Tag Sprache

  • Hörtipp: Wir müssen reden anno 2022

    Treuen LeserInnen dieses Blogs wird nicht neu sein, dass ich dauerhaft wirklich schlechtes Gewissen habe, weil ich der patriotischen Filetierung Jugoslawiens durch meine nach der „Wiedervereinigung“ im Machtrausch delirierende Regierung nicht genug Widerstand entgegengesetzt habe und schließlich auch der Vorlage zur Sezession des Donbass im Wesentlichen nur fassungslos zugesehen habe (wenn auch mit Transparenten in der Hand).

    Eine Kundgebung mit einer guten Handvoll Menschen vor Stadthäusern.  Ein rotes Transparent, auf dem „US/NATO out of Yugoslavia“ steht, ist von hinten zu sehen.

    Zum Beleg der „Transparente in der Hand“: Wohnortbedingt konnte ich gegen die Spätphasen des Kosovokrieges nicht in der BRD protestieren. Aber die Antikriegsdemo an der Bostoner Park Street Station am 25. März 2000 (ungefähr der erste Jahrestags unseres Überfalls) habe ich denooch mitgenommen.

    Zur Rechtfertigung dieser Neuauflage alter Imperialismen haben die ApologetInnen der deutschen Politik die Geschichte vom „Völkergefängnis [als Begriff übrigens aus der Mottenkiste der rechten Feinde des ausgehenden Habsburgerreichs herausgeklaubt] Jugoslawien“ erzählt. Einen, wie ich finde, hübschen Kommentar dazu hatte der Deuschlandfunk Ende Dezember 2022: Wir müssen reden: Jugoslawisch.

    Von Dingen überzeugt, die schwer zu glauben sind

    Gleich am Anfang wird darin Vladimir Arsenijević zitiert:

    Nach dem Zerfall von Jugoslawien wurden vier politische Sprachen geschaffen. In Bosnien-Herzegowina spricht man offiziell Bosnisch, in Montenegro Montenegrinisch, in Serbien Serbisch, in Kroatien Kroatisch, aber jeder, der bei klarem Verstand ist, weiß, dass es sich eigentlich um eine einzige Sprache handelt.

    Jaklar, könnt ihr sagen, der ist ja, igitt, Serbe und macht da halt seine Großserbien-Sprüche; interessanterweise gibt es derzeit, vielleicht in so einer Logik, Wikipedia-Seiten über ihn auf Französisch, Katalan, Italienisch und sogar Kroatisch, aber nicht auf Deutsch. Ahem. Aber wenn wer, wie Arsenijević, sagt:

    [D]as ganze nationalistische Projekt beruht darauf, dass Leute von Dingen überzeugt sind, die eigentlich schwer zu glauben sind.

    …dann hat er_sie mein Herz gewonnen. Diese Vernunft auf der Seite „unserer“ Feinde steht übrigens in eklatantem Gegensatz zu Äußerungen „unserer” Verbündeter. Die ehemalige kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović fand – ebenfalls im DLF-Beitrag – die Proposition, es werde wohl schon die gleiche Sprache sein, wenn die Leute ohne Schwierigkeiten miteinander reden können, offensichtlich plausibel, aber unerträgich:

    Diese sogenannte gemeinsame Sprache war ein politisches Projekt, das zusammen mit dem ehemaligen Jugoslawien untergegangen ist und es wird sie nie wieder geben.

    Serbokroatisch als Kunstprodukt? Nur zu!

    Ich will ihr geben, dass, wie sich auch im Laufe der Sendung herausstellt, auch Serbokroatisch ein Kunstprodukt ist, ganz wie Hochdeutsch, Italienisch und Französisch auch. In dem Sinn ist es tatsächlich auch ein politisches Projekt. Christian Foss von der HU Berlin wird im DLF zitiert mit:

    Als Geburtsstunde einer gemeinsamen Sprache würde ich eigentlich das sogenannte Wiener Sprachabkommen von 1850 beurteilen, als sich serbische, kroatische und auch zwei slowenische Intellektuelle, Schriftsteller in einem Wiener Cafe trafen und eine Erklärung aufgesetzt haben, dass sie sich als ein gemeinsames Volk deklarieren, das eine gemeinsame Sprache brauche.

    Das Programm war, eine einheitliche Schriftsprache zu schaffen, andere Dialekte aufzugeben, und das Interessante ist, dass dies, was auf absoluter Freiwilligkeit beruhte, tatsächlich funktioniert hat.

