischen Museum gibt es neben vielen sorgfältig arrangierten Tierpräparaten vier besonders wunderbare Exponate, die den Fortgang der wissenschaftlichen Vorstellungen der Gestalt von Iguanodonen nachzeichneten. Zwischen den ersten Versuchen von Mantell im frühen 19. Jahrhundert (inklusive dem Daumenknochen als Nashorn) und den heutigen Zweibein-Läufern bestehen beeindruckend wenig Parallelen.

    Vielleicht wäre noch ein Hauch mehr Text zur Frage, warum sich die Vorstellungen so geändert haben, hilfreich gewesen, aber als Illustration des Wissenschaftsprozesses ist sowas einfach großartig. Leider spiegelte das Glas, hinter dem die Modelle standen, ziemlich schlimm; aber diese schnelle Montage mag dennoch einen Eindruck geben von der Evolution der Iguanodon-Vorstellungen (von links oben nach rechts unten):

    Vier Dinosauriermodelle von etwas Leguanähnlichem mit Einhorn über eine Eidechse mit breitem Schädel über ein Kängurudings bis zu einer vegetarischen Variante von T. Rex.
    [1]Für die, die nur noch kleine oder gar keine Floppies mehr kennen: die Schreib-Lese-Köpfe dieser Laufwerke saßen auf einer Art Hebel-Konstruktion, auf der auch der Schrittmotor montiert war, der sie über die Spuren bewegte. Beim Zugriff auf Daten klackte die ganze Moped mit einem ziemlich satten Sound gegen einen Anschlag, was als Headload bezeichnet wurde. Das Booten eines Rechners von Floppy erzeugte so einen für Betriebssystem und Version charakteristischen Schlagzeug-Track; bis heute habe ich CP/M-86 auf dem Siemens PC 16/10 im Ohr…
  • Vom Händeringen und der digitalen Themengestaltung

    Foto: E-Roller auf Sperrfläche auf großer Straße.

    Skandal! Es finden sich einfach nicht genug Menschen, die solche hochnützlichen e-Roller in Nachtschichten einsammeln und aufladen wollen. Das verlangt doch wirklich nach einer profunden Erklärung.

    Zu den öffentlichen Narrativen, die wirklich offensichtlich Bullshit sind, gehört seit mindestens zwanzig Jahren die Rede vom „Fachkräftemangel“ und ganz besonders den „händeringend“ nach Beschäftigten suchenden Unternehmen. Ja – so alt ist das schon, es koexistierte bereits mit den verschiedenen Erzählungen vom „Reformstau“, die zur Durchsetzung der Hartz-Gesetze ersonnen worden sind.

    Ich erinnere mich an eine Gewerkschafts-Veranstaltung um 2005 herum, in der Mitglieder allen Ernstes argumentierten, die wahnsinnige Befristungspraxis an den Universitäten müsste schon wegen des „Fachkräftemangels“ bald ein Ende haben, denn sonst würden die Unis keine Beschäftigten mehr finden. Reality Check nach knapp 20 Jahren:

    Der Anteil der befristet beschäftigten wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sei mit 84 Prozent an den Universitäten und 78 Prozent an den HAW so hoch wie vor der Reform [des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes], sagt [Andreas] Keller[, der im GEW-Hauptvorstand u.a. für Unis zuständig ist.]

    Nicht viel besser sieht es in den meisten Bereichen der Industrie aus – miese Verträge und miese Behandlung des Humankapitals sind selbst in ach-so-Mangel-Bereichen wie, sagen wir, Computerbasteln eher die Regel als die Ausnahme (was erklären hilft, wie die Unis mit ihrem Mist durchkommen). Mag sein, dass es tatsächlich einen Mangel an Menschen gibt, die für wenig Geld viel arbeiten und schon genau das können, was so ein Betrieb haben will. Big deal: Wer die Arbeitskraft anderer Menschen nutzen will, wird sie in aller Regel geeignet zurichten müssen.

    Gäbe es jedoch tatsächlich einen Mangel an fair und sinnvoll beschäftigbaren Menschen, gäbe es keine Befristungsquoten um 80%, und es gäbe keine Qualitätszirkel, Knebelverträge und gute Räte zu Überstunden. Solange hingegen wirklich kreuzüberflüssige und garstige Betriebe wie Lieferdienste (sagen wir, gorillas) oder E-Roller-Anbieter (die Menschen als „juicer“ vernutzen) immer noch menschliche Arbeitskraft in erschreckendem Umfang verschleudern, gibt es ersichtlich keinen Mangel an jedenfalls qualifizierbarem Personal.

    Die zwei Seiten einer Zeitungsseite

    Die Absurdität dieser ganzen Debatte hat in der Wochenendausgabe der taz Volker Surmann in seiner Glosse „Verschluckt vom Erdboden“ schön verarbeitet:

    Die gelernte Naturwissenschaftlerin Schädele klingt deutlich sachlicher, kommt aber zum selben Ergebnis: „Uns ist keine Branche bekannt, die zurzeit nicht händeringend Personal suchte! Wir können daraus nur den einen logischen Schluss ziehen: Wohin auch immer die Menschen sich umorientiert haben, sie sind dort nie angekommen.“

    Großartig.

    Wer das im Netz liest, verpasst allerdings die Punchline. Auf Papier steht der Artikel nämlich Rücken an Rücken mit der Anzeigenseite des Blattes, die dominiert wird von vier Stellenanzeigen der taz selbst. Eine Zeitung, würde mensch naiv erwarten, braucht vor allem Leute, die Artikel schreiben oder vielleicht auch mal korrekturlesen. Klar, Drucker oder Setzerinnen erwartet im Zeitalter langer Lieferketten sicher niemand mehr, aber das, was inzwischen Contentproduktion getauft wurde, das wird doch wohl schon noch im Haus gemacht[1]?

    Oder?

    Ein Kessel Ödnis

    Nun, die taz sucht im Einzelnen:

    1. „Co-Leitung der Anzeigenabteilung“. Ganz ehrlich: Niemand, genau niemand, will Anzeigen verkaufen müssen. Mensch belästigt Leute in anderen Firmen, um die eigenen LeserInnen zu belästigen. Einen deprimierenderen Job kann ich mir kaum vorstellen, vielleicht abgesehen von:
    2. „Print-Online-Akquisiteur*in“. Diese*r soll „kreative Vermarktungsansätze“ ausbrüten, also die anderen Firmen noch penetranter belästigen, vermutlich unter Versprechen, die LeserInnen zu wehrloseren Opfern von Marketingbotschaften zu machen. Gut, in Wahrheit wird sich die Kreativität in engen Grenzen halten sollen, zumal das Ding auf 2 Jahre befristet ist. Trotzdem: der zweite Job, der nichts mit der eigentlichen Aufgabe einer Zeitung zu tun hat.
    3. „Entwickler:in mit Schwerpunkt PHP und Datenbanken“. Immerhin: das dient irgendwo der Verbreitung der Artikel, ist also wenigstens etwas „mit Medien“. Allerdings: „es handelt sich hierbei nicht um Webentwicklung, sondern um die Aufbereitung und Bereitstellung unserer Verlagsprodukte für unsere Apps, als ePaper in verschiedenen Formaten und für unsere Syndikationen.“ Nun… „…produkte“. So richtig nach Zeitung klingt das nicht. Aber immerhin versteht bei der taz offenbar wer was von Computern, denn der/die BewerberIn sollte „gewohnt sein, mit GIT [sic!] und Debian-Paketen zu arbeiten”. Und ich muss offen gestehen: die Seite, über die die taz ihre PDFs und epubs verbreitet, ist klasse: einfach, offen, interoperabel, ressourcensparend. So soll sowas sein. Hoffen wir, dass der/die erfolgreicheR BewerberIn das nicht anfasst.
    4. Schließlich doch noch was, was nach Presse klingt: „Redakteur*in“. Aber dann kommt eine beunruhigende Qualifikation: „für digitale Themengestaltung“. Hu? „Digital“? Was soll diese Person tun? „[A]ktuelle Texte und Themen sowohl print als auch online optimal präsentier[en]“. Wieder keine Artikel schreiben, wieder keine Recherche, wieder keine Reflektion. Stattdessen: „Profunde Interred-Kenntnis“ (ich musste auch erst in der Wikipedia nachsehen: das ist ein proprietäres CMS. Igitt) und „Fähigkeit zur Nutzung weiterer Tools wie Datawrapper“ (das hat es nicht mal in die Wikipedia geschafft [Update 2022-09-19: @ulif@chaos.social hat nachrecherchiert – danke!]).

