Genf vs. die Dauerbeflimmerung

Foto: Werbedisplay über großer Autostraße

Auch die Stadt Heidelberg – die in der Altstadt noch nicht mal Dachfenster erlaubt, damit vom Schloss aus alles ordentich aussieht – lässt die Werbefritzen von Ströer Dauerbeflimmerung ausrollen, hier an der Kreuzung Berliner-Jahnstraße, wo es wirklich nur eine Frage der Zeit ist, bis das Gezappel auf dem Bildschirm mal wen so ablenkt, dass er/sie sich oder wen anders kaputtfährt.

Während die Bahn papiergewordene Cookiebanner verschickt, gibt es an vielen anderen Stellen offenbar durchaus Hoffnung, zumindest ein bisschen weniger menschliche Kreativität und Zeit (von Energie und Rohstoffen ganz zu schweigen) in die Belästigung der Allgemeinheit (etwas beschönigend auch „Werbung“ genannt) fließen zu lassen. So berichtet der DLF-Hintergrund vom 13.4.2022 aus Genf, die dortige Stadtverwaltung wolle ab 2025 alle Plakatwände und vor allem ihre besonders aufdringlichen elektronischen Geschwister abbauen lassen. Das Radiofeature gibt Beispiele für gelungenes, wenn auch weniger ambitioniertes, Zurückdrängen von Außenwerbung: die Stadtverwaltung von São Paulo hat bereits 2007 15'000 Plakatwände demontieren lassen, in Grenoble wurden 2014 immerhin 300 davon durch Bäume ersetzt.

„Werbefrei für die Freiheit“

—nicht J. Gauck

Der DLF lässt weiter Menschen von der Initiative Hamburg Werbefrei zu Wort kommen, über deren Kampf speziell gegen die die leuchtenden und zappelnden Groß- und Riesenbildschirme auch die taz berichtet. Obszöne 45000 kWh Strom im Jahr verpulvert so ein Ding, also etwas wie 5 Kilowatt. Während ich das als „etwa so viel wie ein dauernd fahrendes kleines Auto“ (oder auch: 50 ordentlich reintretende RadlerInnen) umschreiben würde[2], übersetzt es der Aktivist im DLF-Interview das als „fast so viel wie 30 Einpersonenhaushalte“. Die taz hingegen schreibt „wie 15 Zweipersonenhaushalte“[1]. Angesichts solcher Zahlen wäre ich fast versucht, mich des grassierenden Patriotismus ausnahmsweise mal für gute Zwecke zu bedienen: „Werbefrei für die Freiheit“.

Der taz-Artikel zitiert den Vorsitzenden der Grünen-Fraktion in Hamburg, Dominik Lorenzen, mit den Worten: „Es gibt in der Stadt [sc. Hamburg] eine gute Balance zwischen Werbeflächen und Platz für die Menschen“, was ich schon bemerkenswert finde; der Mann erkennt zwar an, dass Werbung schlecht für die Menschen ist, räumt ihr aber dennoch irgendeine Art von Rechten ein, die mit den Interessen der BewohnerInnen seiner Stadt auszubalancieren sei. Könnte ich ausgeschrieben haben, welcher Natur diese Rechte wohl sein könnten? Ich hoffe nur, dass mein Spamfilter legal bleibt…

Foto: ein halbes Dutzend Plakatständer auf einem Haufen.

Dieses Plakat-Ensemble (gleich neben dem Display von oben in der Heidelberger Jahnstraße) wäre nach den versprochenen Genfer Regeln noch ok: A0-Plakate, meist für Kultur oder, na ja, Bildungsveranstaltungen.

Üblicher ist demgegenüber die Argumentation von Verkehrssenator Tjarks, die die Belästigung der Öffentlichkeit mit städtischen Einnahmen von 27 Millionen Euro (im Jahr 2020) rechtfertigt. Im DLF-Beitrag wird, im Gegensatz zum taz-Artikel, allerdings darauf hingewiesen, dass gerade neue Verträge geschlossen wurden, die den öffentlichen Raum billiger verhökern. In Genf soll die Stadt durch die Planungen viereinhalb Millionen Euro weniger einnehmen. Gegengerechnet: beide Kommunen verkloppen Stadtbild und Nerven der BewohnerInnen für recht einheitlich um die 20 Euro pro Nase und Jahr.

Zahlen dieser Art dürften auch hinter der sehr schmallippigen Kommunikation stecken, mit der der werbeindustrielle Komplex AktivistInnen in Hannover gerade auflaufen lässt. Dort liegen offenbar 50 Bauanträge vor zur Ausweitung der Dauerwerbe-Beflimmerung (großartiger Begriff aus dem verlinkten Post) durch den Werbekonzern Ströer, Stadt wie Firma (die seit einem Jahr oder so übrigens auch t-online.de betreibt) mauern bezüglich der Details.