    Nun: Bis Genscher und seine Freunde durchgeknallte Nationalisten vom Schlage eines Franjo Tuđjman dazu nutzten, die Sahnestücke Slowenien und Kroatien EU-tauglich aus Jugoslawien herauszulösen und den ungewaschenen Rest vergleichbar miesen Potentaten zu überlassen. Mensch stelle sich für einen Augenblick eine alternative Geschichte vor, in der die EU wirklich so nett ist wie viele ihrer BewohnerInnen glauben, eine EU, die all den PatriotInnen in den verschiedenen jugoslawischen Republiken gesagt hätte: „Ihr kommt nur entweder gemeinsam in die EU oder gar nicht. Also hört mit eurer scheiß-patriotischen Propaganda auf.“

    Wie es stattdessen Anfang der 1990er aussah in den gerade erst auf deutschen Druck geschaffenen neuen Staaten, beschreibt in der DLF-Sendung eine Journalistin, die über den kroatischen Rundfunk berichtet:

    Es gab eine richtig gehende Besessenheit, alle Worte, die irgendwie serbisch klangen, aus der Sprache zu tilgen und durch kroatische Ausdrücke zu ersetzen.

    Wenn ich die Wahl habe zwischen einem politischen Projekt, das Feindschaften abbauen will und einem, das wie beschrieben Feindschaften schürt, dann liegt meine Sympathie klar bei ersterem. Wenn Leute wie Grabar-Kitarović dem ein Nie Wieder entgegenschwören, ist das ein schlimmes Drama.

    Für kontraproduktive Umtriebe dieser Art existiert ein Begriff, der sogar ein Wikipedia-Kapitel hat: Sprachchauvinismus; unterhaltsamer ist der verwandte Artikel zu deutschem Sprachpurismus, der zahlreiche mehr oder minder amüsante Beispiele erwähnt, wie Menschen aus patriotischer Verwirrung das Lexikon verkomplizierten („Mundart“ statt des international verständlichen und ja trotz Mundart immer noch gebräuchlichen „Dialekt“ zum Beispiel) oder es jedenfalls versuchen (beispielsweise „Meuchelpuffer“ statt Pistole im Falle des 17.-Jahrhundert-Volksfans Philipp von Zesen).

    A propos Volksfan: Im Sprachpurismus-Artikel habe ich gerade auch gelernt, dass das (glücklicherweise) immer noch verpönte „völkisch“ schlicht als sprachchauvinistischer Ersatz für das ja gerade leider wieder in Mode geratende „national“ vorgelegt wurde, und zwar erst 1875 von einem besonders unangenehmen Protofaschisten namens Hermann von Pfister-Schwaighusen (nun: seine eigene Wikipedia-Seite relativiert das „wurde“ zu „soll haben“, aber wenn die Geschichte nicht stimmen sollte, so ist sie doch zumindest gut erzählt.

    Es gibt Hoffnung

    Tja: Vielleicht hilft bei solchen Tendenzen KI? Es gibt ein Indiz dafür. Ich habe die DLF-Sendung nämlich wie hier beschrieben von Whisper transkribieren lassen, und die, hust, KI hat aus der Pointe der Geschichte um Tudjmans „Ich freue mich“-Begrüßung für den damaligen US-Präsidenten Clinton und seinen darin verwendeten (vermeintlichen) Serbizismus das hier gemacht:

    Das Problem ist: sretchan ist serbisch, auf kroatisch heißt es sretchan.

    Dass meine „KI“ da nicht zwischen „Serbisch“ und „Kroatisch“ zu unterscheiden vermag, würde ich als Hinweis auf kulturellen Fortschritt werten.

    Noch mehr Hoffnung weckt jedoch die Geschichte der Kinder aus der bosnischen Kleinstadt Jajce, die für gemeinsamen Unterricht demonstriert haben. Vladimir Arsenijević berichtet von dort:

    Wochenlang sind sie auf die Straße gegangen. Ihre Forderung: Sie wollten zusammen in die Schule gehen. Sie hatten Transparente, auf denen sie Birnen und Äpfel gemalt hatten. Ich habe das erst nicht verstanden, und dann haben sie es mir erklärt: Als der Kantonminister für Bildung gefragt wurde, warum er die Segregation im Bildungssystem nicht abschafft, hat er geantwortet, man könne Birnen nicht mit Äpfel mischen.