    Lauter Jobs, die doof sind, sich im Kern ums Belästigen verschiedener Leute drehen und jedenfalls wenig bis nichts mit der Aufgabe einer Zeitung zu tun haben, Informationen zu sammeln, zu verbreiten und einzuordnen: Ich finde es überhaupt nicht überraschend, dass sich für sowas niemand findet, solange die Leute nicht ganz existenziell bedroht sind. Dazu kommt: Würden die hier ausgeschriebenen Arbeiten nicht gemacht, wäre die Welt sicher nicht schlechter. Aber vielleicht besser.

    Bestimmt kommt aber nächste Woche schon wieder jemand und beklagt einen „Fachkräftemangel“. Statt nun das ganze eigentlich auf der Hand liegende Zeug mit sinnlosen Scheißjobs und mieser Behandlung zu erzählen, werde ich in Zukunft einfach meine Lieblingserklärung aus der Suhrmann-Glosse zitieren:

    Mit der Mär von beruflicher Neuorientierung vertusche die Deutschland GmbH nur die [Millionen von] Impftoten. [Der Arbeitsamts-Mitarbeiter] Mulde hakt ein. Wenn das stimme, wo seien dann die ganzen Toten geblieben? „Die wurden alle verbrannt, heimlich, deswegen war es im Sommer so heiß!“

    Zumindest kann mensch diesem Szenario im Vergleich nicht den Vorwurf machen, es sei <gnurk> unterkomplex.

    Nachtrag (2022-09-25)

    Irgendwer vom Neuen Deutschland, ähm, nd, liest hier offenbar mit, denn die inserieren in der aktuellen taz-Wochenendausgabe (hat da der/die AnzeigenaquisiteurIn ganze Arbeit geleistet?) selbst zwei Bullshit-Jobs:

    1. Mitarbeiter*in Social Media
    2. Mitarbeiter*in Marketing und Kommunikation

    Für das Analogon zu (2) der taz-eigenen Ausschreibungen von letzter Woche hat sich übrigens wahrscheinlich wer gefunden, denn die entsprechende Anzeige ist in dieser Woche weg. Um Anzeigenfuzzis auf verschiedenen Hierarchiestufen und PHP-Entwickler:in jedoch ringt die taz immer noch mit den Händen.

    [1]Nun, in diesen Tagen würde ich der taz natürlich besonders die Beschäftigung eineR HistorikerIn ans Herz legen zur Untersuchung, wie es vergleichbar kriegsbegeisterten Blättern nach früheren Kriegen gegangen ist – und ob mensch zur Abwechslung mal nicht fünfzig Jahre verstreichen lässt vor der Einsicht, dass das ganze Sterben und die ganze patriotische Glut völlig umsonst waren. Aber das ist, das gebe ich zu, ein völlig utopischer Traum.
  • Adenauer vs. Ägypten: Frühe Einsichten zur Arbeit

    Vielleicht passe ich gerade nur etwas besser auf, aber mir kommen derzeit besonders viele Fundstücke zum Thema Postwachstum und der Frage der Arbeit unter – die beiden sind ja, so behaupte ich, eng verbunden. Wenn wir nämlich wirklich in eine Gesellschaft übergehen, die den Menschen materielle Sicherheit bei einer minimalen Belastung von Natur und Mensch gewährleistet (und anders wird das wohl nichts mit der „Nachhaltigkeit“, vgl. Meadows ff von neulich), würden wir beim heutigen Stand der Produktivität locker mit zehn Stunden pro Woche Lohnarbeit auskommen – oder halt das, was in so einer Gesellschaft statt Lohnarbeit stattfinden würde.

    Ein Beispiel für das genaue Gegenteil dieser aus meiner Sicht positiven Utopie war im DLF-Kalenderblatt vom 6.8. zu hören. Es erinnerte an die Eröffnung des ersten deutschen Autobahn-Teilstücks durch den Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer. Fans von Volker Kutscher wissen das gleich zeitlich einzuordnen: Es war 1932. Die zentrale Nachricht des DLF-Beitrags sollte wohl sein, dass der postfaschistische Mythos von den Nazi-Autobahnen Quatsch ist. Für mich – da mir die Rubrizierung der Autobahnen als Nazimist eigentlich immer gut gepasst hat – viel eindrücklicher war aber die entspannte Selbstverständlichkeit, mit der der Potsdamer Historiker Ernst Piper in der Sendung die Aussage illustriert, der Autobahnbau sei eine „Maßnahme zur Bekämpfung der damaligen Massenarbeitslosigkeit“ gewesen.

    Deswegen gab es zum Beispiel ja auch die Vorgabe – es galt auch für das kleine Stück, was Adenauer eingeweiht hat, das war dort genauso –, dass Maschinen nicht eingesetzt werden sollten. Es sollte alles, was irgend möglich war, mit Handarbeit erledigt werden, um möglichst viele Leute dort in Lohn und Brot zu bringen.

    Ich finde es schlicht empörend, dass wir wegen der verrückten Religion von „wer nichts arbeitet, soll auch nichts essen“ Leute völlig sinnlos schinden. Mal abgesehen davon, dass netto die Menschheit wahrscheinlich besser dran wäre, wenn es keine Autobahnen gäbe und so die ganze Arbeit besser nicht gemacht worden wäre: Hätte, sagen wir, ein Zehntel der Leute mit ordentlichen Maschinen gearbeitet und die anderen, die da geschunden wurden, derweil vielleicht ein wenig gegärtelt und sich ansonsten ausgeruht, hätte es die Autobahn und wahrscheinlich sogar mehr Essen oder sonstwas Schönes oder Nützliches gegeben.

    Die Schinderei hatte also auch dann überhaupt keinen Sinn, wenn die Autobahn als solche wertvoll gewesen wäre.

    Dass dieser ziemlich ins Sadistische spielene Irrsinn noch nach 90 Jahren nicht zu einem Aufschrei der Empörung angesichts von solchen Mengen mutwilliger Zufügung von Leid führt, sagt, soweit es mich betrifft, viel darüber aus, wie viel Aufklärung noch zu besorgen ist gegen die Marktreligion und ihre Anhängsel.

    Es mag etwas ironisch sein, dass ausgerechnet der Aberglaube im antiken Ägypten in diesem Punkt moderner, ehrlicher, aufgeklärter und nicht zuletzt pragmatischer wirkt. Gelernt habe ich das aber erst gestern, als ich im hessischen Landesmuseum in Darmstadt folgende Exponate sah:

    Jede Menge Tonfiguren in einer Glasvitrine

    Diese Tonfiguren sind Uschebtis. Zu deren Funktion erklärt die Wikipedia in Übereinstimmung mit den Angaben des Museums:

    Wurde der Verstorbene nun im Jenseits zum Beispiel dazu aufgerufen, die Felder zu besäen oder die Kanäle mit Wasser zu füllen, so sollte der Uschebti antworten: „Hier bin ich.“ (6. Kapitel des Totenbuches). Damit der Uschebti die dem Toten aufgetragene Arbeit, insbesondere Feldarbeit, verrichten konnte, wurden ihm in älterer Zeit kleine Modelle der Geräte mitgegeben, die der Uschebti in den Händen hielt. In späterer Zeit wurden die Geräte auf die Figuren gemalt.

    Ist das nicht großartig? Wie wenig ÄgypterInnen mit der modernen (und nein, Herr Weber, nicht nur protestantischen) Arbeitsmoral anfangen konnten, lässt sich an der Unmenge von Uschebtis ablesen, die wir noch nach 3000 Jahren finden. Die Museums-Leute haben erzählt, die Dinger seien im 19. Jahrhundert sehr populäre Mitbringsel von Ägypten-Urlauben gewesen, denn sie seien eigentlich überall zu finden gewesen.