Eine Schote bei der ganzen Geschichte: Nachdem die Aktivistis auf die Ströer-Übersicht zu Werbeanlagen in Hannover gelinkt hatten, um das Ausmaß des Problems zu illustrieren, wurde es Ströer selbst zu peinlich; jetzt ist da nur noch ein 404 („Sie haben womöglich eine falsche oder alte URL aufgerufen“), und leider hilft auch die Wayback-Maschine nicht. Indes ist allzu viel Fantasie nicht nötig, sich 4600 Werbeträger von Ströer in einer Stadt mit 540'000 EinwohnerInnen vorzustellen. In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung müssen damit je rund 100 Menschen eines von diesen Teilen bezahlen.

Auch in Genf schlägt die Reaktion zurück. Ein „ideologischer Bulldozer“ sei es, die öffentliche Belästigung reduzieren zu wollen, „Zensur in Sowjetmanier“, die, und mit derart verdrehten Argumenten wollen allerlei Rechtsparteien und -verbände eine Volksabstimmung gewinnen, auch zu „weniger Umsatz“ in den Geschäften führen wird, weshalb „Arbeitsplätze verloren“ gehen werden.

Ich bin immer ganz fassungslos, wenn ich solche Argumentoide höre. An sich ist die Situation nach dem Genfer Modell doch ganz klar: Wir belästigen die Leute weniger, was ja ein großer Vorteil ist. Und dafür müssen wir weniger arbeiten, was ja auch ein großer Vorteil ist. Wie könnte da jemand was dagegen haben?

Die deutschen Werbefritzen sagen, sie hätten einen Anteil am BIP von 1.3% (sie sprechen von „Marktvolumen“). Rechnen wir die Arbeit ein, die es fürs Aufräumen hinter diesen Leuten braucht, und noch weitere Mühe im näheren Umfeld dieses Geschäfts, sind 2% weniger Arbeit ohne Werbung durchaus realistisch. Das wäre, wenn das auf alle Menschen gleichmäßig verteilt wird, ungefähr eine Stunde weniger Lohnarbeit.

Wäre das nicht klasse? Kein doofen Blinketafeln mehr und am Freitag eine Stunde früher heimgehen?

[1]Wer auch immer da gerechnet hat, hat ohnehin falsch gerechnet, denn zwei Leute, die einen Haushalt teilen, werden in aller Regel weit weniger Strom verbrauchen als zwei, die jeweils alleine wohnen. Das ist schon deshalb praktisch unausweichlich, weil die Dauerverbraucher Router und Kühlschrank einfach bzw. doppelt vorhanden sind. Da die 1500 kWh pro Einpersonenhaushalt so in etwa auch bei den EWS-Leuten auf ihren Rechnungen stehen, wird das wohl schon so in etwa hinkommen. Allerdings: In meinem Zweipersonenhaushalt wird sogar Essen und Wasser mit Strom erhitzt, und trotzdem kommen wir insgesamt bei 1300 kWh/Jahr raus. Insofern frage ich mich immer ein wenig: Was machen die Leute alle mit ihrem Strom?
[2]

Die Wikipedia sieht in einem Mitsubishi-Kleinwagen einen Elektromotor mit etwa 50 kW Leistung, aber das ist ganz offensichtlich eine Überdimensionierung. Mit 50000 Joule kann mensch gemäß E = mgh (die potentielle Energie ist Masse mal Erdbeschleunigung mal Höhe), ausrechnen, dass so ein Motor eine Tonne

50000  J ⁄ (1000  kg⋅9.81  m/s2) ≈ 5  m

in die Höhe bringen kann – und das jede Sekunde ein Mal.

Stellt euch mal kurz eine Tonne irgendwas vor, und dann, was passiert, wenn mensch die fünf Meter runterfallen lässt. Ihr ahnt, was das für Urgewalten wären. Umgekehrt wird als Reichweite für die Kiste 160 Kilometer genannt, was ich für Zwecke der Überschlagsrechnung in eine Betriebsdauer von drei Stunden übersetze. Bei einer Batteriekapazität von ungefähr 15 kWh ergeben sich dann zwanglos die 5 kW mittlere Leistung bei einem Kleinwagen ohne Klimaanlage.

Zitiert in: Carl Württemberg und die unvollständige Revolution Kritischer Hörtipp: „Afrika im Aufbruch“ Antisprache: Arbeitsplätze Deutscher Wetterdienst: Nachricht schlecht, Technik gut Spatzen sehen den Mond als Fleck Hart durchgreifen gegen Aggressoren? Betonwüste Heidelberg Bertrand Russell und die Faulheit Angst ist eine schlechte Beifahrerin

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