    Wenn Menschen, die derartigen Überdosen patriotischen Unsinns ausgesetzt waren wie die Opfer deutscher Großmachtpolitik am Balkan, wieder zur Vernunft kommen können, dann gibt es noch Hoffnung.

  • Vom Händeringen und der digitalen Themengestaltung

    Foto: E-Roller auf Sperrfläche auf großer Straße.

    Skandal! Es finden sich einfach nicht genug Menschen, die solche hochnützlichen e-Roller in Nachtschichten einsammeln und aufladen wollen. Das verlangt doch wirklich nach einer profunden Erklärung.

    Zu den öffentlichen Narrativen, die wirklich offensichtlich Bullshit sind, gehört seit mindestens zwanzig Jahren die Rede vom „Fachkräftemangel“ und ganz besonders den „händeringend“ nach Beschäftigten suchenden Unternehmen. Ja – so alt ist das schon, es koexistierte bereits mit den verschiedenen Erzählungen vom „Reformstau“, die zur Durchsetzung der Hartz-Gesetze ersonnen worden sind.

    Ich erinnere mich an eine Gewerkschafts-Veranstaltung um 2005 herum, in der Mitglieder allen Ernstes argumentierten, die wahnsinnige Befristungspraxis an den Universitäten müsste schon wegen des „Fachkräftemangels“ bald ein Ende haben, denn sonst würden die Unis keine Beschäftigten mehr finden. Reality Check nach knapp 20 Jahren:

    Der Anteil der befristet beschäftigten wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sei mit 84 Prozent an den Universitäten und 78 Prozent an den HAW so hoch wie vor der Reform [des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes], sagt [Andreas] Keller[, der im GEW-Hauptvorstand u.a. für Unis zuständig ist.]

    Nicht viel besser sieht es in den meisten Bereichen der Industrie aus – miese Verträge und miese Behandlung des Humankapitals sind selbst in ach-so-Mangel-Bereichen wie, sagen wir, Computerbasteln eher die Regel als die Ausnahme (was erklären hilft, wie die Unis mit ihrem Mist durchkommen). Mag sein, dass es tatsächlich einen Mangel an Menschen gibt, die für wenig Geld viel arbeiten und schon genau das können, was so ein Betrieb haben will. Big deal: Wer die Arbeitskraft anderer Menschen nutzen will, wird sie in aller Regel geeignet zurichten müssen.

    Gäbe es jedoch tatsächlich einen Mangel an fair und sinnvoll beschäftigbaren Menschen, gäbe es keine Befristungsquoten um 80%, und es gäbe keine Qualitätszirkel, Knebelverträge und gute Räte zu Überstunden. Solange hingegen wirklich kreuzüberflüssige und garstige Betriebe wie Lieferdienste (sagen wir, gorillas) oder E-Roller-Anbieter (die Menschen als „juicer“ vernutzen) immer noch menschliche Arbeitskraft in erschreckendem Umfang verschleudern, gibt es ersichtlich keinen Mangel an jedenfalls qualifizierbarem Personal.

    Die zwei Seiten einer Zeitungsseite

    Die Absurdität dieser ganzen Debatte hat in der Wochenendausgabe der taz Volker Surmann in seiner Glosse „Verschluckt vom Erdboden“ schön verarbeitet:

    Die gelernte Naturwissenschaftlerin Schädele klingt deutlich sachlicher, kommt aber zum selben Ergebnis: „Uns ist keine Branche bekannt, die zurzeit nicht händeringend Personal suchte! Wir können daraus nur den einen logischen Schluss ziehen: Wohin auch immer die Menschen sich umorientiert haben, sie sind dort nie angekommen.“

    Großartig.

    Wer das im Netz liest, verpasst allerdings die Punchline. Auf Papier steht der Artikel nämlich Rücken an Rücken mit der Anzeigenseite des Blattes, die dominiert wird von vier Stellenanzeigen der taz selbst. Eine Zeitung, würde mensch naiv erwarten, braucht vor allem Leute, die Artikel schreiben oder vielleicht auch mal korrekturlesen. Klar, Drucker oder Setzerinnen erwartet im Zeitalter langer Lieferketten sicher niemand mehr, aber das, was inzwischen Contentproduktion getauft wurde, das wird doch wohl schon noch im Haus gemacht[1]?

    Oder?