    Klar, außerhalb ökonomischer Diskussionen sind sich auch heute alle einig, dass Lohnarbeit stinkt – vgl. die „Endlich Freitag“-Spots der ARD –, aber kaum zwei Ecken weiter kommt doch wieder die fast nie öffentlich in Frage gestellte Gegenunterstellung, ein Leben ohne Lohnarbeit müsse traurig und sinnlos sein (wäre das so, würde das, wie schon Bertrand Russell bemerkt hat, ein sehr schlechtes Licht auf unser Bildungssystem werfen). Zumindest diesen Unfug hat es schon im ägyptischen Totenbuch nicht mehr gegeben.

    Dass wir 4500 Jahre nach dessen ersten Anfängen wieder Mühe haben, diese Dinge klar zu kriegen, zeigt erneut, dass der Prozess der Zivilisation schwierig ist und es immer wieder Rückschläge gibt.

    Übrigens will ich natürlich mitnichten zurück zu ägyptischen Praktiken. Abgesehen davon, dass die Herstellung der Uschebtis zweifellos in die Klasse der wirtschaftlichen Aktivitäten fällt, deren Einstellung die Welt besser gemacht hätte: Die Sitte, die zunächst so sympathisch wirkt (solange mensch nicht ans Totenreich oder jedenfalls die Leidensfähigkeit von Tonfiguren glaubt), hat sich im Laufe der Jahrhunderte in Weisen entwickelt, die an moderne Freihandelszeiten erinnert. Nochmal die Wikipedia:

    Während es in der 18. Dynastie meist nur einzelne Exemplare waren, konnte die Anzahl in der Spätzeit weitaus höher sein. [...] Ab dem Ende der 18. Dynastie, vom Höhepunkt des Neuen Reiches bis zu den Ptolemäern, wurden sie durch Aufseherfiguren ergänzt [...] Der Aufseher hatte zu überwachen, dass der Uschebti die Arbeiten ordnungsgemäß durchführte. Er wurde dafür mit Stock und Peitsche ausgeführt.
  • Bertrand Russell und die Faulheit

    Als ich angefangen habe, an diesem Blog zu schreiben, wollte ich eigentlich regelmäßig über den Wahnsinn ranten, dass wir Unmengen Plunder und „Dienstleistungen“ herstellen, ohne die die Welt eigentlich besser wäre, und dafür sowohl uns selbst als auch den Planeten furchtbar stressen. Wenn ich jetzt sehe, was ich wirklich unter dem Tag Faulheit geschrieben habe: Am Schluss gab es doch immer andere Themen.

    Unterdessen war am 18. Mai der 150. Geburtstag von Bertrand Russell, von dem hier verschiedentlich schon die Rede war, allerdings eher im Zusammenhang mit seiner Philosophiegeschichte und weniger aufgrund seiner Arbeiten an den Grundlagen der Mathematik, seiner zähen Arbeit gegen religiösen Wahn oder seines pazifistischen Elans[1]; mit all dem hat mich Russell schon sehr lange begeistert.

    Erst im Portrait von Russell in SWR2 Wissen am 13.5. (Audio lohnt sich: Russell spricht selbst, Englisch und Deutsch!) jedoch erfuhr ich, dass er mal wegen Aufruf zu Widerstand gegen die Staatsgewalt im Gefängnis saß (zudem im Alter von 89 Jahren) – und, dass er schon 1932 die zornige Diatribe gegen den Unsinn exzessiver Lohnarbeit geschrieben hat, die ich für diesen Blog vorgesehen hatte.

    Sind wir 90 Jahren später klüger?

    Allerdings schrieb Russell seinen kleinen Aufsatz auf dem Höhepunkt der Großen Depression, also unter fantastischen Arbeitslosenraten, und so unterscheidet sich seine Analyse schon in vielem von meiner; der wichtigste Punkt wäre wohl, dass Russell in erster Linie die vorhandene Arbeit gleichmäßiger verteilen wollte, während ich, 90 Jahre später, überzeugt bin, dass die Gesamtmenge an Arbeit drastisch reduziert werden muss und kann, um den allgemeinen Wohlstand zu heben. Aber wir haben eben auch 90 Jahre Produktivitätssteigerung trotz Übergangs in die „Dienstleistungsgesellschaft“ hinter uns, und Russell konnte nichts von Indexfonds, Fidget Spinnern, SAP, SUVs, Nagelstudios, Bundesligafernsehen, Rechteverwertungsgesellschaften, Flimmerwände, TikTok und all dem anderen bunten Mist wissen, mit dem wir uns heute das Leben gegenseitig schwer machen.

    Russells Essay „In Praise of Idleness“ ist beim Web Archive zu haben (fragt mich nicht, wie das gerade mal 50 Jahre nach Russells Tod trotz Contentmafia zugeht; schlechter auf Deutsch), und wo ich ihn schon gelesen habe, möchte ich ein paar der schöneren Zitate hier versammeln, zumal seine Argumente inzwischen vielleicht unvollständig, sicher aber nicht falsch sind. Die Übersetzungen sind jeweils von mir.

    Russell fängt mit etwas an, das zwar zu lang ist, um ein gutes Gaffito zu machen, und vielleicht klingt „rechtschaffen“ („virtuous“) ein wenig angestaubt. Ich würde damit dennoch jeden Tag auf eine Fridays For Future-Demo gehen:

    Ich glaube, dass viel zu viel Arbeit getan wird in der Welt, und dass der Glaube, Arbeit sei rechtschaffen, unermesslichen Schaden anrichtet [...]

    Ursprüngliche Gewalt

    Im Weiteren leitet Russell die „Arbeitsethik“ in etwa dadurch ab, dass früher mal Krieger die Leute, die die Arbeit gemacht haben, nicht dauernd mit Gewalt zwingen wollten, sie zu füttern. Russell, der ja Kommunist gewesen war, bis er Lenin getroffen hat, waren gewiss die Parallelen zu Marx' ursprünglicher Akkumulation[2] bewusst; ich frage mich ein wenig, warum er darauf nicht wenigstens kurz anspielt.

    Und dann kommt seine scharfe Beobachtung, dass es während des ersten Weltkriegs mit all seiner völlig destruktiven Verschwendung den ArbeiterInnen im UK eigentlich besser ging als in Zeiten ganz normalen Wirtschaftens:

    Trotz all [der Verschwendung aufs Töten] war das generelle Wohlstandsniveau der ungelernten LohnarbeiterInnen auf der Seite der Alliierten höher als davor oder danach. Die tatsächliche Bedeutung dieser Tatsache wurde durch Finanzpolitik versteckt: Die Kriegsanleihen ließen es so aussehen, als würde die Zukunft die Gegenwart ernähren. Aber das ist natürlich unmöglich; ein Mensch kann keinen Brotlaib essen, der noch nicht existiert.

    Diese Argumentation zeigt in der anderen Richtung übrigens den Unsinn (oder die Fiesheit) kapitalgedeckter Rentenversicherungen: Wenn in 50 Jahren niemand mehr Brot backt, wird es für all das angesparte und zwischenzeitlich zerstörerische Kapital kein Brot zu kaufen geben – über diesen spezifischen Wahnsinn hatte ich es schon kurz im letzten April.

    In diesem speziellen Fall würde ich Russell allerdings fragen wollen, ob das ähnlich auch für die britischen Kolonien galt; einige indische Hungersnöte im Megaopferbereich fallen durchaus in die verschiedenen Kriegszeiten, und ich vermute, Russell sieht hier zu guten Stücken lediglich die während Kriegen erheblich größere Kampfkraft nicht allzu patriotischer Gewerkschaften reflektiert.

    Philosophie und Sklavenhaltung

    Wenig später folgt ein weiteres Bonmot, wenn Russell zunächst die immer noch herrschende Ideologie erklärt:

    Warum [sollten Leute ohne Lohnarbeit verhungern und die anderen furchtbar lang arbeiten]? Weil Arbeit Pflicht ist, und Menschen nicht im Verhältnis zu dem bezahlt werden sollen, was sie herstellen, sondern im Verhältnis zu ihrer Tugendhaftigkeit, wie sie durch ihren Fleiß unter Beweis gestellt wird.

    Das ist die Moralität des Sklavenstaates, angewandt auf Umstände, die völlig verschieden sind von denen, unter denen sie entstand.

    Ich merke kurz an, dass Russell als Philosoph dem antiken Sklavenstaat durchaus etwas abgewinnen konnte, denn ohne die Arbeit all der SklavInnen hätten Thales und Demokrit wohl keine Muße gehabt, ihren von Russell sehr geschätzten Gedanken nachzuhängen. Dabei ist er gar nicht so furchtbar darauf fixiert, dass die Leute in ihrer Muße dringend philosophieren[3] müssen:

    Es wird der Einwand kommen, dass, wenn auch ein wenig Muße angenehm ist, die Leute nicht wüssten, mit was sie ihre Tage füllen sollen, wenn sie nur vier Stunden von ihren vierundzwanzig arbeiten müssen. Soweit das in unserer modernen Welt wirklich zutrifft, ist es eine Verdammung unserer Zivilisation; es war jedenfalls in keiner vorherigen Epoche wahr. Es hat vor uns eine Fähigkeit gegeben für Freude und Spiel, die in gewissem Maß von unserem aktuellen Kult der Effizienz gehemmt wird. Der moderne Mensch denkt, dass es für jede Tätigkeit einen Grund außerhalb ihrer selbst geben müsse, dass Dinge nie um ihrer selbst willen getan werden dürfen.

    Die lahmeren Einwände gegen das bedingungslose Grundeinkommen kamen also auch damals schon. Ich stimme Russells Entgegnug aus diesem Absatz herzlich zu, auch wenn er wie ich auch nicht widerstehen kann, kurz darauf von einer generellen Begeisterung für Wissenschaft zu träumen:

    In einer Welt, in der niemand gezwungen ist, mehr als vier Stunden pro Tag zu arbeiten, wird jede Person, die die wissenschaftliche Neugier packt, sich dieser hingeben können, und alle MalerInnen werden malen können, ohne zu verhungern, gleichgültig, wie großartig ihre Bilder sein mögen.

    Nun… Bis zum Beweis des Gegenteils glaube ich fest daran, dass eine Gesellschaft mit minimalem Lohnarbeitszwang eine Gesellschaft von BastlerInnen und Amateurastronominnen sein wird. Schaun wir mal.

    Krieg ist viel Arbeit

    Ich kann dieses Best-of aus Russells Artikel nicht ohne seine Brücken zum Kriegführen beenden. Krieg erwähnt er, wenn er Techniken diskutiert, die die Übersetzung von Produktivitätsfortschritten in weniger Arbeit verhindern:

    Wenn sich alle diese Methoden als unzureichend herausstellen, machen wir Krieg; wir lassen ein paar Leute Explosivstoffe herstellen und ein paar andere diese zünden, ganz als wären wir Kinder, die gerade Feuerwerk entdeckt haben.

    Und dann sagt er in der Abteilung Utopie:

    [Wenn die Leute nicht mehr so wahnsinnig viel arbeiten,] wird der der Hunger nach Krieg aussterben, teils aus diesem Grund [weil die Leute netter und weniger misstrauisch wären] und teils, weil Krieg viel und schwere Arbeit mit sich bringen würde.
  • Genf vs. die Dauerbeflimmerung

    Foto: Werbedisplay über großer Autostraße

    Auch die Stadt Heidelberg – die in der Altstadt noch nicht mal Dachfenster erlaubt, damit vom Schloss aus alles ordentich aussieht – lässt die Werbefritzen von Ströer Dauerbeflimmerung ausrollen, hier an der Kreuzung Berliner-Jahnstraße, wo es wirklich nur eine Frage der Zeit ist, bis das Gezappel auf dem Bildschirm mal wen so ablenkt, dass er/sie sich oder wen anders kaputtfährt.

    Während die Bahn papiergewordene Cookiebanner verschickt, gibt es an vielen anderen Stellen offenbar durchaus Hoffnung, zumindest ein bisschen weniger menschliche Kreativität und Zeit (von Energie und Rohstoffen ganz zu schweigen) in die Belästigung der Allgemeinheit (etwas beschönigend auch „Werbung“ genannt) fließen zu lassen. So berichtet der DLF-Hintergrund vom 13.4.2022 aus Genf, die dortige Stadtverwaltung wolle ab 2025 alle Plakatwände und vor allem ihre besonders aufdringlichen elektronischen Geschwister abbauen lassen. Das Radiofeature gibt Beispiele für gelungenes, wenn auch weniger ambitioniertes, Zurückdrängen von Außenwerbung: die Stadtverwaltung von São Paulo hat bereits 2007 15'000 Plakatwände demontieren lassen, in Grenoble wurden 2014 immerhin 300 davon durch Bäume ersetzt.

    „Werbefrei für die Freiheit“

    —nicht J. Gauck

    Der DLF lässt weiter Menschen von der Initiative Hamburg Werbefrei zu Wort kommen, über deren Kampf speziell gegen die die leuchtenden und zappelnden Groß- und Riesenbildschirme auch die taz berichtet. Obszöne 45000 kWh Strom im Jahr verpulvert so ein Ding, also etwas wie 5 Kilowatt. Während ich das als „etwa so viel wie ein dauernd fahrendes kleines Auto“ (oder auch: 50 ordentlich reintretende RadlerInnen) umschreiben würde[2], übersetzt es der Aktivist im DLF-Interview das als „fast so viel wie 30 Einpersonenhaushalte“. Die taz hingegen schreibt „wie 15 Zweipersonenhaushalte“[1]. Angesichts solcher Zahlen wäre ich fast versucht, mich des grassierenden Patriotismus ausnahmsweise mal für gute Zwecke zu bedienen: „Werbefrei für die Freiheit“.

    Der taz-Artikel zitiert den Vorsitzenden der Grünen-Fraktion in Hamburg, Dominik Lorenzen, mit den Worten: „Es gibt in der Stadt [sc. Hamburg] eine gute Balance zwischen Werbeflächen und Platz für die Menschen“, was ich schon bemerkenswert finde; der Mann erkennt zwar an, dass Werbung schlecht für die Menschen ist, räumt ihr aber dennoch irgendeine Art von Rechten ein, die mit den Interessen der BewohnerInnen seiner Stadt auszubalancieren sei. Könnte ich ausgeschrieben haben, welcher Natur diese Rechte wohl sein könnten? Ich hoffe nur, dass mein Spamfilter legal bleibt…

    Foto: ein halbes Dutzend Plakatständer auf einem Haufen.

    Dieses Plakat-Ensemble (gleich neben dem Display von oben in der Heidelberger Jahnstraße) wäre nach den versprochenen Genfer Regeln noch ok: A0-Plakate, meist für Kultur oder, na ja, Bildungsveranstaltungen.

    Üblicher ist demgegenüber die Argumentation von Verkehrssenator Tjarks, die die Belästigung der Öffentlichkeit mit städtischen Einnahmen von 27 Millionen Euro (im Jahr 2020) rechtfertigt. Im DLF-Beitrag wird, im Gegensatz zum taz-Artikel, allerdings darauf hingewiesen, dass gerade neue Verträge geschlossen wurden, die den öffentlichen Raum billiger verhökern. In Genf soll die Stadt durch die Planungen viereinhalb Millionen Euro weniger einnehmen. Gegengerechnet: beide Kommunen verkloppen Stadtbild und Nerven der BewohnerInnen für recht einheitlich um die 20 Euro pro Nase und Jahr.

    Zahlen dieser Art dürften auch hinter der sehr schmallippigen Kommunikation stecken, mit der der werbeindustrielle Komplex AktivistInnen in Hannover gerade auflaufen lässt. Dort liegen offenbar 50 Bauanträge vor zur Ausweitung der Dauerwerbe-Beflimmerung (großartiger Begriff aus dem verlinkten Post) durch den Werbekonzern Ströer, Stadt wie Firma (die seit einem Jahr oder so übrigens auch t-online.de betreibt) mauern bezüglich der Details.