    Ein Kessel Ödnis

    Nun, die taz sucht im Einzelnen:

    1. „Co-Leitung der Anzeigenabteilung“. Ganz ehrlich: Niemand, genau niemand, will Anzeigen verkaufen müssen. Mensch belästigt Leute in anderen Firmen, um die eigenen LeserInnen zu belästigen. Einen deprimierenderen Job kann ich mir kaum vorstellen, vielleicht abgesehen von:
    2. „Print-Online-Akquisiteur*in“. Diese*r soll „kreative Vermarktungsansätze“ ausbrüten, also die anderen Firmen noch penetranter belästigen, vermutlich unter Versprechen, die LeserInnen zu wehrloseren Opfern von Marketingbotschaften zu machen. Gut, in Wahrheit wird sich die Kreativität in engen Grenzen halten sollen, zumal das Ding auf 2 Jahre befristet ist. Trotzdem: der zweite Job, der nichts mit der eigentlichen Aufgabe einer Zeitung zu tun hat.
    3. „Entwickler:in mit Schwerpunkt PHP und Datenbanken“. Immerhin: das dient irgendwo der Verbreitung der Artikel, ist also wenigstens etwas „mit Medien“. Allerdings: „es handelt sich hierbei nicht um Webentwicklung, sondern um die Aufbereitung und Bereitstellung unserer Verlagsprodukte für unsere Apps, als ePaper in verschiedenen Formaten und für unsere Syndikationen.“ Nun… „…produkte“. So richtig nach Zeitung klingt das nicht. Aber immerhin versteht bei der taz offenbar wer was von Computern, denn der/die BewerberIn sollte „gewohnt sein, mit GIT [sic!] und Debian-Paketen zu arbeiten”. Und ich muss offen gestehen: die Seite, über die die taz ihre PDFs und epubs verbreitet, ist klasse: einfach, offen, interoperabel, ressourcensparend. So soll sowas sein. Hoffen wir, dass der/die erfolgreicheR BewerberIn das nicht anfasst.
    4. Schließlich doch noch was, was nach Presse klingt: „Redakteur*in“. Aber dann kommt eine beunruhigende Qualifikation: „für digitale Themengestaltung“. Hu? „Digital“? Was soll diese Person tun? „[A]ktuelle Texte und Themen sowohl print als auch online optimal präsentier[en]“. Wieder keine Artikel schreiben, wieder keine Recherche, wieder keine Reflektion. Stattdessen: „Profunde Interred-Kenntnis“ (ich musste auch erst in der Wikipedia nachsehen: das ist ein proprietäres CMS. Igitt) und „Fähigkeit zur Nutzung weiterer Tools wie Datawrapper“ (das hat es nicht mal in die Wikipedia geschafft [Update 2022-09-19: @ulif@chaos.social hat nachrecherchiert – danke!]).

    Lauter Jobs, die doof sind, sich im Kern ums Belästigen verschiedener Leute drehen und jedenfalls wenig bis nichts mit der Aufgabe einer Zeitung zu tun haben, Informationen zu sammeln, zu verbreiten und einzuordnen: Ich finde es überhaupt nicht überraschend, dass sich für sowas niemand findet, solange die Leute nicht ganz existenziell bedroht sind. Dazu kommt: Würden die hier ausgeschriebenen Arbeiten nicht gemacht, wäre die Welt sicher nicht schlechter. Aber vielleicht besser.

    Bestimmt kommt aber nächste Woche schon wieder jemand und beklagt einen „Fachkräftemangel“. Statt nun das ganze eigentlich auf der Hand liegende Zeug mit sinnlosen Scheißjobs und mieser Behandlung zu erzählen, werde ich in Zukunft einfach meine Lieblingserklärung aus der Suhrmann-Glosse zitieren:

    Mit der Mär von beruflicher Neuorientierung vertusche die Deutschland GmbH nur die [Millionen von] Impftoten. [Der Arbeitsamts-Mitarbeiter] Mulde hakt ein. Wenn das stimme, wo seien dann die ganzen Toten geblieben? „Die wurden alle verbrannt, heimlich, deswegen war es im Sommer so heiß!“

    Zumindest kann mensch diesem Szenario im Vergleich nicht den Vorwurf machen, es sei <gnurk> unterkomplex.