    Eine Schote bei der ganzen Geschichte: Nachdem die Aktivistis auf die Ströer-Übersicht zu Werbeanlagen in Hannover gelinkt hatten, um das Ausmaß des Problems zu illustrieren, wurde es Ströer selbst zu peinlich; jetzt ist da nur noch ein 404 („Sie haben womöglich eine falsche oder alte URL aufgerufen“), und leider hilft auch die Wayback-Maschine nicht. Indes ist allzu viel Fantasie nicht nötig, sich 4600 Werbeträger von Ströer in einer Stadt mit 540'000 EinwohnerInnen vorzustellen. In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung müssen damit je rund 100 Menschen eines von diesen Teilen bezahlen.

    Auch in Genf schlägt die Reaktion zurück. Ein „ideologischer Bulldozer“ sei es, die öffentliche Belästigung reduzieren zu wollen, „Zensur in Sowjetmanier“, die, und mit derart verdrehten Argumenten wollen allerlei Rechtsparteien und -verbände eine Volksabstimmung gewinnen, auch zu „weniger Umsatz“ in den Geschäften führen wird, weshalb „Arbeitsplätze verloren“ gehen werden.

    Ich bin immer ganz fassungslos, wenn ich solche Argumentoide höre. An sich ist die Situation nach dem Genfer Modell doch ganz klar: Wir belästigen die Leute weniger, was ja ein großer Vorteil ist. Und dafür müssen wir weniger arbeiten, was ja auch ein großer Vorteil ist. Wie könnte da jemand was dagegen haben?

    Die deutschen Werbefritzen sagen, sie hätten einen Anteil am BIP von 1.3% (sie sprechen von „Marktvolumen“). Rechnen wir die Arbeit ein, die es fürs Aufräumen hinter diesen Leuten braucht, und noch weitere Mühe im näheren Umfeld dieses Geschäfts, sind 2% weniger Arbeit ohne Werbung durchaus realistisch. Das wäre, wenn das auf alle Menschen gleichmäßig verteilt wird, ungefähr eine Stunde weniger Lohnarbeit.

    Wäre das nicht klasse? Kein doofen Blinketafeln mehr und am Freitag eine Stunde früher heimgehen?

    [1]Wer auch immer da gerechnet hat, hat ohnehin falsch gerechnet, denn zwei Leute, die einen Haushalt teilen, werden in aller Regel weit weniger Strom verbrauchen als zwei, die jeweils alleine wohnen. Das ist schon deshalb praktisch unausweichlich, weil die Dauerverbraucher Router und Kühlschrank einfach bzw. doppelt vorhanden sind. Da die 1500 kWh pro Einpersonenhaushalt so in etwa auch bei den EWS-Leuten auf ihren Rechnungen stehen, wird das wohl schon so in etwa hinkommen. Allerdings: In meinem Zweipersonenhaushalt wird sogar Essen und Wasser mit Strom erhitzt, und trotzdem kommen wir insgesamt bei 1300 kWh/Jahr raus. Insofern frage ich mich immer ein wenig: Was machen die Leute alle mit ihrem Strom?
    [2]

    Die Wikipedia sieht in einem Mitsubishi-Kleinwagen einen Elektromotor mit etwa 50 kW Leistung, aber das ist ganz offensichtlich eine Überdimensionierung. Mit 50000 Joule kann mensch gemäß E = mgh (die potentielle Energie ist Masse mal Erdbeschleunigung mal Höhe), ausrechnen, dass so ein Motor eine Tonne

    50000  J ⁄ (1000  kg⋅9.81  m/s2) ≈ 5  m

    in die Höhe bringen kann – und das jede Sekunde ein Mal.

    Stellt euch mal kurz eine Tonne irgendwas vor, und dann, was passiert, wenn mensch die fünf Meter runterfallen lässt. Ihr ahnt, was das für Urgewalten wären. Umgekehrt wird als Reichweite für die Kiste 160 Kilometer genannt, was ich für Zwecke der Überschlagsrechnung in eine Betriebsdauer von drei Stunden übersetze. Bei einer Batteriekapazität von ungefähr 15 kWh ergeben sich dann zwanglos die 5 kW mittlere Leistung bei einem Kleinwagen ohne Klimaanlage.

  • Sicherheit, die wirklich niemand will

    Ich habe nie viel von dem Gerede von der „Balance von Sicherheit und Freiheit“ gehalten – so würde ich etwa behaupten, dass ohne eine gewisse soziale Sicherheit Freiheit ein recht hohler Begriff wird. Wer, sagen wir, unter permanenter Drohung durch die Hartz IV-Kautelen lebt, hat zumindest nicht mehr die Freiheit, sinnlose und miese Arbeit (Call Center, Lieferdienste, Burgerflippen) abzulehnen. Wenn nun die Gesellschaft auf absehbare Zeit nicht vom Arbeitszwang wegkommt, sind vermutlich nicht viele Zwänge (ja: Einschränkungen von Freiheit) demütigender als eine Lohnarbeit tun zu müssen, ohne einen Sinn in ihr zu sehen oder wenigestens Spaß an ihr zu haben.

    Aber gut: Die Leute, die gerne vom Widerspruch zwischen Freiheit und Sicherheit reden, haben sicher keine Freiheit zur Faulheit im Sinn, sondern eher die Freiheit, sich anderer Menschen zur eigenen Bereicherung zu bedienen. Auch ihre Sicherheit ist eine ganz andere als die von Existenz und Obdach. Ihre Sicherheit ist ziemlich genau das, das von Polizei, Militär und Überwachungstechnologie hergestellt, genauer: erzwungen werden kann. Erst bei diesem Erzwingen wird der Widerspruch von Freiheit und Sicherheit unausweichlich; er hängt damit aber klar an einem genz spezifischen Begriff von Sicherheit, den, wird er explizit gemacht, wohl nicht viele Menschen teilen werden.

    Ein gutes Beispiel, dass häufig gerade die „Geschützten“ diese Sorte Sicherheit gar nicht haben wollen, gab es am 24. Oktober im Hintergrund Politik des DLF: Jedenfalls offiziell zum „Schutz“ der auf Samos gestrandeten Geflüchteten findet im dort neu errichteten Lager eine strikte Eingangskontrolle statt. Die ist aber nur bis 20 Uhr besetzt. Das Lager ist außerdem am Ende der Welt, so dass Stadtausflüge am Nachmittag riskant werden. Ein Geflüchteter berichtet in der Sendung:

    Ich brauche [für den Weg zurück aus der Stadt] eine Stunde und 20 Minuten. Aber wenn du es nicht rechtzeitig zurückschaffst, lassen sie dich nicht mehr rein. Das ist mir schon passiert. Ich musste die ganze Nacht draußen verbringen. Im alten Camp haben wir zwar im Zelt gelebt, aber wir hatten unsere Freiheit.

    Grob in den Bereich passt etwas, auf das ich seit Wochen linken wollte, weil es wirklich lesenswert ist, nämlich die Stellungnahme von Amnesty International zum neuen Versammlungsgesetz in NRW. Ich glaube zwar nicht, dass irgendwer ernsthaft versucht, diesen Gesetzentwurf mit „Sicherheit” zu begründen. Es geht recht offensichtlich durchweg nur um autoritären Durchgriff („öffentliche Ordnung“). Dafür ist der Abbau von Grundrechten, die die Voraussetung von „Freiheit“ in jedem nicht völlig verdrehtem Sinn sind, hier aber auch besonders greifbar.

    Das sage nicht nur ich aus meiner linksradikalen Ecke. Selbst die sonst ja eher zurückhaltenden Leute von ai reden Klartext:

    Mit der Distanzierung von der Brokdorf-Entscheidung distanziert sich der Gesetzentwurf daher nicht nur von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch von international verbindlichen Menschenrechtsstandards.

    Wie gesagt: Lohnende Lektüre für alle, die noch gerne einen Unterschied hätten zwischen den viel geschmähten „autokratischen Regimes“ und ihren eigenen Regierungen. Oder, sagen wir, den Verhältnissen in Spanien. Oder denen in Hessen.

  • Schulkinder sind gruselig

    Die Überschrift hätte ich mich nicht getraut, wenn sie nicht schon im Deutschlandfunk gelaufen wäre, in einer Sendung über einen Lauschangriff auf Lachse.

    Aber wo Christine Westerhaus es in dem Beitrag schon gesagt hat, konnte ich einer neuen Tiergeschichte nicht widerstehen: Von Lachsen und Eltern. Aktualität gewinnt das, weil ich klar nicht der Einzige bin, dem es etwas merkwürdig vorkommt, wie fast alle Eltern auf der einen Seite ostentativ darauf bestehen, ihre Kinder seien ihr Ein und Alles, auf der anderen Seite aber die Große Kinderverdrossenheit von Corona ganz öffentlich zelebrieren. Mal ehrlich: Wäre ich jetzt Kind, wäre ich angesichts des herrschenden Diskurses von geschlossenen Schulen als etwas zwischen Menschenrechtsverletzung und Katastrophe schon etwas eingeschnappt.

    Allerdings: vielleicht ist das ja gar keine Kinderverdrossenheit, sondern Verdrossenheit mit der Lohnarbeit, auf die mensch aber noch weniger schimpfen darf als auf die Kinder?

    Wie auch immer, ernsthaft beunruhigt waren Lachse am NINA in Trondheim, als eine Klasse lärmender Kinder um ihr Aquarium herumtobte. Und dieses Mal sind sie belauscht worden. So klingen vergnügte Lachse:

    Und so welche mit tobenden Kindern:

    Wie es in der Sendung heißt: „They think school kids are scary.“ Sie. Die Lachse.

    PSA: Wenn euer Browser keine Lachstöne abspielt, beschwert euch bei dessen Macher_innen: Ogg Vorbis sollte im 3. Jahrtausend wirklich alles dekodieren können, was Töne ausgibt.

  • Kurze Biographien

    Ich lese gerade recht viele der Biographien der Menschen, an die in Heidelberg Stolpersteine erinnern, und dabei ist mir eins ganz besonders aufgefallen: In dieser Zeit war die Ehe offenbar in der Regel das effektive Ende des erzählenswerten Lebens einer Frau.

    Während es nämlich durchaus viele bunte und schon rein vom Text her lange Biographien unverheirateter Frauen gibt – ich erwähne hier nicht erschöpfend Johanna Geißmar, die Schwestern Hamburger, Leeni Preetorius oder natürlich Elise Dosenheimer –, beschränken sich die Geschichten von verheirateten Frauen praktisch durchweg auf geboren, geheiratet, Kinder gekriegt (oder nicht) – und dann entweder deportiert und ermordet oder eben geflohen. Das geht so von den eher wohlhabenden Hochherrs über die kleinbürgelichen Deutschs bis hin zu den intellektuellen von Waldbergs und ändert sich allenfalls für die Sozialdemokratin Käthe Seitz. Bei den meisten der Biographien ist es eher noch ärger als bei diesen Beispielen.

    Nun ist es wahrscheinlich, dass in dem Befund etwas historigraphischer Bias reflektiert ist (also: Was wird überliefert?). Andererseits hat eine Ehe die Möglichkeiten von Frauen tatsächlich drastisch eingeschränkt, bis hin zu Trivialitäten wie einer Kontoeröffnung, und die praktische Erwartung war wohl in aller Regel, dass sie in ihren ehelichen Pflichten aufgingen.

    Was mich daran gerade wirklich verblüfft: Gemäß praktisch der gesamten Literatur (in der es wenig Schlimmeres zu geben scheint als „alte Jungfer“ zu werden) und auch anekdotischer Überlieferung war die Heirat, die „gute Partie“ wesentlichstes Lebensziel der breiten Mehrheit der Frauen von damals. Klar, auch da dürfte die Geschichtsschreibung etwas verzerren. Ganz gegen die tatsächlichen Erzählungen von damals dürfte sie aber nicht stehen.

    Doch wahrscheinlich sollte ich mich nicht sehr wundern. Denn auch heute gibt es offenbar einen relativ breiten gesellschaftlichen Konsens für Dinge, die ganz offenbar im Konflikt mit den Interessen der allermeisten Mitglieder des Gesellschaft stehen: Autopolitik natürlich (will eigentlich wirklich irgendwer täglich Stunden in einem stinkenden Blechkäfig verbringen und endlos Krach machen?), oder die Privatisierung der Rentenversicherung (die für eine deutlich ungleichere Verteilung des für Alte bereitgestellten gesellschaftlichen Reichtums und ansonsten über Quatsch-Investments der Rentenfonds noch für Shopping-Malls überall sorgt), oder halt den ganz fundamentalen Wahnsinn, bei dem der Abbau von Arbeitsplätzen („weniger Leute müssen ihre Zeit mit Zeug verbringen, den sie gar nicht tun wollen“) als gesellschaftliche Katastrophe empfunden wird.

    Oh, falls das nicht offensichtlich ist: Klar kann es eine persönliche Katastrophe sein, gefeuert zu werden. Solange aber vorher und nachher gleich viel hergestellt wird, gilt das nur, weil wir die Warenverteilung an Lohnarbeit gekoppelt haben, und das ist eine Wahl, die wir als Gesellschaft auch anders vornehmen können. Und sollten, in Zeiten, in denen die Produktion so wenig Arbeit braucht, dass, wie David Graeber so treffend beobachtet, Bullshit Jobs die Regel geworden sind.

  • Tintenfische und der Erfolg im Leben

    Ein Oktopus im Porträt

    Gut: Es ist keine Sepie. Aber dieser Oktopus ist bestimmt noch viel schlauer.

    Mal wieder gab es in Forschung aktuell ein Verhaltensexperiment, das mich interessiert hat. Anders als neulich mit den Weißbüschelaffen sind dieses Mal glücklicherweise keine Primaten im Spiel, sondern Tintenfische, genauer Sepien – die mir aber auch nahegehen, schon, weil das „leerer Tab“-Bild in meinem Browser eine ausgesprochen putzige Sepie ist. Den Beitrag, der mich drauf gebraucht hat, gibt es nur als Audio (1:48 bis 2:28; Fluch auf die Zeitungsverleger), aber dafür ist die Original-Publikation von Alexandra Schnell et al (DOI 10.1098/rspb.2020.3161) offen.

    Grober Hintergrund ist der Marshmallow-Test. Bemerkenswerterweise zitiert der Wikipedia-Artikel bereits die Sepien-Publikation, nicht jedoch kritischere Studien wie etwa die auf den ersten Blick ganz gut gemachte von Watts et al (2018) (DOI: 10.1177/0956797618761661). Schon dessen Abstract nimmt etwas die Luft aus dem reaktionären Narrativ der undisziplinierten Unterschichten, die selbst an ihrem Elend Schuld sind:

    an additional minute waited at age 4 predicted a gain of approximately one tenth of a standard deviation in achievement at age 15. But this bivariate correlation was only half the size of those reported in the original studies and was reduced by two thirds in the presence of controls for family background, early cognitive ability, and the home environment. Most of the variation in adolescent achievement came from being able to wait at least 20 s. Associations between delay time and measures of behavioral outcomes at age 15 were much smaller and rarely statistically significant.

    Aber klar: „achievement“ in Zahlen fassen, aus denen mensch eine Standardabweichung ableiten kann, ist für Metrikskeptiker wie mich auch dann haarig, wenn mich die Ergebnisse nicht überraschen. Insofern würde ich die Watts-Studie jetzt auch nicht überwerten. Dennoch fühle ich mich angesichts der anderen, wahrscheinlich eher noch schwächeren, zitierten Quellen eigentlich schon aufgerufen, die Wikipedia an dieser Stelle etwas zu verbessern.

    Egal, die Tintenfische: Alexandra Schnell hat mit ein paar Kolleg_innen in Cambridge also festgestellt, dass Tintenfische bis zu zwei Minuten eine Beute ignorieren können, wenn sie damit rechnen, später etwas zu kriegen, das sie lieber haben – und wie üblich bei der Sorte Experimente ist der interessanteste Teil, wie sie es angestellt haben, die Tiere zu irgendeinem Handeln in ihrem Sinn zu bewegen.