    Nachtrag (2022-09-25)

    Irgendwer vom Neuen Deutschland, ähm, nd, liest hier offenbar mit, denn die inserieren in der aktuellen taz-Wochenendausgabe (hat da der/die AnzeigenaquisiteurIn ganze Arbeit geleistet?) selbst zwei Bullshit-Jobs:

    1. Mitarbeiter*in Social Media
    2. Mitarbeiter*in Marketing und Kommunikation

    Für das Analogon zu (2) der taz-eigenen Ausschreibungen von letzter Woche hat sich übrigens wahrscheinlich wer gefunden, denn die entsprechende Anzeige ist in dieser Woche weg. Um Anzeigenfuzzis auf verschiedenen Hierarchiestufen und PHP-Entwickler:in jedoch ringt die taz immer noch mit den Händen.

    [1]Nun, in diesen Tagen würde ich der taz natürlich besonders die Beschäftigung eineR HistorikerIn ans Herz legen zur Untersuchung, wie es vergleichbar kriegsbegeisterten Blättern nach früheren Kriegen gegangen ist – und ob mensch zur Abwechslung mal nicht fünfzig Jahre verstreichen lässt vor der Einsicht, dass das ganze Sterben und die ganze patriotische Glut völlig umsonst waren. Aber das ist, das gebe ich zu, ein völlig utopischer Traum.
  • Wie aus dem 18. Jahrhundert

    Ich bin ja bekennender Leser von Fefes Blog, und ich gebe offen zu, dass ich dort schon das eine oder andere gelernt habe. Zu den für mich aufschlussreichsten Posts gehört dieser aus dem September 2015, der mir seitdem nicht mehr aus dem Sinn gegangen ist, und zwar wegen der Unterscheidung zwischen Kulturen der Ehre (die mensch sich verdienen und die mensch dann verteidigen muss) und denen der Würde (die mensch einfach hat).

    Der Rest des Posts ist vielleicht nicht der scharfsinnigste Beitrag zur Identitätsdebatte, und klar gilt auch Robert Gernhardts „Die Würde des Menschen ist ein Konjunktiv“ weiter, aber der zentrale Punkt ist: Artikel 1 Grundgesetz ist eine Befreiung von dem ganzen Unsinn von Ehre und insofern ein großer Schritt in die Moderne. Das ist mir so erst damals im September 2015 klar geworden.

    Und seitdem habe ich mich um so mehr gewundert über den Stellenwert, den „Gesicht nicht verlieren“ in „der Politik“ (und das schließt schon Bezirksvorsitzende von Gewerkschaften ein) immer noch hat. Wo außerhalb der Krawattenliga gibt es sonst noch „Ehrenerklärungen“ wie neulich bei der CDU (von vor 20 Jahren ganz zu schweigen) oder kräuseln sich nicht die Zehennägel, wenn jemand wie Westerwelle weiland verkündete: „Ihr kauft mir den Schneid nicht ab“?

    Um so mehr war ich angetan, als zumindest Angela Merkel diese Logik des 18. Jahrhunderts gestern durchbrochen hat und einfach mal „ich hab Scheiße gebaut“ gesagt hat. Und es tröstet etwas, dass zumindest die heutige Presseschau in weiten Teilen nicht das unsägliche Genöle von Vertrauensfragen aus dem Bundestag gestern reflektiert.

    Andererseits: Keine Presseschau ohne fassungsloses Kopfschütteln, wenn nämlich die Süddeutsche schreibt:

    Hätte die Bundesregierung stattdessen selber genug Impfdosen geordert, und zwar nicht zuletzt bei Biontech im eigenen Land, dem Erfinder des ersten Corona-Vakzins, befände sich Deutschland jetzt nicht am Rande der Hysterie.

    Hätte die Süddeutsche gesagt: „dafür gesorgt, dass so oder so alles, was an Abfüllkapazität da ist, anfängt, Impfstoff abzufüllen, sobald absehbar ist, dass es mit der Zulassung was wird“ – ok, das wäre ein Punkt. Das augenscheinlich auch im Ernstfall herrschende Vertrauen in „den Markt“ ist natürlich böser Quatsch. Aber auch überhaupt nichts Neues. Und die Süddeutsche sitzt in dem Punkt in einem Glashaus mit ganz dünnen Scheiben.

    Aber sie redet auch vom „ordern“, was im Klartext heißt: „wir wollen schneller geimpft sein als die anderen“ – das ist, noch klarerer Text, anderen Leuten den Impfstoff wegnehmen. Meinen die Süddeutschen das ernst?