    Süß ist erstmal, dass ihre ProbandInnen sechs Tintenfisch-Jugendliche im Alter von neun Monaten waren. Die haben sie vor einen Mechanismus (ebenfalls süß: Die Autor_innen finden den Umstand, dass sie den 3D-gedruckt haben, erwähnenswert genug für ihr Paper) mit zwei durchsichtigen Türen gesetzt, hinter denen die Sepien jeweils ihre Lieblingsspeise und eine Nicht-so-Lieblingsspeise (in beiden Fällen irgendwelche ziemlich ekligen Krebstiere) sehen konnten. Durch irgendwelche Sepien-erkennbaren Symbole wussten die Tiere, wie lange sie würden warten müssen, bis sie zur Leibspeise kommen würden, zum langweiligen Essen konnten sie gleich, und sie wussten auch, dass sie nur einen von beiden Ködern würden essen können; dazu gabs ein recht durchdachtes Trainingsprotokoll.

    Na ja, in Wirklichkeit wars schon etwas komplizierter mit dem Training, und ahnt mensch schon, dass nicht immer alles optimal lief:

    Preliminary trials in the control condition showed that Asian shore crabs were not a sufficiently tempting immediate reward as latencies to approach the crab, which was baited in the immediate-release chamber, were excessive (greater than 3 min) and some subjects refused to eat the crab altogether.

    Ich kann mir richtig vorstellen, wie die Gruppe vor dem Aquarium stand und fluchte, weil die doofen Viecher ihre Köder nicht schlucken wollten: „Wie zum Henker schreiben wir das nachher ins Paper?“ – um so mehr, als alle Sepien konsequent die gleichen Präferenzen hatten (was ich ja auch schon für ein bemerkenswertes Resultat halte, das bei n=6 und drei Auswahlmöglichkeiten kaum durch Zufall zu erklären ist – vielleicht aber natürlich durch das, was die Sepien sonst so essen).

    Und dann wieder Dinge in der Abteilung „was alles schiefgehen kann, wenn mensch mit Tieren arbeitet“:

    Subjects received one session of 6 trials per day at a specific delay. This number of trials was chosen to minimize satiety and its effects on eating behaviour.

    Schon die Abbildung 2 des Artikels finde ich wirklich erstaunlich: Alle Sepien bekommen es hin, 30 Sekunden auf ihre Lieblingsspeise zu warten – wow. Ok, kann natürlich sein, dass sie so lange brauchen, um sich zu orientieren, aber Schnell und Co scheinen mir schon viel getan zu haben, um das unwahrscheinlich zu machen.

    Was jedenfalls rauskommen sollte, war eine Korrelation der Wartezeit mit, na ja, der „Intelligenz“ (ich halte mich raus bei der genaueren Bestimmung, was das wohl sei), und um die zu messen, mussten die Sepien in ihren Aquarien zunächst lernen, das „richtige“ unter einem dunklen und einem hellen Stück Plastik aussuchen. Anschließend, das war der Intelligenztest, mussten sie mitbekommen, wenn die Versuchsleitung die Definition von „richtig“ verändert hat. Dazu haben sie laut Artikel im Mittel 46 Versuche gebraucht – gegenüber 27 Versuchen beim ersten Lernen. Nicht selbstverständlich auch: Sepien, die beim ersten Lernen schneller waren, waren auch schneller beim Begreifen der Regeländerung. Da ist Abbildung 3 schon ziemlich eindrücklich: einer der Tintenfische hat das Umkehrlernen in gut 20 Schritten bewältigt, ein anderer hat fast 70 Schritte gebraucht. Uiuiui – entweder haben die ziemlich schwankende Tagesform, oder die Gerissenheit von Sepien variiert ganz dramatisch zwischen Individuen.

    Die erwartete Korrelation kam selbstverständlich auch raus (Abbildung 4), und zwar in einer Klarheit, die mich schon etwas erschreckt angesichts der vielen Dinge, die beim Arbeiten mit Tieren schief gehen können; der Bayes-Faktor, den sie im Absatz drüber angeben („es ist 8.83-mal wahrscheinlicher, dass Intelligenz und Wartenkönnen korreliert sind als das Gegenteil“) ist bei diesem Bild ganz offensichtlich nur wegen der kleinen Zahl der ProbandInnen nicht gigantisch groß. Hm.

    Schön fand ich noch eine eher anekdotische Beobachtung:

    [Andere Tiere] have been shown to employ behavioural strategies such as looking away, closing their eyes or distracting themselves with other objects while waiting for a better reward. Interestingly, in our study, cuttlefish were observed turning their body away from the immediately available prey item, as if to distract themselves when they needed to delay immediate gratification.

    Ich bin vielleicht nach der Lektüre des Artikels nicht viel überzeugter von den verschiedenen Erzählungen rund um den Marshmallow-Test.

    Aber ich will auch mit Sepien spielen dürfen.

  • Fortschritt des Monats: Neu-Eichenberg

    Bestimmt nur wegen durch Corona-Beratungen und Terrorgedenken in Brüssel anderweitig gefesselter Aufmerksamkeit lief die Nachricht des Tages nicht in der Tagesschau, sondern nur in der taz.

    Dort wird über die weise Wahl im hessischen Dorf Neu-Eichenberg berichtet, das sich nicht hat beirren lassen von der großen Verwirrung, dass zwar alle das Wochenende nicht erwarten können, aber „Arbeitsplätze“ im allgemeinen Bewusstsein das überragende Ziel privaten wie öffentlichen Handelns zu sein scheinen,

    In Neu-Eichenberg nämlich wollte eine Firma namens Dietz AG groß investieren und damit einem Haufen Menschen viel Arbeit machen. Und zwar wollte sie ein „Logistikzentrum“ bauen, in dem, so die taz, „Onlinefirmen und Paketzusteller“ wirken sollten. Die bisherigen Mehrheitsparteien SPD und CDU (bis vorhin gemeinsam 12 von 15 Sitzen) hatten das bejubelt. Sie verloren deshalb bei den Gemeinderatswahlen am vorletzten Wochenende je 17 und 20 Prozentpunkte. Damit ist die Mehrheit für das „Logistikzentrum“ weg. Weniger Lärm, weniger Arbeit, weniger hässliche Gewerbegebiete: die Bewohner_innen von Neu-Eichenberg bekommen den Engelszüngeln-Preis für den Fortschritt des Monats.

    Das um so mehr, als es ja wirklich ein Segen rundrum wäre, wenn die ganze Paketverschickerei wieder auf, sagen wir, 1% ihres aktuellen Umfangs einschrumpfen würde, denn selbst nach Maßstäben eines Landes, das irgendwas wie ein Siebtel seiner Arbeitskraft ausgerechnet auf die Produktion und den Betrieb von Autos verschwendet, ist die Paketfahrerei eine besonders sinnlose Art, menschliche Lebenskraft zu verschleudern: Erstmal, weil im Netz nach meiner anekdotischen Erfahrung noch mehr nutzloser Plunder vertickt wird als in echten Geschäften, und dann, weil bei der Einzelverschickung ein Haufen echt übler Jobs mitkommen.

    Klar ist jetzt auch der stationäre Handel nichts, wo ich eben mal Traumjobs vermuten würde, aber verglichen mit den Beschäftigungsverhältnissen in allen Kettengliedern der „Logistik“ ist das wirklich Gold (und das nicht nur im Hinblick auf den Tarif). Fast im Ernst: Eine Existenz als Buch- oder Wolle-und-Tee-Händler könnte möglicherweise selbst mir nicht ganz unattraktiv scheinen.

    Go Neu-Eichenberg.

  • Wundern über Schurken

    Vor einer guten Woche habe ich inspiriert von dem, was inzwischen „Masken-Affäre“ heißt[1] gezeigt, wie eine ganz einfache Theorie sehr natürlich erklärt, warum die mittlere Schurkigkeit mit der Hierarchiestufe recht rapide steigt. Für mich eher unerwartet ist diese Masken-Affäre übers Wochenende richtig explodiert, bis hin zum puren Rock'n'Roll, dass Abgeordnete – und dann noch welche von CDU und CSU – wegen Selbstbedienung aus der Fraktion fliegen.

    Noch verdrehter fand ich allerdings heute morgen die Presseschau im Deutschlandfunk:

    • „untergräbt in schwerer Zeit das Vertrauen in die politisch Verantwortlichen” (Südkurier),
    • „trifft das pandemiemüde Land wie ein Donnerschlag” (Neue Osnabrücker Zeitung),
    • „kein kleiner Fehltritt“ (Badische Neueste Nachrichten),
    • „eine moralische Bankrotterklärung“ (Rheinische Post).

    Dieser Chor von Überraschung und Empörung ist deshalb zumindest bizarr, weil alle diese Medien normalerweise feiern, wenn sich „Fleiß und Einfallsreichtum aufs private Fortkommen richten“, wie die Hessische Niedersächsische Allgemeine zum gleichen Thema so schön formuliert – und sich mit dieser zutreffenden Beschreibung des Verhaltens von Nüßlein und Löbel zumindest mal den Preis für den am wenigsten verdrehten Kommentar an diesem Morgen verdient hat.

    Tatsächlich ist Vertreter_innen entsprechender Ideen zumeist mit etwas Mühe die Konzession abzuringen, natürlich sei eine Wirtschaft zu bevorzugen, die in einem gesellschaftlichen Prozess plant, welcher Kram produziert werden soll und wie das mit möglichst wenig Belastung für Mensch („Arbeit“) und Natur hinzukriegen sei. Aber, so ist dann das finale und kaum widerlegbare Argument, das sei nicht zu machen, weil der Mensch schlecht sei und egoistisch und drum, wenn die Wirtschaft nicht auf die Bedürfnisse von ehrgeizigen Schurken ausgerichtet sind, der Hungertod droht.

    Demgegenüber wandele ein moderat regulierter Kapitalismus die Niederträchtigkeit der Einzelnen in den größtmöglichen Nutzen des Staates und in der Folge der Gesellschaft – was unter der Bedingung, dass die Leute, von Mutter Theresa mal abgesehen, durchweg Gesindel sind, oberflächlich plausibel klingt[2].

    Und nun sind genau die Leute, die bei jeder Gelegenheit die Alternativlosigkeit von Markt und Wettbewerb für die Volkswirtschaft aus der Schurkigkeit des Menschen an sich ableiten, empört, weil ihre Vertreter_innen, und zumal die mit dem eklatantesten der-Mensch-ist-schlecht-Programm, bescheißen, so gut sie können. Hm.

    Es war schon lange meine Vermutung, dass die Fähigkeit, rechtzeitig mit den Ableitungen aus den eigenen Ideen aufzuhören, ganz entscheidend ist für die Erhaltung einer, nun ja, konservativen Gesinnung.

    [1]Montag 19:45 gibt es erstaunlicherweise noch keine Wikipedia-Seite „Masken-Affäre“, aber der Relevanzkriterien-Widerstand in der Sache dürfte innerhalb von Stunden bröckeln.
    [2]Jedenfalls solange, bis mensch sich klar macht, dass wir derzeit Jahr um Jahr fossile Kohlenwasserstoffe verbrauchen, die sich innerhalb von einigen 100000 Jahren gebildet haben (sprich: wir durch diese Ressourcen gehen, als hätten wir einige 105 Erden) und trotzdem noch Jahr um Jahr Milliionen von Menschen an Armut sterben.
  • Wahlkampfkostenhilfe verdient

    Wahlkampfzeiten finde ich immer sehr anstrengend: Wenn diese Wahlplakate wirken, muss ich wirklich auswandern. Früher konnte ich ja wenigstens noch zum UNiMUT-Wahlplakateranking (2009, 2005, 2004, 2002, 2001, 1998) beitragen und so gleichzeitig Depressionen vorbeugen und ein (wirkungsloses) Fanal gegen den Ranking- und Rating-Unfug setzen.

    Seit es das nicht mehr gab, konnte ich nur noch weggucken, so gut ich konnte.

    Diese Misere ein wenig geändert hat die PARTEI, die es tatsächlich fertig gebracht hat, vor allen Alten- und Pflegeheimen hier „Kosten sparen – Pflege abschaffen“ zu plakatieren, und sie hatten ganz offensichtlich schon eine Ahnung, womit die FDP wohl plakatieren wird:

    Wahlplakate

    Kann ich dafür meine Wahlkampfkostenerstattung direkt der PARTEI zukommen lassen? Wählen muss ich, wenn ich denn mal wissen will, welche Bomben die Polizei in Baden-Württemberg nach §54a PolG BaWü [1] beschafft und was sie damit gemacht hat (und das will ich), leider wen anders...

  • Es waren die Läden

    Na gut, und/oder die Schulen. Meine Vorhersage vom 16.1. jedenfalls, nach der sich der damas fast zwei Wochen alte Abwärtstrend bei der Intensivbelegung (als hierzulande einzige halbwegs zuverlässige Maßzahl fürs Infektionsgeschehen) in etwa in der Folgewoche nach oben wenden würde, war falsch. Die fallende Intensivbelegung setzt sich fort, plusminus exponentiell mit einer Halbierungszeit von gut sechs Wochen:

    Plot: Gerade in Log/log

    (die Achsen wären ähnlich wie am 16.1., aber darauf kommts mir hier nicht an).

    Nachdem vor drei oder vier Wochen zumindest anekdotisch und von hier aus gesehen nicht viel mehr Heimarbeit lief als vor Weihnachten, bleibt dann wohl nur der Schluss, dass meine Überzeugung, Ansteckungen fänden vor allem in den Betriebe und beim Berufspendeln statt, falsch war – während sich die Schätzung von einer Verzögerung von rund drei Wochen zwischen Ansteckungen und Intensivzahlen wohl als recht robust erweist.

    Denn dann reflektiert die Wende von wachsender zu fallender Intensivbelegung vom 4.1. ziemlich klar die weitgehende Schließung der Läden und Schulen rund um den 16.12. Schade, dass beides wieder so parallel lief, denn so bleibt es schwierig, rauszufinden, was dann was ausgemacht hat.

    Und: Dann war der große Ausbruch Anfang Dezember wirklich das Weihnachtsshopping? Tödlicher Konsum my ass.

  • Großes Leid, Große Verwirrung

    Das Gerede von „Arbeitsplatzverlusten“ fasziniert mich in seiner Absurdität immer wieder: an sich wärs ja erfreulich, wenn wir den Krempel, den wir verbrauchen wollen, auch mit weniger Arbeit herstellen könnten. Das stoßseufzende „Endlich Freitag“, das die ARD derzeit freitags nach der Tagesschau sendet, demonstriert gut, dass auch im Wesentlichen der Rest der Welt Lohnarbeit nur bedingt für angenehm hält.

    Heute morgen hat im Deutschlandfunk der Familienminister von NRW (der, vielleicht etwas überraschend in diesem Amt, auch stellvertretender Minsterpräsident ist), auf dies Umkehr von Mittel und Zweck noch eins draufgelegt:

    Was aber auch noch mal wichtig ist, das möchte ich ausdrücklich betonen, auch für das Vertrauen in der Bevölkerung, ist, dass die Gruppen, die jetzt hier unter dem Lockdown am meisten leiden, weil sie ihre Berufe nicht ausüben können...

    Also... die schlimmsten Leiden im Lockdowns sind in der Welt von Joachim Stamp ein paar freie Wochen, zumal in Jobs, die jetzt mal garantiert keinen Spaß machen: Kellnern, Tresendienst im Fitness-Studio, so Zeug halt. Uiuiui.

    Klar wären die ernsthaften Probleme dieser Leute – ihre Existenzängste – einfach durch verlässliche Versorgung und längerfristig eine vernünftige Verteilung der Lasten und Früchte der Produktion zu lösen. Ich nehme Leuten wie Stamp aber ab, dass diese einfache und eigentlich offensichtliche Tatsache schlicht jenseits ihrer Gedankenwelt ist. Schade eigentlich.

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