    Ich bin ja ohnehin in den letzten Wochen in der unangenehmen Situation, meine Regierung zu verteidigen. Das habe ich, glaube ich, noch nie gemacht. Aber im schwierigen Lavieren zwischen autoritärem Durchgriff – etwa, alle Leute bei sich zu Hause einsperren – und einem Laissez-Faire, das vermutlich fast eine halbe Million Menschen in der BRD umgebracht hätte, sieht es fast so aus, als hätte der Gesamtstaat (zu dem ja auch Landesregierungen und vor allem Gerichte gehören) so ziemlich den Punkt erwischt hat, den „die Gesellschaft“ sonst auch akzeptiert.

    Warum ich das meine? Nun, so sehr ich gegen Metriken als Bestimmer politischen Handelns bin, gibt die Mortalitätskurve doch eine Idee davon, welche Kompromisse wir eingehen. Das RKI veröffentlicht jeden Freitag so eine, und die im Bericht vom letzten Freitag sieht so aus:

    Mortalitätskurven 2017-2021

    In Worten: Die Gesamtsterblichkeit war im Corona-Jahr nicht viel anders als sonst auch, nur kam der Grippe-Peak halt schon im November und Dezember statt erst im Januar und Februar. Und da wir ja wegen der Grippe in „normalen“ Jahren auch nicht alle das Winterende in Isolation verbringen, war das Level an Isolation und Shutdown, das wir am Ende hatten und das SARS-2 zur Vergleichbarkeit gezähmt hat, offenbar im Sinne „der Gesellschaft“ gewählt.

    Klar: Das hat so wohl niemand geplant. Dass es aber so rausgekommen ist, dürfte nicht einfach nur Zufall sein. „Schwarmintelligenz“ wird den Grund sicher nicht treffen. Aber irgendwas, das nicht furchtbar weit davon weg ist, dürfte die Ähnlichkeit der Kurven wohl schon erklären. Vielleicht: Das, was bei uns von Gewaltenteilung noch übrig ist?

    Ansonsten bereite ich mich schon mal aufs Verspeisen meines Hutes vor, wenn die „dritte Welle“ jetzt doch noch für einen schlimmen Mortalitätspeak sorgt.

  • Ausbrüche von Prüderie

    Ich lese gerade Bill Brysons „Mother Tongue“, ein Buch über, nun, die englische Sprache. Darin schreibt er: „Soon after Shakespeare’s death, Britain went through a period of prudery of the sort with which all countries are periodically seized”.

    Buchcover

    Bildrechte beim Verlag

    Nun bin ich jederzeit bei inklusiver Sprache dabei (und kann das belegen, denn der UNiMUT hatte schon 1993 komplett das hohe I), und ich fand es klasse, als 2015 „Geflüchtete“ das Wort wurde, das nette Leute statt „Flüchtling“ sagten. Aber ich muss zugeben, dass ich diese sprachlichen Konventionen immer vor allem als Statement gegen Rechts gesehen habe (und angesichts der Reaktionen der Reaktion funktioniert das ja auch prima). Der fast religöse Furor, mit dem viele durchaus nette Menschen Wörter bekämpfen (oder umgekehrt als konstitutiv für Linke etablieren wollen) allerdings scheint mir oft die Grenze zu überschreiten, an der gute Ideen zu Mitteln von Exklusion und Identitätsbildung werden. Und eben von Sorten von Prüderie, weshalb ich Brysons Beobachtungen von 1989 zumindest bemerkenswert fand.

    So schreibt er etwa: „But the greatest outburst of prudery came in the nineteenth century when it swept through the world like a fever. It was an age when sensibilities grew so delicate that one lady was reported to have dressed her goldfish in miniature suits for the sake of propriety“. Ich weiß, wenn sich Männer über „sensiblities“ von anderen Leuten unterhalten, ist es ein wenig wie wenn Autofahrer_innen Straßenplanung machen. Aber ich vermute trotzdem, dass ich nicht mehr „trigger warning“ werde hören können, ohne an bekleidete Goldfische zu denken.

    Und übrigens: Es ist höchst unfair, den Ausbruch des Prüderie-Fiebers Victoria... Hannover? Saxecoburgotsky? – naja, Königin Viktoria von England halt – anzulasten. Denn: Thomas Bowdler, der mit seiner Reinigung von Shakespeares (in der Hinsicht ohnehin für die Periode recht zahmen) Werken von Kraftausdrücken das Wort „bowdlerise“ geprägt hat, hat sein Hauptwerk 1818 und mithin ein Jahr vor Victorias Geburt vorgelegt.

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